Am 8. März 1917 – nach dem alten russischen Kalender war das der 23. Februar – machten Petersburger Textilarbeiterinnen mit ihrem Streik den Anfang der „Februarrevolution“, die den Sturz des Zaren, das Ende des Krieges sowie die wirtschaftliche und politische Umwälzung in Russland einleiten sollte. In Erinnerung an dieses Ereignis wurde auf der 2. Internationalen Konferenz der Kommunistinnen 1921 der 8. März als einheitliches Datum für den Internationalen Frauentag beschlossen.
Schon im November und Dezember 1916 hatte eine Streikwelle in Petrograd, dem späteren Leningrad und heutigen St. Petersburg eingesetzt. Der seit 1914 andauernde Weltkrieg machte das Leben für die Masse der Bevölkerung zur Hölle. In Stadt und Land wie auch an der Front wuchs die Kriegsmüdigkeit.
Fabriken standen aufgrund von Treibstoffmangel still, die Eisenbahnen standen kurz vor dem Zusammenbruch. Es gab kein Fleisch und einen Mangel an Mehl. Der Hunger war allgegenwärtig. Zu all dem kamen noch die ständigen Nachrichten von militärischen Niederlagen und ein Skandal, der vom Fürstenhof und der Rasputin-Clique sowie den antisemitischen Schwarzhundertschaften ausging. Das Regime aus aristokratischen Gaunern, Spekulanten und Karrieristen stellte seine Fäulnis offen vor einer wachsenden Zahl unzufriedener Menschen zur Schau. Das liberale Bürgertum vom „Progressiven Block“ bat flehentlich Zar Nikolaus, Reformen zuzulassen und versuchte ihm mit einer möglichen Revolution Angst einzujagen.
Revolutionäre Gärung
Unter der Oberfläche veränderte sich die Stimmung der Massen langsam. Trotzki beschrieb diesen Prozess als den „molekularen Prozess der Revolution“. Dieser findet schrittweise statt und ist oft nicht wahrnehmbar, auch für RevolutionärInnen, die manchmal aufgrund von Oberflächenerscheinungen in Apathie, Verbitterung und Enttäuschung verfallen. Dieser Prozess ist vergleichbar mit dem allmählichen Druckaufbau unter der Erdoberfläche, der einem Erdbeben vorausgeht. Er ist für den oberflächlichen Beobachter unsichtbar, der nur auf die Oberfläche schaut und den Druckaufbau im Innern der Erde missachtet. Wenn dann der Ausbruch stattfindet, ruft dies allgemeines Erstaunen hervor. Diese naturwissenschaftliche Analogie lässt sich auch auf gesellschaftliche Prozesse anwenden.
Streikbewegung
Am 9. Januar 1917 fand der größte Streik statt, den Petrograd während des Krieges je erlebte. Er traf die Kriegsindustrie besonders hart. Über 145.000 ArbeiterInnen waren beteiligt. Es war eine Art Probelauf für die Revolution. Mit dem Streik einher gingen Massenveranstaltungen und Demonstrationen. Petrograd glich einem bewaffneten Feldlager, das von Armee und Polizei besetzt war. Aber das Polizeiaufgebot reichte nicht mehr aus, um die Revolution aufzuhalten. Das liberale Bürgertum versuchte die Revolution abzuwehren und bat den Zaren, Reformen zuzulassen. Der Präsident der letzten Duma (Parlament), Rodsjanko, versuchte den Zaren wachzurütteln und flehte den Herrscher an, er solle die Duma, die er am 9. Juli 1916 aufgelöst hatte, wieder einsetzen und eine Regierungsumbesetzung organisieren. Die sozialdemokratischen Menschewiki riefen am 14. Februar (Wiedereinführung der Duma) die ArbeiterInnen von Petrograd auf, vor dem Taurischen Palais ihre Solidarität mit der Duma zu demonstrieren und die liberale Opposition zu unterstützen. Die Bolschewiki (marxistischer Flügel der ArbeiterInnenbewegung, siehe Anmerkungen unten) verurteilten diese Politik als Klassenkollaboration und riefen ihrerseits zu einem eintägigen Streik auf. 90.000 ArbeiterInnen aus 58 Fabriken befolgten diesen Streikaufruf der Bolschewiki. Die ArbeiterInnen der Putilov-Werke demonstrierten unter dem Banner „Nieder mit dem Krieg!“, „Nieder mit der Regierung!“ und „Lang lebe die Republik!“. Niemand bemühte sich zum Taurischen Palais zu gehen. Rosdjanko gestand ein, dass die Duma von der Mehrheit ignoriert wurde.
