Ausnahme- und Notstandsverordnungen waren immer schon ein bewährtes Mittel bürgerlicher Krisenbewältigung. Gernot Trausmuth zeigt, wie diese auch immer wieder gegen die organisierte Arbeiterbewegung eingesetzt wurden.
Nach seiner Wahl zum SPÖ-Vorsitzenden hat Christian Kern gemeint: „Alles, was wir brauchen, um die gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen, ist da und ist in der Geschichte der Sozialdemokratie angelegt, man muss nur das Hainfelder Programm lesen.“ Diese Aussage können wir voll und ganz teilen. Die ungebrochene Unterstützung des SPÖ-Regierungsteams für eine Notstandsgesetzgebung lässt sich damit aber mit Sicherheit nicht argumentieren.
In der „Prinzipien-Erklärung“ von Hainfeld, die aus der Feder von Victor Adler stammte, wird der Staat als Ausdrucksform der „politischen und ökonomischen Herrschaft (…) der Besitzer der Arbeitsmittel, der Kapitalistenklasse“ definiert, aus der sich die Arbeiterklasse befreien muss. Die damalige Sozialdemokratie war noch frei von Illusionen in den bürgerlichen Staat, egal ob er als monarchistische Diktatur oder in Form des Parlamentarismus auftritt. Auf dieser Grundlage sprach sich der Hainfelder Parteitag in der „Resolution über die politischen Rechte“ auch entschieden für „die Aufhebung … der Ausnahmsverfügungen“ aus.
Die Habsburger hatten nämlich auch nach der Verabschiedung des Staatsgrundgesetzes von 1867, mit dem Österreich auf dem Papier eine konstitutionelle Monarchie wurde, eine Vielzahl von Mechanismen in die Verfassung eingebaut, die die Ausübung bürgerlicher Freiheiten und Rechte massiv einschränkte und den Übergang zu einer offenen Diktatur sehr leicht möglich machte.
„Gute, alte Zeit unterm Kaiser“
Kaiser Franz Joseph wurde in seiner Rolle nicht angetastet und stand laut Verfassung weiter über allen Dingen. Das Parlament (der Reichsrat) war in seiner Rolle stark eingeschränkt und vom guten Willen des „geheiligten“ Staatsoberhaupts abhängig. Frei nach eigenem Ermessen konnte der Kaiser die Vertagung oder gar Schließung des Reichsrats beschließen und somit den Weg für §14-Verordnungen durch die Regierung ebnen. Das Parlament existierte unter den Habsburgern nur auf Abruf. Die oberste Prämisse von Franz Joseph lautete: „Ordnung muss geschaffen und mit fester Hand aufrechterhalten werden.“
Dieser Paragraph 14 sah vor, dass die Regierung die Möglichkeit erhielt Verordnungen mit provisorischer Gesetzeskraft zu erlassen, wenn der Reichsrat nicht versammelt ist. Diese Verordnungen mussten dann vom Kaiser nur gegengezeichnet werden. Auf dem Papier war dieses Notverordnungsrecht so formuliert, dass es nur sehr eingeschränkt zum Einsatz kommen konnte. In der Praxis wurde der §14 jedoch immer dann angewandt, wenn das parlamentarische Prozedere aus Sicht der Herrschenden zu unsicher oder zu langwierig erschien. In 156 (!) Fällen wurde auf diesem Weg das Parlament ausgeschalten und der Ausnahmezustand hergestellt. Der §14 wurde so zu einem „Diktaturparagraphen“.
Ein weiteres Instrument war das Suspensionsgesetz, mit dem im Fall von Krieg, Kriegsgefahr, inneren Unruhen oder „verfassungsbedrohenden Umtrieben“ eine Reihe von bürgerlichen Rechten (Briefgeheimnis, Unverletzlichkeit des Hausrechts, Versammlungs- und Vereinsrecht, Pressefreiheit usw.) ganz oder teilweise ausgesetzt werden konnten. Dieses Gesetz kam z.B. in den 1880ern gegen die Arbeiterbewegung oder beim großen Streik der Seeleute in Triest vom Februar 1902 zum Einsatz.Abgerundet wurde das Habsburgsche Notverordnungsregime mit den „Ausnahmegerichten“, die die Geschworenengerichte ersetzen konnten.
