„Volle Gleichberechtigung der Nationen; Selbstbestimmungsrecht der Nationen.; Verschmelzung der Arbeiter aller Nationen – dieses nationale Programm lehrt die Arbeiter der Marxismus, lehrt sie die Erfahrung der ganzen Welt und die Erfahrung Russlands.“ Der Klassiker von Lenin zur Nationalen Frage.
Der neunte Paragraph des Programms der Marxisten Russlands, der vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen handelt, hat in dar letzten Zeit (wie wir im „Prosweschtschenije“ aufgezeigt haben) einen wahren Feldzug der Opportunisten hervorgerufen. Sowohl der russische Liquidator Semkowski in der Petersburger liquidatorischen Zeitung als auch der Bundist Libman und der ukrainische National-Soziale Jurkewitsch, alle sind in ihren Organen über diesen Paragraphen hergefallen und haben ihn mit der Miene größter Geringschätzung behandelt. Zweifellos steht dieser opportunistische „Überfall großer Heerscharen“ auf unser marxistisches Programm in engem Zusammenhang mir den gegenwärtigen Schwankungen nationalistischen Charakters überhaupt. Daher scheint uns eine genaue Zergliederung der angeschnittenen Frage zeitgemäß. Vorweg sei bemerkt, dass kein einziger von allen angeführten Opportunisten auch nur ein einziges selbständiges Argument vorgebracht hat: alle wiederholen sie die Aussprüche Rosa Luxemburgs in ihrem langen polnischen Aufsatz vom Jahre 1908/09: „Die nationale Frage und die Autonomie“. Mit den „originellen“ Argumenten dieser Verfasserin werden wir uns denn auch in unseren Darlegungen vor allem auseinanderzusetzen haben.
I. Was ist die Selbstbestimmung der Nationen?
Es ist natürlich, dass diese Frage in erster Reihe gesteht werden muss, wenn der Versuch gemacht wird, die sogenannte Selbstbestimmung marxistisch zu untersuchen. Was ist darunter zu verstehen? Soll man die Antwort darauf in juristischen Definitionen (Begriffsbestimmungen) suchen, die von allerlei „allgemeinen Rechtsbegriffen“ abgeleitet werden? Oder ist die Antwort im historisch-ökonomischen Studium der nationalen Bewegungen zu suchen?
Es ist (nicht zu verwundern, dass ,die Herren Semkowski, Libman, Jurkewitsch gar nicht darauf verfallen sind, diese Frage zu stellen, sondern sie mit einem einfältigen Gekicher über die „Unklarheit“ des marxistischen Programms abtun, ohne in ihrer Einfalt zu wissen, dass von der Selbstbestimmung der Nationen nicht nur das Programm der SDAPR von 1903 sondern auch die Resolution des Londoner internationalen Kongresses vom Jahre 1896 spricht (genaueres darüber an der entsprechenden Stelle). Weit verwunderlicher ist schon, dass Rosa Luxemburg, die viel über das angeblich Abstrakte und Metaphysische des in Betracht kommenden Paragraphen deklamiert, selbst gerade in diese Sünde der Abstraktheit und Metaphysik verfällt. Gerade Rosa Luxemburg verliert sich beständig in allgemeinem Betrachtungen über die Selbstbestimmung (bis zu höchst ergötzlichem Philosophieren darüber, wie man wohl den Willen der Nation erkennen könne) und stellt nirgends klar und deutlich die Frage, ob das Wesen der Sache in juristischen Begriffsbestimmungen oder in den Erfahrungen aus den nationalem Bewegungen der ganzen Welt liegt
Eine genaue Stellung dieser für den Marxisten unumgänglichen Frage würde mit einem Schlage neun Zehntel der Argumente Rosa Luxemburgs zunichte machen. Nationale Bewegungen gibt es in Russland nicht zum ersten Male, und sie sind keine Eigentümlichkeit Russlands. In der ganzen Welt war die Epoche des endgültigen Sieges des Kapitalismus über den Feudalismus mit nationalen Bewegungen verbunden. Die ökonomische Grundlage dieser Bewegungen besteht darin, dass für einen vollen Sieg der Warenproduktion die Erkämpfung des inneren Marktes durch die Bourgeoisie und die staatliche Zusammenfassung der Territorien mit gleichsprachiger Bevölkerung bei gleichzeitiger Beseitigung aller Hindernisse für die Entwicklung dieser Sprache und für ihre Verankerung in der Literatur notwendig sind. Die Sprache ist das wichtigste Mittel des Verkehrs der Menschen untereinander: die Einheitlichkeit der Sprache und ihre ungehemmte Entwicklung ist eine der wichtigsten Bedingungen für einen wirklich freien und umfassenden, dem modernen Kapitalismus entsprechenden Warenverkehr, für eine freie und umfassende Gruppierung der Bevölkerung nach den verschiedenen Klassen und schließlich eine Bedingung für die enge Verbindung des Marktes mit einem jeden großen oder kleinen Unternehmer, Verkäufer und Käufer.