Dieser erfolgreiche Probelauf zeigte, dass die Stimmung der Massen den Siedepunkt erreicht hatte. Abgesandte der Putilov-Werke besuchten alle anderen Fabriken in den Distrikten von Narwa und Wyborg. Dies entfachte eine breite Bewegung. Es gab Brotaufstände, die vor allem durch die aktive Teilnahme der Frauen ausgelöst wurden.
Die Macht der ArbeiterInnenklasse
Der Streik in der riesigen Putilov-Fabrik, der zunächst am 18. Februar von einigen hundert ArbeiterInnen einer Abteilung gestartet wurde und mit der Forderung einer Lohnerhöhung und der Wiedereinstellung einiger entlassener Arbeitskollegen begann, überraschte die organisierten ArbeiterInnen und RevolutionärInnen. 30.000 Beschäftigte dieses riesigen Unternehmens gründeten ein Streikkomitee, gingen auf die Straße und forderten die anderen ArbeiterInnen auf, sie zu unterstützen. Am 22. Februar reagierte die Unternehmensführung der Putilov-Werke mit einer Aussperrung. Dies erwies sich als ein großer Fehler, denn Tausende von aufgebrachten ArbeiterInnen strömten auf die Straßen, während viele Frauen in der Kälte für eine spärliche Ration Brot anstehen mussten. Diese Kombination war sehr explosiv. Es überraschte viele Aktivisten, wie sich zuvor konservative und unorganisierte Schichten wie Frauen und junge Menschen in Windeseile politisierten und an die Spitze drängten.
Am 23. Februar wurden Versammlungen einberufen, um Protest gegen den Krieg zu äußern sowie die hohen Lebenshaltungskosten und die schlechte Lage der Frauen anzuprangern. Dies wiederum löste eine neue Streikwelle aus. Die Textilarbeiterinnen spielten dabei eine entscheidende Rolle und traten in den Ausstand. Sie marschierten zu den anderen Fabriken und forderten deren Belegschaften auf, den Streik zu unterstützen. Riesige Massendemonstrationen folgten. Fahnen und Plakate mit revolutionären Parolen waren allgegenwärtig: „Nieder mit dem Krieg!“ „Nieder mit dem Hunger!“ „Lang lebe die Revolution!“ Straßenredner und Agitatoren tauchten an allen Ecken auf, als ob sie vom Himmel gefallen wären. Viele von ihnen waren Bolschewiki, aber andere waren einfache ArbeiterInnen, Frauen und Männer, die nach Jahren der erzwungenen Ruhe plötzlich entdeckten, dass sie sprechen und denken konnten.
Die Revolution hatte begonnen. Das Fass zum Überlaufen gebracht hatten die immer länger werdenden Schlangen vor den Brotausgabestellen. Am 24. Februar befanden sich 200.000 ArbeiterInnen, das war etwas mehr als die Hälfte der IndustriearbeiterInnen Petrograds, im Streik. Es gab gewaltige Fabrikversammlungen und Demonstrationen. Die ArbeiterInnen legten ihre Angst ab und standen ihren Peinigern gegenüber. Die Bewegung entwickelte eine Eigendynamik. Gewaltige Demonstrationen begleiteten die Streiks, die sich wie ein Flächenbrand auf die anderen Industriezentren ausbreiteten.
