Im Jahr 2017 stellt sich den VerteidigerInnen des kapitalistischen Systems eine ganz besondere Aufgabe. Zum hundertsten Mal jährt sich heuer die Oktoberrevolution, als die ArbeiterInnen in Russland die Macht übernahmen, sie gegen alle Angriffe der Profiteure des alten Systems verteidigten und damit begannen, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Von Florian Keller.
Gerade während der globalen Krise des Kapitalismus reicht es dem Bürgertum nicht, die russische Revolution mit einigen Fußnoten abzukanzeln oder gleich ganz totzuschweigen. Millionen ArbeiterInnen und Jugendliche sehen, dass das System nicht funktioniert, und sind auf der Suche nach einer Alternative. Die Hofschreiberlinge der Banken und Konzerne müssen also die Ärmel hochkrempeln, um mit großem Eifer den alten Lügen über die russische Revolution neues Leben einzuhauchen.
Dabei wird gerade auch von sogenannten „Progressiven“ die lächerliche Rhetorik des kalten Krieges wieder ausgegraben. Kurz gesagt: Je nach Geschmack kann man gesellschaftspolitisch linke oder rechte Ansichten haben und dementsprechende Medien konsumieren, aber wenn es um die Grundlagen der kapitalistischen Herrschaft geht, wird mit dem linken und dem rechten Stiefel gleichsam solange auf die Köpfe eingetreten, bis eine Sache hängen bleibt: There is no alternative.
Hans Rauscher versucht sich genau an dieser Aufgabe, mit einem Artikel, der den bezeichnenden Titel „100 Jahre russische Revolution: Umsturz, Lüge und Gewalt“ trägt und als ein „best of“ der immer wiedergekauten Lügen über die Oktoberrevolution durchgehen könnte. (http://derstandard.at/2000066779463)
In der Folge werden wir uns dieses Machwerk genauer ansehen, um stellvertretend diese Lügen zu beantworten. Das ist keine leichte Aufgabe, denn obwohl der Artikel aus uns unerfindlichen Gründen bei der Standard-Redaktion als „Analyse“ durchgegangen ist, findet sich kein Gramm Analyse, dafür aber umso mehr unbelegte Meinungsfetzen. Unsere LeserInnen mögen uns also nicht vorwerfen, Hans Rauscher einseitig oder verzerrt zu zitieren, wenn wir seine Behauptungen ohne Belege oder Beispiele anführen – sie existieren nicht.
Der Mythos vom Putsch
Gleich zu Beginn stellt Rauscher klar, was die Oktoberrevolution für ihn war, und stellt seine zentrale These auf:
„Die russische Oktoberrevolution war ein welthistorisches Ereignis mit ungeheuren Folgen. Aber sie war keine Revolution. Sie war ein Staatsstreich einer relativ kleinen Gruppe von entschlossenen Berufsverschwörern unter der Führung des Intellektuellen Wladimir Iljitsch Lenin, denen es gelang, in einem historischen Augenblick die Macht in dem riesigen Land an sich zu reißen.“
Und weiter unten wiederholt er diesen Gedanken mehr oder minder unverändert, um ja keinen Zweifel aufkommen zu lassen, dass er es ernst meint:
„Die wahre Revolution hatte schon im Februar 1917 stattgefunden. Der verheerende Verlauf des Ersten Weltkriegs führte zu Massendemonstrationen in der Hauptstadt St. Petersburg. Das unfähige und repressive Regime von Zar Nikolaus II. wurde weggefegt. Doch die darauffolgende ‚provisorische Regierung‘ unter Alexander Kerenskij beging den Fehler, den Krieg weiterführen zu wollen. Die ‚Bolschewiki‘ unter Lenin und Leo Trotzki ergriffen mit wenigen tausend Bewaffneten am 25. Oktober 1917 die Macht (nach dem alten julianischen Kalender – nach dem heute gültigen gregorianischen Kalender am 7. November).“
Wir lesen und staunen: Im Oktober fand keine Revolution statt. Stattdessen: Wenige tausend Bewaffnete ergriffen in einem Land mit 150 Millionen EinwohnerInnen die Macht – weil die provisorische Regierung „den Krieg weiterführen“ wollte. Wie konnte ihnen dieses in der Weltgeschichte einmalige Kunststück gelingen? Und selbst wenn es kurzfristig gelingen konnte – wie konnten sie diese Macht halten? Rauscher ist sich offensichtlich bewusst, dass diese Fragen sich aufdrängen – und versucht deswegen sogleich, sie zu beantworten. Doch dabei umschifft er gekonnt die Klippen, die seine ganze Argumentation von vorne herein zum Sinken bringen könnten. Denn die offensichtlichste Erklärung für den Erfolg der Bolschewiki wäre ja: Sie genossen entscheidende Sympathien in der Bevölkerung. Damit wäre aber natürlich der Sinn des ganzen Artikels, nämlich das exakte Gegenteil zu beweisen, ad Absurdum geführt.
