Vor 500 Jahren ist Leonardo da Vinci gestorben. Er war ein Riese in der Geschichte des menschlichen Denkens und der Kultur. Alan Woods würdigt den großen Künstler, Wissenschaftler und Philosophen, dessen Leben und Ideen auf so vielen Gebieten revolutionär waren.
„Hindernisse können mich nicht aufhalten; Entschlossenheit bringt jedes Hindernis zu Fall. Wer seinem Stern folgt, kehre nicht um.“ (Leonardo da Vinci, 14/15. April 1452 – 2. Mai 1519).
Die Renaissance
Es gibt in der menschlichen Geschichte Abschnitte, die grundlegende Wendepunkte darstellen. Solche Abschnitte sind durch große soziale, politische und kulturelle Transformationen gekennzeichnet. Ideen, Gewohnheiten und Traditionen, die jahrhunderte-, ja jahrtausendelang unhinterfragt akzeptiert wurden, werden plötzlich verworfen. Die Gesellschaft befindet sich in einem Zustand der Gärung, einer Gärung, die auch auf den Geist der Menschen einwirkt. Eine Lebensweise, die alt und gebrechlich geworden ist, beginnt zu wanken. Die Menschen verstehen nicht, was geschieht, doch jeder spürt, wie eine grundsätzliche Veränderung herannaht. Eine solche Zeit der gesellschaftlichen Umwälzung drückt sich zwangsläufig durch tiefgreifende Veränderungen in Religion, Philosophie und Kunst aus.
Im sechzehnten Jahrhundert erreichte die Ausdehnung der Macht der Bourgeoisie ihren Höhepunkt; es war einer der bemerkenswertesten Zeitabschnitte in der Menschheitsgeschichte. In Deutschland nennt man sie Reformation, in Italien Rinascimento und in Frankreich Renaissance. Die Kultur, Kunst und Wissenschaft erblühten in außerordentlichen Ausmaßen. Weder zuvor noch danach hat die Welt je eine solche Bandbreite an HeldInnen und Genies gesehen. Bis heute sind die Kunstwerke jener einzigartigen Zeit unerreicht. Sie setzte die Messlatte, nach der alle Errungenschaften der Kunst der nachfolgenden Geschichte gemessen werden.
Folgendermaßen beschreibt Engels die Renaissance:
„Es war die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte, eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit. Die Männer, die die moderne Herrschaft der Bourgeoisie begründeten, waren alles, nur nicht bürgerlich beschränkt. Im Gegenteil, der abenteuernde Charakter der Zeit hat sie mehr oder weniger angehaucht. Fast kein bedeutender Mann lebte damals, der nicht weite Reisen gemacht, der nicht vier bis fünf Sprachen sprach, der nicht in mehreren Fächern glänzte. Leonardo da Vinci war nicht nur ein großer Maler, sondern auch ein großer Mathematiker, Mechaniker und Ingenieur, dem die verschiedensten Zweige der Physik wichtige Entdeckungen verdanken; Albrecht Dürer war Maler, Kupferstecher, Bildhauer, Architekt und erfand außerdem ein System der Fortifikation, das schon manche der weit später durch Montalembert und die neuere deutsche Befestigung wiederaufgenommenen Ideen enthält. Machiavelli war Staatsmann, Geschichtschreiber, Dichter und zugleich der erste nennenswerte Militärschriftsteller der neueren Zeit. Luther fegte nicht nur den Augiasstall der Kirche, sondern auch den der deutschen Sprache aus, schuf die moderne deutsche Prosa und dichtete Text und Melodie jenes siegesgewissen Chorals, der die Marseillaise des 16. Jahrhunderts wurde.“ (F. Engels: Dialektik der Natur. In: MEW 20, S. 312.)
Diese außerordentliche Zeit hat ihre Wurzeln in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Damals brachte der lange Niedergang des Feudalismus in Westeuropa die großen absoluten Monarchien hervor, die die heutigen Nationalstaaten in Europa vorwegnahmen. Indem sie sich auf die Bürger der Städte stützten, gelang es den absoluten Monarchen, die Macht des alten Feudaladels zu brechen. Die Bourgeoisie nutzte ihren Einfluss, um der Zentralmacht Zugeständnisse in Form von Urkunden und königlichen Privilegien abzuringen. In Umrissen sehen wir bereits hier den drängenden Ehrgeiz und die wachsende Macht der Bourgeoisie, die schließlich zum Sturz der Monarchien in England und Frankreich führte.
