Ein Begriff geistert seit Beginn der Proteste gegen die schwarz-blaue Regierung durch die bürgerlichen Medien und die Wortspenden heimischer Intellektueller: die Zivilgesellschaft. Abgesehen davon, ein Modewort zu sein, zeichnet sich dieser Begriff v. a. durch seine begriffliche Vagheit und seine ideologische Undifferenziertheit aus. Aber egal, was er bedeutet – Hauptsache dazugehören, oder?
Herauszubekommen, was die einzelnen ProponentInnen dieses Begriffes darunter verstehen, ist praktisch unmöglich. Statt einer Definition werden lockere Beschreibungen angeboten: „Hier stehen heute Schulter an Schulter: Schriftsteller und Metallarbeiter, Umweltaktivisten und Gewerkschafter, Parteifunktionäre und Unabhängige, Straßenbahner und Schwarzfahrer, Österreicher und Einwanderer, französische Schauspieler und Waldviertler Bauern. Und uns gegenüber – die Regierung., (Robert Misik, Format-Redakteur bei der Demo am 19. Februar).
Mit der Übernahme des Begriffs der „Zivilgesellschaft, hat sich das österreichische liberale Bürgertum endlich eine neue Identifikationsfigur geschaffen. Das „gute“, „demokratische“, „zivilisierte, Österreich grenzt sich ab gegen die Barbarei, zu der sie auch die radikale Linke zählen. „Keine Gewalt, wird da auf den Demos gefordert – und das richtet sich nicht gegen die vermummten Polizisten, die am Rande der Opernballdemo auftauchten, sondern gegen linke DemonstrantInnen, die von Polizisten verprügelt werden. Diesen BildungsbürgerInnen geht es ja auch nicht um die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Rassismus begünstigen, sondern um die Wiederherstellung der demokratischen Normalität mit der FPÖ auf der Oppositionsbank.
Renaissance eines Begriffes
Bis in die 80er Jahre war die Terminologie „Zivilgesellschaft“ abseits von politikwissenschaftlichen Kreisen weitgehend unbekannt, als plötzlich osteuropäische DissidentInnen – DichterInnen und SchriftstellerInnen á la Vaclav Havel und Solschenyzin – sich selbst als Zivilgesellschaft im Gegensatz zum autoritären, stalinistischen Staat und der „allumfassenden“ kommunistischen Partei definierten. Der Begriff wurde auch als Absage an eine einheitliche Organisation der Arbeiterklasse verstanden, die den Widerstand gegen die stalinistischen Parteien hätte organisieren können. Stattdessen: kleine Vereine, Intellektuellenclubs und die sogenannten „kritischen“ öffentlichen Medien, die sich zum Sprachrohr des Widerstandes machten und im Namen der Zivilgesellschaft die Propagandaarbeit für den Übergang zum Kapitalismus und zur bürgerliche Demokratie leisteten.
In Südamerika gewann der Begriff „Zivilgesellschaft“ ungefähr zur gleichen Zeit an Bedeutung, um die klassenübergreifenden Allianzen gegen die Militärdiktaturen Chiles, Argentiniens oder Brasiliens zu bezeichnen. Als „sociedad civil“ definierten sich die Basisorganisationen, Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtskomitees, die am Land und in den Vorstädten entstanden waren, wo sich landlose Bauern und Bäuerinnen, städtische Arme, Arbeitslose, ArbeiterInnen und Hausfrauen mangels anderer organisatorischer Alternativen (Gewerkschaften und linke Parteien waren ja unter den Militärdiktaturen aufgerieben worden) zusammengefunden hatten, um soziale (Infrastruktur) und politische Forderungen (z.B. in Bezug auf die „Verschwundenen“) durchzusetzen.
Enttäuschte EntwicklungstheoretikerInnen, die nach dem Zusammenbruch nationaler Befreiungsbewegungen (z.B. in Nicaragua) auf der Suche nach einem neuen „historischen Subjekt“ waren, fanden es in diesem äußerst heterogenen Konglomerat an Basisorganisationen und etablierten den Begriff in der entwicklungspolitischen Debatte.
Ausgehend von Südamerika und Osteuropa, wurde der Begriff schließlich auch in Westeuropa bekannt, als SozialwissenschaftlerInnen und JournalistInnen, die die europäische Arbeiterklasse schon zu Grabe getragen hatten, den Begriff aufnahmen, um sämtliche Organisationen, die von ihnen als „progressiv“ und „demokratisch“ eingestuft wurden auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die „gute Zivilgesellschaft“ gewann in den Feuilletons der bürgerlichen Medien an Bedeutung, wobei Haiders „freiheitliche Bewegung“ oder andere xenophobe und nationalistische Gruppen natürlich nicht einbezogen werden.
Pluralität statt Klassenunterschieden
Auch wenn Differenzen innerhalb der Zivilgesellschaft nicht negiert werden – im Gegenteil, die BefürworterInnen loben gerade ihre „Vielfalt“ und „Buntheit“ – drängt sich gerade deswegen der Verdacht auf, daß von Unterschieden gesprochen wird, um von Klassengegensätzen zu schweigen. Soziale Konflikte sind dann nicht Konflikte zwischen den Klassen, die ihre Grundlage in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen haben, sondern Konflikte zwischen „der Gesellschaft“ und der „Staatsmacht/Regierung“ (siehe obiges Zitat) bzw. der abgehobenen Staatsbürokratie.
