Im Juni 2024 waren weltweit 122,6 Mio. Menschen (davon 47 Mio. Kinder) auf der Flucht, 5,3 Mio. mehr als Ende 2023. Dies sind 1,5 % der Weltbevölkerung. Allein 2023 waren mindestens 27,2 Mio. Menschen neu zur Flucht gezwungen. Die EU macht aus der Abwehr von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen nun einen Grundpfeiler des „Europäischen Friedenprojektes“. Von Florian Degen.
Hauptursache der Vertreibung sind Kriege, hinter denen imperialistische Interessen stehen. Der Krieg im Sudan, der DR Kongo, Myanmar, Ukraine und die Kriege im Nahen Osten sind die größten Fluchttreiber. Viele der palästinensischen Flüchtlinge mussten bereits mehrfach fliehen. 1,7 Mio. Palästinenser (75%) sind Flüchtlinge. Mit 13,8 Mio. Vertriebenen innerhalb und außerhalb des Landes ist Syrien weiter der Staat mit der größten Vertreibung.
Die Zahl derer, die Europa erreichen, nimmt seit 2015 (über 1 Mio. weniger) kontinuierlich ab. Die EU-Grenzwache Frontex schätzte die Zahl für 2023 auf 160.000. Die größten Herkunftsländer waren Syrien, Afghanistan, die Türkei sowie Venezuela und Kolumbien.
Dieser Rückgang ist die Folge restriktiver Migrationspolitik. Asylanträge können nur in der EU gestellt werden. Doch sichere Fluchtrouten gibt es nicht. Die EU bezahlt die Türkei und nordafrikanische Länder, um Migranten an der Durchreise zu hindern. Ziel ist es, dass Migranten in Europa keine Asylanträge stellen können. Laut UN-Flüchtlingskommissar werden „Gewalt, Misshandlungen und Push-backs… regelmäßig an vielen Land- und Seegrenzen beobachtet, innerhalb und außerhalb der Europäischen Union.“ Zwischen 2014 und 2023 ertranken im Mittelmeer mindestens 27.000 Menschen, zurzeit wird die Grenze zu Belarus militarisiert. Wer diese Reise überlebt, wird oft unter unmenschlichen Bedingungen in überfüllten Lagern eingesperrt. Im Juni lebten 15.000 Migranten auf 5 griechischen Inseln, der Großteil davon in „Closed Controlled Access Centers“ – geschlossenen Lagern.
Von der Leyens Initiative
Im Frühjahr 2024 hatten sich die EU-Staaten mühsam auf eine Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems (Geas) geeinigt, die unter anderem verschärfte Abschieberegeln vorsieht. Dieses System funktioniert aber nicht und dies führt zum Zusammenbruch des „Schengen Abkommens“, das die Freizügigkeit von Waren und Personen innerhalb der EU garantierten sollte.
Um den Binnenmarkt und die Brüsseler Zentralinstanzen zu stabilisieren, plant EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen nun noch unterdrückerische Gesetze zur Abwehr von Flüchtlingen außerhalb der EU-Grenzen. Zusätzliche Maßnahmen zur Abschiebung abgelehnter Asylbewerber, sollen für jene gelten, die es trotzdem geschafft haben, sich in erhoffte Sicherheit zu bringen.
Ein neuer rechtlicher Rahmen soll die Kooperation der EU- Staaten verbessern und Migranten „zur Zusammenarbeit verpflichten.“ Übersetzt bedeutet das: mehr Repression, mehr willkürliche Polizeikontrollen und mehr Kriminalisierung von Migranten.
Zudem soll neu definiert werden, was als sicheres Herkunftsland gilt. Deutschland machte es vor und schob Ende August 28 Menschen nach Afghanistan ab. Dabei darf man den Begriff Herkunftsland nicht allzu wörtlich nehmen. Migranten sollen in angeblich sichere Länder abgeschoben werden, unabhängig davon ob sie wirklich von dort stammen oder nicht. Im Gespräch dafür sind vor allem Länder in Afrika, in denen korrupte Eliten für die Ansiedlung von Mehrfachvertriebenen gewonnen werden sollen.