Vor dem Ausnahmegericht
Das österreichische Bürgertum konnte mit der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten, die durch das Strafgesetzbuch schon sehr massiv war und in der Notstandsgesetzgebung ihre Krönung fand, gut leben, weil es darin auch die einzige Möglichkeit sah in Krisenzeiten die eigene Machtposition aufrechtzuerhalten. Es verwundert somit auch nicht, dass die aufstrebende Arbeiterbewegung immer wieder Zielscheibe dieses Regimes wurde. Vorwand für diese staatliche Repression war stets die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung“. Schon das Strafgesetzbuch lieferte also z.B. mit den §§ 302 und 305 wichtige Mittel zur Verfolgung der Sozialdemokratie. Diese Paragraphen lieferten auch die Grundlage für die Hochverratsprozesse von 1870 in Wr. Neustadt und Wien gegen eine Reihe von sozialdemokratischen Führern (Scheu, Most, Oberwinder, Neumayr,…), die Mitglieder der Ersten Internationale waren.
Als die Arbeiterbewegung Ende der 1870er seitens des Staates nachhaltig geschwächt werden konnte, wuchs der Einfluss der Anarchisten unter den Arbeitern. 1884 wurde in Folge von drei politisch motivierten Morden über die Gerichtsbezirke Wien, Korneuburg und Wiener Neustadt der Ausnahmezustand verordnet. Alleine aus Wien wurden damals 300 Arbeiterfunktionäre abgeschoben. Interessant dabei ist, dass der Wiener Polizeipräsident schon ein halbes Jahr vor diesen Attentaten die Erlassung von Ausnahmebestimmungen per kaiserlicher Verordnung gefordert hatte. In Wiener Neustadt war es zwar zu keinen Gewaltakten gekommen, die radikale Arbeiterbewegung in diesem wichtigen Industriegebiet war dem Triumvirat aus Bürgermeister, Polizeichef und dem Direktor der Lokomotivfabrik aber schon lange ein Dorn im Auge. Die lokalen Autoritäten hatten bereits zuvor de facto nach einem Notstandsregime die Stadt regiert. In der Folge wurde 1885 als Reaktion auf eine von einem Polizeispitzel inszenierte Sprengstoffserie ein Verfahren vor dem Ausnahmegericht durchgeführt, bei dem drakonische Strafen ausgesprochen wurden.
Der Wendepunkt in der Entwicklung der österreichischen Arbeiterbewegung war der bereits angesprochene Einigungsparteitag 1888/9 in Hainfeld unter der Führung von Victor Adler. Das Wiedererstarken der Sozialdemokratie wurde vom Staat nicht tatenlos hingenommen. Adler, der mit seiner publizistischen Arbeit zur Lage der Arbeiterschaft Furore machte, wurde selbst zur Zielscheibe der Repression und musste sich unzählige Male vor Gericht verantworten. Besonderes Aufsehen erregte der Prozess wegen seiner Berichterstattung über den Tramwaystreik 1889. Weil laut Staatsanwaltschaft diesen Artikeln „auf den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen zugrunde liegen“, wurde die Verhandlung vor einem Ausnahmegericht abgehalten und Adler zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt. In der Folge versuchte die Justiz aber den Verfahren gegen Adler den „politischen Beigeschmack“ zu nehmen, weshalb er oft „nur“ wegen „Ehrenbeleidigung“ angeklagt wurde, worauf Adler immer darauf pochte, dass er gezielt und „in vollem Vorsatz“ das schwere Delikt der „Aufreizung zum Hass und zur Verachtung gegen die Regierung“ begangen habe, weil er den wahren Charakter des Systems aufdecken wollte.
Als im März 1914 der Reichsrat aufgelöst worden war, regierte die Regierung von da an auf der Grundlage von §14-Verordnungen und etablierte mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs de facto eine Militärdiktatur. Damit wurden noch vor Kriegsausbruch alle bürgerlichen Freiheiten außer Kraft gesetzt und alle ZivilistInnen unter Militärgerichtsbarkeit gestellt. Auch politische Delikte wurden ab sofort vor dem Militärrichter verhandelt, und das gegen die eigentlichen Bestimmungen der Verfassung. Friedrich Adler sagte, dass damit die Justiz „zu einer Kriegsmaschine im Hinterland herabgewürdigt wurde“ und der Staatsstreich komplett wäre.
Alle wesentlichen Betriebe wurden damals unter Heeresverwaltung gestellt, was zu massiven Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen führte. Streiks wurden verboten und hart bestraft. Dieses §14-Regime war ein scharfes Unterdrückungsinstrument in den Händen der herrschenden Klasse, das erst unter dem Druck der sich schnell radikalisierenden Arbeiterschaft im Frühjahr 1917 abgemildert wurde.