Am 25. Februar dehnte sich der Streik weiter aus. Andere rückständigere Schichten beteiligten sich, es streikten bereits viele kleinere Betriebe und die Straßenbahnen blieben stehen. Auch immer mehr Schüler nahmen nun an Demonstrationen teil.
Die Gründung der ArbeiterInnenräte
Am selben Tag trafen sich 30 der 35 ArbeiterInnenführer im Büro des Verbandes der ArbeiterInnenkooperativen und bildeten einen ArbeiterInnenrat. Obwohl die Hälfte von ihnen noch am selben Abend verhaftet wurde, riefen andere AktivistInnen zwei Tage später das Provisorische Exekutivkomitee des Petrograder ArbeiterInnenrates (Sowjet) aus. Der menschewistische Duma-Abgeordnete Tschcheidse wurde zum Vorsitzenden gewählt, obwohl er offensichtlich keine Fabrik repräsentierte. Die Zusammensetzung der etwa 150 Delegierten, die bei der Eröffnungsversammlung des Sowjets anwesend waren, war sehr bunt. Zahlreiche politische Strömungen waren vertreten, aber auch skurrile Persönlichkeiten tauchten auf und nutzten die Gunst der Stunde. Ziel des ArbeiterInnenrates war es, „die Volkskräfte zu organisieren und für die Festigung der politischen Freiheit sowie einer Volksregierung zu kämpfen.“
Die Antwort der Reaktion
Am Abend desselben Tages erließ Zar Nikolaus einen Befehl an den Chef des Militärbezirks Chabalow, „gleich morgen“ die Unruhen zu unterdrücken. Am folgenden Nachmittag eröffneten die Truppen das Feuer.
Somit hatte die Ausweitung der Kämpfe des Proletariats am dritten Tag der revolutionären Ereignisse die Regierung zum brutalen Durchgreifen veranlasst. Der Zarenbefehl und der darauf folgende blutige Einsatz der Truppen hatten die Situation grundlegend verändert. Die Masse war dennoch entschlossen, nicht mehr zurückzuweichen und widersetzte sich den Angriffen. Die ArbeiterInnen agitierten die Soldaten und forderten sie auf: „Schieße nicht auf deine Brüder und Schwestern!“, „Geh mit uns!“ Überall in der Stadt und vor allem vor den Toren der Kasernen fand ein unermüdlicher Kampf um die Köpfe der Soldaten statt. Diese wurden zusehends immer unsicherer und zweifelten an ihrem Tun, so dass es vermehrt zu Verbrüderungen zwischen den „Bauern in Uniform“, den Soldaten, und streikenden ArbeiterInnen kam.
Am 27. Februar befand sich schließlich ein Großteil der Hauptstadt in den Händen der ArbeiterInnen und übergelaufener Truppenteile. Weitere Soldaten schlossen sich den aufständischen ArbeiterInnen an. Am 28. Februar stand Chabalow ohne Truppen da – ein General ohne Armee. Die Minister der letzten zaristischen Regierung wurden auf die Peter-Paul-Festung überführt. Sie waren Gefangene der Revolution. Die ArbeiterInnen bildeten Räte, um die Gesellschaft zu lenken. Die Macht lag nun in den Händen der ArbeiterInnenklasse und der Soldaten.
Der Sturz des Zarismus
Der Sturz des Zarismus wurde von der ArbeiterInnenklasse vollbracht und von der Bauernschaft in Gestalt der Armee unterstützt. In der Tat wurde die Revolution in einer einzelnen Stadt durchgeführt – Petrograd –, auf die gerade mal 1/75 der russischen Bevölkerung entfiel. Hier fällt die entscheidende Bedeutung der ArbeiterInnenklasse und der Stadt gegenüber der Bauernschaft und dem Land ins Gewicht.
Die Februarrevolution war relativ friedlich, weil keine ernsthafte Kraft das alte Regime verteidigen wollte. Als sich die ArbeiterInnenklasse in Bewegung setzte, konnte nichts und niemand sie aufhalten. Die ArbeiterInnen hatten nun die Macht in ihren Händen, aber, wie Lenin später erklärte, sie waren nicht ausreichend organisiert und sich noch nicht der Situation bewusst, um die Revolution zu Ende zu führen.