Daher versucht Rauscher die Quadratur des Kreises mit anderen Erklärungen zu vollziehen. Wir zitieren:
„ […] Damit ist ein wesentliches Element der Herrschaft des Kommunismus eingeführt: die Lüge. Die Lüge von der ‚Überlegenheit des Sozialismus`, vom glorreichen Sowjetsystem, vom ‚Arbeiterparadies‘ wurde innerhalb und außerhalb des Herrschaftsbereichs jahrzehntelang akzeptiert, zum Teil erbittert verteidigt und existiert heute noch bei nicht wenigen weiter beziehungsweise feiert Auferstehung.“
Überlesen wir für einen Moment den antikommunistischen Hass, der aus jedem Wort Rauschers spricht, und beschäftigen wir uns mit dem, was er zu sagen versucht. Sein Argument: Der „Kommunismus“ konnte durch Lüge herrschen. Dieses Argument erklärt in Wirklichkeit gar nichts. Seit Urzeiten ist das beliebteste Mittel zur Legitimation der Herrschaft die Lüge. Doch eine noch so gute Lüge kann die Realität nicht verändern. Wenn etwas zum Himmel stinkt, kann man das mit noch so viel Parfum nicht überdecken – sonst hätte jedes Regime der Weltgeschichte die perfekte Formel gefunden, um ewig an der Macht zu bleiben. Doch wir müssen gar nicht bis zu den alten Griechen zurückgehen, um dieses Argument als völlig haltlos zu entlarven: Rauscher erledigt das in Wirklichkeit schon selbst. Warum schaffte es die provisorische Regierung im Russland nach der Februarrevolution nicht, an der Macht zu bleiben? Rauschers Antwort: Weil sie den Krieg nicht beendete. Aber die Regierung und besonders die sie unterstützenden „gemäßigten“ Sozialisten produzierten tonnenweise Absichtserklärungen, Manifeste und Beschlüsse, „so bald wie möglich“ den Krieg zu beenden. Doch sie taten es nicht, sie logen – und wurden gestürzt.
Rauscher muss so weiter nach der Antwort auf die Frage suchen, wie Lenin und Trotzki das oben genannte Kunststück vollbringen konnten. Dabei stößt er erwartungsgemäß auf – die Gewalt. Rauscher:
„Das zweite konstitutive Element der kommunistischen Herrschaft war Gewalt. An- und abschwellende, zyklische, aber meist unfassbar intensive und gnadenlose Gewalt. Trotzki: ‚Der Rote Terror ist eine Waffe, die gegen eine dem Tod geweihte Klasse eingesetzt wird.‘ Auf den Staatsstreich folgte Repression gegen politische Gegner und der besagte ‚Rote Terror‘. Zehntausende kamen ins Lager, Zehntausende wurden erschossen. Lenin gab dazu die Anweisungen in biologistischer Sprache, die man aus anderem Zusammenhang kennt: ‚Zur Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer, von den Flöhen, den Gaunern, von den Wanzen, den Reichen‘, und so fort.“
Sehen wir für den Moment noch einmal von der nur halb ausgesprochenen Anspielung ab, die versucht, Lenin an den Nationalsozialismus anstreifen zu lassen, und von der kontextlosen Verwendung von Zitateschnipseln – einer „Analyse“ nicht würdig. Rauschers Argument ist: Die Bolschewiki haben sich durch Gewalt an der Macht gehalten. Doch dieses Argument erklärt in Wirklichkeit noch weniger als das vorherige der „Lüge“.
Standen die Massen hinter der Revolution?
