Im dritten und letzten dieses Dokuments geht es um die Folgen der Krise auf den Klassenkampf in Europa, das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse, die traditionellen Massenorganisationen der ArbeiterInnenbewegung und die Aufgabe der MarxistInnen in der kommenden Periode.
Krise und Klassenkampf in Europa
Es gehört zu unseren Grundprämissen, dass das Aufkommen von Massenarbeitslosigkeit für die Entwicklung von Streikbewegungen nicht förderlich ist. Die Finanzkrise traf nicht unmittelbar die Lohnabhängigen, aber mit der Zeit stieg die Arbeitslosigkeit dramatisch an. Im Herbst 2008 sahen wir noch bedeutende Mobilisierungen in Italien, Griechenland und anderen Ländern, teilweise kam es sogar zu Generalstreiks. Anfang 2009 allerdings veränderte sich die Situation schlagartig mit dem steilen Anstieg der Arbeitslosigkeit.
In den meisten europäischen Ländern haben die Streikziffern stark abgenommen. Dies war am besten in Italien zu beobachten, der gleiche Trend hat aber auch in Ländern wie Dänemark, England etc. stattgefunden. Laut BBC News wurde in der Rezession von 1991-92 drei Mal so viel gestreikt wie heute. Die Tiefe der jetzigen Krise liefert eine Erklärung für diese Situation – die objektive Situation ist jedoch widersprüchig, teilweise kam es nämlich durchaus zum Ausbruch bitterer und militanter Kämpfe von Teilen der Klasse bzw. einzelnen Belegschaften, inklusive Betriebsbesetzungen in Großbritannien, Italien und sogar in den USA.
In Italien hat es in einigen großen Fabriken, in welchen eine viele ArbeiterInnen ihren Job verloren, Widerstand gegen Stellenabbau gegeben. Die ArbeiterInnen reagierten teilweise mit Streiks, Blockaden und mit Teilbesetzungen von Betrieben. Das allgemeine Streikniveau bleibt aber niedrig.
In der vergangenen Periode konnte sich Spanien über rapides Wirtschaftswachstum freuen. Doch Spanien war eines der Länder, das am heftigsten von der Krise getroffen wurde. Spanien ist eines der wenigen europäischen Länder, wo die Rezession auch im Januar 2010 andauerte, nach einem Fall des BIPs von 2.7% (sowie einem Einbruch der industriellen Produktion um 15.8%) im Jahre 2009, und es wird vorhergesagt, dass diese Rezession 2010 andauernd wird, mit einem Sinken des BIPs um 0.5%. Die Arbeitslosenrate hat 4.3 Millionen, also 18.8% erreicht (was das Doppelte des EU-Durchschnitts ist). 2008 waren 1.2 Millionen, 2009 1.1 Millionen dazugekommen.
Die offizielle Arbeitslosenrate soll 2010 20% erreichen, in einem Jahr, in welchem es massive Vernichtung von Arbeitsplätzen geben wird. Die Jugendarbeitslosigkeit hat laut offiziellen Statistiken 39% erreicht. Zusammen mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit ging die Streikaktivität massiv zurück. Trotzdem hat es wichtige Kämpfe gegeben, wie den der MetallarbeiterInnen in Vigo in Galizien und den Streik im Baskenland, welcher ein Teilerfolg war (ein Generalstreik war er jedoch nur in Guipuzcoa). In Bezug auf die nationale Frage im Baskenland müssen wir auch die Stellungnahme der historischen Führer der Abertzale Linken berücksichtigen, die seit letztem Jahr die Einstellung des bewaffneten Kampfes der ETA befürworten und in erster Linie betonen, dass der Kampf für die “Souveränität” des Baskenlandes mit rein politischen Mitteln gefochten werden soll.
Das ist eine positive Entwicklung, die von den MarxistInnen begrüßt wird. Wir sollten die Chance nutzen und die Ideen des Marxismus geduldig in den Reihen der Abertzale Linken erklären. Wir müssen zeigen, dass wir gegen jede Form der Unterdrückung der verschiedenen Nationalitäten im spanischen Staat durch den reaktionären spanischen Nationalismus sind, und dass wir deren demokratische Rechte verteidigen. Gleichzeitig betonen wir, dass nur auf der Grundlage der Einheit der ArbeiterInnenklasse und einer internationalistischen, sozialistischen Perspektive die Probleme der ArbeiterInnen und der Jugend im Baskenland und überall sonst auch gelöst werden können. Wir stehen am Beginn eines Gärungsprozesses in den Gewerkschaften (CCOO) und der Vereinten Linken (IU). Darauf müssen wir genau Acht geben und unsere Arbeit in den Massenorganisationen der ArbeiterInnenbewegung intensivieren.
Dass es in der objektiven Situation zu sehr großen und sprunghaften Veränderungen kommen kann, hat Island gezeigt – ein Land, das sich durch einen hohen Lebensstandard und politische Stabilität ausgezeichnet hat. Im Januar 2009 brachten Proteste in der Hauptstadt Reykjavik tausende Menschen zu den größten Demonstrationen, die das Land je gesehen hatte, auf die Straße. Das Resultat war, dass die Koalitionsregierung zwischen den Samfylkingin (Sozialdemokratie) und der Partei der Konservativen Unabhängigkeit zerbrach. In einem Land, das früher eines der stabilsten und reichsten Europas war, sehen wir die Anfänge sozialer Fermentierung und politischer Radikalisierung.
Der Klassenkampf spitzt sich auch in Irland zu, wo, so wie in Island, eine Periode schnellen ökonomischen Wachstums und fieberhafter Spekulation in einem vollständigen Kollaps endete. Zwischen 2002 und 2007 wuchs das irische BIP durchschnittlich um 5.6%. 2008 schrumpfte die Wirtschaft um über 2%. Im Februar 2009 gingen 200.000 ArbeiterInnen und ihre Familien in Dublin aus Protest gegen die Entscheidung der Regierung, von den 300.000 Bediensteten des öffentlichen Sektors Pensionsabgaben einzuheben, auf die Straße.
Bei Waterford Crystal kam es sogar zu einer Betriebsbesetzung. Während des Streiks im öffentlichen Dienst im November 2009 drängten sich Zehntausende Menschen – Lohnabhängige aus dem öffentlichen und dem privaten Sektor sowie ihre Familien, Arbeitslose, Pensionisten und Studierende – in den Straßen von 8 Städten im Süden, während im Norden 10 weitere Demonstrationen stattfanden. 70.000 marschierten auf den Merrion Square in Dublin, 20.000 in Cork, 10.000 in Waterford, 6.000 in Galway, 5.000 in Sligo, 5.000 in Limerick, 4.000 in Tullamore und 1.500 in Dundalk (6.11.2009). Über 250.000 irische Bedienstete des öffentlichen Sektors streikten am 24.11.2009.
Griechenland
Die Einführung einer Einheitswährung hat die Probleme des europäischen Kapitals nur verschlimmert. Dazumal haben wir bereits betont, dass es unmöglich ist, Ökonomien zu vereinen, die in verschiedene Richtungen ziehen. Wir erklärten auch, dass diese Widersprüche in einer Rezession an die Oberfläche treten würden, was auch passiert ist.
Griechenland ist eines der schwächsten Glieder des europäischen Kapitalismus. Die weltweite Krise setzt die griechische Gesellschaft unter enormen Druck. An ihr sehen wir einen Abriss dessen, was an einem gewissen Zeitpunkt in allen europäischen Ländern passieren kann. Die öffentliche Verschuldung hat solche Proportionen erreicht – ein Ergebnis der Politiken der Vergangenheit und die Notwendigkeit, das Bankensystem in der Krise zu unterstützen – dass jetzt die griechischen Lohnabhängigen zur Kassa gebeten werden mussten.
Früher konnten Länder wie Italien einer Krise durch eine Abwertung der eigenen Landeswährung und die Erhöhung der Staatsverschuldung entgegenwirken. Diese Tür ist nun verschlossen. Sie können nicht abwerten, weil sie anstatt der Lira den Euro haben. Der Fall Griechenland ist sogar noch ernster. Der griechische Kapitalismus ist, zusammen mit Italien, Portugal und Irland, das schwächste Glied in der EU. Seine Ökonomie steckt in einer tiefen Krise. Manche Ökonomen haben sogar die Prognose gewagt, dass Griechenland seine Auslandsschulden nicht zurückbezahlen wird können.
Die griechische Bourgeoisie wird gezwungen sein, tiefe Einschnitte beim Lebensstandard der ArbeiterInnenklasse und des Mittelstands vorzunehmen. Aber die rechte Regierung der Neuen Demokratie war nicht stark genug, um solche Einschnitte durchführen zu können. Deshalb hat die Bourgeoisie den giftigen Kelch der PASOK übergeben. Der Wahlsieg der PASOK stellte den ersten großen Sieg nach Jahren der Niederlagen unter der von der ND geführten Regierung dar und gab der ArbeiterInnenklasse neue Kraft und Selbstbewusstsein.
Die Führung der PASOK hat bewiesen, dass sie nicht in Konflikt mit der herrschenden Klasse geraten will. Im Gegenteil, sie hat ihr schon Versprechen zu wichtigen Themen wie der Privatisierung der Sozialversicherung gegeben. Die herrschende Klasse und die EU setzen die Führung der PASOK unter heftigen Druck, die mit Hinweis auf die hohe Staatsverschuldung versucht, ein rigoroses Sparprogramm durchzusetzen.
Die griechischen ArbeiterInnen haben die PASOK nicht gewählt, um eine „Blut und Tränen“-Politik auferlegt zu bekommen. Jetzt sehen wir ihre Reaktion. Die Gewerkschaftsführung sah sich bereits gezwungen mehrfach zu Generalstreiks zu mobilisieren. Die ArbeiterInnenklasse wird nicht umhin kommen, für die Verteidigung ihres Lebensstandards zu kämpfen. Dies wird auch auf die politische Lage seine Auswirkungen haben. Da die PASOK die Regierung stellt, wird ihr die Schuld für die jetzige Politik gegeben. Das erklärt, warum links von ihr die Kommunistische Partei (KKE) für eine bedeutende Schicht von Jugendlichen attraktiv ist. Die Jugend der KKE, die KNE, ist die größte, linke Jugendorganisation in Griechenland.
Die Parteiführung hat es geschafft, den alten stalinistischen Apparat aufrechtzuerhalten. Auf ihrem letzten Kongress hat die Partei tatsächlich ihre traditionelle stalinistische Politik bestätigt. Dies wird kombiniert mit einer Art Linksradikalismus der „dritten Periode“, wonach die Partei eigene Streiks und Kundgebungen abseits des Großteils der ArbeiterInnen in den PASOK-nahen Gewerkschaften organisieren. Dies ist ein Versuch der KKE-Führung, einen Schutzwall um ihre Reihen zu ziehen, um sie vom Druck der allgemeinen Klassenbewegung zu isolieren.
Aber sogar in dieser monolithischen Partei tauchen Bruchstellen auf. Zu diesem Zeitpunkt wird das dadurch reflektiert, dass jeder, der sich gegen die Führung stellt, ausgeschlossen wird; aber in den Publikationen der KKE mussten doch auch schon oppositionelle Ansichten veröffentlicht werden – etwas, das in der Vergangenheit unmöglich gewesen wäre.
Die objektive Situation hat auch Auswirkungen auf die Synaspismos, eine Partei, die aus einer Spaltung der KKE entstand. Sie genießt beachtliche Unterstützung in der Jugend und erlebt gerade einen internen Konflikt zwischen dem linken und dem rechten Flügel. Dass die Spitze der Partei offen linkere und rechtere Gruppen eingeladen hat beizutreten und evtl. eine Tendenz zu gründen untermalt diesen Prozess. In der nächsten Periode werden die Auswirkungen der Krise einen wichtigen Effekt auf die KKE und die Synaspismos haben, die zurzeit links von der PASOK stehen und deshalb von der aktuellen Situation profitieren können.
Trotz allem bleibt die PASOK die Hauptpartei der griechischen ArbeiterInnenklasse und irgendwann wird der Druck des Kapitals auf der einen Seite und der der ArbeiterInnenklasse auf der andern zu einem Differenzierungsprozess innerhalb der Partei führen. Ein offen rechter, probürgerlicher Teil der Partei wird die völlige Unterwerfung unter die Forderungen des Bürgertums anstreben, und eine andere wird dem Druck der ArbeiterInnenklasse nachgeben. Dies wird den Boden für die Entwicklung eines linken Massenflügels zu einem späteren Zeitpunkt aufbereiten.