Sogenannte Drittstaaten spielen auch für die geplanten Abschiebelager eine große Rolle. Aufgegriffene Migranten sollen nicht in die EU, sondern beispielsweise in Albanien festgehalten werden, bis ihr Asylverfahren abgeschlossen ist. Dort hat Italien kürzlich zwei Lager in Betrieb genommen. Von der Leyen will von diesem Projekt praktische Lehren für weitere Lager ziehen, obwohl italienische Gerichte diese als nicht rechtskonform einschätzen.
Ukraine und Russland
Seit dem Beginn des Ukrainekrieges wird Russland vorgeworfen, Migranten zur Destabilisierung in die EU zu lotsen. Während Finnland die Grenze zu Russland schloss und Polen das Recht auf Asyl aussetzt, will Von der Leyen „Gegendruck“ auf Russland und Belarus aufbauen und Frontex stärken. Die „Ostfront“ der EU soll dafür weiter militarisiert und befestigt werden.
Auch den 4,5 Mio. Ukraine-Flüchtlingen in der EU, die bisher einen relativ privilegierten Status hatten, weht ein kälterer Wind entgegen. 2022 freuten sich die Kapitalisten über den unerwarteten Zustrom an günstigen Arbeitskräften. Doch jetzt steigt der Druck auf geflohene ukrainische Männer, in den Krieg gegen Russland zu ziehen. Die Regierung Polens will in Zusammenarbeit mit der Regierung in Kiew geflohene wehrpflichtige Ukrainer an die Front karren, Norwegen kürzt die Unterstützung für Ukraine-Flüchtlinge um das gleiche zu erreichen.
EU braucht Migration
Die EU gibt Milliarden aus, um Migranten fernzuhalten und abzuschrecken. Ein scheinbarer Widerspruch, denn die EU ist auf Migration angewiesen. Die europäische Bevölkerung ist überaltert. Allein aufgrund der Altersstruktur verkleinert sich ab 2040 der Arbeitsmarkt um zwei Millionen Lohnabhängige pro Jahr. Weniger Lohnabhängige, die ausgebeutet werden können, bedeutet weniger Profit.
Remigration für die EU
Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären? Die EU ist auf Migration angewiesen, doch die „unerwünschte“ Migration führte zum Aufstieg von nationalistischen politischen Kräften (Orban, AfD oder FPÖ). Diese Tendenzen untergraben jede (potentielle) Schlagkraft des EU-Imperialismus. Sie verhindern eine geeinte Außenpolitik und sind Angriffspunkte für rivalisierende Imperialisten, wie Russland und China, um die EU-Politik zu spalten. Von der Leyens Konsequenz ist, dass die unerwünschte Migration bekämpft werden muss. Der identitäre Slogan der „Remigration“ wird zur neuen Fahne des „Friedensprojekts“ EU. Die Festung Europa wird weiter ausgebaut.
Als Internationalisten lehnen wir die Vorstellung ab, dass Europa eine Festung ist, die es zu verteidigen gilt. Wir stehen gegen die kriegerische Außenpolitik und die unterdrückerische Migrationspolitik der Kapitalisten.
Von der Leyens Initiative zeigt, dass wir kein Vertrauen in die Mitte und die Liberalen haben können, um die Rechten zu verhindern. Wir müssen das gesamte kapitalistische System stürzen. Nur so lassen sich die Kriege das Chaos und die Zerstörung beseitigen, die Migranten überhaupt erst dazu zwingen, aus ihren Heimatländern zu fliehen. Nur durch die Enteignung der Kapitalisten kann ein friedliches Leben und menschenwürdiger Lebensstandard für alle Arbeiter gesichert werden.
(Funke Nr. 228/09.11.2024)