Die Bildung von Nationalstaaten, die diesen Erfordernissen des modernen Kapitalismus am besten entsprechen, ist daher die Tendenz (das Bestreben) jeder nationalen Bewegung. Die grundlegenden wirtschaftlichen Faktoren drängen dazu. In ganz Westeuropa – mehr als das: in der ganzen zivilisierten Welt – ist daher der Nationalstaat für die kapitalistische Periode typisch, normal.
Wenn wir also die Bedeutung der Selbstbestimmung der Nationen begreifen wollen und nicht mit juristischen Definitionen spielen, nicht abstrakte Begriffsbestimmungen „aushecken“, sondern die historisch-ökonomischen Grundlagen der nationalen Bewegungen untersuchen, so kommen wir unvermeidlich zu dem Schluss: unter Selbstbestimmung der Nationen versteht man ihre staatliche Lostrennung von fremd-nationalen Gemeinschaften, versteht man die Bildung eines selbständigen Nationalstaates.
Weiter unten werden wir noch andere Gründe kennenlernen, die dafür sprechen, dass es unrichtig wäre, unter dem Selbstbestimmungsrecht etwas anderes zu verstehen als das Recht auf eigene staatliche Existenz. Jetzt müssen wir dabei verweilen, wie Rosa Luxemburg versucht hat, über den unvermeidlichen Schluss, dass das Streben nach dem Nationalstaat tiefe ökonomische Grundlagen hat, „hinwegzukommen“.
Rosa Luxemburg kennt sehr wohl Kautskys Broschüre „Nationalität und Internationalität“ (Beilage zur „Neuen Zeit“ Nr. 1, 1907/08). Es ist ihr bekannt, dass Kautsky nach ausführlicher Untersuchung der Fragen des Nationalstaates (§ 4 dieser Broschüre) zu dem Ergebnis kommt, dass Otto Bauer „die Kraft des Dranges nach Herstellung des Nationalstaates unterschätzt“ (S. 23 a. a. O.). Rosa Luxemburg selbst zitiert Kautskys Worte:
„Der Nationalstaat ist die den modernen“ (d. h. kapitalistischen, zivilisierten, ökonomisch fortschrittlichen, im Gegensatz zu den mittelalterlichen, vorkapitalistischen usw.) „Verhältnissen entsprechendste Form des Staates, jene, in der er seine Aufgaben am leichtesten erfüllen kann“ d. h. die Aufgaben der freiesten, umfassendsten und schnellsten Entwicklung des Kapitalismus).
Hier muss man die noch schärfere Schlussbemerkung Kautskys hinzufügen, wonach die national bunt zusammengesetzten Staaten (die sog. Nationalitätenstaaten, im Gegensatz zu den Nationalstaaten) überall als Staaten erscheinen, „deren innere Gestaltung aus irgendwelchen Gründen rückständig oder abnormal blieb.“ Es ist selbstverständlich, dass Kautsky von Abnormalität ausschließlich in dem Sinne spricht, dass sie den Erfordernissen der Entwicklung des Kapitalismus nicht entsprechen.