Das hohe Wirtschaftswachstum und in der Folge das oberflächliche Wohlbefinden der ArbeiterInnenklasse haben diesen Prozess bisher zurückgehalten. Die objektive Situation ist jetzt aber eine andere und Griechenland ist von der weltweiten Rezession ebenfalls erfasst worden, wodurch viele Arbeitsplätze zerstört wurden. Die ArbeiterInnen sind dadurch temporär paralysiert worden und wandten sich auf der elektoralen Ebene an „ihre Partei“, die PASOK – in der Hoffnung, dass sie sie von den schlimmsten Auswirkungen der Krise beschützen würde. Jetzt müssen sie die bittere Schule von PASOK-Premier Papandreu durchlaufen, der ein Programm der Einsparungen und Konterreformen umsetzt.
Politische Radikalisierung
Radikalisierung drückt sich nicht nur in Streikstatistiken aus. Sie kann sich auf politische Weise ausdrücken. Dies sehen wir in manchen Ländern bei Wahlen, z.B. in den Stimmengewinnen für Die Linke in Deutschland und der zwei Linksparteien in Portugal. Die heftigen Erschütterungen der öffentlichen Meinung zeigten sich bei den letzten Bundestagswahlen in Deutschland im September 2009, als die SPD 11,2 Prozent verlor und auf das Niveau von 1893 zurückgeworfen wurde.
Der deutsche Kapitalismus ist von der Wirtschaftskrise besonders hart getroffen worden. Seine starke Abhängigkeit von Exporten macht die deutsche Wirtschaft gegenüber einer fallenden Nachfrage verwundbar. Die Wahlen im September 2009 brachten eine enorme Verschiebung im politischen Kräfteverhältnis in Deutschland. Einerseits sahen wir den massiven Stimmenverlust der SPD und einen Sieg der rechten Parteien.
Das bedeutet, dass sich das deutsche Kapital auf einen Angriff auf die größte und mächtigste ArbeiterInnenklasse in Europa vorbereitet. In der Vergangenheit wären die Konservativen während eines Wirtschaftsaufschwungs in der Regierung gewesen und hätten die Macht in der Krise den SozialdemokratInnen ausgehändigt, damit diese die schmutzige Arbeit machen. Nun findet der Prozess umgekehrt statt. Die bürgerlichen Parteien sind in der schlimmsten Krise der Nachkriegszeit an die Macht gekommen. Sie werden die Sozialausgaben kürzen und es mit den Gewerkschaften aufnehmen müssen. Dies ist ein Rezept für den Klassenkampf in Deutschland.
Das auffallendste Charakteristikum bei diesen Wahlen war aber die Tatsche, dass Die Linke 5.153.884 Stimmen (11,9%) gewann, was ein Zugewinn von 3,2 Prozent ist. Im Osten, der ehemaligen DDR, hat Die Linke die SPD in den Schatten gestellt, die von 30,4% auf 17,9% abgestürzt ist. Tatsächlich gibt es im Osten keine Mehrheit für die bürgerlichen Parteien. Im Westen hat Die Linke ihren Stimmenanteil von 4,9 auf 8,3% erhöht.
Dieses Ergebnis ist von historischer Bedeutung für Deutschland, da es seit den 1930er Jahren keine ernstzunehmende ArbeiterInnenpartei mehr links von SPD gegeben hat. Dies ist eine Vorwegnahme des Prozesses, der in der nächsten Periode in einem Land nach dem anderen stattfinden wird. Wir sollen uns erinnern, dass die Linkspartei aus der Abspaltung von Oskar Lafontaine und den LinksreformistInnen von der SPD entstanden ist. Lafontaine vereinigte sich mit den ehemaligen StalinistInnen, um Die Linke zu bilden. In der nächsten Periode werden wir alle Arten von ähnlichen Entwicklungen sehen, mit Krisen und Spaltungen in den reformistischen Massenorganisationen und der Bildung großer linksreformistischer und zentristischer Strömungen. Wir müssen darauf vorbereitet sein und eine flexible Taktik gegenüber solchen Formationen einschlagen, damit wir nicht von den Ereignissen überrascht werden.
Auch in Österreich hat sich die Lage angesichts der Krise zu ändern begonnen. Die Wirtschaft ist verwundbar gegenüber äußeren Faktoren, insbesondere der Krise in Osteuropa. Um die 270.000 Menschen oder 7,5% der Bevölkerung waren im März 2009 arbeitslos. Im Jahresvergleich entspricht das einer Steigerung von 28,8%. Unter den Jugendlichen (15-24 Jährige) ist die Zahl um 39,3% auf 44.085 angestiegen. Um die 40.000 ArbeiterInnen waren zu diesem Zeitpunkt auf Kurzarbeit. Die Industrieproduktion ist um 10% gefallen. Die Autoindustrie ist aufgrund der internationalen Krise in dem Sektor massiv betroffen gewesen.
Das erste Zeichen der Radikalisierung lieferte die Jugendbewegung. Im April 2009 fand die größte SchülerInnenbewegung in der österreichischen Geschichte statt. In ganz Österreich gingen 60.000 SchülerInnen auf die Straße und protestierten gegen die Streichung von fünf freien Tagen und für mehr Ausgaben für das öffentliche Schulsystem. Auch auf den Universitäten gab es Proteste und Besetzungen. Im Oktober 2009 gab es eine StudentInnendemonstration von Zehntausenden in Wien. Diese Bewegung erfreute sich der aktiven Solidarität der Gewerkschaften und breiter Zustimmung in der österreichischen Bevölkerung. Gescheitert ist die Bewegung schlussendlich durch das Vorherrschen postmoderner Ideen und Methoden, die der Masse der Studierenden keine Aussicht auf einen erfolgreichen Kampf bieten konnte, worauf die Bewegung einen langsamen Tod starb.
Auf der politischen Ebene drückt sich die Krise des österreichischen Kapitalismus als Krise der Sozialdemokratie aus, deren Führung sich dazu hergibt die Wirtschaftskrise im Interesse der Bürgerlichen zu verwalten. Doch schon jetzt sehen wir die ersten Zeichen eines wichtigen Differenzierungsprozesses in der ArbeiterInnenbewegung. Wenn die Regierung die ArbeiterInnenklasse für die Kosten der Krise zur Kassa bitten wird, dann wird das den Konflikt zwischen den Gewerkschaften und der Regierung zuspitzen, und das wird die Basis für die Entwicklung eines organisierten linken Flügels in der Sozialdemokratie legen, an dem sich bedeutende Sektoren der Gewerkschaften beteiligen werden. Das würde auch Teilen der ArbeiterInnenklasse ein Instrument zur Verteidigung ihrer Interessen in die Hand geben.
Portugal gehört zu den schwächsten Gliedern der Kette des europäischen Kapitalismus. Es befand sich schon in der Krise bevor der jüngste weltweite Abschwung einsetzte, der die bereits prekäre Situation der portugiesischen Wirtschaft noch weiter verschärft hat. Die Arbeitslosenrate ist die höchste in ganz Europa. Die Sozialistische Partei hat, wie alle anderen sozialdemokratischen Parteien, die in den letzten Jahren an der Macht waren, eine Politik der Konterreformen mit Angriffen auf den Wohlfahrtsstaat und die Rechte der ArbeiterInnen durchgeführt.
Bei den Parlamentswahlen am 27. September 2009 hat die Sozialistische Partei ihre absolute Mehrheit der letzten vier Jahre verloren. In einer Wahl, die von einem deutlichen Anstieg der Stimmenthaltungen gekennzeichnet war – die von 35% auf 40% anstiegen – verlor die Sozialistische Partei eine halbe Million Stimmen und 24 Abgeordnete, indem sie von 2.588.312 Stimmen und 121 Abgeordneten auf 2.077.695 Stimmen und 97 Abgeordneten im Jahr 2009 zurückfiel.
Die rechte Sozialdemokratische Partei und die Volkspartei, eine klassisch rechtskonservative Partei, erhöhten beide ihre Stimmen. Aber auch die linken Parteien legten an Stimmen zu: Der Bloco de Esquerda (Linksblock, BE) und die Portugiesische Kommunistische Partei (PCP). Der Bloco de Esquerda wuchs von 364.971 Stimmen und 8 Abgeordneten im Jahr 2005 auf 558.062 Stimmen und 16 Abgeordneten. Das Wachstum der linken Parteien spiegelt klar die Tatsache wider, dass der BE und die PCP den Raum links von der Sozialistischen Partei einnehmen konnten.
Im internationalen Vergleich befindet sich der französische Kapitalismus schon seit Jahrzehnten im Niedergang. Sein Anteil am Welthandel geht zurück. Hatte Frankreich 1997 noch einen Handelsüberschuss von 24 Mrd. Euro, hat es nun ein Defizit von 55 Mrd. Euro. Das Staatsdefizit steht bei 1500 Mrd. Euro und macht 80% des BIP aus. Diese gewaltige Schuldenlast wird durch die weitere Zerstörung der öffentlichen Dienstleistungen und der in vergangenen Kämpfen durchgesetzten Errungenschaften im Pensions- und Sozialsystem bezahlt werden. Die letzten fünf Jahre hindurch nahm die Zahl der Menschen, die unter der offiziellen Armutsgrenze leben, von 6 auf 8 Millionen zu. Allein 2009 wurden 480.000 Jobs zerstört.
Anfänglich hat der Beginn der Rezession die ArbeiterInnen am falschen Fuß erwischt. Der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit hatte auch auf die französischen ArbeiterInnen einen einschüchternden Effekt. Doch wie wir aus den zahlreichen Streiks und Streikdrohungen in verschiedenen Branchen der Wirtschaft, wie den Eisenbahnen, dem Transportwesen und den Erdölraffinerien, sehen können, beginnt sich die Stimmung unter den ArbeiterInnen nun zu ändern. Die Politik der Gewerkschaften, einschließlich der CGT, läuft darauf hinaus, dass sie mit der Regierung Sarkozy versuchen einen “Dialog“ zu finden. An Protesten organisierten sie lediglich eine Reihe von “Aktionstagen”, bei denen keine spezifischen Ziele verfolgt wurden. Bei diesen Protesten wurden Hunderttausende ArbeiterInnen mobilisiert, doch die Gewerkschaftsführung setzte diese wie ein Sicherheitsventil ein, um “Dampf abzulassen”. Diese Politik hat dazu geführt, dass die aktivsten und kämpferischsten ArbeiterInnen ausgebrannt sind. Gleichzeitig wächst die Opposition zur nationalen Gewerkschaftsführung sowohl in der CGT wie auch der Gewerkschaftsbewegung im Allgemeinen. Ein ähnlicher Differenzierungsprozess ist in der KPF zu sehen. Mit Zehntausenden FunktionärInnen stellt die Partei noch immer eine sehr starke Kraft dar. Im Kontext des sich zuspitzenden Klassenkampfes könnte sie schnell an Größe und Kraft zulegen. Dies ist auch der Grund, warum die Medien eine derart offen diskriminierende Politik gegenüber der KPF verfolgen. Die Parteiführung ist in den Händen von FunktionärInnen, die Positionen in Parlamenten und Stadtverwaltungen inne haben und bereit sind alle nur notwendigen Zugeständnisse zu machen, nur um diese Positionen behalten zu können. Die politische Autorität der Führung ist in den Augen der Basis mächtig gesunken. Während die Parteiführung dahingehend manövriert, dass die Partei überhaupt aufgelöst wird, geht die Parteibasis generell nach links. 40% der Mitgliedschaft stimmten beim letzten Kongress für Texte von linksoppositionellen Strömungen. Die überwältigende Mehrheit der AktivistInnen ist gegen eine Auflösung der Partei. Der Widerspruch zwischen den Interessen und der Politik der Führung und den Hoffnungen der Basis werden zu schweren innerparteilichen Auseinandersetzungen in der kommenden Periode führen.