Kunst und Aufstieg der Bourgeoisie
Die jugendliche Bourgeoisie hatte es eilig, die stinkenden Fetzen des Feudalismus abzuwerfen. Eifrig nahm sie neue Ideen, Philosophien, Wissenschaft und Kunstformen auf. Heute ist das Verhältnis zwischen dem Aufstieg der Bourgeoisie und dem Kampf gegen die herrschende Ideologie der römisch-katholischen Kirche weithin bekannt. Der Kampf feindlicher Klassen drückte sich im Kampf zwischen feindlichen Religionen aus, und zwar in der sogenannten Reformation, der Niederländischen und der Englischen Revolution sowie in den Religionskriegen, die während des ganzen 17. Jahrhunderts in Europa wüteten. Schon lange vorher befanden sich jedoch die Bourgeoisie und die Massen in einem Kampf um Leben und Tod gegen die Kirche.
Mit dem Zerfall des Feudalismus und dem Aufstieg der Bourgeoisie traten neue künstlerische und schriftstellerische Formen auf, ausgehend von den reichen flämischen Stadtstaaten mit ihrer Klasse wohlhabender Geschäftsleute. Die neuen Methoden der kapitalistischen Produktion fanden ihren Ausdruck in der Kunst. Jan van Eyck, ein herausragender Vertreter dieser Schule, betrieb Werkstätten mit vielen Lehrlingen, ganz wie die frühen Manufakturen, die den Produktionsprozess revolutionierten. Es handelte sich im Grunde um Kunstfabriken. Van Eyck selbst war nicht nur Künstler, sondern auch Alchemist. Man schreibt ihm die Erfindung der Ölmalerei zu.
Ab ca. 1420 wurden die Portraits noch viel realistischer. Die Gesichter stellen erkennbare Persönlichkeiten dar. Das war eine wirkliche Revolution in der Kunst. Die neuen Kunstformen entstanden zunächst in Italien und Flandern – vor allem in Ghent und Brügge (die sogenannten Flämischen Primitiven). An diesen Bildern ist in Wirklichkeit überhaupt nichts Primitives. Es handelt sich um äußerst ausgefeilte, komplexe Werke, denen eine ausgeprägte Beobachtungsgabe und ein lebhafter Realismus zugrunde liegen. Besonders auffallend sind die Licht- und Schatteneffekte mit ihren starken Kontrasten.
Die neue Kunst stützte sich auf revolutionäre, ausgefeilte Techniken, die es dem Künstler ermöglichten, bis dahin ungeahnte Detailtreue zu erreichen – Goldfäden in Kleidern, Falten in Mänteln, das Leuchten der Sonne gespiegelt in einer Rüstung, ein Spiegelbild. Der moderne britische Maler David Hockney führt diese technischen Neuerungen auf Entdeckungen in der Optik zurück: Die camera obscura und die Linse sollen die nahezu photographische Qualität ihres Realismus ermöglicht haben. Ein Beispiel dafür wäre das berühmte Hochzeitsportrait van Eycks mit seinem Spiegel und dem Kronleuchter.
Der neue Realismus verband sich auch mit einem neuen Erfindungsgeist, mit dem Studium von Proportionen und Anatomie, der Erfindung neuer Farben und vor allem mit der Entdeckung der Perspektive. Die mathematische Perspektive der Renaissance war im Mittelalter unbekannt. Vor der Renaissance sieht Gottvater viel größer aus als die Menschen und so wird die Bedeutungslosigkeit der Menschen gegenüber dem Allmächtigen betont. Und wieder war es die Renaissance, die den menschlichen Geist erweckte und den alten Plunder beiseite wischte.
Damals hatten die Städte überall schon einen beträchtlichen Grad von Unabhängigkeit erreicht, obwohl sie formal unter der Herrschaft der absoluten Monarchie verblieben. Lang bevor die Bourgeoisie begann, nach „wohlfeiler Regierung“, nach einem „schlanken Staat“, zu rufen, rief sie nach einer schlanken Religion. Der Konflikt zwischen der aufstrebenden Bourgeoisie und der römisch-katholischen Kirche – der zentrale Konflikt in der ganzen Geburtsperiode des Kapitalismus – wurde teilweise von der Tatsache bestimmt, dass die Kirche die moralisch-religiöse Hauptstütze für die bestehende Feudalordnung war.