Es fragt sich nun, wie sich Rosa Luxemburg zu diesen historisch-ökonomischen Schlussfolgerungen Kautskys verhält. Sind sie richtig oder nicht? Hat Kautsky mit seiner historisch-ökonomischen Theorie recht oder Otto Bauer, dessen Theorie im Grunde eine psychologische ist? Worin besteht der Zusammenhang des unzweifelhaften „nationalen Opportunismus“ bei Bauer, seines Eintretens für die national-kulturelle Autonomie, seiner nationalistischen Entgleisungen („eine Verstärkung des nationalen Moments“, wie sich Kautsky ausdrückt), seiner „gewaltigem Überschätzung des nationalen“ und „völligen Vernachlässigung des internationalen Moments“ (Kautsky) mit seiner Unterschätzung der Kraft des Dranges mach Herstellung des Nationalstaates?
Rosa Luxemburg hat diese Frage nicht einmal gestellt. Sie hat diesen Zusammenhang nicht bemerkt. Sie hat sich in das Ganze der theoretischen Anschauungen Otto Bauers nicht hineingedacht. Sie hat den Gegensatz zwischen der historisch-ökonomischen und der psychologischen Theorie in der nationalen Frage überhaupt nicht aufgezeigt. Sie hat sich auf die folgenden Bemerkungen gegen Kautsky beschränkt:
„ … Dieser ,beste‘ Nationalstaat ist nur eine Abstraktion, die sich leicht theoretisch entwickeln und verfechten lässt, die aber der Wirklichkeit nicht entspricht“ („Przegląd Socjal-Demokratyczny“, 1908, Nr. 6, S. 499).
Und zur Bekräftigung dieser energischen Behauptung folgen Betrachtungen darüber, dass die Entwicklung der großen kapitalistischen Mächte und der Imperialismus das „Selbstbestimmungsrecht“ der kleinen Völker illusorisch machen.
„Ist es denn möglich“ – ruft Rosa Luxemburg aus –, „im Ernst von einer Selbstbestimmung‘ der formell unabhängigen Montenegriner, Bulgaren, Rumänen, Serben, Griechen, teilweise sogar der Schweizer zu sprechen, deren Unabhängigkeit selbst nichts weiter als ein Produkt des politischen Kampfes und des diplomatischen Spiels des europäischen. Konzerts‘ ist?!“ (S. 500).
Am besten entsprechen diesen Verhältnissen „nicht der Nationalstaat, wie Kautsky meint, sondern der Raubstaat“. Es folgen dann einige Dutzend Ziffern über die Größe der zu England, Frankreich usw. gehörenden Kolonien.
Wenn man derartige Betrachtungen liest, kann man sich nur über das Talent der Verfasserin wundern, nicht zu verstehen, worum es sich handelt! Mit wichtiger Miene Kautsky darüber zu belehren, dass die schwachen Staaten ökonomisch von den starken abhängig sind, dass die bürgerlichen Staaten untereinander um die räuberische Unterdrückung der anderen Völker kämpfen und dass es Imperialismus und Kolonien gibt, das ist ein gewisses lächerliches, kindisches Klugtun, denn zur Sache selbst hat dies alles nicht die geringste Beziehung. Nicht nur die kleinen Staaten sondern z. B. auch Russland ist ökonomisch ganz und gar von der Macht das imperialistischen Finanzkapitals der „reichen“ bürgerlichen Länder abhängig. Nicht nur die Miniaturstaaten des Balkans, sondern auch das Amerika des 19. Jahrhunderts war ökonomisch eine Kolonie Europas, wie noch Marx im „Kapital“ aufgezeigt hat. Das alles ist Kautsky, wie jedem Marxisten, gewiss vorzüglich bekannt, aber mit der Frage der nationalen Bewegungen und der Nationalstaaten hat es entschieden nichts zu schaffen.