Italien hat in der letzten Periode eine ganze Reihe von Streiks, Generalstreiks und Massendemonstrationen erlebt. Die Bewegung von ArbeiterInnen und Studierenden im Herbst 2008 kulminierte im Generalstreik vom 12. Dezember 2008. Bis zu 200.000 Leute marschierten in Bologna und andere große Demonstrationen mit mehreren Tausend ArbeiterInnen und Studierenden fanden in Mailand, Turin, Venedig, Florenz, Rom, Neapel, Cagliari und anderen 100 Städten. Die MetallarbeiterInnen streikten mit großer Beteiligung in allen wichtigen Betrieben und mit über 90% Beteiligung in den meisten Schlüsselfabriken. 45% der Angestellten im Bildungssystem wareng auch im Streik.
Dieser Prozess wurde jedoch durch den Ausbruch der Wirtschaftskrise unterbrochen, die schwerwiegende Auswirkungen auf Italien hatte. Laut einer Umfrage der CGIL schlitterten als Folge der weltweiten Rezession mindestens 10.000 italienische Firmen in die Krise. FIAT hat alle seine Werke im Dezember 2008 ein Monat lang geschlossen. Zwischen dem 12. Dezember und dem 12. Jänner kam die Industrieproduktion faktisch zum Erliegen. Das gab es in der jüngsten Vergangenheit nie, mit 900.000 Jobs, die (besonders solche mit prekären Beschäftigungsverhältnissen) gestrichen wurden, und Millionen ArbeiterInnen, die zehn bis 15 Wochen mit Löhnen von weniger als 600-700 Euro im Monat nach Hause geschickt wurden.
Eine lange Periode der Sparpolitik
Der Nachkriegsaufschwung dauerte ungefähr 40 Jahre lang (bis 1974) an. Aber eine solche Perspektive steht nicht mehr auf der Tagesordnung. Es handelte sich um das Produkt einer besonderen Verkettung von Umständen, die aller Wahrscheinlichkeit nach keine Wiederholung finden werden. Und weil ein Weltkrieg ausgeschlossen ist, müssen sich alle Widersprüche letzen Endes in den Ländern selbst in grimmigen Klassenkämpfen widerspiegeln. Dies ist die Perspektive für die nächste Periode. Über eine Periode von 50 Jahren war die ArbeiterInnenbewegung dank eines Wirtschaftsaufschwungs in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern (Europa, USA, Japan, Australien etc.) in der Lage zumindest semizivilisierte Lebensbedingungen zu erringen. Sie betrachteten diese Bedingungen als normal, da sie nie etwas anderes gekannt haben. Aber die letzten 50 Jahre waren überhaupt nicht normal. Es handelte sich um eine historische Ausnahme, nicht um die kapitalistische Normalität.
Laut IWF wird 2010 die Staatsverschuldung der zehn reichsten Länder 106% von deren BIP betragen. 2007 waren es 78%. Das bedeutet einen Anstieg der zusätzlichen Schulden von mehr als neun Billionen Dollar innerhalb von drei Jahren. Das ist eine unglaubliche Entwicklung. Indem die Bürgerlichen solch gewaltige Summen an Geld in die Wirtschaft pumpen, türmen sie eine Staatsverschuldung auf, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hat. Das ist auf die Dauer nicht haltbar. Wie alle wissen, müssen Schulden früher oder später zurückgezahlt werden – mit Zinsen. Das allein schon ist ein fertiges Rezept für eine weitere gigantische Krise in der nächsten Periode.
In der Vergangenheit waren die USA der größte Kreditgeber der Welt. Nun haben sie sich in den größten Schuldner verwandelt. Die Markenzeichen der vergangenen Epoche waren schuldenfinanzierter Konsum und ein immer mehr aufgeblasener Finanzsektor. Heute ist dieses Modell diskreditiert. Die USA waren aufgrund des Privilegs mit dem Dollar die weltweite Reservewährung zur Verfügung zu haben in der Lage ein riesiges Defizit zu machen, da sie andere Länder in ihrer eigenen Währung bezahlen konnten. Aber die Geduld der Kreditgeber, vor allem Chinas, beginnt kleiner zu werden.
Diese Schuldenstände sind in Friedenszeiten einmalig. Krieg ist eine andere Sache. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die Staatsverschuldung Großbritanniens bei 250% des BIP. Und die USA hatten eine Verschuldung von über 100% des BIP. Dies war das Ergebnis der Kriegsausgaben. Aber sie schafften es aufgrund des enormen Wirtschaftsaufschwungs nach 1945 diese Schulden zurückzuzahlen. Die Gründe dafür haben wir in früheren Dokumenten erklärt (siehe: Ted Grant: Will there be a slump?)
Der Zusammenbruch von Dubai World im November 2009 legte den extrem instabilen Zustand des weltweiten Finanzsystems bloß. Er löste sofort Angst vor einem neuerlichen Ausbruch finanzieller Turbulenzen aus. Er hat das Gespenst des Staatsbankrotts von durch die Krise belasteter Staaten wachgerufen. Sowohl Griechenland als auch Irland schleppen schwere öffentliche Verbindlichkeiten in einer Währung mit sich, die sie nicht selbst drucken können (dem Euro). Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Weltfinanzsystem von neuerlichen Panikausbrüchen erschüttert werden wird. Das würde den Weg zu einem noch steileren wirtschaftlichen Zusammenbruch bereiten, den keine Summen an staatlichen Finanzspritzen mehr verhindern könnten.
Die bürgerlichen ÖkonomInnen sind sich alle einig, dass es eines langen und schmerzhaften Prozesses bedarf, um aus dem Chaos, in dem wir stecken, wieder herauszukommen. Die enorme Anhäufung von Schulden bedeutet Jahre und Jahrzehnte der Einschnitte und eines Regimes der permanenten Sparpolitik. Wir können das als eine Art Gleichung ausdrücken: Die herrschende Klasse kann es sich in keinem Land leisten die Zugeständnisse, die in den letzten 50 Jahren gemacht wurden, aufrechtzuerhalten, aber die ArbeiterInnenklasse ihrerseits kann sich ebenfalls keine weiteren Einschnitte in ihren Lebensstandard mehr leisten. Das ist ein fertiges Rezept für den Klassenkonflikt in allen Ländern. Selbst in den entwickelten kapitalistischen Ländern (inklusive den ‚netten’, zivilisierten Ländern wie Schweden, der Schweiz, Island und Österreich) stehen grimmige Klassenkämpfe auf der Tagesordnung. Diese Perspektive ist aus unserer Sicht die beste Perspektive und sie eröffnet große Möglichkeiten die Ideen, das Programm und die Methoden des Marxismus mit den Massen zu verbinden.
Die lächelnde, vernünftige Maske des Kapitalismus, wie sie von Präsident Obama repräsentiert wird, wird sehr schnell hinunterfallen, und dahinter werden die Menschen seine wirkliche, brutale, wilde, hässliche Fratze erkennen. Vom kapitalistischen Standpunkt aus haben sie keine Wahl, als den Lebensstandard anzugreifen. Vor allem das Pensionssystem haben die Bürgerlichen im Visier. Bereits jetzt sagen sie öffentlich, dass sie sich nicht so viele alte, unproduktive Menschen leisten können. In einem Editorial vom 27.6.2009 schreibt der Economist: „Ob es uns gefällt oder nicht, wir gehen zurück zur Zeit vor Bismarck, als es keinen formalen Endpunkt des Arbeitslebens gab.“ In anderen Worten, du arbeitest, bis du tot umfällst.
Die Bürgerlichen und ihre StrategInnen sind von einem Gefühl der Verzweiflung ergriffen. Die Financial Times hat eine Artikelserie über die Zukunft des Kapitalismus gebracht. Martin Wolf schreibt darin: „Das Vermächtnis der Krise wird auch die finanzielle Freigiebigkeit beschränken. Die Anstrengungen die öffentlichen Finanzen zu konsolidieren wird die Politik für Jahre, vielleicht Jahrzehnte beherrschen.“ Anders ausgedrückt, die KapitalistInnen müssen kürzen, kürzen und noch einmal kürzen, sogar, auch in Zeiten eines Aufschwungs. British Airways forderte kürzlich, dass die Beschäftigten gratis arbeiten sollen. Die Aussage lautete: “Wir können uns eure Löhne nicht leisten”. Tausende öffentlich Bedienstete in den USA sind gezwungen eine bestimmte Anzahl an Tagen gratis zu arbeiten. Die Alternative lautet, dass sie sonst entlassen werden. Ohne eine kämpferische Alternative seitens der Führung der ArbeiterInnenorganisationen, sind die ArbeiterInnen gezwungen diese bittere Pille zu schlucken. Aber das wird nicht ewig andauern.
Welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus? Ist die Antwort, dass das Klassenbewusstsein so niedrig ist bzw. dass die ArbeiterInnen nicht revolutionär sind? Nein! Wir ziehen andere Schlussfolgerungen. Solche Phänomene sind die unvermeidliche Folge der gegenwärtigen Phase, durch die wir gehen – einer Phase des Übergangs von einer Periode in eine andere.
Das Bewusstsein hinkt hinterher
Trotzki erklärte oft, dass die Beziehung zwischen dem Konjunkturzyklus und dem Klassenbewusstsein keine automatische ist. Sie wird von vielen Faktoren beeinflusst, die konkret analysiert werden müssen. Er hob auch hervor, dass eine der schwierigsten Aufgaben, mit denen die marxistische Analyse konfrontiert ist, die Beantwortung der Frage ist, durch welche Phase wir gerade gehen.
Gegenwärtig hinkt das Bewusstsein in den entwickelten kapitalistischen Ländern weit hinter der objektiven Realität hinterher. Die Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse haben angesichts der wirklichen Situation keine passenden Antworten anzubieten. Vor allem hinkt die Führung des Proletariats weit hinter der objektiven Situation her. Dieser Zustand ist nicht vom Himmel gefallen; Jahrzehnte des kapitalistischen Aufschwungs, der Vollbeschäftigung und einer relativen Verbesserung des Lebensstandards haben über Jahrzehnte das Klassenbewusstsein und die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung geformt. Dieser Prozess wurde durch die konterrevolutionäre Rolle des Stalinismus und der Sozialdemokratie verstärkt, die durch ihre Kontrolle über die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, den Massen eine Bremse anlegten. Trotz alledem führten die Massen selbst in dieser Periode ungemeine Klassenkämpfe.
Dies war besonders in den entwickelten kapitalistischen Ländern der Fall und nicht für kurze Zeit, sondern für die Periode eines halben Jahrhunderts. Es stimmt, dass es bereits in der letzten Periode eine enorme Intensivierung der Ausbeutung auf Grundlage einer Steigerung des relativen und absoluten Mehrwerts gab. Die Arbeitszeit wurde ausgedehnt und gnadenloser Druck wurde angewandt, um die Produktivität zu erhöhen. Jedoch waren viele ArbeiterInnen auf der Basis von Überstunden, der Arbeit der ganzen Familie, der Teilzeitbeschäftigung von Jugendlichen in Ausbildung, von Kredit und Verschuldung in der Lage ihren Lebensstandard in absoluten Zahlen zu erhöhen, sogar als die Ausbeutungsrate stark zunahm und die Chefs ihren Anteil am Mehrwert auf Kosten der ArbeiterInnen vermehrten.
In der vergangenen Periode führte die Erhöhung der internationalen Arbeitsteilung zu einer Verbilligung der Warenpreise, was bedeutete, dass die ArbeiterInnen in der Lage waren, Dinge zu kaufen, die sie zuvor als Luxusgüter betrachteten: Handys, Großbildfernseher, Computer, Laptops etc. Marx erklärte vor langer Zeit den Unterschied zwischen den Reallöhnen, den Geldlöhnen und den Nominallöhnen (siehe: Lohnarbeit und Kapital). In einem Boom ist es leicht möglich, dass die Löhne im Verhältnis zum Kapital fallen, während die Nominallöhne steigen und die ArbeiterInnen eine größere Menge an Waren kaufen können als zuvor. Dies ist insbesondere richtig, wenn die Inflation gering ist, wie es aus bestimmten Gründen im letzten Boom der Fall war, als sowohl die Preise, als auch die Zinsen klein gehalten wurden.
In den USA, Großbritannien, Irland und Spanien trugen die steigenden Immobilienpreise bei einer bedeutenden Schicht zum Gefühl bei, dass “wir jetzt besser dran sind”. Die ArbeiterInnen in den entwickelten kapitalistischen Ländern verstanden, dass sie ausgebeutet wurden, aber in Ermangelung einer Alternative seitens der Führung der Gewerkschaften und der ArbeiterInnenparteien waren sie dazu verurteilt individuelle Lösungen in Form von Überstunden, gesteigerter Arbeitsleistung und privater Verschuldung zu suchen.