Bleiben wir einmal bei dem Akt der Machtübernahme – der erste Akt der Gewalt von Rauschers „relativ kleinen Gruppe von entschlossenen Berufsverschwörern“. Warum schaffte es die Regierung nicht mit Hilfe des schwer bewaffneten Millionenheeres, (mit dem sie, wie Rauscher uns erinnert, immer noch im ersten Weltkrieg kämpfte), diese „relativ kleine Gruppe“ aufzuhalten? Warum schaffte es der „Verschwörer“-Oberkommandierende Kornilow, (der offensichtlich zu „unfassbar intensiver und gnadenloser Gewalt“ bereit war, indem er schwor, die Revolution und die Hauptstadt Petrograd in Blut zu ertränken) nur wenige Wochen vorher nicht, mit zehntausenden Soldaten und der Unterstützung des Gesamten Generalstabes dieselbe Regierung zu stürzen, sondern scheiterte kläglich? Warum schafften es dutzende weiße Generäle im Bürgerkrieg, unterstützt von der gesamten kapitalistischen Welt mit Abermillionen an Geldzahlungen und der großzügigen Lieferung von Waffen aller Gattungen, warum schafften es 21 nach dem neuesten Stand der Technik ausgestattete ausländischen Interventionsarmeen nicht, diese „relativ kleine Gruppe von entschlossenen Berufsverschwörern“, die weltweit von jeder Regierung gemieden wurde, zu stürzen? Rauscher kann sich drehen und wenden wie er will, die Oktoberrevolution ist auf diese Weise nicht zu erklären.
In seinem Versuch, die Bolschewiki als kleine Gruppe von Verschwörern darzustellen, gelingt Rauscher ein Kunststück, das bemerkenswert wäre, wenn es nicht die tatsächlichen Ereignisse so extrem auf den Kopf stellen würde: Rauscher beschreibt die provisorische Regierung nach der Februarrevolution und ihren Sturz – aber kein Wort davon, was für eine Regierungsform sie ersetzte. Er spricht immer wieder von der „Sowjetunion“, aber was diese „Sowjets“ eigentlich sind, die offensichtlich so prägend für die frühe Sowjetunion waren, dass sie zum Namensgeber wurden, erwähnt er mit keinem Wort.
Das zeugt im für Rauscher besten Falle von einer völligen Unkenntnis der russischen Revolution, im schlechtesten ist es bewusste Geschichtsverfälschung. Denn die Sowjets waren nicht irgendeine Institution – sie waren die direkten Vertretungen der breiten Massen an ArbeiterInnen, Soldaten und später auch der armen Bauern in der russischen Revolution. Delegierte wurden direkt in den Betrieben, in den Kasernen und in den Dörfern gewählt, und trafen sich als „Sowjet“ (Rat) auf Bezirks- und Stadtebene, um nicht nur über die alltäglichen Probleme der Massen zu reden, sondern sie auch konkret zu lösen. Schon in der ersten Revolution von 1905 das erste Mal gegründet, entstanden sie auf Initiative von unten im Februar, den Rauscher selbst als „wahre Revolution“ anerkennt, im ganzen Land massenhaft wieder.
Es würde zu weit führen, in diesem Rahmen die gesamte Geschichte des Jahres 1917 zu diskutieren – wir haben das ausführlich an anderer Stelle in unserer Artikelreihe zur Russischen Revolution gemacht. Doch es bleibt so viel zu sagen – vom Februar bis Oktober konnte sich die von Rauscher erwähnte bürgerliche „provisorische Regierung“ nur aus einem einzigen Grund auch nur einen Tag an der Macht halten: Weil die Führer der Sowjets zu damaligen Zeitpunkt, die „gemäßigten“ und reformistische SozialistInnen der Menschewiki und der sogenannten „Sozialrevolutionäre“ alle ihre Kraft darauf konzentrierten, diese Regierung unter allen Umständen zu stützen.
Die Sowjets waren die demokratischsten Parlamente der Geschichte. Die Delegierten der ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern, die in die Sowjets gewählt wurden, genossen keinerlei Privilegien und konnten jederzeit gewählt und auch wieder abgewählt werden – was auch oft passierte, was aber Hans Rauscher in seiner Argumentation sicher nicht weiterhilft. Denn konkret begannen die Millionen und Abermillionen, die die Sowjets wählten, nach einer Zeit ihre Führung in den Sowjets auszutauschen. Die „Gemäßigten“ wurden für ihre Unterstützung der provisorischen Regierung und deren Arbeiter- und Bauernfeindliche Politik abgewählt.