Rosa Luxemburg verwechselt die Frage der politischen Selbstbestimmung der Nationen in der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer staatlichen Selbständigkeit mit der Frage ihrer ökonomischen Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Das ist ebenso gescheit, wie wenn ein Mensch, der sich mit der Programmforderung der Oberhoheit des Parlaments, d. h. der Versammlung der Volksvertreter im bürgerlichen Staate beschäftigt, anfinge, seine vollkommen richtige Überzeugung von der Oberhoheit des Großkapitals bei jeder beliebigen Staatsordnung eines bürgerlichen Landes darzulegen»
Zweifellos befindet sich der größte Teil Asiens, des bevölkertsten Erdteils, in der Lage entweder von Kolonien der „Großmächte“ oder von Staaten im Zustande äußerster nationaler Abhängigkeit und Unterdrückung. Aber wird etwa durch diese allgemein bekannten Umstände auch nur irgendwie die unbestreitbare Tatsache erschüttert, dass im Asien selbst die Bedingungen für die vollkommenste Entwicklung der Warenproduktion, für das freieste, breiteste und schnellste Wachstum des Kapitalismus nur in Japan, also nur in einem selbständigen Nationalstaat zustande gekommen sind? Dieser Staat ist ein bürgerlicher Staat, und daher begann er selbst, andere Völker zu unterdrücken und Kolonien zu versklaven; wir wissen nicht, ob es Asien gelingen wird, sich bis zum Zusammenbruch des Kapitalismus zu einem dem europäischen ähnlichen System selbständiger Nationalstaaten zusammenzufügen. Aber es bleibt unbestreitbar, dass der Kapitalismus durch die Erweckung Asiens auch dort überall nationale Bewegungen hervorgerufen hat, dass als Tendenz dieser Bewegungen die Schaffung von Nationalstaaten in Asien erscheint und dass gerade solche Staaten die günstigsten Bedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus gewährleisten. Das Beispiel Asiens spricht für Kautsky, gegen Rosa Luxemburg.
Das Beispiel der Balkanstaaten spricht auch gegen sie, denn jeder sieht heute, dass die günstigsten Bedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus auf dem Balkan gerade in dem Maße geschaffen werden, wie die Bildung selbständiger Staaten auf dieser Halbinsel erfolgt.
Folglich beweisen – trotz Rosa Luxemburg – sowohl das Beispiel der ganzen fortgeschrittenen zivilisierten Menschheit als auch das Beispiel des Balkans sowie das Beispiel Asiens die unbedingte Richtigkeit der Kautskyschen These: Der Nationalstaat ist im Kapitalismus Regel und „Norm“; der national bunt zusammengesetzte Staat ist eine Rückständigkeit oder eine Ausnahme. Vom Gesichtspunkt der nationalen Beziehungen, bietet der Nationalstaat zweifellos die günstigsten Bedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass ein solcher Staat auf dem Boden der bürgerlichen Verhältnisse Ausbeutung und Unterdrückung der Nationen ausschließen könnte. Das bedeutet nur, dass die Marxisten nicht die mächtigen ökonomischen Faktoren außer acht lassen dürfen, die das Streben nach Schaffung von Nationalstaaten hervorrufen. Das bedeutet, dass die „Selbstbestimmung der Nationen“ im. marxistischen Programm vom historisch-ökonomischen Gesichtspunkte aus keine andere Bedeutung haben kann als: politische Selbstbestimmung, staatliche Selbständigkeit, Bildung von Nationalstaaten.
An welche Bedingungen vom marxistischen, d. h. vom Klassenstandpunkte des Proletariats aus die Unterstützung der bürgerlich-demokratischen Forderung nach dem „Nationalstaat“ geknüpft ist, davon wird weiter unten ausführlich die Rede sein. Hier beschränken wir uns darauf, den Begriff der „Selbstbestimmung“ zu bestimmen, und müssen nur noch bemerken, dass Rosa Luxemburg den Inhalt dieses Begriffes („Nationalstaat“) kennt, während ihre opportunistischen Anhänger, die Libman, Semkowski, Jurkewitsch, nicht einmal das kennen!
II. Die historische konkrete Problemstellung
Ein unbedingtes Erfordernis der marxistischen Theorie bei der Analyse jeder sozialen Frage ist ihre Stellung in einem bestimmten historischen Rahmen und ferner, wenn von einem Lande die Rede ist (z, B. vom nationalen Programm für ein bestimmtes Land), die Berücksichtigung der konkreten Besonderheiten, die dieses Land innerhalb einer und derselben historischen Epoche von den anderen unterscheiden.
Was bedeutet dieses unbedingte Erfordernis das Marxismus in der Anwendung auf unsere Frage?