Das war die Zeit der fortschrittlichen Bourgeoisie, die danach strebte, sich von den Fesseln des Feudalismus zu lösen, die ihre Entwicklung einschränkten. Die Idee der Freiheit nahm in der Vorstellung der Menschen klare Formen an: Zu allererst war es Freiheit vom Würgegriff der Religion und der römisch-katholischen Kirche, schließlich verkörpert in Luther und der Reformation.
Italien
In den frühen 1400er Jahren regte sich der neue Geist schon in ganz Europa. Schon davor hatte man ihn in dem Land vorausgeahnt, das die wahre Wiege der europäischen Zivilisation ist: Italien. Der große Reichtum von Städten wie Florenz, Genua, Mailand und Venedig mit ihren mächtigen Herrscherfamilien und Händlern schuf die objektiven Bedingungen für ein Aufblühen der Kunst, wie man es seit der Antike nicht gekannt hatte.
In diesem brodelnden Schmelztiegel des geistigen Lebens erblühten neue Kunstrichtungen rund um Menschen wie Giotto di Bondone, Botticelli, Frau Filippo Lippi, Piero della Francesca, die Bellinis, Giorgione, Della Robbia. Es folgt eine Galaxie der Titanen: Titian, Michelangelo, Raffael und über ihnen allen thronend Leonardo da Vinci. Diese Entwicklungen in Italien hatten im restlichen Europa ihre Parallelen: Dürer und Holbein in Deutschland, Rubens und die Künstlerfamilie Brueghel in den Niederlanden.
Der neue Geist erscheint nicht nur in den bildenden Künsten, sondern auch in der Literatur. Der Durchbruch ist personifiziert in der gewaltigen Gestalt des Dante Alighieri (1265-1321), den man als letzten Schriftsteller des Mittelalters und Ersten der neuen Zeit betrachten kann. Petrarch und Boccaccio waren gemeinsam mit Dante die größten Vertreter der Literatur jener Periode. Im Decamerone Boccaccios liegen uns die Keimzellen des modernen Romans vor.
Machiavelli (1469-1527) war einer der größten Geister jenes Zeitalters großer Denker. Sein heutiger Ruf als prinzipienloser Intrigant ist völlig unverdient. Er war ein großer Gelehrter und Denker der Renaissance. Seine Geschichte von Florenz, von Marx sehr bewundert, ist ein frühes Meisterwerk der Geschichtsschreibung. Genau beschreibt sie die gewaltsamen Klassenkämpfe, die damals in den italienischen Stadtstaaten tobten. Machiavelli lieferte als erster Schriftsteller eine wissenschaftliche Analyse des Staates, frei von allem moralistischen und idealistischen Zierrat, und entblößt sein Wesen als Organisation bewaffneter Menschen.
Die neue Kunst ist mit dem Aufstieg der Bourgeoisie eng verknüpft. Und mit dem Aufstieg der Bourgeoisie sehen wir den aufstieg des Individualismus in der Kunst. Das ist das Zeitalter des Individualismus, der mutigen Durchsetzung der Menschenrechte. Es ist auch, und gerade aus diesem Grund, das Zeitalter des Einzelporträts. Im Mittelalter wäre es fehl am Platz, geradezu gotteslästerlich gewesen. Der Blick des Menschen sollte sich nach oben richten, zum Himmel und zum Leben nach dem Tod, nicht auf die Eitelkeit dieser Welt.
Bis jetzt war der einzig wirkliche Gegenstand der Kunst Gott gewesen, nicht der Mensch. Doch ebenso, wie Kopernikus und Galileo die Erde sich um die Sonne drehen ließen, so ließ die humanistische Weltanschauung der Renaissance die Kunst sich um die wirklichen Menschen drehen. Im Mittelalter wäre das undenkbar gewesen. Zum ersten Mal sehen wir die Gesichter wirklicher, erkennbarer Männer und Frauen. Das ist ein neues, revolutionäres Element: Realismus und zwischenmenschliche Nähe. Der Geist einer neuen Zeit war geboren: Das Zeitalter des Individuums.
