In Deutschland regiert nach diesen Wahlen eine schwarz-gelbe Bürgerblockregierung. Die SPD ist in einer historischen Krise und die Linke wird stärker. Eine Analyse von Hans-Gerd Öfinger.
Nun hat das Kapital endlich wieder seine Wunschregierung – eine Koalition aus CDU/CSU und FDP mit stabiler parlamentarischer Mehrheit. Prompt gingen denn auch am Montag früh an der Börse die Aktienkurse der Stromerzeuger RWE und E.on wieder hoch. Von einer Mehrheit für Schwarz-Gelb im Bundestag und Bundesrat erhoffen sich die Energiekonzerne jetzt eine Laufzeitverlängerung für alte Atomkraftwerke – und vieles mehr.
Nach elf Jahren Opposition kehrt die FDP gestärkt in die Bundesregierung zurück und wird als die lupenreine Interessenvertretung des Kapitals dort die Linie maßgeblich bestimmen. Die arbeitende Bevölkerung, Erwerbslose, Rentner und Jugendliche werden dabei den Kürzeren ziehen.
Es war eine Wahl der Rekorde bzw. Negativrekorde: die niedrigste Wahlbeteiligung und gleichzeitig das mit Abstand schlechste SPD-Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik. So gingen am Sonntag nur noch 70,8 Prozent der Wahlberechtigten wählen. Das ist deutlich weniger als jemals zuvor. Eine Rekordwahlbeteiligung gab es übrigens bei der Bundestagswahl 1972 mit 91,1%. Damit einher ging mit 45,8 Prozent der größte SPD-Wahlsieg aller Zeiten.
Im Vergleich zu 1972 hat die SPD ihren Stimmenanteil halbiert. Mit 23 Prozent am 27. September hat sie damit ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis aus dem Jahr 1953 (28 Prozent) noch deutlich unterschritten. Wie dramatisch der Erdrutsch bei der SPD aussieht, zeigt ein Blick auf absolute Zahlen. 1998, als die CDU/CSU/FDP-Regierung unter Kohl nach 16 Jahren abgewählt wurde und sich eine Wechselstimmung breit machte, errang die SPD bundesweit über 20 Millionen Zweitstimmen. Am letzten Sonntag waren es nur 9.988.843 Stimmen, also unter zehn Millionen. Im Klartext: Der SPD ist seit 1998 über die Hälfte ihrer Wähler davongelaufen. Besonders stark sind die SPD-Verluste bei den Arbeitern, Angestellten, Gewerkschaftsmitgliedern und Arbeitslosen. Allein gegenüber 2005 war es ein Minus von 6,2 Millionen Stimmen.
Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan
Dies ist die Quittung für eine elfjährige Regierungspolitik, die den abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen Verschlechterungen in Lebenstandard und Lebensqualität gebracht hat – insbesondere Agenda 2010, Hartz IV, immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit, Rente 67, Privatisierungen, Mehrwertsteuererhöhung, Sozialabbau und Kriegseinsätze. 2005 rettete sich die SPD-Führung in die „Große Koalition“. Das brachte sie dann endgültig an den Rande des Abgrunds und in eine existenzielle Krise.
Viele Leute haben nicht vergessen, dass die SPD im Wahlkampf vor vier Jahren heftig gegen die von der CDU vorgeschlagene Mehrwertsteuererhöhung um zwei Prozentpunkte polemisierte und die „Merkel-Steuer“ ablehnte. Wenig später einigten sich CDU/CSU und SPD auf eine Mehrwertsteueranhebung um drei Prozent! Die SPD hat die Drecksarbeit für das Kapital verrichtet und dafür die Quittung erhalten. Welcher Arbeiter sollte sich ausgerechnet für die Vordenker und Architekten der Agenda 2010 – für Müntefering und Steinmeier – begeistern? Jeder wusste, dass sich realistischerweise nur die Wahl zwischen Schwarz-Gelb und einer fortgesetzten Großen Koalition stellte. Welcher loyale SPD-Wahlkämpfer sollte sich also für eine fortgesetzte Große Koalition erwärmen und begeistern? Einen Tag vor der Wahl gestand mir eine SPD-Insiderin, dass ihr Schwarz-Gelb lieber wäre, weil noch einmal vier Jahre Große Koalition die SPD zerreißen würden. Was für eine Kampfmoral der alten „Arbeiterpartei“ SPD!