An ihre Stelle traten ab Juli im ganzen Land, beginnend mit der Hauptstadt Petrograd, Delegierte, die der Bolschewistischen Partei angehörten. Diese Partei von Lenin und Trotzki war im Oktober keine „relativ kleine Gruppe von Verschwörern“, sondern hatte in allen großen Städten, und immer öfters auch unter den Soldaten an der Front und auf dem Land in den Sowjets die Mehrheit errungen – nicht durch Gewalt, sondern mit dem Slogan „Frieden, Land, Brot – alle Macht den Sowjets“. Dass die Bolschewiki diese Slogans ernst nahmen und nicht als „Lüge“ vor sich hertrugen, davon überzeugten sich die Massen in unzähligen Kämpfen während der Monate Februar bis Oktober, vor allem aber im oben schon erwähnten Kornilow-Putsch(versuch), als die Bolschewiki in vorderster Reihe gegen den Putschversuch von Rechts kämpften, während ein großer Teil der provisorischen Regierung mit Kornilow gemeinsame Sache machte in seinem Versuch, die Revolution in Blut zu ertränken. Nebenbei sei zu erwähnen, dass diese von allen „Demokraten“ beweinte „provisorische Regierung“ sich in den 8 Monaten ihrer Existenz niemals einer demokratischen Wahl stellte.
Eine „Verschwörung“ vor allen Augen
In der Oktoberrevolution übernahmen die Sowjets unter der Führung der Bolschewiki, beginnend mit Petrograd, schließlich die Macht. Dabei stimmt es, dass die Revolution eine relativ geräuschlose Angelegenheit war – aber nicht weil Lenin und Trotzki die Zauberformel gefunden hatte, wie gegen den Willen der Massen ein Staatsstreich einer „relativ kleinen Gruppe von Verschwörern“ durchzuführen sei. Der Grund war, dass die Massen so fest hinter den Sowjets und deren bolschewistischer Führung standen, dass sich so gut wie niemand fand, der die alte provisorische Regierung verteidigen wollte. Es gab in Petrograd kaum Barrikadenkämpfe und Blutvergießen, keinen Generalstreik, keine Massendemonstrationen – weil es nicht nötig war.
Dass die Sowjets und ihre bolschewistischen Führer diese breite Unterstützung aber sehr wohl hatten, lässt sich nicht nur an allen Wahlstatistiken der Monate August bis Oktober ablesen. Für wen das nicht reicht, gibt es auch handfestere Hinweise. Denn als eine breite Mobilisierung nötig war, traten die Massen mit aller Energie in die Arena der Politik – auch mit Barrikaden, die Hans Rauscher bei der Oktoberrevolution vermisst. Nur wenige Tage nach seinem Sturz versuchte der Chef der gestürzten „provisorischen Regierung“, Kerenski, der aus Petrograd geflohen war, die Stadt mit ihm treu gesinnten Truppen wieder einzunehmen. Die Reaktion der Massen beschreibt der amerikanische Journalist John Reed in seinem Buch „10 Tage, die die Welt erschütterten“:
„Als wir in den trüben, dunklen Tag hinaustraten gellten von allen Seiten des grauen Horizontes heiser und unheilverkündend die Fabriksirenen. Zu Zehntausenden strömten die Arbeiter, Männer und Frauen, heraus. Zu Zehntausenden spien die Elendsviertel ihre dunklen und armseligen Massen auf die Straße. Das Rote Petrograd war in Gefahr! „Die Kosaken!“ Nach Süden und Südwesten strömten sie durch die armseligen Straßen, dem Moskowskitor zu: Männer, Frauen und Kinder mit Gewehren, Picken, Spaten, Drahtrollen, Patronengürtel über ihrer Arbeitskleidung. Ein machtvollerer, spontanerer Aufmarsch einer ganzen Stadt war nie gesehen worden!“
Dieses Bild sollte sich in den nächsten Jahren immer wieder wiederholen: Die Revolution wurde durch Reaktionäre von innen oder Militärinterventionen von außen bedroht – die Massen der ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern zeigten größte Opferbereitschaft und Kampfeswillen, um die Revolution, die Rauscher einen „Staatsstreich“ nennt, zu verteidigen. Und nicht nur NACH dem Aufstand, sondern auch DAVOR gab es große Mobilisierungen der Massen für die Übernahme der Macht durch die Sowjets.
