Nach dem brutalen Polizeieinsatz am Sonntag mit dem Ziel den Taksim-Platz und den Gezi Park endlich zu räumen, folgten zwei Tage von Straßenkämpfen und Barrikadenbau. Fünf Gewerkschaften riefen für 17. Juni zu einem eintägigen Proteststreik auf.
Die jüngsten Polizeiangriffe wurden zuvor von einem immer stärker werdenden Getöse seitens Premierminister Erdogan begleitet. Zu Beginn jedoch hatte er sich mit VertreterInnen der Protestbewegung getroffen und das Versprechen gegeben, die Zukunft des Gezi Parks werde per Volksreferendum entschieden werden. Offensichtlich waren diese Versprechungen nur taktisches Kalkül, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Nach dem Motto „wer nach diesen Zusagen noch protestiert, ist ein Terrorist“ (O-Ton Erdogan), erließ er ein 24stündiges Ultimatum, um den Platz zu räumen. Trotz der Versprechungen ließen sich die DemonstrantInnen nicht täuschen und beschlossen, den Protest fortzufahren. Am Sonntag stieg ihre Zahl der Verbündeten, da sich die Gewerkschaft DISK zu einer Gedenkveranstaltung anschloss. Der Angriff auf das Camp im Gezi Park war brutal, voller Einsatz gegen Unbewaffnete und nahezu ohne Vorwarnung. Das Ziel war klar: Es ging nicht nur um die Räumung des Parks, sondern die Polizei sollte so repressiv auftreten, dass der Bewegung der Mut genommen wird. Augenzeugen berichteten von einer Wolke aus Tränengas über Istanbul. Selbst in Hotels, in die sich DemonstrantInnen geflüchtet hatten, wurde Gas gesprüht. Hunderte wurden verhaftet und – zumindest in Istanbul – in Polizeibussen verwahrt. Auch wurden entgegen der staatlichen Propaganda hunderte ernsthaft verletzt. Von einigen ist der Zustand kritisch. ÄrztInnen, die versuchten am Gezi Park Erste Hilfe zu leisten, wurden verhaftet. Sogar Krankenhäuser wurden angegriffen und Tränengas auf PatientInnen und das Personal geschossen. Ebenso wurden JournalistInnen an der Arbeit gehindert, angegriffen und verhaftet. Es gibt viele Berichte darüber, dass das Wasser der Wasserwerfer mit Chemikalien versetzt war, die massive Hautreitzungen und allergische Reaktionen hervorrufen. Bereits jetzt hat Erdogan aufgrund des massiven Einsatzes von Pfefferspray und Tränengas den Spitznamen „Erdogas“ bzw. „Chemie Erdogan“.
Drohender Militäreinsatz?
Ebenso wurden zum ersten Mal Militäreinheiten eingesetzt und Erdogan hat schon offen davor gewarnt, das Militär zur Unterstützung zu holen. Laut den türkischen Medien wurden schon am 16. Juni 1000 Polizisten aus Spezialeinheiten nach Istanbul gebracht. Anscheinend hinterlässt der permanente Widerstand gegen die Polizeigewalt bereits Spuren. Es gibt das Gerücht, dass sich 6 Polizeioffiziere suizidiert haben und im russischen Fernsehen sprach ein Offizier über den unglaublichen Druck, dem sie, ohne viel zu essen und zu schlafen, Stand halten müssen. Wie wir bereits in Tunesien und Ägypten gesehen haben, kann der Druck einer Bewegung sogar Effekte auf den Staatsapparat selbst haben. Das ist der Grund, warum die Idee eines Militäreinsatzes aufkam. Die Armee ist aber, selbst nach 10 Jahre Herrschaft Erdogans nicht unter seiner Kontrolle, weshalb der Plan auch für ihn gefährlich ist. Die Polizeiintervention war geplant und brutal, trotzdem gelingt es nicht die „Normalität“ wieder herzustellen. In Istanbul, Ankara und dutzenden anderen Städten kamen tausende, wahrscheinlich sogar hunderttausende Menschen auf die Straße, um gegen den Einsatz zu protestieren. Ganze Stadtvierteln gingen gemeinsam auf die Straße und bauten Barrikaden gegen die Polizei, AnrainerInnen bewarfen von Balkonen aus die Polizei. In Ankara nahmen Zehntausende am Begräbnis des 26 Jahre alten Ethem Saisuluk teil, der durch eine Kugel im Kopf getötet wurde. Ohne Respekt den Trauernden gegenüber, griff die Polizei den Begräbniszug an. Die Bewegung war nicht auf Istanbul und Ankara beschränkt. Es gab überall Demonstrationen in Städte wie Izmir, Hopa, Bursa, Canakkale, Antalya, Antakya, Adana, Eskişehir etc.