Nicht aus Zufall spielte Italien eine solch hervorragende Rolle in der Frühzeit der Renaissance. Gemeinsam mit den Niederlanden war Italien die Geburtsstätte des Kapitalismus. In den Städten Nord- und Mittelitaliens spannte die neugeborene Bourgeoisie bereits die Muskeln an und sprach mit eigener Stimme, setzte sich immer mehr durch. Mächtige Händlerfamilie beherrschten das Leben in Florenz, wie Machiavelli in seiner Geschichte von Florenz bildlich beschreibt.
Als das Land, in dem die Bourgeoisie zuerst der Gesellschaft ihren Stempel aufdrückte und damit den Grundstein einer neuen Form von Zivilisation legte, hat Italien der Menschheit eine glitzernde Milchstraße von Künstlern und Schriftstellern hinterlassen. Die ersten Regungen des Kapitalismus sieht man im Italien des 13. und 14. Jahrhunderts. Sie werden von einem erschütternden Ausbruch künstlerischer Kreativität begleitet. Der Aufstieg der italienischen Bourgeoisie drückte sich als Abfolge von unabhängigen Stadtstaaten aus. Das Fehlen einer starken Zentralgewalt ermöglichte es den Bürgern von Florenz, Mailand, Genua und anderer wohlhabender Städte, Stadtstaaten zu errichten, die zwischen dem Kaiser und dem Papst lavierten, um ihre Selbstständigkeit zu erhalten. Diese Städte waren Republiken, auch wenn sie noch nicht diesen Namen trugen, obwohl sie formal unter dem Schutz von Monarchen standen.
Doch ein Problem führte die Entwicklung des Kapitalismus letztlich in die Sackgasse. Das Fehlen einer nationalen Einigkeit, die schroffen Gegensätze zwischen den Stadtstaaten, motivierten fremde Mächte ununterbrochen, zu intervenieren. Schon im Mittelalter war die italienische Politik durch den Kampf zwischen zwei gegnerischen Fraktionen, den Ghibellinen und Guelfen, deren erstere die deutsch-römischen Kaiser unterstützten, während die letzteren hinter dem Papsttum standen.
Dies trug zu ständigen Auseinandersetzungen innerhalb der norditalienischen Städte während des 13. und 14. Jahrhunderts bei. Im Ergebnis war Italien über Jahrhunderte ein Schachtfeld für französische, deutsche und spanische Armeen, die miteinander barbarische Kriege um die Reichtümer des Landes führten. Die sich daraus ergebenden Spaltungen machten es für Italien unmöglich, sich als Nationalstaat zu entwickeln. All das Potential der frühkapitalistischen Entwicklung wurde an mörderische Konflikte, Kriege und Fraktionshader verschwendet.
Leonardo da Vinci
Leonardo war der prototypische Mensch der Renaissance. Mehr als jeder andere war er dafür verantwortlich, dass die Malerei aus dem Mittelalter hinausgeführt wurde. Er löste eine genuine künstlerische Revolution aus. Wir können die zarten Anfänge dieser Revolution bereits hundert Jahre zuvor erkennen: in den Werken Giottos. Die Gesichter sind hier menschlicher. Wie Leonardo beschränkte sich auch Giotto nicht auf die Malerei, sondern entwarf auch Befestigungsanlagen für das Florenz des 14. Jahrhunderts. Doch die Zukunft ist hier erst in Keimform enthalten – als Potential oder als Embryo. Bei Leonardo erreicht sie ihre Blüte.
Wie wir im obigen Zitat gesehen haben, war Engels voller Anerkennung für den Menschen, der mehr als jeder andere den rastlosen Geist der Zeit verkörperte, in der er lebte. Gut möglich, dass es Leonardo war, an den Engels in den folgenden Zeilen denkt:
„Die Heroen jener Zeit waren eben noch nicht unter die Teilung der Arbeit geknechtet, deren beschränkende, einseitig machende Wirkungen wir so oft an ihren Nachfolgern verspüren. Was ihnen aber besonders eigen, das ist, daß sie fast alle mitten in der Zeitbewegung, im praktischen Kampf leben und weben, Partei ergreifen und mitkämpfen, der mit Wort und Schrift, der mit dem Degen, manche mit beidem. Daher jene Fülle und Kraft des Charakters, die sie zu ganzen Männern macht. Stubengelehrte sind die Ausnahme: entweder Leute zweiten und dritten Rangs oder vorsichtige Philister, die sich die Finger nicht verbrennen wollen.“ (Dialektik der Natur. MEW 20,312)
Seine intensive Neugier führte ihn auf der Suche nach zu lösenden Problemen in alle Richtungen. Darin widerspiegelte sich der ganze Geist seiner Epoche. Doch sowie er ein Problem gelöst hatte, schien er das Interesse daran zu verlieren und machte sich auf die Suche nach dem nächsten. Deshalb ließ er Projekte oft unvollendet. Für diejenigen, die er zum Abschluss brachte, brauchte er eine lange Zeit. Er brauchte vier Jahre, um die Mona Lisa fertigzustellen. In anderen Fällen überließ er es einfach seinen Lehrlingen, die Bilder fertigzustellen. Es war, als gäbe es nicht genug Welten für ihn zu erobern und nicht genug Leben für ihn zu leben.