In diesem Licht bricht die Argumentation Rauschers völlig in sich zusammen – hielten sich die Bolschewiki ja nicht einmal an die elementarste Regel der Verschwörung – die absolute Geheimhaltung. Ganz im Gegenteil, die Oktoberrevolution war die Revolution in der Geschichte, die sich so offen, so eindeutig unter den Augen aller vorbereitete und vorbereitet wurde, dass jedes Kind wusste, welche Konfrontation bevorstand. Sogar der Tag der Konfrontation war für alle klar!
Denn Delegierte der Sowjets wurden für den 7. November, wie schon vier Monate zuvor, zu einem allrussischen Kongress zusammengerufen. Schon im Vorfeld war völlig klar, dass eine überwältigende Mehrheit für die Machtübernahme der Sowjets Zustandekommen würde. Die Bolschewiki hatten monatelang für diese Machtübernahme argumentiert und auf dieser Basis ihre Mehrheit gewonnen. Nur drei Tage vor dem Aufstand, am 4. November, berief der Petrograder Sowjet Massenversammlungen ein, auf denen Hunderttausende den Reden der bolschewistischen Sowjetführer hörten – die offen über den kommenden Sowjetkongress und dessen Machtübernahme redeten. Sogar die konkreten Pläne für den Aufstand wurden in aller Öffentlichkeit diskutiert, nachdem Kamenew und Sinowjew, beide Mitglieder des Zentralkomitees der Bolschewiki, in der Zeitung des Schriftstellers Gorki einen Brief veröffentlichten, in dem sie sich gegen einen Aufstand aussprachen. Es war sich also nicht einmal die „relativ kleine Gruppe an Verschwörern“ untereinander einig, sondern die Minderheit trug ihre Differenzen über die „Verschwörung“ in aller Öffentlichkeit vor! Das stieß naturgemäß auf wütende Ablehnung von Lenin und Trotzki, Lenin brandmarkte das Verhalten von Kamenew und Sinowjew als Verrat. Aber aufhalten konnte es den Lauf der Dinge nicht auch nur um eine Minute.
Hans Rauscher versucht also als „Staatsstreich“ einer „relativ kleinen Gruppe an Verschwörern“ zu verkaufen, was in Wirklichkeit die Machtübernahme durch die demokratischsten und in Wirklichkeit EINZIGEN demokratisch legitimierten politischen Organe der russischen Revolution war, vorbereitet in ALLER ÖFFENTLICHKEIT durch Monate an Diskussionen, Resolutionen und Kämpfe, unterstützt und verteidigt durch die BREITESTEN MASSEN. Dass diese neue Macht sofort einen Waffenstillstand beschloss und so den ersten Schritt in der Beendigung der Massenschlächterei des 1. Weltkrieges machte, den Abermillionen Bauern das Land der Großgrundbesitzer zur eigenen Bearbeitung übergab, und alleine in den folgenden Wochen und Monaten zum ersten Mal in der russischen Geschichte, um nur einige Beispiele zu nennen, die Religionsfreiheit, das Selbstbestimmungsrecht der vielen unterdrückten Völker, die Arbeiterkontrolle in den Fabriken, gleiche Rechte für Mann und Frau festschrieb und in der Praxis umsetzte, ist Rauscher in seinem antikommunistischen Amoklauf nicht einmal eine Erwähnung wert.
Lenin, Trotzki und Stalin – alles dasselbe?
Doch wir sollten uns nicht lange mit so Kleinigkeiten wie der tatsächlichen Geschichte der russischen Revolution aufhalten. Dass die eigentliche Bedeutung des „Umsturz“, „Gewalt“- und „Lüge“-Argumentes eine völlig andere ist, wird in der zweiten Hälfte des Artikels klar. Die russische Revolution dient Rauscher in Wirklichkeit nur als Aufhänger, als Überleitung, um zum eigentlichen Thema des Artikels zu kommen – einer Auflistung der Verbrechen der „Kommunisten“ in der Sowjetunion und einer möglichen Immunisierung gegen jede Art der Alternative zum Kapitalismus.