Erdogans Show
Am Sonntag lieferte Erdogan vor zehntausenden AnhängerInnen eine gut durch komponierte Show. Während die Polizei im Zentrum die DemonstrantInnen nieder prügelte, versammelten sich Erdogans Leute in Kazlicesme. Er versuchte damit das Bild zu entwerfen, er sei von der Mehrheit unterstützt und zeigte das „anständige“ Istanbul im Gegensatz zu den VerräterInnen weiter weg, die Molotow-Cocktails werfen und die Religion beschmutzen. Er beschuldigte die DemonstrantInnen, Teil einer internationalen Verschwörung zu sein oder zumindest PKK-AnhängerInnen. Gleichzeitig behauptete Erdogan, die Protestierenden seien mit Schuhen in Moscheen gerannt und hätten Frauen mit Kopftüchern belästigt. Mit diesen Anschuldigungen erhofft Erdogan die Unterstützung vor allem der – oft religiösen – ländlichen Bevölkerung zu bekommen. Tatsächlich war der einzig bekannte Vorfall, dass ein Iman seine Moschee öffnete, damit die Verwundeten hinein getragen werden konnten. Vielleicht wurde in der Hitze des Gefechts auf die Schuhe vergessen, dem Iman schien es allerdings nicht zu stören. Es gab auch eine Gruppe namens „Antikapitalistische Muslime“, die an den Protesten teilnahmen und öffentliche Freitagsgebete abhielten, ohne gestört zu werden.
Nach der Rede Erdogans gab es Berichte von AKP-Gangs, die versuchten ganze Stadtviertel zu terrorisieren. Trotz des Getöses ist klar, dass die Unterstützung für Erdogan und die AKP zu sinken beginnt. Laut letzter Wahlumfrage erhielt die AKP nur noch 35%, d.h. 11% weniger als vor einem Jahr und 15% weniger als bei der Wahl vor 2 Jahren. 50% geben an, dass sich die AKP in eine autoritäre Richtung bewegt, 54% sagen, die AKP mische sich in ihren Privatbereich ein, 53%, dass es in der Türkei keine freien Medien gibt, ganze 54% sprechen sich gegen die türkische Außenpolitik in Syrien aus. Und schließlich geben 63% an, gegen die Regierungspläne im Gezi Park zu sein.
Nach wochenlangem Protest, an dem auch viele AKP-UnterstützerInnen teilnahmen, sind die Menschen vom Verhalten der Polizei und Erdogans enttäuscht und desillusioniert.
Eintägiger Streik
Gleich nach Beginn der Repressionen am 15. Juni beschlossen Gewerkschaften, darunter die DISK (revolutionäre GewerkschafterInnen) und die KESK (öffentlicher Dienst), eine gemeinsame Resolution und riefen zu einem eintägigen Streik am Montag auf. Das ist ein wichtiger Schritt und laut Berichten folgten hunderttausende dem Streikaufruf. Besonders die Teilnahme der Beschäftigten aus dem Gesundheitsbereich ist dabei beachtenswert, auch wenn der größte Gewerkschaftsverband (Turk-Is) sich bis jetzt geweigert hat, den Streikaufruf zu unterstützen. Die konservative Haltung der Turk-Is Führung wird sich noch rächen, es gibt bereits einige Ortsgruppen in Istanbul, die sich eigenständig dem Aufruf anschlossen. Die Demos von KESK und DISK in Ankara und Istanbul waren riesig. In Istanbul schlossen sich tausende an, um auf den Taksim-Platz zu marschieren. Sie riefen Slogans wie „Polizei raus, Taksim gehört uns“ und forderten den Rücktritt der Regierung.
So stark und sympathisch die Bewegung ist, scheint sie doch in ihren Zielen noch sehr unklar zu sein. Selbst der Streiktag stand unter keiner speziellen Forderung. Erdogans Repression und Brutalität in den letzten 20 Tagen erschuf eine breite Welle der Einheit und Solidarität. Und diese Einheit ist sicher die stärkste Waffe der Bewegung. Um weitermachen zu können, werden sich die Protestieren besser koordinieren und organisieren müssen. Bewaffnet mit einem politischen Programm aus klaren sozialen, wirtschaftlichen und demokratischen Forderungen können sie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich scharen. Augenzeugen zufolge gibt es bereits Aktionskomitees in mehreren Stadtvierteln. Diese müssen ausgebaut und sich mit den Belegschaften in den Betrieben vernetzen, mit dem Ziel zu einem Generalstreik zum Sturz der Regierung aufzurufen.