Er war Architekt und Ingenieur. Er plante Tunnel durch Berge und Kanäle zwischen Flüssen. Er griff Kopernikus‘ Theorie von der Bewegung der Erde vor und nahm Lamarcks Unterteilung der Tiere in Wirbeltiere und Wirbellose vorweg. Er entdeckte Gesetze der Optik, Gravitation, der Wärme und des Lichts. Er war besessen vom Flug der Vögel und verwendete viel Zeit auf die Überlegung, eine Flugmaschine zu konstruieren.
Unter seinen vielen Zeichnungen finden wir eine, die einen Helikopter vorwegnimmt. Er entwarf auch einen Panzer und einen Fallschirm einige Jahrhunderte bevor diese Dinge auf den Schlachtfeldern des zweiten Weltkrieges einer praktischen Anwendung zugeführt wurden. Er entwickelte auch eine dialektische Philosophie, in der der Wille als vitale Energie erscheint. Damit ist sein eigenes Leben angemessen auf den Punkt gebracht, denn er erreichte darin viel mehr, als in zahlreichen gewöhnlichen Lebensspannen zustande gebracht wird.
Das wahre Genie Leonardos ist erst in unserer Zeit wirklich verstanden worden. Und doch wissen wir sehr wenig über sein Leben und seine Persönlichkeit. Am Anfang war er jedenfalls stark benachteiligt. Was wir über sein Leben wissen, lässt sich leicht zusammenfassen. Er wurde 1452 im toskanischen Städtchen Vinci in den Hügeln über dem Arno geboren. Er war der uneheliche Sohn eines Anwalts. Er hat seine Mutter niemals gekannt, wenngleich sie ihn gesäugt hatte.
Die frühen Jahre in Florenz
Vielleicht ist das der Grund dafür, dass so viele Szenen in seinen Bildern Mutterfiguren und sanfte Kindheitsszenen zeigen. Freud hat eine Studie verfasst, worin er versucht, Leonardos Kunst aus dieser Tatsache heraus zu erklären, doch persönliche und psychologische Fakten erklären nur einen kleinen Teil der Kreativität da Vincis. Der Großteil davon ist nur als Teil des großen historischen Mosaiks verständlich, in das er hineingeboren wurde. Daraus erklärt sich, warum er so viel Zeit und Aufwand in die Entwicklung von Waffen und Belagerungsmaschinen gesteckt hat, die er den rivalisierenden Banden reicher Ganoven verkauft hat, die damals die Macht in den italienischen Stadtstaaten an sich rissen.
Das war eine Zeit erschütternder Umwälzungen in der Gesellschaft, eine Zeit der Kriege und Revolutionen. Im 15. Jahrhundert war Italien in besonderem Maße von Gewalt geprägt, und zwar nirgendwo mehr als in Florenz, wo die rivalisierenden Händlerdynastien einander die Macht streitig zu machen suchten. Eine der größten Städte Europas im Herzen der Renaissance, eine laute, geschäftige Stadt mit ausgelassenem, teilweise auch gefährlichem Nachtleben.
Leonardo hatte keine formale Bildung genossen. Er sprach nur wenig Latein – damals eine unverzichtbare Grundvoraussetzung für eine gute Bildung. Doch dieser Mangel an formaler Schülergelehrsamkeit war für ihn nicht nur kein Hindernis, sondern beförderte gerade die Entwicklung jener Fähigkeiten, die ihm seine Größe verliehen. Er hatte für Buchwissen rein gar nichts übrig, denn er lernte aus dem größten aller Bücher – aus dem Buch des Lebens und der Natur. Sein künstlerisches Leben begann er, wie damals üblich, als einfacher Lehrling in Florenz, in der Werkstatt des Malers und Bildhauers Verrocchio. Dort arbeitete er gemeinsam mit Botticelli und Perugino.