Das ist es, was das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse in den entwickelten kapitalistischen Ländern bestimmte, obschon die Bedingungen in der so genannten Dritten Welt komplett andere waren. Nun hat sich jedoch alles in sein Gegenteil verkehrt. All die Faktoren, die zusammen genommen den Boom der Weltwirtschaft ermöglichten, treiben nun die Welt in eine teuflische Abwärtsspirale. Dies wird tiefgreifende Auswirkungen auf das Bewusstsein haben. Aber der Prozess ist nicht linear und automatisch, sondern komplex und widersprüchlich.
Warum die Verzögerung?
Es gibt keine “Endkrise” des Kapitalismus. Der Konjunkturzyklus stellt seit über 200 Jahren ein konstantes Charakteristikum des Kapitalismus dar. Das kapitalistische System wird in der Tat auch aus der tiefsten Krise einen Ausweg finden, solange das System nicht durch die bewusste Aktion der ArbeiterInnenklasse gestürzt wird. Die konkrete Frage aber ist die folgende: Wie kommen die KapitalistInnen aus der Krise und zu welchen Kosten für die Massen? Und die zweite Frage ist: Was ist das Verhältnis zwischen dem Konjunkturzyklus und dem Bewusstsein der Massen?
Der IWF sagt eine wirtschaftliche Erholung für 2010 voraus und es gibt Anzeichen, dass dies der Fall ist. Die wirkliche Frage ist jedoch: Welche Art von Erholung? Wer profitiert und wer bezahlt? Sogar im besten Fall, ist das Szenario das einer kraftlosen Erholung, die nicht durch eine Verbesserung der Lebensbedingungen begleitet sein wird sondern durch brutale Angriffe auf den Lebensstandard, Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben und steigender Besteuerung der Lohnabhängigen und des Mittelstands.
Als Arnold Schwarzenegger sein fertiges Budget als Gouverneur von Kalifornien veröffentlichte, das massive Ausgabenkürzungen beinhaltete und ein Defizit von 20 Milliarden Dollar schließen soll, sagte er, dass es “einfach keinen denkbaren Weg” gebe, um “noch mehr Kürzungen und Schmerzen zu verhindern”. Das wäre ein passender Slogan für die herrschende Klasse, nicht nur in den USA, sondern auf der ganzen Welt. Das ist alles andere als ein Szenario für sozialen Frieden und Stabilität.
Eine Erholung mit solchen Vorzeichen wird die ArbeiterInnenklasse wütend machen und das wird ab einem bestimmten Punkt zu Streikwellen und einer allgemeinen Wiederbelebung des Klassenkampfes führen. Bereits jetzt sehen wir erste Kämpfe gegen die Krise und ihre sozialen Folgen.
Obwohl wir die größte Krise des Kapitalismus seit den 1930iger Jahren – vielleicht in der ganzen Geschichte des Kapitalismus – erleben, hat sich die Krise noch nicht in Streikwellen und Generalstreiks ausgedrückt. Es steht außer Frage, dass die Krise weltweit bedeutende Veränderungen hervorruft. Aber sie drücken sich in der ArbeiterInnenbewegung noch nicht klar aus. Im Iran findet der Beginn einer Revolution statt, und eine ähnliche Situation sahen wir in Honduras. Aber in den entscheidenden, Industrieländern entwickelt sich die Bewegung langsam.
Manche in der Linken verstehen nicht, wieso sich die Krise nicht sofort in Massenmobilisierungen, Streiks und Besetzungen ausdrückt. Die Verzögerung kann Ratlosigkeit und Frustration in den Reihen einer revolutionären Bewegung hervorrufen, wenn sie nicht erklärt wird. Allgemeine Statements über den “revolutionären Charakter der Epoche” sind zu wenig, wenn wir einem Arbeiter erklären müssen, warum seine KollegInnen nicht streiken wollen. Trotzki erklärte das sehr treffend, als er Folgendes schrieb: “Wenn man nur auf der Basis einer allgemeinen Charakterisierung der Epoche vorgeht, jedoch die konkreten Stufen des Prozesses ignoriert, kann man leicht in Schematismus, Sektierertum oder weltfremde Phantasterei verfallen. Mit jeder ernsthaften Wendung in den Ereignissen müssen wir unsere grundlegenden Aufgaben an die konkreten Bedingungen auf einer gegebenen Stufe anpassen. Darin liegt die Kunst der Taktik.” (Trotzki, Writings, 1939-40, S.103)
Was sind nun die Gründe für diese Verzögerung? Der Ausbruch der Krise hat die ArbeiterInnen überrascht und die erste Reaktion waren Schock und Desorientiertheit. Das ist kaum verwunderlich. Es ist eine sehr konkrete Frage. Die ArbeiterInnen sehen, dass Fabriken zugesperrt werden, ihre Jobs in Gefahr sind, ihre Familien in Gefahr sind, dass die Gewerkschaftsführung keine Alternative anbietet und von Streiks abrät. Für gewisse Zeit kann sie Erfolg damit haben, die Bewegung unter Kontrolle zu halten. Aber dem sind Grenzen gesetzt.
Vorübergehend hat die Massenarbeitslosigkeit einen zurückhaltenden Effekt auf die Streikaktivität gehabt. Aber sobald es eine geringe wirtschaftliche Erholung gibt und die ArbeiterInnen sehen, dass die Chefs keine Leute mehr entlassen, sondern sogar neue Arbeitskräfte einstellen und die Auftragsbücher sich zu füllen beginnen, kann das als machtvoller Impuls für den ökonomischen Kampf dienen. Die Autohersteller verkaufen ihre überschüssigen Lagerbestände, schließen Fabriken und entlassen ArbeiterInnen. Aber sobald sie alle Lagerbestände verkauft haben, wird sich eine kleine Verbesserung ergeben, die dazu dienen wird die ArbeiterInnen in der Autoindustrie dazu zu ermutigen Aktionen zu setzen, und insbesondere diejenigen, die momentan nicht in der Gewerkschaft sind.
Die ArbeiterInnen sind bereit einige Zeit lang Opfer zu ertragen. Sie haben die Hoffnung, dass tatsächlich das Schlimmste vorbei ist, dass sie es durch den Sturm hin zu einem relativen Zufluchtsort geschafft haben. Sie sind bereit “abzuwarten und mal zu schauen”. Aber das hat seine Grenzen; das Schlimmste ist noch lange nicht vorbei. Der unmittelbare Schock der Krise des letzten Jahres mag abgeklungen sein, aber nun schleicht sich die Realität Schritt für Schritt ein: Die ArbeiterInnen werden sich gezwungen sehen einen neuen, einen geringeren Lebensstandard zu akzeptieren, und es wird keine schnelle Neuentstehung von Jobs geben. Millionen Arbeitsplätze sind für immer verloren gegangen und werden ersetzt durch wenigere, schlechter bezahlte Jobs, ohne Sozialversicherung oder gewerkschaftlichen Schutz.
Kurzfristig sehen die ArbeiterInnen keine andere Alternative, als Schließungen und Entlassungen zu akzeptieren. Weil die Gewerkschaftsführung keine Alternative anbietet, machen sich Resignation und Fatalismus breit. Diese Stimmung wurde von einem US- amerikanischen Autoarbeiter aus Detroit, der Chrysler Sedans zusammenbaut, zum Ausdruck gebracht: “Irgendjemand muss gehen.” Dennoch gibt es für all das eine Grenze. Ab einem gewissen Punkt wird diese Stimmung der ArbeiterInnen in Wut umschlagen.
In der Krise fühlen die ArbeiterInnen die Notwendigkeit gewerkschaftlicher Organisation noch mehr als in anderen Perioden. Auf der einen Seite zwingt die Tiefe der Krise die Bourgeoisie zu einer unversöhnlichen Herangehensweise gegenüber den Gewerkschaften. Die Bosse verfolgen die Strategie kämpferische Schlüsselsektoren der Klasse anzugreifen und durch den Sieg über diese dem Rest der Klasse eine klare Botschaft zukommen zu lassen. Sie nützen die Krise zu einer beispiellosen Offensive.
Ein Kuschelkurs gegenüber den Gewerkschaften ist nicht mehr möglich. Die Krise bedeutet, dass die ArbeiterInnen für jede Forderung kämpfen müssen. In Großbritannien gab es eine Reihe von Vereinbarungen auf dem Rücken der ArbeiterInnen, einschließlich Arbeitszeit- und Lohnkürzungen. Andererseits haben wir dort, wo die ArbeiterInnen mit Werksschließungen und der Vernichtung ihrer Zukunftsperspektive konfrontiert waren, Fabriksbesetzungen (z.B. bei Visteon) gesehen. In unseren vorangegangenen Perspektivdokumenten unterstrichen wir den widersprüchlichen Charakter der Situation, an deren Beginn wir stehen. Der generelle Rückgang bei den Streikzahlen geht einher mit sehr militanten Kämpfen bestimmter Sektoren und Belegschaften.
Der Streik der MüllarbeiterInnen in Dänemark wurde äußerst militant geführt, obwohl ringsum die Streikaktivität stark zurückging. Die Bürgerlichen hatten die Absicht verfolgt, sich mit den MüllarbeiterInnen anzulegen und diese mit allen nur denkbaren Mitteln zu brechen, um sich dann den Rest der Klasse vorknöpfen zu können. Ähnlich war es ja auch beim Streik der Beschäftigten der Elektrizitätsgesellschaft in Mexiko. Der Kampf zog dadurch die Aufmerksamkeit der gesamten ArbeiterInnenbewegung auf sich. Der Streik der Postangestellten in Großbritannien hatte eine ähnliche Stellung. Das Management schien bereit zu sein, die Bediensteten herauszufordern, vor dem Hintergrund der generell abwartenden Stimmung in Zeiten der Krise ein Exempel an einem Schlüsselsektor der Klasse zu statuieren.
Die Situation in den Niederlanden hat sich im Vergleich zu vor zehn Jahren dramatisch verändert. Von der einstigen “Konsenspolitik” sind wir dort jetzt weit entfernt. Die objektive Situation ist durch extreme Polarisierung gekennzeichnet, mit einer sehr aggressiven herrschenden Klasse einerseits und einer zunehmend verärgerten ArbeiterInnenklasse andererseits. Während des Nachkriegsaufschwungs konnte sich die Bourgeoisie Zugeständnisse an die ArbeiterInnenklasse leisten, während sie gleichzeitig versuchte die Arbeiterinnen über ihre Verbindungen zur christlichen Gewerkschaftsföderation (CNV) zu kontrollieren. Jetzt ist sogar die traditionell relative rechte CNV in Opposition gegen die Pläne der CDA gegangen. Unter diesen Bedingungen ist die Sozialistische Partei als ansehnliche Kraft links von der Sozialdemokratie entstanden.
Das Bewusstsein der Massen hängt von einer ganzen Reihe von objektiven wie auch subjektiven Faktoren ab, die dialektisch mit einander verbunden sind. Dazu zählen der Konjunkturzyklus und vorangegangene Ereignisse, die im tatsächlichen Klassenkampf gemachten Erfahrungen und deren Widerspiegelung in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung.
Die 1990er Jahre und das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts waren durch eine relative Stabilität des Kapitalismus in den entwickelten kapitalistischen Ländern gekennzeichnet. Zusätzlich zu der Niederlage des revolutionären Aufschwungs der 1970er, eine Niederlage, die – von Land zu Land unterschiedlich – zwischen dem Ende der 1970er und den frühen 1980ern angesetzt werden kann, müssen wir den Zusammenbruch des Ostblocks 1989-91 hinzurechnen. Das zusammen verursachte eine große Konfusion in der ArbeiterInnenbewegung und erlaubte es der herrschenden Klasse eine bis dahin ungeahnte ideologische Gegenoffensive gegen die Ideen des Sozialismus zu starten.
Basierend auf diesen Prozessen betrieb die herrschende Klasse eine ständige Kampagne zur Zerstörung aller Errungenschaften der Vergangenheit – Kürzungen bei den öffentlichen Dienstleistungen, Pensionsreformen, Prekarisierung, Steigerung des relativen und absoluten Mehrwerts usw.