Die Übergangsregierung
Aber wie konnte diese Revolution eine bürgerliche sein? Der objektive Inhalt der Februarrevolution, der sich in dem unmittelbaren Programm und ihren Forderungen manifestiert, war bürgerlich-demokratisch. Aber welche Rolle spielte das Bürgertum in der Revolution? Eine konterrevolutionäre Rolle, die nur nicht vollständig zur Geltung kam, weil den liberalen Politikern, genauso wie der Autokratie, die materiellen Mittel fehlten. Sie waren sich ihrer Schwäche und Einflusslosigkeit bewusst und konnten daher die Revolution nicht in Blut ertränken, so dass sie schnell eine „Übergangsregierung“ installierten, um die Kontrolle über die Bewegung aufrecht zu erhalten.
Die Übergangsregierung ging aus dem „Provisorischen Komitee der Dumamitglieder“ hervor, das sich unzweideutig folgendes zur Aufgabe gesetzt hatte: „Herstellung der Ordnung und Verkehr mit Ämtern und Personen.“ Es war klar, um welche Ordnung es sich drehte und mit welchen Ämtern die Herren zu verkehren gedachten. Die Duma war machtlos, dennoch hoffte sie immer noch auf eine Unterdrückung des Aufstandes. Das Komitee wurde vom ehemaligen Dumasprecher Rodsjanko angeführt, der eingestand, dass er die Abdankung des Zaren mit unvergleichbarer Traurigkeit empfand. Schulgin, ein weiteres prominentes Mitglied des Progressiven Blocks, äußerte sich eindeutig zur Entstehung des „Provisorischen Komitees“: „Wenn wir nicht die Macht übernehmen, dann werden es die anderen machen, diese Schufte, die bereits alle Arten von Schurken in den Fabriken gewählt haben.“
Diese „Schurken in den Fabriken“ waren die Mitglieder des ArbeiterInnenrates, dieses breiten Kampfkomitees demokratisch gewählter ArbeiterInnen. Die Erfahrung der Sowjets von 1905 hatte sich ins Bewusstsein der ArbeiterInnen eingeprägt. Bei jedem Aufstieg der revolutionären Bewegung lebt automatisch die Idee der Räte auf. Auch im Februar hatten sich diese Strukturen entwickelt und die wirkliche Macht lag in ihren Händen. Das Problem war das Fehlen einer Partei und einer Führung, die für die Revolution stand. Die reformistischen Führer, die sich zu Beginn der Revolution in den Vordergrund drängten und die den Großteil des Exekutivkomitees der Sowjets ausmachten, hatten nicht die Perspektive einer Machtergreifung. Sie wollten so schnell wie möglich die Macht der Bourgeoisie übergeben, obwohl letztere keine Rolle in der Revolution gespielt und vor ihr Angst hatte.
Die Liberalen hatten keine Massenbasis in der Gesellschaft. Der einzige Grund, warum die Übergangsregierung überleben konnte, war, dass die Führer der Menschewiki (siehe Anmerkungen unten) und der Sozialrevolutionäre sie aufgerichtet hatten.
Die Repräsentanten des Kapitals wussten, dass nur die Unterstützung der Führer der Sowjets ihren Machterhalt gewährleisten würde. Dies würde schließlich nur ein zeitlich befristetes Übereinkommen sein. Die Massen würden bald dieses „Wahnsinns“ überdrüssig sein. Die Bewegung würde abebben und dann könnte man den „Sozialisten“ einen „Tritt in den Hintern verpassen“ – nach dem Motto: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. Aber vorläufig sei es notwendig, den Teufel zu erdulden. Die reformistischen Führer hielten eilig eine Versammlung des „Provisorischen Exekutivkomitees des Sowjets“ im Taurischen Palais ab, bei der Mitglieder des Kriegsindustrie-Komitees, Gewerkschaftsführer und menschewistische Duma-Abgeordnete (siehe Anmerkungen) vertreten waren. Die Menschewiki plädierten für die Zusammenarbeit mit der herrschenden Klasse. Die Bürgerlichen erhielten also hinter dem Rücken der ArbeiterInnenklasse die Macht, denn die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, von der Masse empor gehoben, händigten der Bourgeoisie die Macht aus. Die Reformisten hatten das Vertrauen der Massen getäuscht, indem sie an die Macht jene beriefen, gegen die sie gewählt worden waren.