Erinnern wir uns: Vor gerade mal einem Jahr haben die Schröderianer den damaligen SPD-Chef Kurt Beck weggemobbt und ihn persönlich für Umfragewerte unter 30 Prozent verantwortlich gemacht. Jetzt haben sie – allen voran Müntefering und Steinmeier – die Sozialdemokratie derart geschwächt und heruntergewirtschaftet wie seit 80 Jahren nicht mehr – und wollen sie weiter führen. Es bleibt abzuwarten, ob sich die kritischen linken Kräfte in der SPD zu einer Palastrevolte aufraffen oder ob es beim Murren einzelner und kritischen Papieren bleibt. So etwas gab es zuletzt 1995, als Oskar Lafontaine mit einer flammenden Rede auf dem Mannheimer Bundesparteitag den amtierenden Parteichef Rudolf Scharping besiegte und die Grundlage für den Wahlsieg 1998 schuf. Ob sich heute ein stärkerer linker SPD-Flügel herausbildet und ob sich in der SPD wieder jemand vom Format eines Oskar Lafontaine findet, der so etwas anstellen könnte, bleibt abzuwarten. Vergessen wir nicht, dass der von der früheren hessischen SPD-Landesvorsitzenden Andrea Ypsilanti gestartete Versuch, 2008 in Hessen mit einer etwas linkeren Sozialdemokratie ein Gegengewicht zur rechten Parteiführung in Berlin aufzubauen, am Widerstand des rechten SPD-Flügels in Hessen und im Bund scheiterte.
Mit der Partei DIE LINKE ist erstmals nach dem 2. Weltkrieg eine in der Arbeiterschaft verankerte Kraft links von der SPD mit zweistelligem Ergebnis entstanden. Alle Versuche von Medien und reaktionären Politikern, DIE LINKE mit einer „Rote-Socken-Kampagne“ auszubremsen, sind gescheitert. DIE LINKE hat gut eine Million Stimmen hinzugewonnen – von 4,1 auf über 5,1 Millionen. Sie ist jetzt in allen Bundesländern mit klar über 5 Prozent vertreten und hat sich auch in vielen Arbeitervierteln westdeutscher Großstädte mit deutlich über zehn Prozent verankert. In den alten Bundesländen (Alt-BRD incl. West-Berlin) hat sich DIE LINKE gegenüber 2005 von 4,9% der Zweitstimmen auf 8,3% verbessert; dies entspricht einem absoluten Zuwachs um 1,06 Millionen Stimmen. In den östlichen Bundesländern, wo der Rückgang der Wahlbeteiligung noch drastischer ausfiel als im Westen (von 74,3% auf 64,8%) konnte die LINKE bei einem absoluten Rückgang der Stimmenzahl ihren Anteil von 25,3% auf 28,5% erhöhen und damit erstmals bei einer Bundestagswahl außerhalb von Berlin (Ost) 12 Direktmandate von der SPD erobern. Hier fiel die SPD von 30,4% auf 17,9% zurück; wegen der Stärke der LINKEN gibt es im Wahlgebiet Ost jedoch nach wie vor keine bürgerliche Mehrheit, sondern eine rechnerische Mehrheit links von CDU/CSU und FDP.
Die SPD hat jetzt nicht einmal mehr doppelt so viele Wähler wie DIE LINKE – 2005 betrug das Verhältnis noch 4:1. 1998 betrug das Verhältnis zwischen den Stimmen für SPD und PDS gar 8:1.
Die LINKE ist mit einem Anteil von 31 Prozent vor allem bei arbeitslosen Wählern stark verankert – weil sie als einzige relevante Partei gegen Hartz IV auftrat. All das erinnert ein Stückweit an die 1920er Jahre, als sich neben der SPD die KPD als Arbeiterpartei herausbildete und Wahlergebnisse deutlich über 10 Prozent erreichte.
CDU/CSU und SPD galten immer als die „Großen und die „Volksparteien“, die im Dreiparteiensystem in langen Nachkriegszeiten zusammen auf über 90 Prozent kamen. Jetzt liegen sie im Bund rechnerisch bei gerade mal 57 Prozent und damit selbst von einer Zwei-Drittel-Mehrheit weit entfernt. In Ländern wie Thüringen bringen es die beiden „Großen“ in der Summe nicht einmal mehr auf 50 Prozent. Die „kleineren“ Parteien FDP, Grüne und LINKE, die sich in beiden Lagern als die jeweilige konsequentere Alternative anboten und vom Verdruss mit CDU/CSU und SPD profitierten, sind keine „Kleinen“ mehr. Traditionelle Loyalität und Bindungen, wie sie über Jahrzehnte bestanden, lösen sich immer mehr auf. Auch das zeugt von zunehmende Instabilität in der Gesellschaft.