In vielen Fällen leisteten die ArbeiterInnen Widerstand gegen diese Angriffe, oft kam es sogar zu breiten Mobilisierungen. In Frankreich, Italien, Spanien Griechenland und anderen Ländern sahen wir Streikwellen und sogar Generalstreiks gegen die Pläne der herrschenden Klasse. Viele dieser Bewegungen endeten in Niederlagen oder bestenfalls in Teilerfolgen, welche die Angriffe vorerst einmal hinauszögerten. Wenn wir uns die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung anschauen, werden viel mehr Streiks verloren als gewonnen. In der Tat können die ArbeiterInnen nur dann wichtige Siege erzielen, wenn die KapitalistInnen ihr System bedroht sehen (zum Beispiel im Mai 1968 oder in den späten 1960ern und frühen 1970ern in Italien), oder in Perioden mit einem bedeutsamen Wirtschaftswachstum wie dem Nachkriegsboom.
Das Wirtschaftswachstum, das wir in den letzten 20 Jahren gesehen haben, war nicht ausreichend um der ArbeiterInnenklasse wichtige Reformen zuzugestehen. Doch es hat insofern ausgereicht, als viele ArbeiterInnen die Möglichkeit zu einer individuellen Lösung ihrer Probleme sahen: mehr Familienmitglieder wurden erwerbstätig, Überstunden, Privatkredite usw.
Seit den Niederlagen in den frühen 1980ern (der britische Bergarbeiterstreik, in Spanien die “reconversion industrial”, der FIAT-Streik 1980 in Italien, der PATCO-Streik in den USA) gab es aber keine signifikanten Niederlagen der europäischen ArbeiterInnenklasse mehr. Die Reihen der ArbeiterInnenklasse wurden durch den Boom wieder durch die Einbindung neuer Schichten von jungen ArbeiterInnen aufgefrischt. Es stimmt, dass diese Sektoren keine Tradition haben, aber sie sind nichtsdestotrotz frisch und tragen nicht den Ballast vergangener Niederlagen mit sich. In vielen Fällen waren es gerade diese neuen Schichten, die in wichtigen und militanten Kämpfen an der vordersten Front standen (z.B. im Fall des Kampfes bei FIAT Melfi). Die Gesamtbeschäftigung in den 16 Ländern der Euro-Zone stieg von 125 Millionen im Jahr 1995 auf 148 Millionen im Jahre 2008, dem Beginn der Krise. Gleichzeitig sahen wir auch die völlige Proletarisierung einst privilegierter Schichten, wie den Beschäftigten im Bank- und Versicherungswesen, im öffentlichen Dienst, den LehrerInnen usw.
Diese Art von Boom, der hauptsächlich auf der verstärkten Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse basierte, hat zur Anhäufung von sehr großer Wut geführt. Diese Wut fand bisher aber noch keinen Weg, um sich offen zu artikulieren. Die antikapitalistische und globalisierungskritische Bewegung war trotz all ihrer politischen Verwirrungen eine wichtige Widerspiegelung dessen. Dies gilt auch für die Massenproteste gegen den Irakkrieg, an denen sich Millionen beteiligten. Und die jüngste Wirtschaftskrise hat die Stimmung gegen Banker, Finanzspekulanten usw. weiter angeheizt. All das sind aber nur Symptome für das was noch kommen wird, sie sind aber auch wichtiger Bestandteil der Erfahrungen, die die Massen in der jüngsten Vergangenheit machten. Sie werden ihren Beitrag zur Formierung der bevorstehenden Ereignisse leisten.
All diese Faktoren haben den Charakter und die Entwicklung der Jugendproteste aber auch der Mobilisierungen der ArbeiterInnenklasse beeinflusst, und müssen auch heute noch in Betracht gezogen werden, wenn wir unsere Intervention effektiv machen wollen.
Das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse
RevolutionärInnen dürfen nicht den Fehler begehen, dass sie das, was ihnen klar ist, als allgemeinen Bewusstseinstand der Massen zu nehmen. Die Mehrheit der ArbeiterInnen hat nicht das gleiche Bewusstsein wie die MarxistInnen. Wie wir bereits erklärt haben, sind die meisten Menschen durch eine derart tiefe Krise zuerst einmal geschockt. Die ArbeiterInnen verstehen nicht was da vor sich geht. Dennoch haben wir es nicht mit einem einfachen oder gleichförmigen Prozess zu tun. Sogar in dieser ersten Phase der Krise waren wir Zeugen von ziemlich erbitterten Streiks. Aber an diesem Punkt darf man kein allgemeines Ansteigen der Streikaktivitäten erwarten. In einer tiefen Krise würde das jeder Logik widersprechen. In der Tat haben wir überall ein sehr geringes Streikniveau gesehen: In den USA, Großbritannien, Italien, Spanien, Frankreich etc.
Wir dürfen aber auch nicht Radikalisierungsprozesse rein in Streikstatistiken messen. Radikalisierung kann sich auf viele Arten ausdrücken. Selbst wenn die generelle Streikaktivität niedrig ist, können wir doch schon einen Gärungsprozess in der Gesellschaft spüren, der sich darin ausdrückt, dass immer mehr Menschen das kapitalistische System in Frage stellen und Alternativen suchen. Das hat es vor der Krise nicht in dem Maße gegeben. Das ist eine Grundlage auf der unsere Ideen einen großen Einfluss bekommen können. Diese entscheidende Veränderung im Massenbewusstsein sollten wir nicht außer Acht lassen. Das schafft gute Bedingungen für den Aufbau einer marxistischen Strömung. Aber wir müssen geduldig sein und den Radikalisierungsprozess Schritt für Schritt verfolgen, passende Übergangsforderungen aufstellen, die passend zur konkreten Situation einen Einfluss auf das Bewusstsein der Massen haben können. Vor allen Dingen müssen wir geduldig unsere eigenen Kräfte aufbauen, die „ones and twos“ rekrutieren und sie in den Ideen und Methoden des Marxismus schulen. Dies schafft Bedingungen, wo ganze Gruppen und Strömungen, die sich von den traditionellen Massenorganisationen abspalten wollen bzw. die sich in Folge des Klassenkampfes herausbilden werden, im Marxismus einen Referenzpunkt sehen können.
Die ReformistInnen wollen den ArbeiterInnen weismachen, dass früher oder später wieder alles in Ordnung sein wird und sich die alten Zustände wieder herstellen lassen. Die ArbeiterInnen sollten nur geduldig sein und in der Zwischenzeit die notwendigen Zugeständnisse machen. Das ist aber eine völlig falsche Perspektive, die der Reformismus der Klasse präsentiert. Die Bourgeoisie kann die alten Bedingungen nicht wieder herstellen. Die Bürgerlichen wissen einfach nicht, wie sie aus dem tiefen Loch, das sie sich selbst gegraben haben, wieder herauskommen sollen. Alles was ihnen einfällt, ist die gesamte Last der Krise auf die Schultern der ArbeiterInnenklasse und des Mittelstands abzuwälzen. Daher steht den Massen überall ein Albtraumszenario bevor. Alle reden vom ausgeglichenen Budget, aber ein solches ist ohne tiefe Einschnitte beim Lebensstandard unmöglich. Auch im Zuge einer wirtschaftlichen Erholung wird das noch der Fall sein.
Die ersten Anzeichen einer Erholung werden zu einer Welle von ökonomischen Streiks führen, die tief greifende Auswirkungen auf die Organisationen der ArbeiterInnenklasse haben werden, worauf diese trotz ihrer derzeitigen Führungen zum Kampf getrieben werden. Sogar die rechtesten FührerInnen in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie werden davon beeinflusst und durch den hartnäckigen Druck von unten nach links gezwungen werden. Die Massenorganisationen werden durch die Welle der Radikalisierung von oben bis unten durchgerüttelt werden.
Gefahr des Faschismus?
Eine Übergangsperiode ist per definitionem durch alle möglichen Widersprüche gekennzeichnet, nicht nur in Südamerika, sondern auch in Europa, den USA und auf der ganzen Welt. Was wir heute beobachten können, sind die frühen Stadien einer politischen Radikalisierung. Die Situation ist durch enorme Unbeständigkeit gekennzeichnet. Wir müssen mit heftigen Veränderungen der öffentlichen Meinung nach links und nach rechts rechnen. Das wird vor allem die schwankende Stimmung, der Mittelschichten in der Gesellschaft widerspiegeln, die krampfhaft versuchen einen Weg aus der Krise zu finden.
Ohne eine Massenalternative der ArbeiterInnenbewegung, kann sich die Frustration z.B. in den USA auf sehr widersprüchliche Weise ausdrücken. Früher oder später wird Obamas Unfähigkeit, seine Versprechen von „hope“ und „change“ einzulösen, offen zu Tage treten. Dann wäre angesichts der Enttäuschung mit den Demokraten der Weg für eine Rückkehr der Republikaner geebnet. In einem von zwei kapitalistischen Parteien dominierten System gibt es immer „die anderen“, die von den Fehlern der Amtsinhaber profitieren. Bereits jetzt haben es die Republikaner, die vor zwei Jahren eine schwere Niederlage erlitten hatten, geschafft einige Wahlen zu gewinnen.
Ohne Zweifel werden die SektiererInnen, hinter deren Linksradikalismus eine tiefe Skepsis gegenüber der ArbeiterInnenklasse liegt, sagen, dass das ein Beweis für einen Rechtsruck in der Gesellschaft ist. In Wirklichkeit ist es jedoch ein unvermeidliches Stadium in der politischen Erziehung der Massen, die durch die Schule der Demokratischen Partei gehen mussten, um schließlich alle Hoffnung auf eine Rettung durch diese Partei zu verlieren. Das wird ein schwieriger und langwieriger Prozess sein. Aber früher oder später werden die US-amerikanischen ArbeiterInnen zu dem Bewusstsein kommen, dass der einzige Weg vorwärts im Bruch mit der Demokratischen Partei und in der Gründung einer sich auf die Gewerkschaften stützenden Labor Party liegt. Eine solche Entwicklung würde die gesamte politische Gleichung der US-Politik transformieren. Für die MarxistInnen würde das enorme Chancen eröffnen.
Ähnlich scharfe politische Wendungen sehen wir in Europa. Bei den europäischen Wahlen 2009 erlitt besonders die Sozialdemokratie eine schwere Niederlage, und in einigen Ländern gewann die extreme Rechte deutlich an Zustimmung. Was diese Ergebnisse zeigen, ist eine Stimmung der Wut, der Frustration und Unzufriedenheit mit dem existierenden „Mainstream“, der „Mitte“ der europäischen Politik. Dieses Phänomen hat aber nichts mit dem historischen „Faschismus!“ zu tun. Das zu glauben, wäre verantwortungsloser Unsinn. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen schließt im jetzigen Stadium in allen Ländern die Möglichkeit des Faschismus aus.
Vor dem Zweiten Weltkrieg war die ArbeiterInnenklasse in Ländern wie Italien und Spanien eine Minderheit. Sogar in Deutschland gab es eine große Bauernschaft, aus deren Reihen die rechtsextremen und faschistischen Parteien mit demagogischen Argumenten leicht Anhänger rekrutieren konnten. Auch in Frankreich war dies vor dem Krieg der Fall. Nun ist die Bauernschaft in den meisten europäischen Ländern fast verschweine verschwindende Minderheit, und die ArbeiterInnenklasse stellt die entscheidende Mehrheit der Gesellschaft. In den 1930er Jahren waren die Studierenden in allen Ländern Töchter und Söhne aus gutem Hause. Die meisten waren rechtskonservativ, viele waren bei den Faschisten oder den Nazis. 1926 ließen sich die Studierenden in Großbritannien als Streikbrecher einsetzen. In Deutschland, Italien und Österreich tendierten die meisten Studierenden zum Faschismus. Heute sind die StudentInnen in fast allen Ländern mehrheitlich links.
Der Gärungsprozess in den Mittelklassen findet verschiedene Ausdrucksformen, was die heterogene Natur dieser Klasse widerspiegelt. Die Stimmen für die Grünen und ähnliche Parteien sind ein Anzeichen, dass die kleinbürgerlichen Schichten einen Ausweg aus der kapitalistischen Sackgasse suchen. Die „globalisierungskritischen“ Bewegungen in verschiedenen Ländern gehören zum selben Phänomen. Die Antikriegsbewegung, die sogar noch vor dem Einmarsch im Irak begann, zeigte das revolutionäre Potential in der Gesellschaft mehrerer Länder. Ähnliche Bewegungen sind als Ergebnis imperialistischer Abenteuer in Afrika, dem Nahen Osten und in Lateinamerika unvermeidlich.