Hoffnungsträger
Die ArbeiterInnen und Soldaten misstrauten den Bürgerlichen, vertrauten aber ihren Führern, besonders denen mit den radikalsten und „linkesten“ Sprüchen wie Alexander Kerenski. Diese Karrieristen mit ihrer Juristenrhetorik und ihrem Hang zu theatralischer Demagogie passten perfekt zur ersten formlosen, verwirrten und naiven Stufe der erwachten Massen. Die kleinbürgerlichen Führer, sobald die Revolution sie auf den Gipfel der Macht gehoben hatte, hatten Angst vor ihrer eigenen Courage und beeilten sich, den Vertretern des Kapitals das Steuer zu überlassen.
Kerenski wurde als Justizminister an der Übergangsregierung beteiligt. Hier haben wir es mit dem zentralen Widerspruch der Februarrevolution zu tun: Es wurden Leute an die Macht gebracht, die während der Revolution keine Rolle gespielt hatten und die Angst vor ihr hatten wie der Teufel vor dem Weihwasser. Am 2. März wurde die Übergangsregierung gebildet. Sie wurde hauptsächlich von Großgrundbesitzern und Industriellen gestützt. Prinz Lwow wurde als Vorsitzender des Ministerrats bestimmt. Außenminister wurde der Führer der bürgerlichen Kadetten-Partei, Miljukow. Finanzminister wurde der vermögende Zuckerfabrikant und Landbesitzer Tschertschenko. Handels- und Industrieminister wurde der Textilfabrikant Konolov. Diesen und anderen Reaktionären wurde vom Sowjet die Regierungsverantwortung übertragen.
Die kleinbürgerlichen Führer der Sowjets hatten kein Vertrauen in die Fähigkeit der Massen, die Revolution durchzuführen. Tief davon überzeugt, dass die Bourgeoisie als einzige Klasse in der Lage sei, zu regieren, waren sie bestrebt, die Macht, die von den ArbeiterInnen und BäuerInnen erobert wurde, zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt dem „aufgeklärtem“ Bürgertum zu übergeben.
Die Menschewiki und SozialrevolutionärInnen taten alles, um die Massen davon zu überzeugen, dass eine Regierung ohne Kapitalisten die Revolution zerstören würde. Sie sprachen ständig davon, dass die ArbeiterInnenklasse zu schwach sei, um die Revolution durchzuführen und dass sie sich nicht isolieren dürfe. Obwohl 10 Millionen Soldaten, die erschöpft aus dem Krieg zurück kamen, bewaffnet auf der Seite der ArbeiterInnen und BäuerInnen standen, taten die Führer der Menschewiki und SozialrevolutionärInnen alles, um die Bourgeoisie nicht „zu verschrecken“. Sie wagten es nicht, den Krieg in Frage zu stellen, geschweige denn die Banken, den Großgrundbesitz oder die Betriebe zu enteignen, damit die ungelösten sozialen Probleme in Angriff genommen werden konnten. Sie setzten auf Zeit und gaben nur allgemeine Phrasen von sich, während die Massen langsam die Geduld verloren. Die ArbeiterInnen und BäuerInnen, erst vor kurzem zu politischem Leben erwacht, suchten einen Ausweg aus ihrer misslichen Lage, aber ihnen fehlte noch die Erfahrung und das Selbstvertrauen, sich auf ihre eigene Stärke zu verlassen und in den Bolschewiki die revolutionäre Kraft zu sehen, mit der sie ihre soziale Situation grundlegend verändern konnten.