Für bürgerliche, konservative Wähler gab es diesmal so etwas wie eine Wechselstimmung. Sie hatten – anders als traditionelle SPD-Wähler – ein Ziel vor Augen und einen guten Grund, auf jeden Fall wählen zu gehen. Das Triumphgeheul der Bürgerlichen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch CDU und CSU unterm Strich so schlecht abschnitten wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. 48,4 Prozent der Stimmen für die künftige bürgerliche Koalition sind nicht einmal eine absolute Mehrheit der Wähler. Bei der miserablen Wahlbeteiligung von 70,8 sind das 34,3 Prozent der Wahlberechtigten – also ein gutes Drittel der Bevölkerung. Im Vergleich dazu kamen CDU/CSU und FDP bei der Bundestagswahl 1983 auf einen Stimmenanteil von 55,8 Prozent. Angesichts einer Wahlbeteiligung von über 89 Prozent entsprach dies damals einem Rückhalt 49,7 Prozent gemessen an der Gesamtbevölkerung, dies war also knapp die Hälfte. Dies zeigt, dass die gesellschaftliche Massenbasis für das bürgerliche Lager zu Beginn einer neuen „schwarz-gelben“ Regierung weitaus geringer ist als in den 1980er Jahren, als CDU/CSU und FDP von der Enttäuschung mit 13 Jahren SPD-geführter Regierung profitierten und sich die Grünen als – damals noch linke – Alternative herausbildeten.
Daher ist es auch unangebracht, von einem allgemeinen Rechtsruck in der Gesellschaft zu reden. Denn die extreme Rechte blieb – erfreulicherweise – auch bei dieser Bundestagswahl chancenlos und brachte selbst in der Summe nur zwei Prozent in die Waagschale (1,5% NPD, 0,4% REP und 0,1% DVU). Im Wahlgebiet Ost ging der Zweitstimmenanteil der NPD von 3,6% auf 3,1% zurück. Absolut verloren die Neonazis über ein Drittel ihrer bisherigen Ost-Wähler. Im Westen stagniert die NPD bei 1,1% oder rund 40.000 stimmen.
Im bürgerlichen Lager gab es eine Wanderung zum vermeintlich konsequenteren neoliberalen Pol FDP. Als Regierungsparteien werden CDU/CSU und FDP – gerade auch in der Krise – die Erwartungen der Masse ihrer Anhänger nicht erfüllen können. Bisher war die FDP in der privilegierten Position, dass sie aus der Opposition heraus ruhig mit ansehen konnte, wie die SPD-Führung neoliberale Politik betrieb. Denn viel von dem, was die Regierungen Schröder und Merkel betrieben haben, wurde so schon in den 1980ern in FDP-Programmen gefordert. Die SPD-Führung hat ihnen die Drecksarbeit abgenommen.
Die neue Regierung Merkel-Westerwelle wird sehr schnell unter Beweis stellen, dass auch sie nicht der kapitalistischen Krise Herr wird und dass die FDP-Sprüche vom nachhaltigen und wunderbaren Wirtschaftsaufschwung durch Steuersenkungen hohles Gerede sind. Massenentlassungen werden die Arbeitslosigkeit in die Höhe treiben. Die neue Regierung wird die Krisenlasten auf den Rücken der breiten Masse abwälzen und damit über kurz oder lang breiten Widerstand und soziale Unruhe auslösen.
Vor diesem Hintergrund muss die Partei DIE LINKE gerade auch in den Wochen nach der Wahl regelmäßig auf der Straße sichtbar sein und sich in Stadt und Land, in Betrieben und Gewerkschaften, in sozialen Brennpunkten, Schulen, Hochschulen und Bewegungen verankern. Viele enttäuschte SPD-Anhänger und ehemalige SPD-Mitglieder werden sich für DIE LINKE interessieren. Die kommenden Monate und Jahre müssen wir dazu nutzen, um klare politische Alternativen in der Partei durchzusetzen und eine grundlegende Alternative zum kapitalistischen System aufzuzeigen.
Zum Weiterlesen:
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