Die Krise des Kapitalismus spiegelt sich wider in einer Krise der bestehenden bürgerlichen Parteien und dem Aufstieg neuer rechter Formationen in einer Reihe von Ländern, wie der Partei von Le Pen in Frankreich, Laos in Griechenland, der BNP in England, der Lega Nord in Italien, dem Vlaams Blok, der PVV in den Niederlanden und der FPÖ in Österreich. Diese Parteien sind aber instabile Phänomene. Ihre Unterstützung bei Wahlen ist ein ständiges Auf und Ab und reflektiert die abrupten Veränderungen in der „öffentlichen Meinung“, die mit den traditionellen Parteien unzufrieden ist und einen Ausweg aus der Krise sucht. Weiters wäre es falsch diese Formationen als faschistische Parteien zu bezeichnen.
Der Begriff Faschismus sollte nicht herangezogen werden, um alle Formen von reaktionären Regimen und Parteien zu beschreiben. MarxistInnen unterscheiden zwischen verschieden Formen der Reaktion. Trotzki zum Beispiel bezeichnete die Diktatur von Primo de Rivera in Spanien zwischen 1923 und 1930 als bonapartistisch und kritisierte die Führung der Komintern, weil sie dieses Regime als „faschistisch“ einordnete.
Trotzki erklärte, dass der “Faschismus als ein Massenphänomen aus den Reihen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und auch aus rückständigen Schichten der Arbeiterklasse aufsteigt. Die Diktaturen in Spanien und Italien sind zwei völlig verschiedene Formen der Diktatur. Es ist notwendig zwischen den beiden zu unterscheiden.”
Und weiter: „Die wirkliche Basis des Faschismus ist das Kleinbürgertum. In Italien hat er eine sehr große Basis – das Kleinbürgertum in den Städten und Großstädten, und die Bauernschaft. In Deutschland gibt es ebenso eine große Basis für den Faschismus.“
Die ökonomische Entwicklung der vergangenen 60 Jahre hat die Massenbasis des Faschismus, d.h. das Kleinbürgertum, zum Verschwinden gebracht. Die Bauernschaft in den entwickelten kapitalistischen Ländern ist nahezu vollständig verschwunden und die Masse der Bevölkerung wurde proletarisiert.
Das erklärt, warum der Faschismus heute nicht imstande ist eine Massenbasis zu entwickeln, so wie er dies einst konnte. Außerdem muss in Betracht gezogen werden, dass die herrschende Klasse aus der konkreten Erfahrung mit Hitler und Mussolini bestimmte Schlussfolgerungen gezogen hat. Sie wird faschistische Gruppen als Hilfstruppen einsetzen, diese aber nicht als direktes Instrument zur Zerschlagung der ArbeiterInnenklasse und seiner Organisationen heranziehen, sobald sie zu dem Schluss gekommen sind, dass ihre Macht bedroht ist.
Historisch betrachtet entstand der Faschismus, als der Kapitalismus sich in einer schweren Krise befand und nicht länger Reformen garantieren und dadurch die Gesellschaft stabilisieren konnte. Die herrschende Klasse musste die Organisationen der ArbeiterInnenklasse zerschlagen, weil diese die Macht der Bourgeoisie ernsthaft bedrohte.
Der Triumph des Faschismus in der Vergangenheit war möglich auf der Grundlage ganz bestimmter historischer Umstände, eines ganz partikulären Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und weil die Bourgeoisie keine andere Möglichkeit mehr sah ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten. Vor dem Aufstieg des Faschismus gab es revolutionäre Massenbewegungen der ArbeiterInnenklasse, wie in Italien 1918-20, die in der Besetzung der Fabriken gipfelte, oder den mehrfachen Versuchen der deutschen ArbeiterInnenklasse nach dem Ersten Weltkrieg die Macht zu übernehmen.
Erst nachdem diese revolutionären Bewegungen ihr Ziel verfehlten, setzte die Bourgeoisie aus einem Gefühl der Bedrohung heraus auf den Faschismus, dessen Rolle darin bestand die ArbeiterInnenklasse zu atomisieren. Nirgendwo in Europa muss die Bourgeoisie heute Angst haben, dass sie die Macht verliert. Im Gegenteil, die Bourgeoisie kann sich auf die Führung der ArbeiterInnenbewegung stützen. Das wird sich erst ändern, wenn die Gewerkschaften in die Oppositionsrolle gezwungen werden.
Die Perspektive, die wir heute vor uns haben, ist eine von zunehmenden Klassenkämpfen. Revolutionäre Entwicklungen liegen vor uns, nicht hinter uns. Das bedeutet, dass sich die herrschende Klasse überall auf solche Entwicklungen vorbereitet.
In den USA betrat die extreme Rechte in Form der sogenannten „Tea Parties” die Bühne und bereitet sich auf künftige Wahlen vor. In Italien ist die Lega Nord massiv erstarkt, dies erklärt sich vor allem angesichts der großen Enttäuschung über die ehemaligen „KommunistInnen“. Die Lega Nord ist eine reaktionäre, chauvinistische und rassistische Partei. Bossi ist ein rechtsextremer Demagoge, aber das macht die Lega noch lange nicht zu einer faschistischen Partei. Und aufgrund ihres Charakters als regionalistische Partei kann sie auch nicht in ganz Italien Fuß fassen.
Beachtenswert ist auch die Tatsache, dass die Überbleibsel der alten faschistischen Parteien, wie die MSI in Italien, in dem Ausmaß, in dem sie an Unterstützung gewinnen und im Parlament vertreten sind, “respektable” Parteien werden, denen der Wahlerfolg wichtiger ist als die ihre alten Methoden und Programme. Die MSI transformierte sich zuerst in eine gewöhnliche bürgerliche, konservative Partei und fusionierte in der Folge de facto mit der Partei von Berlusconi, wobei ihr Parteichef Fini vehement Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben fordert (das genaue Gegenteil von dem, was faschistische Parteien in der Vergangenheit vertraten). In der Vergangenheit war die MSI federführend bei Angriffen und Morden auf GewerkschafterInnen und KommunistInnen.
Natürlich setzen diese reaktionären Parteien auf eine rassistische Demagogie, um in den rückständigsten Schichten der Gesellschaft ein Echo zu bekommen. Zu einem gewissen Ausmaß passt das auch der herrschenden Klasse ins Konzept, weil diese ein Interesse an der Spaltung der ArbeiterInnenklasse in „In- und AusländerInnen“ hat. Die Bourgeoisie braucht aber auch die ZuwandererInnen, weil diese eine billige Arbeitskraft darstellen. Deshalb kann sie die rechten Banden auch nicht zu weit gehen lassen, weil sie Angst haben, dass dies eine ernsthafte Massenbewegung provozieren könnte.
Wir müssen diesen Phänomenen Beachtung schenken und in den Kämpfen gegen Faschismus und Rassismus von einem Klassenstandpunkt aus mit korrekten Übergangsforderungen intervenieren bzw. diese Fragen mit dem Kampf für den Sozialismus in Verbindung setzen. Dabei müssen wir aber immer einen Sinn für Proportionen behalten. Keine dieser rechten Parteien und Bewegungen kann mit Mussolinis Kräften in den frühen 1920ern verglichen werden, ja nicht einmal zu jenen der CEDA, der klerikalfaschistischen Massenbewegung von Gil Robles in Spanien in den Jahren 1933/4. Bei den jüngsten Unterhauswahlen in Großbritannien erlitt die BNP eine vernichtende Niederlage und verlor all ihre Sitze an die Labour Party. In Dänemark hat die rechte und rassistische Dänische Volkspartei ebenfalls viel an Unterstützung eingebüßt.
Es stimmt, dass die herrschende Klasse Vorbereitungen für die Zukunft trifft, wenn die “normalen” Mechanismen der parlamentarischen Demokratie nicht mehr imstande sind die Massenbewegung zu kontrollieren. In allen Ländern sehen wir eine Tendenz zur Einschränkung demokratischer Rechte, die von der ArbeiterInnenklasse einst erkämpft wurden. Unter dem Vorwand des „Kampfs gegen den Terror“ hat die Bush-Administration im Eilzugstempo eine Reihe von antidemokratischen Gesetzen verabschiedet, die als „Anti-Terror-Gesetze“ getarnt werden. Alle anderen kapitalistischen Regierungen haben diese Politik nachgemacht. Diese Gesetze werden in der Zukunft auch gegen die ArbeiterInnenbewegung eingesetzt werden.
In Großbritannien und anderen Ländern hat die herrschende Klasse Anti-Gewerkschafts-Gesetze verabschiedet, die das Streikrecht massiv eingeschränkt haben. Durch die Anti-Terror-Gesetze wurden die Rechte von Verhafteten massiv eingeschränkt. Die Polizei perfektioniert ihre Techniken zur Repression gegen Demonstrationen, die heute gegen die Antiglobalisierungsbewegung, anarchistische Gruppen usw. und morgen gegen die ArbeiterInnenbewegung zum Einsatz gebracht werden. All das sollte als Warnung an die ArbeiterInnenklasse gesehen werden.
Nichtsdestotrotz zieht es die Bourgeoisie zum jetzigen Zeitpunkt vor mit den Mitteln der formalen parlamentarischen Demokratie zu herrschen, weil dies viel ökonomischer ist und weniger Risiken darstellt als instabile Diktaturen. Sie kann sich dabei auf die Führung der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie stützen, die gegenwärtig ihre verlässlichste Unterstützung darstellen. Zum jetzigen Zeitpunkt braucht sie die reformistischen Massenorganisationen, ohne die sie sich nicht lange an der Macht halten könnte.
Die herrschende Klasse muss daher die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung nicht zerschlagen, selbst wenn sie dazu imstande wären. Das kann sich aber ändern. Wenn sich die Krise vertieft, wird der Druck auf die reformistischen Führungen steigen, dass sie mit der Bourgeoisie brechen. Trotzki wies darauf hin, dass die Gewerkschaftsführung tendenziell sich in den bürgerlichen Staat integriert, und wir sehen, wie sich diese Tendenz wiederholt manifestiert. Doch um ihr Bündnis mit der Gewerkschaftsführung aufrechtzuerhalten, müssen die Bürgerlichen den ArbeiterInnen gewisse Zugeständnisse anbieten. Das ist unter den gegebenen Umständen aber so gut wie unmöglich.
Ab einem gewissen Punkt werden sich die Gewerkschaftsführungen gezwungen sehen in Opposition zu gehen. Sie werden gezwungen sein sich an die Spitze der kämpfenden ArbeiterInnen zu stellen. Ansonsten würden sie ihre Positionen verlieren und durch andere ersetzt werden. Wenn die herrschende Klasse sieht, dass sie die Gewerkschaften nicht länger als Wachhund einsetzen kann, wird sie gegen die Gewerkschaften vorgehen. Unter den Bedingungen der Krise werden die Bürgerlichen schlussendlich zu der Schlussfolgerung kommen, dass es zu viel Unordnung, Chaos, Streiks und Demos gibt. Dann werden sie auf die Reaktion setzen, aber das ist nicht die unmittelbare Perspektive.
Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Frage einer faschistischen oder bonapartistischen Reaktion in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Langfristig aber, wenn die ArbeiterInnenklasse nicht die Macht erobert, kann sich das ändern.
Erst vor kurzem hat der EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso erklärt, dass in Ländern wie Griechenland, Spanien und Portugal die Demokratie zusammenbrechen könnte, wenn die Schuldenkrise nicht gelöst würde. In diesen Ländern Südeuropas könnte es zu einem Militärputsch kommen. Er meinte: “Wenn diese Länder keine Austeritätspolitik umsetzen, könnte dort die Demokratie, wie wir sie kennen, verschwinden.”
Es stimmt aber auch, dass die europäische Bourgeoisie bereits wichtige Erfahrungen mit dem Faschismus gemacht hat und den faschistischen Abenteurern nicht so leicht die Macht übertragen wird. Es ist viel wahrscheinlicher, dass die Reaktion, wenn die Bedingungen dafür einmal gereift sind, die Form einer Militärdiktatur (Bonapartismus) annehmen wird. Eine solche Möglichkeit wurde schon in den 1970ern in Italien und anderen Ländern diskutiert (“Gladio” und die P2-Loge).