Rauschers Ausführungen beginnen, wie schon erwähnt, mit einer beiläufigen Erwähnung des „Roten Terrors“ der Revolution. Mit keinem Wort erwähnt er, dass der „Rote Terror“ nicht 1917, sondern im September 1918 und nicht aus einem Blutdurst der Revolution, sondern im Gegenteil, als Reaktion auf die Gewalttaten der alten Generäle, Kapitalisten und Großgrundbesitzer begann. Die alte herrschende Klasse versuchten mit allen Mitteln ihre alten Privilegien zu bewahren. Bis dahin war es oft eher Regel als Ausnahme, dass die revolutionären ArbeiterInnen und Soldaten naiv mit denjenigen umgingen, die ihre massenhafte Ermordung planten. Ein Beispiel: Die meisten Minister und Offiziere und Offiziersschüler, die im Zuge des Oktoberaufstandes verhaftet wurden, wurden mit dem Ehrenwort, „nie wieder die Waffe gegen das Volk zu erheben“, in die Freiheit entlassen. Sie schworen, verließen das Gefängnis – und begannen sofort mit dem militärischen Kampf, und ja, der Verschwörung gegen die Revolution.
Dabei gingen die alten Eliten von Anfang an äußerst grausam vor, wenn sie die Gelegenheit dazu hatten. John Reed beschreibt eine Anekdote aus der Revolution: „Aus Moskau kam die Meldung, daß Kosaken und Offiziersschüler den Kreml umzingelt und die Sowjettruppen zur Kapitulation aufgefordert hatten. Diese waren darauf eingegangen. Aber als sie den Kreml verließen, wurden sie überfallen und niedergeknallt.“ Diese Vorgehensweise sollte immer die gleiche bleiben – gefangene „Rote“ wurden fast immer gefoltert und getötet, Pogrome gegen Juden wurden organisiert, hunderttausende ermordet. Die Gewalt der Revolution war die Gewalt des Sklaven, der sich von seinen Ketten befreit hatte und mit dem Sklavenhalter kämpfte, der versuchte ihn für diese Frechheit brutal zu bestrafen. Es gehört schon eine gehörige Portion Zynismus dazu, „beide Seiten gleichermaßen“ zu verurteilen – ganz zu schweigen davon, den Roten Terror isoliert zu betrachten, so wie Rauscher es tut.
Doch genau das ist wichtig für seine Argumentation. Es gehört zum Versuch, eine historische Kontinuität zwischen der Oktoberrevolution und den Bolschewiki einerseits und den späteren Verbrechen Stalins und der Stalinisten andererseits herzustellen. Der „Rote Terror“ wird als Aufhänger benutzt, in einen Topf geschmissen mit dem Stalinismus und kräftig umgerührt. Nur einige Beispiele:
„Die Kommunisten bedienten sich eines Gesellschaftsmodells, das man Kriegskommunismus genannt hat. Die gesamte Gesellschaft sollte nach militärischen Richtlinien geführt werden. ‚Kriegskommissar‘ Trotzki betrachtete den Staat als Befehlshaber der Gesellschaft. ‚Die ganze Bevölkerung sollte in Arbeitsregimentern und Brigaden erfasst und wie eine Armee zur Ausführung von Produktionsbefehlen an die Wirtschaftsfront geschickt werden“, beschreibt es der renommierte Historiker Orlando Figes. Im Grunde blieb dies das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell bis fast ganz zum Ende der Sowjetunion.‘
„Nach Lenins Tod und der Machtübernahme durch Stalin kam der nächste Schub an unvorstellbaren Massenverbrechen.“ Und weiter: „Alexander Solschenizyn betrachtete das System der Arbeitslager mit Millionen Zwangsarbeitern in seinem berühmten Buch ‚Der Archipel Gulag‘ als eigentlichen Kern des bolschewistischen Experiments. Es sei die bolschewistische Mentalität, den Menschen als Rohmaterial, als Gebrauchsgut zu sehen, mit dem der Staat nach Gutdünken verfahren konnte.“
Der Sinn dieser Übung ist klar. Die stalinistischen Verbrechen sind heute allesamt bekannt, der Stalinismus zurecht verhasst, die grausame Diktatur in der Sowjetunion und den Osteuropäischen Staaten brach Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre nicht zufällig in sich zusammen. Wer die russische Revolution heute möglichst unattraktiv für ArbeiterInnen und Jugendliche machen will, die nach einer Alternative suchen, für den ist es durchaus lohnend, diese Gleichsetzung zu betrieben. Doch in Wirklichkeit ist das eine ebenso große Vergewaltigung der historischen Wahrheit, wie es die Darstellung der Oktoberrevolution als Putsch ist.
