Bei der „Viennale“ hatte der Film über die Marx-Tochter Eleanor seine Österreich-Premiere. Der Streifen hat leider mehr von einem Beziehungsdrama als von einem politischen Porträt. Konstantin Korn zeichnet das Wirken dieser viel zu wenig beachteten Revolutionärin nach.
Eleanor, die von klein auf „Tussy“ gerufen wurde, war die Tochter von Karl und Jenny Marx. Kinder großer Persönlichkeiten haben es selten leicht, ihren eigenen Weg zu gehen. Nur zu oft ist ihnen ihr ihr berühmter Name eine viel zu schwere Last. Eleanor verdient sich aber aufgrund ihrer eigenen Leistungen einen Platz im kollektiven Gedächtnis der revolutionären Arbeiter(innen)bewegung.
Der Film von Susanna Nicchiarelli leistet dazu aber wenig Beitrag. Eleanor Marx auf das Scheitern ihrer in der Tat toxischen Beziehung (siehe „Engels‘ Briefe an Kautsky“ in Funke Nr. 186) mit dem Darwin-Schüler Edward Aveling zu reduzieren, der sie nur durch einen Selbstmord zu entkommen glaubte, wird ihrem Leben nicht gerecht.
Die Familie Marx durchlebte das Schicksal politischer Flüchtlinge. Eleanor wusste, was es bedeutet, arm zu sein. Doch die materielle Armut wurde ausgeglichen durch ein Umfeld, in dem die geistige und intellektuelle Entwicklung des jungen Mädchens in unvorstellbarem Maße gefördert wurde. Durch ihren Vater lernte sie die Stücke von Shakespeare lieben. Schon mit 14 Jahren schrieb sie für Zeitungen Theaterkritiken, und mit 15 Jahren wurde sie unter dem Eindruck der Pariser Kommune Revolutionärin. Doch die Pflege ihrer kranken Eltern nahm sie lange Zeit in Anspruch; erst mit dem Tod des Vaters konnte sie ihre eigenständige Rolle als vielbeachtete Schriftstellerin, politische Journalistin und Agitatorin entfalten.
Sie war eine der ersten bedeutungsvollen Frauen in der männlich dominierten internationalen Arbeiterbewegung. Mit ihrem ganzen Tun verstieß sie gegen die damals herrschenden Konventionen, und wurde dabei wohl durch Shakespeares „Wie es euch gefällt“ beeinflusst. Dies reichte von ihren öffentlichen Auftritten bei Gewerkschaftsversammlungen bis zu ihrer Beziehung mit dem verheirateten Aveling, den sie vom Sozialismus überzeugte. Die Arbeit war ihr „die Hauptsache“, wichtiger als die „natürliche Berufung“ der Frau zur gehorsamen Gattin, Hausfrau und Mutter. In ihrem wichtigsten theoretischen Werk „Die Frauenfrage“, das sie bewusst mit Aveling gemeinsam verfasste, werden diese althergebrachten Vorstellungen von der quasi-naturgesetzlich festgeschriebenen Rolle der Frau zurückgewiesen: „Es handelt sich nur um bestimmte zeitweilige gesellschaftliche Übereinkünfte, wie etwa die Konvention, daß Französisch die Sprache der Diplomatie ist.“
„Die Frauenfrage“ ist eine populäre Darstellung der materialistischen Methode im Kampf für Frauenbefreiung, gespickt mit vielen literarischen Bezügen zu Ibsen, Shakespeare u.a. Die unterdrückte Stellung der Frau leitet das Autorenduo aus ihrer ökonomischen Abhängigkeit ab, die Lösung der Frauenfrage sei daher untrennbar verbunden mit der Frage der Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft. Die Frauenrechtlerinnen würden gerade diesen Zusammenhang ausblenden und damit unweigerlich im Rahmen des Kapitalismus verharren. Ohne soziale Umwälzung aber könnten „die Frauen nie frei sein“.
Eleanor Marx ist außerdem eine scharfe Kritikerin der bürgerlichen Ehe- und Sexualmoral. Die Prostitution war in ihren Augen eine der „schlimmsten Auswüchse dieser Gesellschaft“, ihre Beseitigung nur durch die Befreiung von der kapitalistischen Produktionsweise denkbar. Das Tabuthema Sexualität war für Eleanor so natürlich wie der Herzschlag oder die Atmung und sie sprach sich für eine offene und wissenschaftliche Sexualerziehung aus – auch wenn sie sich als Kind ihrer Zeit erweist, wenn sie Verständnis für die „Abscheu gegenüber Unnatürlichem“ zeigt.
Die erste Voraussetzung für die Unabhängigkeit, Gleichstellung und somit Befreiung der Frau war für Eleanor Marx „die Enteignung des gesamten Privateigentums an Grundbesitz und aller anderen Produktionsmittel“, die die „Abschaffung des Staates, so wie er heute besteht“ nach sich ziehen würde. Die Vorstellung, man könne Ausbeutung und Unterdrückung im Rahmen des heutigen Staates beseitigen, bezeichnete sie häufigste „Verwirrung über unsere Ziele“.
Eleanor Marx war sich bewusst, dass sich die Frauen im Kampf um ihre Befreiung aus der „organisierten Tyrannei der Männer“ nichts „von den Männern an sich“ erwarten können, aber sie wusste, dass im gemeinsamen Kampf der Arbeiterinnen mit ihren männlichen Kollegen der Schlüssel zur Überwindung des Kapitalismus und der Frauenunterdrückung lag. Die Organisierung der Arbeiterinnen in Gewerkschaften und einer sozialistischen Arbeiterpartei war ihr deshalb Lebensaufgabe. Im Londoner East End war sie eine angesehene Führerin wichtiger Streikbewegungen – etwa der Streichholzarbeiterinnen und Docker –, die die Gewerkschaften zu einer Massenbewegung aufsteigen ließen. Wenn sie ihre Reden hielt, dann riefen die ArbeiterInnen „Good old stoker!“ (Ein Stoker war ein Heizkörper in den Gasthäusern).
Mit dem Artikel „Wie sollen wir organisieren“ in der neu geschaffenen Wiener „Arbeiterinnen-Zeitung“ leistete sie einen wesentlichen Beitrag beim Aufbau der jungen proletarischen Frauenbewegung in Österreich. Dabei argumentierte sie für eine gemeinsame Organisation von männlichen und weiblichen ArbeiterInnen in Gewerkschaften und Arbeiterparteien. Ihr großes Talent bewies sie auch bei einer Amerikareise, wo sie bei einer Versammlung der anarchistisch dominierten US-Gewerkschaften eine Rede hielt: „Wie aber könnt Ihr Eure Forderungen durchsetzen? Ich will Euch sagen wie, meine Freunde: Durch das Werfen dreier Bomben, nämlich durch Agitation, Organisation und Erziehung!“
All das unterstreicht, was Wilhelm Liebknecht über sie schrieb. Sie war kein „Mond-Wesen ohne eigenes Licht, die ihr ganzes Licht von der väterlichen oder mütterlichen Sonne empfangen und bloß ein fremdes Licht widerstrahlen… Sie war selber eine Sonnennatur … auch wenn sie nicht die Tochter ihres Vaters gewesen wäre.“
(Funke Nr.188/11.11.2020)