„Einheit aller fortschrittlichen Kräfte“
Im Namen der „Einheit“ und der „Verteidigung der Demokratie“ sowie der „Einheit aller fortschrittlichen Kräfte“ wurde der ArbeiterInnenklasse die Macht aus den Händen gerissen. Sie wurde damit vertröstet, dass es nun die Aufgabe des Sowjets sei, Druck auf die bürgerlichen Liberalen zu machen und im Interesse der ArbeiterInnen zu handeln.
Die bürgerlichen Führer der Übergangsregierung dachten insgeheim nur an Repressionsmaßnahmen, die sie gegen die ArbeiterInnenklasse richten wollten, doch dies war nun unmöglich. Deshalb waren sie gezwungen, zu manövrieren und auf Zeit zu spielen. Sie „gaben“ den Massen nur das, was die ArbeiterInnen und Soldaten bereits im Kampf erobert hatten. Das einzige Ziel der Liberalen war, die Revolution durch kosmetische Veränderungen von oben zu stoppen, damit so viel vom alten Regime wie möglich bewahrt werden würde. Das alte Regime, das ernstlich untergraben, erschüttert und empfindlich getroffen wurde, existierte noch in Gestalt der wirtschaftlichen Macht der Landbesitzer, Bankiers und Kapitalisten. Außerdem saßen die riesige Bürokratie, die Offizierskaste, die Duma und schließlich die Monarchie nach wie vor fest im Sattel.
Diese versöhnlerische Politik ging nicht spurlos an den ArbeiterInnen und Soldaten und vor allem an den revolutionären AktivistInnen vorüber. Den bürgerlichen Politikern der Übergangsregierung misstrauten sie. Aber sie vertrauten nach wie vor ihren Führern. Die Menschewiki, die Sozialrevolutionäre und die „gemäßigten“ Sozialisten stellten die Mehrheit des Exekutivkomitees der Sowjets und erzählten ständig, dass Geduld nötig sei und dass es die erste Aufgabe sei, die Demokratie zu festigen sowie eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen.
Viele ArbeiterInnen und BäuerInnen mögen sich gedacht haben: „Warten wir einmal ab und schauen, was kommt. Unsere Führer werden schon wissen was sie tun.“ Dieses Vertrauen sollten die reformistischen Führer in den folgenden Monaten allerdings wieder verlieren.
Christoph Mürdter, Der Funke (Deutschland)
Anmerkungen
Bolschewiki: radikale Strömung innerhalb der russischen sozialistischen ArbeiterInnenbewegung, enstanden aus einer der beiden großen Fraktionen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), die im wesentlichen von Lenin geführt wurde. Die Bezeichnung leitet sich von einer Abstimmung auf dem II. Parteikongreß der SDAPR im Juli/August 1903 her, die zu einer dauerhaften Parteifraktionierung führte; dabei ging es zunächst um scheinbar rein organisatorische Fragen, es stellte sich jedoch heraus, dass die Differenzen sich nicht nur auf die Parteikonzeption, sondern auch auf die taktische und prinzipielle Fragen erstreckten (insbesondere die Haltung zum Liberalismus und die Ziele der Revolution in Russland).
Nach der 6. Parteikonferenz der SDAPR im Januar 1912 bildeten die Bolschewiki eine eigene Partei.
Menschewiki: gemäßigte Strömung innerhalb der russischen sozialistischen ArbeiterInnenbewegung mit marxistischem Selbstverständnis; trat für das Zusammengehen der ArbeiterInnenklasse mit der liberalen Bourgeoisie (Bürgertum) zur Niederwerfung des Zarismus und zur Errichtung einer bürgerlich-demokratischen Republik ein.
Sozialrevolutionäre: russische sozialistische Bauernpartei; vertraten die Interessen des kleinbäuerlichen Landbesitzes.
Duma: Russisches Parlament
Kadetten: Konstitutionelle Demokraten, bürgerliche Liberale