Tausende Traktoren belagern Berlin, eine Million demonstrieren für Demokratie und die Lokführer treten in einen sechstägigen Streik. Was ist los in Deutschland? Von Emanuel Tomaselli.
Unser großes Nachbarland Deutschland steht für Zuverlässigkeit und Stabilität. Doch 2024 zeigt ein neues Land. Jeder einzelne Protest hat einen konkreten Anlass: Die Regierung muss sparen (sagt der Verfassungsgerichtshof) und hebt dabei auch einige Steuererleichterungen für Bauern und Agrarunternehmer auf. Ein Journalistennetzwerk belauschte ein rechtsradikales Treffen in einem Landhotel und legte offen, dass dabei auch Politiker von der AfD (und der CDU) anwesend waren, um sich über „Remigration“ und Finanzierung von rechten Initiativen zu unterhalten. Und die Lokführer stehen seit Wochen in einem Kollektivvertragskonflikt um Löhne und Arbeitszeitverkürzung, ohne dass die Bahnmanager sinnvolle Angebote zur Erleichterung der Arbeit machen.
So gesehen könnte man glauben, dass sich momentan zufällige Einzelereignisse ballen, doch dies ist nicht so. Die Stimmung in Deutschland ist in allen Schichten und Klassen schlecht und das deutsche Selbstbewusstsein liegt nicht erst am Boden seit eine ARD-Doku offengelegt hat, dass die Züge in Italien pünktlich und sauber fahren und in Deutschland hingegen immer öfter ganz ausfallen. In der Weltsicht der Deutschen sollte dies genau umgekehrt sein.
Jahrelanges politisch gewolltes Sparen (CDU und SPD haben 2008 das Nulldefizit in die Verfassung geschrieben) ist ein Grund für kaputte Infrastruktur. Auch die 100 Milliarden für militärische Aufrüstung und jährliche Milliardeninvestments in den Ukrainekrieg sind eine politische Entscheidung der Ampelregierung (Sozialdemokraten, Grüne und Liberale). Stattdessen könnte man auch in Breitband, Stromnetze, Schienen und Freibäder investieren, tun sie aber nicht.
Doch das Problem ist noch fundamentaler und liegt in der Krise des Kapitalismus selbst: Das deutsche Wirtschaftsmodell basiert auf dem Import von Rohstoffen und Halbfertigwaren und dem Export von technologieintensiven Fertigprodukten. Das Auseinanderfallen der Weltwirtschaft in konkurrierende imperialistische Nationalstaaten trifft Deutschland daher ins Mark. Die Energieimporte aus Russland wurden gestoppt und durch Lieferungen aus den USA ersetzt. So hat sich die Energieversorgung der deutschen Industrie und Haushalte stark verteuert. Die sehr energieintensive chemische Produktion ist letztes Jahr um 11% eingebrochen.
Die protektionistische Politik der USA gegen China und Europa untergräbt gleichzeitig auch den Markt für deutsche Produkte. Bisher bestand Deutschlands Stärke aber darin, mit allen Mächten profitable Handelsbeziehungen zu unterhalten. Kurz: Die Krise des Kapitalismus und die imperialistischen Konflikte haben Deutschlands Wirtschaftsmodell den Boden entzogen. Dies ist der tiefe Nährboden der politischen Instabilität.
Eine breite Antiregierungsstimmung machte sich breit, die drei Regierungsparteien liegen in Wahlumfragen gemeinsam unter 30%. Stärkste Partei ist seit Monaten die bürgerliche CDU (30%), gefolgt von der AfD (21%). Die Sozialdemokratie liegt als stärkste Regierungspartei bei nur 13 %. In den ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg liegen alle drei Regierungsparteien an oder unter der 5%-Hürde und drohen damit heuer aus dem Landtag zu fliegen, während die AfD an erster Stelle liegt. Dies ist ein echtes Problem für die Kapitalisten. Sie brauchen eine stabile Regierung der sozialen Angriffe, der militärischen Aufrüstung und des klaren Bekenntnisses zur „westlichen Wertegemeinschaft“, also zum US-Imperialismus, zu den EU-Instanzen in Brüssel und ein Bekenntnis, den Krieg in der Ukraine weiter zu führen, um Russland zu schwächen.
Die AfD ist eine reaktionäre bürgerliche Partei, die die Arbeiterklasse durch ihre Spaltungspolitik schwächt, um dann Sozialabbau zu betreiben. Dies stört die Kapitalisten nicht. Außenpolitisch aber steht die AfD für eine Politik der Wiederannäherung an Russland und eine „Germany first“-Politik, die im Widerspruch dazu steht, dass das Zusammenhalten der EU und des Bündnisses mit den USA für Deutschland von integraler politischer Wichtigkeit ist. Dies ist das einzige prinzipielle Problem, das die Top-Manager mit ihr haben. Der grüne Außenminister Habeck warnt so davor, dass die AfD Deutschland in „ein Putin-Russland“ verwandeln möchte, und auch der Chef der Deutschen Bank ruft dazu auf, gegen die AfD zu demonstrieren, weil sie Investoren abschrecken würde. Es sind diese Ausrichtungen, die durch die Anti-AfD Demos im öffentlichen Bewusstsein verfestigt werden sollen. Die Süddeutsche Zeitung nennt diese Kundgebungen daher „Bürgerbewegung“. Eine echte Bewegung gegen Rechte und Reaktionäre akzeptiert nämlich nicht, dass Minister, die für „Massenabschiebung“, Kriegstreiberei und Hass auf Arme stehen, sich an ihre Spitze stellen. Genau dies wollen die Herrschenden aber durchsetzen. Der Philosoph und SPD-Unterstützer Julian Nida-Rümelin freut sich über die Massenkundgebung, kommentiert die politische Ausrichtung der Münchner Demo aber negativ: „Weniger schön ist der Versuch der Instrumentalisierung dieses Engagements von Seiten kleiner radikaler Gruppen, die als Veranstalter fungierten. Demokratische Parteien wie SPD, Grüne, FDP, aber auch die Union seien attackiert worden.“ Wie geheuchelt die Sorge der Herrschenden um die „Demokratie“ tatsächlich ist, offenbart die Palästinabewegung. Ständig werden Demos, die sich gegen den Massenmord in Gaza stellen, untersagt und brutal von der Polizei angegriffen, was von denselben Medien, die jetzt die „Brandmauer für die Demokratie“ errichten wollen, als „Kampf gegen Antisemitismus“ legitimiert wird.
Die Revolutionären Kommunisten gehen auf die Demos, um für den Klassenkampf zu werben. Deutschlands Arbeiterklasse braucht mehr Lokführer-, Hafenstreiks und internationale Solidarität mit allen Unterdrückten weltweit. Klassenkampf statt verlogener Moralkundgebungen und PS-Mobilisierungen von wütenden Kleinunternehmern. Unsere deutschen Genossen sagen: „Gegen AfD und Ampel! Solidarität heißt streiken! Klassenkampf entfesseln!“