“Gladio” war Teil eines NATO-weiten Notfallplans für ganze Europa, der gegebenenfalls die Machtübernahme durch das Militär vorsah. Der Militärputsch in Griechenland im Jahre 1967 basierte genau auf diesem Plan. Dies zeigt, dass die Bourgeoisie schon vor langem zu dem Schluss gekommen ist, es wäre besser sich auf die Spitzen des Militärapparates als auf demagogische, populistische und somit weniger leicht kontrollierbare Elemente zu stützen.
So weit sie überhaupt existieren, sind die faschistischen Organisationen in den meisten Fällen sehr klein. Sie können sehr gewalttätig sein und durch Übergriffe provozieren, aber sie können nicht die Machtfrage stellen.
Die bürgerliche Demokratie ist eine sehr fragile Pflanze, die nur auf dem fruchtbaren Boden wirtschaftlicher Prosperität wachsen kann. Die Vertiefung der Krise wird zu einer scharfen Polarisierung zwischen den Klassen führen, die in den normalen Kanälen der Demokratie nicht im Zaum gehalten werden kann. Nichtsdestotrotz wird die herrschende Klasse erst dann zu offener Reaktion greifen, wenn die ArbeiterInnenklasse eine Reihe von sehr schweren Niederlagen erlitten hat. Lange bevor die Frage einer faschistischen oder bonapartistischen Reaktion gestellt wird, werden die ArbeiterInnen mehrere Gelegenheiten haben die Macht zu erobern. Auf der Grundlage dieser Ereignisse wird es viele Gelegenheiten zum Aufbau einer starken marxistischen Strömung geben.
Die Massenorganisationen
In der kommenden Periode wird die Frage der Massenorganisationen für die MarxistInnen eine zentrale Rolle einnehmen. Die Krise des Kapitalismus ist auch die Krise des Reformismus. Die ReformistInnen haben die Illusion, dass es möglich sei wieder zu der Situation zurückzukehren, die früher existierte. Aber das ist ausgeschlossen. Der Klassenkampf im Kapitalismus ist der Kampf um die Verteilung des von der ArbeiterInnenklasse geschaffenen Mehrwerts. Solange die KapitalistInnen im Produktionsprozess genügend Mehrwert sich aneignen können, können sie den sozialen Frieden kaufen. Aber das ist jetzt nicht mehr der Fall.
In den 1970er Jahren war der Linksreformismus dominant und begann sich sogar in manchen Fällen in Richtung Zentrismus zu entwickeln. Aber in den 1980ern wurde dieser Trend umgekehrt. Es gab eine generelle Rechtsentwicklung in allen sozialdemokratischen Parteien und auch in den KPen. Der Linksreformismus wurde überall geschwächt oder brach völlig in sich zusammen. Das ist das Ergebnis von fast drei Jahrzehnten Wirtschaftsaufschwung, der die Degeneration dieser Parteien besiegelt hat, die sogar viel weiter ging als es die MarxistInnen vorhersehen konnten.
Anstatt mit einem klassenkämpferischen Programm die eigene Basis zu mobilisieren, hat die Krise die reformistischen Führungen in die entgegengesetzte Richtung gestoßen. Diese klammerten sich an die Bourgeoisie und unterstützten die staatlichen Banken- und Rettungspakete genauso wie massive Kürzungen und Sparprogramme im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich.
Der rechte Reformismus glaubt doch tatsächlich, es sei seine “schlaue Realpolitik“ gewesen, die in der Vergangenheit Wahlsiege möglich gemacht hat. In Wirklichkeit war es dort wo er Wahlen gewann so, dass die Sozialdemokratie trotz ihrer Politik und nicht wegen dieser gewann. Durch den kapitalistischen Aufschwung erlebte diese Spielart des Reformismus einen gewissen Auftrieb. Außerdem gab es keine linke Alternative. Aber jetzt in der Krise zeigt sich der wahre Charakter dieser Politik. Diese rechten Führungen werden mit der Zeit keine Mehrheiten mehr finden und durch andere Kräfte ersetzt werden, die weiter links stehen und den Unmut der Massen besser widerspiegeln, wenn auch auf verwirrte, unzureichende und inkonsistente Art und Weise. Das ist ein unvermeidliches Stadium, das die Bewegung wird durchlaufen müssen.
Die Krise wird sich zuerst in den Gewerkschaften auswirken. In seinem Artikel Perspectives for the Economic Upturn (August 18 1932) schrieb Trotzki, dass RevolutionärInnen geduldig sein müssen. Er schreibt auch, dass jedes Parteimitglied verpflichtet sein muss, der Gewerkschaft beizutreten. Er betonte die Wichtigkeit eine stärkeren Verbindung zu den Massenorganisationen, vor allem zu den Gewerkschaften. Das ist kein Zufall. In einer Krise spüren die ArbeiterInnen die Notwendigkeit der Massenorganisationen, weil sie sonst nicht ihre Interessen verteidigen können. Und die Krise wird an diesen Organisationen ihre Spuren hinterlassen.
In einzelnen Fällen wird es mit einer schlauen Taktik möglich sein, die Führung von Massenbewegungen zu übernehmen. Aber es ist ausgeschlossen, dass kleine revolutionäre Organisationen die traditionellen Massenorganisationen ersetzen können.
Wir sind zu einer Situation zurückgekehrt, wie sie von Trotzki 1938 im Übergangsprogramm beschrieben wird: Eine organische Krise des Kapitalismus, aus der es keinen anderen Ausweg als weitere Einschnitte und fallende Lebensstandards gibt. Dennoch, wenn Trotzki von einer organischen Krise schrieb, meinte er nicht, dass es keine kurzfristige Erholung der Wirtschaft geben kann. Der Konjunkturzyklus wird nicht verschwinden, solange der Kapitalismus nicht gestürzt ist. Aber der Charakter des Konjunkturzyklus ist in der Periode des kapitalistischen Verfalls ein anderer als in seiner „Sturm und Drang“-Phase.
Der Zusammenbruch des Stalinismus hat die reformistische und nationalistische Degeneration der ehemals stalinistischen Parteien noch mehr verstärkt, genau wie es Trotzki 1928 vorhergesehen hat. Im Fall von Italien, hat die ehemalige „kommunistische“ Partei sich selbst, nach der Abspaltung der Rifondazione Comunista, in eine demokratische Partei verwandelt – etwas, was Blair in Großbritannien mit der Labour Party versucht hat, was ihm aber nicht gelungen ist. Dennoch ist das Argument der Linksradikalen, dass die traditionellen Massenparteien tot seien, nicht neu. Doch die Geschichte zeigt das Gegenteil.
1931 wurde die französische KP aufgrund ihrer linksradikalen Politik in der dritten Periode auf nur 5.000 Mitglieder reduziert. Aber sie erholte sich bald und wurde wieder eine Massenkraft. 1968 erhielt die französische SP nur 4% bei den Wahlen und wurde von den Sekten abgeschrieben, aber sie wurde die Massenpartei der französischen ArbeiterInnenklasse. 1980 bekam die Labour Party nur 28% der Stimmen und es wurde weithin angenommen, dass Labour nie wieder eine Wahl gewinnen wird können. Dennoch errang Labour 1998 einen Erdrutschsieg. Es gibt noch viele weitere solcher Beispiele.
Die Erklärung ist einfach. Die ArbeiterInnen haben keine Alternative zu den traditionellen Massenorganisationen. Auch wenn ihre Stimmenanzahl mal steigen mal fallen mag, wichtig ist zu verstehen, dass die reformistischen und ex-stalinistischen Parteien über riesige Unterstützungsreserven in der Klasse verfügen. Die ArbeiterInnen können mit kleinen Organisationen nicht viel anfangen. Wenn sie sich in ihrer Masse zu bewegen beginnen, passiert das unausweichlich über den Weg der traditionellen Massenorganisationen. Ted Grant entwickelte und betonte immer diese Gesetzmäßigkeit, welche durch die historische Erfahrung immer und immer wieder bestätigt wurde. Alle Versuche der radikalen Linken neue revolutionäre Parteien abseits der Massenorganisationen aufzubauen, endeten in einer Farce. Der Grund: Sie wollten nicht verstehen, wie sich die Klasse bewegt.
Es wird gern behauptet, dass das Bewusstsein weit zurückgeworfen worden sei. Aber der historische Materialismus lehrt uns, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Das Problem ist, dass das Bewusstsein der objektiven Situation hinterherhinkt, die Massenorganisationen hinter dem Bewusstsein, und die Führung der ArbeiterInnenklasse hinkt noch weiter hinterher. Das ist der Hauptwiderspruch der gegenwärtigen Periode. Er muss gelöst und er wird gelöst werden. Dialektisch gesehen wird das Bewusstsein auf explosive Art und Weise die Realität einholen.
Die neuen Schichten, die in den Kampf eintreten werden, werden viel militanter sein als die ältere Generation, deren Psychologie durch die Jahre des Booms geformt wurde. Aber ihnen werden die direkten Erfahrungen der Vergangenheit fehlen, geschweige denn werden sie die Parteiprogramme und die Reden der Führungen genauer studieren. Sie werden vielmehr von einer verschwommenen Idee geleitet, dass es notwendig ist, die Gesellschaft zu verändern. In der nächsten Periode werden sich die Massenparteien mit tausenden ArbeiterInnen und Jugendlichen füllen, die die Gesellschaft verändern wollen.
Dieser Prozess wird seine Auswirkungen auf die Führung haben, die mehrfach erneuert werden wird. Der Prozess wird in den Gewerkschaften beginnen, wo die alten, vom Aufschwung geformten Führungen unter enormen Druck kommen werden: Entweder werden sie auf diesen Druck reagieren und nach links gehen, oder sie werden zur Seite gestoßen und von neuen, frischeren Kräften ersetzt werden, die mehr in Verbindung mit der Stimmung der Basis stehen. Krisen und Spaltungen sind unvermeidlich und ab einem bestimmten Punkt werden sich linksreformistische und zentristische Tendenzen bilden.
Gefahr des Linksradikalismus
Dass unsere Perspektiven für die Massenoranisationen solange nicht Realität wurden, hat in den Reihen der marxistischen Strömung eine gewisse politische Unsicherheit ausgelöst, die sich in opportunistischen und linksradikalen Stimmungen niederschlug. Ungeduld ist die Mutter sowohl des Opportunismus als auch des Linksradikalismus. Sie sind Kopf und Zahl ein und derselben Münze. Beide Strömungen suchen einen Abstecher auf dem Weg zum Erfolg. Sie versuchen zu ernten, wo sie nicht gesät haben. Das ist unmöglich. Die IMT kann gegenüber diesen Tendenzen keine Zugeständnisse machen, denn die marxistische Strömung wurde in einem konsequenten Kampf gegen den Linksradikalismus und den Opportunismus geschaffen.
Die marxistische Strömung ist natürlich nicht immun gegenüber dem Druck des Kapitalismus. Die plötzliche Wendung der Situation und ihr widersprüchlicher Charakter spiegeln sich notwendigerweise in Meinungsverschiedenheiten, ja sogar in scharfen internen Konflikten wider. Das darf uns nicht überraschen. Geringe Fehler in der einen oder anderen Sektion, die unter „normelen“ Bedingungen mit der Zeit auf Basis von Ereignissen und Diskussionen korrigiert werden könnten, können sich plötzlich zu ernsthafteren Problemen auswachsen.
Ungeduld mit dem Gang der Dinge kennezichnet eine ganze Schicht von AktivistInnen, die nicht den Vorteil einer wissenschaftlichen marxistischen Perspektive haben. Viele AktivistInnen in unserem Umfeld sind aufgrund vergangener Niederlagen demoralisiert, und diese Stimmung kann auch auf einige unserer eigenen GenossInnen abfärben.
Das größte Problem unserer Epoche ist in der Krise der Führung der ArbeiterInnenklasse zu sehen. Wir sind eine kleine Organisation von weltweit ein paar tausend Kadern. Unsere Kräfte sind zu schwach, um einen bedeutenden Einfluss auf die Bewegung der Massen ausüben zu können. Wir sind immer noch in der Phase der Rekrutierung der „ones and twos“, obwohl wir, wenn wir korrekt arbeiten, ganze Gruppen von ArbeiterInnen gewinnen können, wie die Erfahrung unserer Arbeit in Brasilien zeigt.