Der Künstler nahm einen recht tiefen Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie der damaligen Zeit ein. Bedenken wir, dass der Künstler damals nicht Mitglied einer besonderen Schicht, sondern ein Handwerker, wie ein Schneider oder Sattler. Als junger Lehrling, als kunstschaffender Proletarier, stellte Leonardo praktische Dinge in einer Werkstatt her, die eigentlich schon eine Fabrik war. Der Meister malte die Hauptfiguren eines Bildes und die niederen Lehrlinge machten die Details und die Nebenfiguren.
Die Lehrlinge malten mit Eitempera, einem schnelltrocknenden Malmedium aus Farbpigmenten in einem wasserlöslichen Medium, etwa Eigelb. Doch Leonardo wandte die neue Technik an, die in den Niederlanden entwickelt worden war – die Ölfarbe. So erhielt er eine viel breitere Palette an Farben. Später wurde die Ölfarbe in ganz Südeuropa verwendet, doch damals war sie noch eine große Neuigkeit.
Einer bekannten Anekdote in Vasaris Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten zufolge rief Verrocchio, als er Leonardos Bild von der Taufe Jesu durch Johannes erblickte, aus, er werde nie wieder malen. Ob diese Anekdote zutrifft oder nicht, ist unklar, doch Leonardos Anteil an diesem Gemälde war bemerkenswert. Es war nicht seine einzige Erneuerung. In Werken wie der Anbetung der Könige aus dem Morgenland sehen wir eine neuartige, erschütternde, rohe Kraft und Energie.
Doch trotz seines offensichtlichen Talents – oder vielleicht deswegen – geriet er bald in ernste Schwierigkeiten mit den Behörden. 1476 wurde er zweimal der Sodomie (Homosexualität) angeklagt. Auf dieses ernste Vergehen stand die Todesstrafe durch den Scheiterhaufen. Tatsächlich wurde er für zwei Monate inhaftiert. Allein in seiner Zelle war er wohl in einer verzweifelten Situation. Er schrieb auf einen Fetzen Papier: „Ich bin ohne Freunde“ und „wenn es keine Liebe gibt, was dann?“ Glücklicherweise hatte er wichtige Freunde, die seine Freilassung erwirkten.
In dem lächerlichen Machwerk Der Da Vinci-Code wird Leonardo als „extravaganter Homosexueller“ beschrieben. Für diese Behauptung gibt es allerdings keinerlei historische Grundlage. Obwohl unter seinen Zeitgenossen Gerüchte über seine Homosexualität kursierten, wissen wir eigentlich nichts über sein Geschlechtsleben. Die Vorwürfe gegen ihn, die wegen fehlender Zeugen fallengelassen wurden, könnten gut erfunden sein. Es war damals üblich, anonyme Bezichtigungen dieser Art in der berüchtigten bocca della verità („Mund der Wahrheit“, ein Relief in der Kirche Santa Maria in Cosmedin, Anm. d. Ü.) zu hinterlassen, und so wurde auch Leonardo angeklagt.
Jemandem Sodomie vorzuwerfen, war im Florenz des 15. Jahrhunderts eine Taktik, die häufig eingesetzt wurde, um Leute in Schwierigkeiten zu bringen. Es ist gut denkbar, dass der Ankläger ein neidischer Künstler war. Was immer die Wahrheit gewesen sein mag – die Erfahrung muss für ein großer Schock gewesen sein. Bald zog er den Schluss, dass Florenz als Wohnort zu gefährlich war.
Die zweite Etappe: Mailand
Hernach verließ Leonardo Florenz. 1481 ließ er sich in Mailand nieder. Diese reiche Handelsstadt war noch bürgerlicher und erheblich pragmatischer als Florenz. Der Künstler aber hatte andere Gründe, in diese blühende norditalienische Stadt zu gehen, die von einer reichen Gangsterdynastie beherrscht wurde, die sowohl künstlerische Ambitionen als auch das Geld hatte, auf das sie sie stützen konnte. Er war jung und ehrgeizig und suchte voranzukommen, indem er in den Dienst Ludovico Sforzas, des Grafen von Mailand, trat.