Die zivile Gesellschaft ist aber nichts anderes als die bürgerliche Klassengesellschaft, der Ort, an dem die Interessensgegensätze zwischen Lohnarbeit und Kapital ausgetragen werden. Wenn aber nicht mehr von Klassengegensätzen gesprochen wird, dann verliert auch die Frage, wem denn der Staat nützt, an Bedeutung. Auf einmal geht es nur mehr darum, gegenüber dem Staat demokratische Freiräume zu erobern und zu verteidigen, wo die inhaltliche Auseinandersetzung zwischen rationalen und vernünftigen Individuen geführt wird, „auf daß das bessere Argument gewinne.“ Der Staat ist aber nicht die autonome und unabhängige Instanz, als der er manchen erscheinen mag, sondern eines der wichtigsten Machtinstrumente in den Händen der UnternehmerInnen und aufs engste mit der Gesellschaft verbunden. Der demokratische Spielraum wird nur solange zugelassen, solange der Status Quo der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse nicht gefährdet wird.
Nicht nur in bezug auf die Analyse des Staates und seiner Beziehung zur Gesellschaft fügt sich der zivilgesellschaftliche Diskurs perfekt in bürgerliche Argumentationslinien ein, sondern auch in bezug auf die Formulierung eines politischen Projektes. Aufgrund der „Mannigfaltigkeit“ der Interessen und der Pluralität des „historischen Subjektes“ kann keine gesellschaftliche Gruppe den Anspruch stellen, eine breite soziale Bewegung zu formen, deren Ziel die Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist.
Keine revolutionäre Kraft „darf“ Strategien und Perspektiven hinsichtlich einer Veränderung der Gesellschaft entwickeln. Stattdessen sollen informelle und formelle Organisationen durch öffentlichen Druck auf Wirtschaft und Regierungen das System auf nicht-revolutionäre Weise verbessern, mit anderen Worten: Zivilgesellschaft als Lobbygesellschaft im Rahmen des Kapitalismus.
Sehnsucht nach Gemeinschaft
Im Namen der „Zivilgesellschaft“ – das können wir auch im schwarz-blauen Regierungsprogramm lesen – werden sozialpolitischen Aufgaben des Staates (Kranken- oder Altenbetreuung) auf Vereine und ehrenamtliche MitarbeiterInnen (v.a. Frauen) ausgelagert, Einsparungen und Sozialabbau legitimiert. Die Begründung dafür: an und für sich sollte jedes Individuum seine Bedürfnisse sowie die Strategien zu ihrer Befriedigung auf dem Markt bestimmen. Für jene Individuen, die das nicht mehr können (Kranke, Alte, Arme …), soll die Zivilgesellschaft als kollektives Korrektiv einspringen – durch Eigenengagement und Selbstausbeutung in ehrenamtlichen Funktionen, damit nur ja nicht die Staatsausgaben steigen. Der Vorschlag, daß sozialer Kahlschlag gemeinschaftlich und vor allem mit Hilfe von Frauen abgefedert werden soll, stammt in erster Linie aus dem konservativen Eck – die Bürgergesellschaft Kohls läßt grüßen. Aber auch die rechte Sozialdemokratie eines Schröders und Blairs versucht diese extrem reaktionären Ideen als sozialpolitische Weisheit des neuen Jahrtausends zu verkaufen.
Ebenfalls innerhalb der Linken, gerade im sozialdemokratischen Umfeld und über den entwicklungspolitischen Bereich hinaus hat die Idee der Zivilgesellschaft ihre AnhängerInnen. Als Zusatz zum Markt, um seine Defizite zu überbrücken und Freiräume zu schaffen, in denen die Gesetze von Angebot und Nachfrage außer Kraft gesetzt werden und „Kapitalakkumulation“ unmöglich ist (z.B. Tauschkreise), wo stattdessen Werte wie Solidarität, Gemeinschaft, Gerechtigkeit im Vordergrund stehen.
Der Wunsch, mit Gleichgesinnten zusammenzuarbeiten, sei es zur Unterstützung von Maquilaarbeiterinnen in Lateinamerika, in einer Plattform gegen Schwarzblau oder zur Unterstützung von MigrantInnen zeigt, daß es das Bedürfnis nach anderen Organisationsformen jenseits von Konkurrenz und Anarchie des Marktes gibt. Wenn aber der Markt als primärer Ordnungsfaktor der Wirtschaft nicht in Frage gestellt wird und im besten Fall eine „ökosoziale Marktwirtschaft“ und ein demokratischerer, von seinen BürgerInnen kontrollierter Staat, eingefordert wird, dann verliert die Organisation irgendwann einmal ihr systemkritisches Potential und erfüllt nur mehr eine Funktion: Das Verschleiern der Unmöglichkeit, im Kapitalismus die menschlichen Bedürfnisse nach sozialer Sicherheit, Ausbildung, Arbeit auf Dauer zu befriedigen und die politischen Freiheiten zu garantieren.