Die Wirtschaft des Landes war nach den Jahren des Weltkrieges, den Wirren der Revolution und des Bürgerkrieges völlig zerstört. Eine Hungersnot war ausgebrochen, in Teilen des Landes kam es zu Fällen von Kannibalismus. Lenin und Trotzki waren sich immer bewusst, dass die Revolution isoliert nicht überleben würde, und setzten so ihre ganze Hoffnung immer in einen Sieg der Revolution in einem fortgeschrittenen kapitalistischen Land. Doch durch den Verrat der reformistischen Führungen der Arbeiterklasse konnten die mitteleuropäischen Revolutionen (Deutschland, Österreich, Ungarn) nicht siegen.
Auf Basis der internationalen Isolation und der internen Rückständigkeit Russlands kam die monströse Diktatur einer bürokratischen Kaste, die sich Stalin zu ihrem Führer auserkoren hatte, in der Sowjetunion zur Macht. Doch das war kein direkter, widerspruchsfreier Weg. Ganz im Gegenteil! Stalin marschierte auf den Knochen hunderttausender ArbeiterInnen und KämpferInnen der Revolution in einem einseitigen Bürgerkrieg der „Säuberungen“ zur Macht. Es reichte ihm nicht, die Macht zu übernehmen, er musste seine GegnerInnen in Partei und Gesellschaft physisch vernichten. Dabei wurden nicht nur jene zu Opfern, die aktiv gegen die Bürokratisierung und für die Ziele der Revolution kämpften, sondern sogar jene, die nur eine ungetrübte Erinnerung an die Ereignisse der Revolution hatte – Stalin fürchtete sich nicht zu Unrecht, dass diese Erfahrungen gegen ihn und die Herrschaft der Bürokratie gerichtet werden könnten. Die Revolution und die Frühe Sowjetunion sind durch einen Strom aus Blut von der stalinistischen Diktatur getrennt!
Das bedeutete, dass er sogar diejenigen, die vor ihm kapituliert hatten, in Schauprozessen der verrücktesten Verbrechen beschuldigen und allesamt hinrichten ließ. Dabei waren nicht selten Menschen, die aktiv gegen die Revolution gekämpft hatten, die Henker der Bürokratie: etwa der Generalstaatsanwalt Wyschinski, der Regisseur der Schauprozesse, der in der Revolution entschiedener Feind der Bolschewiki war, unter Stalin aber rasch Karriere machte. Kurz: Stalin kam nicht durch die Revolution, sondern durch eine Konterrevolution in der Sowjetunion an die Macht. Dabei wurden beinahe alle Errungenschaften bis auf die Verstaatlichung der Wirtschaft wieder rückgängig machte. Von der Bolschewistischen Partei, von den Sowjets und der Arbeiterkontrolle blieben nur noch die Namen übrig, um der Diktatur eine Deckung zu geben. Das ist die eigentliche „Lüge“ der späten Sowjetunion, die Rauscher natürlich nicht erwähnt.
So schließt sich der Kreis seiner Aneinanderreihung von Lügen und Halbwahrheiten. Der Artikel endet mit einer Aufrechnung der „Toten des Kommunismus“, spätestens jetzt sollte jedem die Lust nach der Wiederholung dieses „Experimentes“ vergangen sein. Doch Lügen haben kurze Beine. Hundert Jahre nach der russischen Revolution suchen Jugendliche und ArbeiterInnen auf der ganzen Welt nach einer Alternative zum Kapitalismus, der nur Leid verursacht, das Leben von Milliarden Menschen zu einem dauernden Kampf macht und dabei den Planeten zerstört, auf dem wir leben. Immer mehr entdecken in diesem Prozess auch die Ideen des Sozialismus, des Kommunismus und Marxismus wieder. Und keine Lüge der Welt kann die russische Revolution, diesem wunderbaren, gewaltigen Akt der Befreiung, dabei das Verdienst nehmen, zum ersten Mal in der Praxis bewiesen zu haben, dass eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung möglich ist.