Die Sforzas waren eine absolut typische Herrscherdynastie für das damalige Italien. Sie herrschten mit eiserner Hand. Als Kopf des führenden Sforza-Clans war Ludovico Sforza ein reicher Parvenu, wie alle Neureichen besessen von Rang und Abstammung. Er bezahlte Experten dafür, ihm einen Familienstammbaum zu entwerfen, der ihm die Abstammung nicht von einem Adligen, sondern sogar von einem Gott bescheinigte. In seiner Eitelkeit und seinem Ehrgeiz hatte Ludovicos Besessenheit von Rang und Abstammung eine stabile materielle Basis.
Die Macht solcher Leute war immer etwas instabil. Auf Ludovicos unmittelbaren Vorgänger hatten dessen Höflinge siebenunddreißigmal eingestochen. Er selbst fühlte sich auf seinem gräflichen Thron unsicher, da man in seiner Familie nichts anderes sah als einen Haufen emporgekommener Schuster. Aus diesem Grund versuchte Ludovico, sein soziales Standing zu verbessern, indem er sich mit Künstlern und anderen prestigeträchtigen Intellektuellen umgab. Es ging nur um Macht und Prestige.
Leonardo versuchte, sich mit seinem neuen Mäzen gutzustellen, indem er versprach, neuartige Befestigungen und Militärmaschinen zu bauen. Es ist interessant, dass er sich bei seiner Bewerbung nicht auf den Kunstgeschmack des Grafen berief, sondern auf dessen eher praktisches Interesse an der mechanischen Kunst, insbesondere an der wichtigsten, der Kriegskunst. Er erfragte die Zusammensetzung von Sprengstoffen. Er erfand alle möglichen Dinge: Wasserräder, Kriegsmaschinen, darunter einen Panzer, ein Schaufelrad für Boote, eine Hinterladerkanone und die konische Gewehrkugel.
Trotz seiner mangelnden formalen Bildung verfügte Leonardo von Jugend an über ein tiefes Verständnis der Mathematik. Sein Wissen über die Optik nutzte er für die Kunst und für seine Erfindungen. Er entwarf Aquädukte und Brücken. Er baute sogar ein Badezimmer für die Gräfin und inszenierte die Festmähler, Bälle und die verschwenderische höfische Pracht des Grafen. Es war, als wäre er berauscht von Wissen jeder Art. Er erforschte den Dampf als Triebkraft der Schifffahrt, die Magnetkraft und den Blutkreislauf. Er entwarf sogar den Prototyp eines Motorrades, doch man zahlte ihm weniger als einem Hofnarren.
Leonardo wusste, dass es notwendig war, einen Mäzen zu haben, doch er verachtete seine Abhängigkeitssituation und lehnte sich im Herzen dagegen auf. Eine Art, seine künstlerische Unabhängigkeit durchzusetzen, war seine Weigerung, sich hetzen zu lassen. Er plante eine riesige Reiterstatue von Ludovico. Es sollte die größte Pferdestatue sein, die jemals erbaut worden war. So nutzte er Ludovicos Begeisterung für jede Art von Prunk aus. Trotz ständigen Drucks und einer Flut von Beschwerden ließ Leonardo den Grafen siebzehn Jahre lang warten und wartete ihm selbst dann nur mit einem Modell des Pferdes aus Terrakotta auf.
Die Statue erblickte nie das Licht der Welt. 1498 kam es zu einer Tragödie. Italien war ins Blickfeld fremder Mächte geraten. Die französischen und Habsburger Monarchien spannen tödliche Intrigen mit dem Papst, um sich in italienische Angelegenheiten einzumischen. Inmitten der Kriege und Intrigen fiel eine französische Armee unter Ludwig XII. über Mailand her. Als die französischen Truppen die Stadt betraten, benutzten sie das riesige Terrakottamodel von Leonardos Pferdestatue für Zielübungen, während die sechzig Tonnen Bronze, aus denen die Statue gefertigt werden hätte sollen, zu Kanonen verarbeitet wurden. Einmal mehr musste Leonardo fliehen: Zunächst nach Mantua und dann nach Rom.
(erstmals erschienen in London, 2012)