Wir müssen einen Sinn für Proportionen haben. Zum jetzigen Zeitpunkt liegt unsere Aufgabe vor allem im Aufbau einer Kaderorganisation. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, dass wir unsere Kräfte überschätzen. Aber die gegenwärtige Situation ist günstiger als sie jemals seit der Gründung der IMT war. Wir haben manche Fehler begangen; aber die Bilanz der Arbeit der Internationale im letzten Jahrzehnt ist extrem günstig. Die politische Autorität der IMT war noch nie so groß wie heute.
Es gibt weder Allheilmittel, noch Abkürzungen. Ungeduld ist unser schlimmster Feind. Wir müssen Geduld und Vertrauen in die ArbeiterInnenklasse haben. Wir dürfen nicht zu weit vor der Klasse sein, sondern müssen sie vielmehr durch ihre Erfahrungen hindurch begleiten. Lenin hielt sehr viel von dem russischen Sprichwort: „Das Leben lehrt.“ Die ArbeiterInnen lernen, ziehen Schlussfolgerungen aus ihren eigenen Erfahrungen. Wir müssen deshalb an den Kämpfen der ArbeiterInnen und der Jugend teilnehmen und in jedem Stadium unserem Umfeld und unseren GenossInnen eine Erklärung der Bedeutung der Ereignisse, die sich entfalten, bieten.
Vor allen Dingen bauen wir eine Kaderorganisation auf. Dies ist die Vorbedingung für unseren zukünftigen Erfolg. Engels erklärte (und Lenin hob das immer wieder hervor), dass wir nicht nur dem wirtschaftlichen (Streik) und dem politischen Kampf sondern auch dem ideologischen Klassenkampf unsere Aufmerksamkeit schenken müssen. Die ist zum jetzigen Zeitpunkt besonders wichtig. Die IMT steht in den besten Traditionen des Marxismus und Trotzkismus. Wir haben durchgängig die marxistische Theorie verteidigt und weiter entwickelt. Wer die Theorie verachtet, der ist dem politischen und organisatorischen Bankrott geweiht, wie das Schicksal der alten Internationale (CWI) beweist.
Die Zukunft der IMT hängt von unserer Fähigkeit zur Kaderbildung ab. Wir müssen dem Druck widerstehen und einen Kampf sowohl gegen opportunistische als auch gegen ultralinke Tendenzen führen. Solange wir gegen den Strom schwimmen müssen, werden wir unvermeidlicherweise auch Verluste einstecken müssen. Viele andere können sich nicht den neuen Bedingungen anpassen, wenn sich die Strömung einmal zu drehen beginnt. Es ist kein Zufall, dass sich die Linke genau jetzt in einer Krise befindet. Der Druck der objektiven Situation wird in unseren eigenen Reihen einen Ausdruck finden und vorher verborgene Schwächen aufdecken. Das ist unvermeidlich. Die revolutionäre Strömung ist nicht immun gegen den Druck der objektiven Situation innerhalb der Gesellschaft und der ArbeiterInnenbewegung.
Für den Linksradikalismus ist die Situation immer revolutionär und das Proletariat ständig bereit einen Generalstreik zu organisieren und Barrikaden zu bauen. Diese Menschen leben in einer Welt, die wenig mit dem richtigen Leben der ArbeiterInnen zu tun hat. Für sie ist es so, als hätte es nie ein Übergangsprogramm gegeben. Dadurch sind sie zu politischer Bedeutungslosigkeit verdammt.
Du kannst nicht ernten, wo du nicht gesät hast. Das ist es, was alle Linksradikalen aber versuchen. Die Arbeit in den Massenorganisationen erfordert geduldige, langfristige Arbeit, die Eroberung einer Position nach der anderen, das Gewinnen und Ausbilden von einzelnen Kadern. Dafür gibt es keinen Ersatz. Die ArbeiterInnenklasse versteht keine kleinen ‘revolutionären’ Organisationen, sondern muss immer versuchen durch die traditionellen Organisationen der Klasse einen Ausdruck zu finden. In Ted Grants Worten: „Außerhalb der Massenorganisationen gibt es nichts.“
Perspektiven und unsere Aufgaben
Perspektiven sind eine Wissenschaft, aber keine präzise. Gewisse Zweige der Physik können mit erstaunlicher Genauigkeit Vorhersagen treffen, aber es gibt andere Wissenschaften, so wie die Geologie, die nicht so eine privilegierte Stellung haben. Trotz allen Fortschritts der Seismologie ist es bis heute unmöglich dien genauen Zeitpunkt eines Erdbebens vorherzusagen. Alles was ausgesagt werden kann ist, dass dieser und jener Platz auf einer geologischen Verwerfungslinie liegt und, dass früher oder später ein Erdbeben passieren wird.
In den so genannten Gesellschaftswissenschaften ist die Situation viel komplizierter. Man braucht sich nur die verzweifelten Kommentare der bürgerlichen ÖkonomInnen in den letzten Monaten anschauen. Dieselben Damen und Herren, die sich vorgestellt haben, dass ihre ausgeklügelten Modelle das Verhalten der kapitalistischen Weltwirtschaft vorhersagen könnten und die voller Zuversicht eine Krise für unmöglich erachteten, streuen nun Asche über ihre Häupter. Barry Eichengreen, ein berühmter Wirtschaftshistoriker, schreibt: „Die Krise hat vieles von dem, was wir über die Wirtschaft dachten, in Frage gestellt.“ Paul Krugman, dem 2008 der Wirtschaftsnobelpreis überreicht worden ist, sagte: „Die letzten dreißig Jahre ist die makroökonomische Theorie im besten Fall eindrucksvoll nutzlos gewesen, und richtiggehend schädlich im schlimmsten.“ (Unsere Hervorhebung).
Die Bürgerlichen verstehen nichts. Sie verstehen nicht was passiert und befinden sich in einem Zustand der Panik. Das ist der Grund, wieso sie Maßnahmen setzen, die aus Sicht der orthodoxen Ökonomie komplett unverantwortlich sind. Das ist ein Zeichen der Verzweiflung. Die komplette Unfähigkeit der bürgerlichen Ökonomie auch nur irgendetwas zu erklären ist mehr als deutlich. Die MarxistInnen waren in der Lage die Unvermeidlichkeit der Krise vorherzusehen und in diesem Sinne der bürgerlichen Ökonomie weit überlegen. Aber wir waren genauso wenig in der Lage den genauen Zeitpunkt vorherzusagen, wie die Seismologen den genauen Zeitpunkt des gigantischen Erdbebens, das Haiti verwüstet hat, nicht vorhersehen konnten.
Es ist falsch mehr von einem Perspektivdokument zu verlangen als es zu geben in der Lage ist. Es ist keine Kristallkugel sondern eine Arbeitshypothese. Und wie jede Hypothese muss sie permanent anhand des wirklichen Verlaufs der Ereignisse überprüft, mit neuen Daten angefüllt, abgeändert oder notfalls sogar verworfen werden. In anderen Worten handelt es sich um einen Prozess der sukzessiven Annäherung.
Lasst uns dieselbe Idee anders ausdrücken. Bevor ein General in die Schlacht zieht, muss er zunächst einen Schlachtplan ausarbeiten, der versucht darzustellen, wie sie sich entfalten wird. Er wird alle verfügbaren Informationen in seine Überlegungen einbeziehen, wie die Anzahl seiner Truppen und der des Feindes, den Stand ihrer Ausbildung und ihrer Moral, die relative Feuerkraft beider Seiten, die Geographie der Umgebung, das Wetter und so weiter. Er wird auch versuchen die wahrscheinlichen Bewegungen des Feindes, seine Taktik usw. in seine Überlegungen einzubeziehen.
Das ist, wie Napoleon sagte, eine sehr komplexe Gleichung, mit einer unendlichen Anzahl an Variablen. Nichtsdestotrotz wäre er ein sehr armseliger General, wenn er seine Truppen ohne Schlachtplan in den Kampf schicken würde. Andererseits wäre er ein noch schlechterer General, wenn er darauf bestehen würde sich streng an den ursprünglichen Schlachtplan zu halten und alle Veränderungen ignorieren würde, die im Laufe des Kampfes stattfinden und die er ursprünglich nicht vorhergesehen hat.
Durch das konstante Überprüfen und Berichtigen unserer Perspektiven auf Grundlage der konkreten Entwicklungen fördern wir unser Verständnis. Unsere Aufgabe ist es, so gut wir können das politische, soziale und ökonomische Stadium, in dem wir uns befinden, zu verstehen, um in der Bewegung intervenieren zu können. Auf diesem Weg wollen wir uns in der ArbeiterInnenbewegung verankern und eine starke revolutionäre Kraft aufbauen.
Eine tiefe Krise ist nicht die beste Perspektive für unsere Arbeit. Die günstigste Perspektive ist die, die am wahrscheinlichsten ist: Eine lange Periode schwachen Wachstums, begleitet von konstanten Angriffen auf die Lebensstandards. Eine solche Perspektive ist ein fertiges Rezept für den Klassenkampf. Eins ist sicher: Die Bürgerlichen können nicht zu den Tagen des Nachkriegsaufschwungs zurückkehren. Sogar eine Rückkehr zu einer Art künstlichem Konsumboom, wie in den 1990ern, übersteigt ihre derzeitigen Möglichkeiten.
Lenin schrieb einmal einen Artikel mit dem Titel Brennbares Material der Weltpolitik. Jetzt finden wir überall brennbares Material vor, und die Bedingungen für die Revolution reifen heran.
Wir treten in eine Periode ein, die geprägt sein wird von großen Erschütterungen, die einige Jahre dauern wird, ähnlich der Periode in Spanien 1930 bis 1937. Es wird dabei Niederlagen und Rückschläge geben, aber unter diesen Bedingungen werden die Massen sehr schnell lernen.
Wir dürfen natürlich nicht übertreiben: Wir stehen erst am Anfang. Es ist kein einfacher Prozess. Wir müssen geduldig sein. Aber zwei Dinge müssen uns klar sein: Wir können zumindest den Beginn der Veränderung des Massenbewusstseins bereits sehen. Millionen Menschen sind auf eine Art offen für die Ideen des Marxismus, wie es früher nicht der Fall war.
In dieser Situation ist reine Agitation von beschränktem Wert. Die ernsthaften ArbeiterInnen wollen echte Erklärungen und keine billigen Slogans. Aber die ArbeiterInnenklasse wird sowohl durch Siege als auch durch Niederlagen lernen, und unsere Ideen werden in diesem Prozess auf ein Echo stoßen. Wir werden einige Zeit haben um die Kräfte des Marxismus aufzubauen. Aber die Zeit, die uns gegeben wird, ist nicht unbeschränkt. Wir müssen einen Sinn für die Dringlichkeit des Aufbaus der marxistischen Strömung haben.
Diese Internationale kann eine wichtige Rolle spielen, vorausgesetzt, dass wir einen kühlen Kopf bewahren und nicht zu viele Fehler machen. Unsere Kräfte sind immer noch sehr schwach, wir kämpfen in vielen Ländern erst darum, einen ersten Nukleus der IMT aufzubauen, aber wir fangen an, uns zu entwickeln. Wir sind nicht mehr bloße BeobachterInnen, sondern in einigen sehr wichtigen Ländern ein aktiver Teil der Bewegung. Wir haben die korrekten Ideen, die Ideen des Marxismus. Wir haben eine richtige Taktik und die richtigen Methoden, und vor allem sind wir bereit diese Ideen in den Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse zu verankern. Daher können wir höchst zuversichtlich in die Zukunft blicken.
Unsere Internationale hat den Finger am Puls der Geschichte. Wir müssen die Ereignisse genau verfolgen, vor allem das Innenleben der ArbeiterInnenorganisationen. In dem Buch “Die ersten fünf Jahre der Komintern” spricht Trotzki von “jener Strömung, die mit der Revolution wächst, die imstande ist ihre eigene Zukunft darin zu erblicken, die sich klare Ziele steckt und eine Vorstellung davon hat, wie diese zu erreichen sind.” (Bd. 1, S.72)
Das ist es was wir brauchen, wenn wir erfolgreich sein wollen im Aufbau des Instruments, das das Proletariat braucht, um die sozialistische Umwälzung der Gesellschaft durchführen zu können.
Die erste Fassung dieses Dokuments stammt aus dem Februar dieses Jahres. Nach einem längeren Diskussionsprozess in allen Sektionen und Gruppen der IMT wurde es auf dem Weltkongress der IMT Anfang August in der vorliegenden Form beschlossen.