Die Zahl der Opfer war jedoch gewaltig. Der spätere tschechische Ministerpräsident Masaryk schätzt die Zahl der Hingerichteten zwischen 1914 und 1916 auf 80.000 (!). Selbst neun Abgeordnete zum Parlament mussten sich wegen „Hochverrats“ vor dem Militärgericht verantworten. Zehntausende wurden als „politisch Verdächtige“ in Internierungslager gesteckt. Kriegsgegner und streikende Arbeiter wurden brutal verfolgt, selbst für kleine Formen des antimilitaristischen Widerstands, wie die Verbreitung von Gedichten gegen den Krieg, drohten schwerer Kerker, wenn nicht sogar das Todesurteil. So im Fall des sozialdemokratischen Krankenkassensekretärs Langer.
Aus Abscheu gegen solches Unrecht beging Friedrich Adler 1916 sein Attentat auf Ministerpräsident Stürgkh, was ihn – eigentlich gegen die eigentliche Verfassungsbestimmungen – vor das Ausnahmegericht (anstatt vor ein Geschworenengericht) brachte. Vor Gericht versuchte er erfolgreich aufzuzeigen, dass dieses Regime keine Rechtmäßigkeit besaß, rein auf dem „Boden der Gewalt“ steht, und dass dies genau denselben „Notstand“ darstellt, mit dem die Regierung ihr Notverordnungsregime begründet. Daraus leitete Adler sein Recht und seine Pflicht auf Widerstand als Staatsbürger ab. Durch diesen Prozessauftritt wurde er zum Helden der Arbeiterbewegung. So kam es auch im September 1917 in ganz Wien zu Massenversammlungen, bei denen eine Protestresolution gegen die Vollziehung der Urteile von „§14-Gerichten in politischen Fällen“ verabschiedet und die Freiheit für Fritz Adler gefordert wurde.
Das KWEG
Als Kaiser Karl im Mai 1917 den Reichsrat wieder zusammentreten ließ, musste an Stelle der §14-Verordnungen eine gesetzliche Lösung treten. Um die Kontinuität der bisherigen, kapitalfreundlichen Praxis zu garantieren, wurde das sog. „Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz“ (KWEG) verabschiedet. Damit sollte die Regierung per Notverordnungen das „Funktionieren der Wirtschaft sichern“.
Nach dem Zusammenbruch der Monarchie im Zuge der revolutionären Krise vom Herbst 1918 hielt die neue Regierung unter dem Sozialdemokraten Renner am KWEG fest, begründete damit die eigene Verordungspolitik und übernahm es in die neue Rechtsordnung der Ersten Republik. Dabei verpflichtete sich die Regierung noch dem Parlament Bericht über den Einsatz des KWEG zu erstatten. Es fand dann auch Eingang in die Verfassung von 1920, jedoch mit der Vereinfachung, dass der in der Monarchie noch vorgesehene parlamentarische Kontrollvorgang gestrichen wurde.
Dieser Schritt sollte sich einige Jahre später für die Arbeiterbewegung bitter rächen. Im Zusammenhang mit der Bankenkrise nach dem Zusammenbruch der Creditanstalt erließ Justizminister Schuschnigg 1932 eine Verordnung, mit der die Regierung Haftungen übernahm. Für diesen Schritt wurde das KWEG gegen den Protest der Sozialdemokratie aus der Schublade geholt. Kanzler Dollfuß argumentierte dies so: „Die Tatsache, dass es der Regierung möglich ist, selbst ohne vorherige endlose parlamentarische Kämpfe sofort gewisse dringliche Maßnahmen in die Tat umzusetzen, wird zur Gesundung unserer Demokratie wesentlich beitragen.“
Nach der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 wurde das KWEG auch zur gesetzlichen Grundlage zur Errichtung des autoritären Ständestaates unter Dollfuß. Vom Notverordnungsregime, einschließlich der Einschränkung der Pressefreiheit oder der Ausweitung der Kompetenzen der Polizei bis zur gewaltsamen Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung war es dann nur mehr ein kurzer Schritt. Dabei kam auch das Standrecht zum Zug, wodurch auch die Todesstrafe wieder eingeführt wurde und 1934 zum Beispiel gegen die Februarkämpfer zum Einsatz kam.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses juristische Relikt endlich aus der Verfassung gestrichen. Mit den Befugnissen des Bundespräsidenten halten sich die Bürgerlichen aber weiterhin den Übergang zu Notverordnungen im Köcher bereit. Bruno Kreisky bezeichnete diese in der Verfassung vorgesehenen Befugnisse als „präfaschistisch“. Gegen jede Ausweitung solcher gesetzlicher Elemente ist seitens der Arbeiterbewegung konsequenter Widerstand erforderlich.