Vor allem bedeutet es die Notwendigkeit, zwei im Hinblick auf die nationalen Bewegungen grundverschiedene Epochen des Kapitalismus streng zu unterscheiden. Da haben wir einmal die Epoche des Zusammenbruchs des Feudalismus und Absolutismus, die Epoche der Entstehung der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft und des bürgerlich demokratischen Staates, wo die nationalen Bewegungen zum ersten Male Massenbewegungen werden und auf die eine oder die andere Weise alle Klassen der Bevölkerung durch die Presse, durch die Teilnahme an den Organen der Volksvertretung usw. in die Politik hineinziehen. Als zweite liegt die Epoche der voll entwickelten kapitalistischen Staaten mit längst festgelegter konstitutioneller Ordnung, mit stark entwickeltem Antagonismus zwischen Proletariat und Bourgeoisie vor uns – eine Epoche, die man als den Vorabend des Zusammenbruchs des Kapitalismus bezeichnen kann.
Typisch für die erste Epoche ist das Erwachen nationaler Bewegungen und das Hineinziehen der Bauernschaft als der zahlreichsten und am schwersten in Bewegung zu bringenden Bevölkerungsschicht in diese nationalen Bewegungen, in Verbindung mit dem Kampfe für die politische Freiheit im Allgemeinen und für die Rechte der Nationalität im Besonderen. Typisch für die zweite Epoche ist das Fehlen bürgerlich-demokratischer Massenbewegungen, während der entwickelte Kapitalismus bei immer größerer Annäherung und Vermischung der schon ganz in den Warenverkehr einbezogenen Nationen den Gegensatz zwischen dem international vereinigten Kapital und der internationalen Arbeiterbewegung in den Vordergrund stellt.
Gewiss sind beide Epochen nicht durch eine Mauer voneinander getrennt, sondern durch zahlreiche Zwischenglieder miteinander verbunden, außerdem unterscheiden sich die einzelnen Länder in der Schnelligkeit der nationalen Entwicklung, in der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung, ihrer örtlichen Verteilung usw. usw. Es kann keine Rede davon sein, sich mit dem nationalen Programm der Marxisten eines bestimmten Landes zu beschäftigen, ohne alle diese allgemein-historischen und konkret-staatlichen Bedingungen zu berücksichtigen.
Und da stoßen wir gerade auf die schwächste Stelle in den Betrachtungen Rosa Luxemburgs. Mit ungewöhnlichem Eifer schmückt sie ihnen Aufsatz mit einer Reihe „kräftiger“ Wörtlein gegen den § 9 unseres Programms und bezeichnet ihn als „Verallgemeinerung“, als „schablonenhaft“, als „metaphysische Phrase“ usw. ohne Ende. Natürlich müsste man nun erwarten, dass eine Schriftstellerin, die so trefflich die Metaphysik (im marxistischen Sinne, also die Antidialektik) und jede leere Abstraktion verurteilt, uns das Muster einer konkret historischen Betrachtung der Frage geben wird. Es handelt sich um das Programm der Marxisten eines bestimmten Landes, Russlands, und einer bestimmten Epoche, des Anfangs des 20. Jahrhunderts. Wird nun Rosa Luxemburg auch die Frage stellen, welche historische Epoche Russland durchlebt, welches die konkreten Besonderheiten der nationalen Frage und der nationalen Bewegungen des gegebenen Landes in der gegebenen Epoche sind?
Von allem dem sagt Rosa Luxemburg platterdings kein Wort! Man findet bei ihr nicht den Schatten einer Analyse, wie die nationale Frage in Russland in der gegebenen historischen Epoche steht und welche Besonderheiten Russland in dieser Beziehung aufweist!
Es wird uns gesagt, dass sich die nationale Frage in den Balkanstaaten anders darstelle als in Irland, dass Marx die polnische und die tschechische nationale Bewegung unter den konkreten Bedingungen des Jahres 1848 so und so beurteilt habe (eine Seite Auszüge aus Marx), dass Engels den Kampf der Schweizer Waldkantone gegen Österreich und die Schlacht bei Morgarten, die im Jahre 1315 stattfand, so und so beurteilt habe (eine Seite Auszug aus Engels mit entsprechendem Kommentar von Kautsky), dass Lassalle den Bauernkrieg in Deutschland im 16. Jahrhundert für reaktionär hielt usw.
Man kann nicht sagen, dass diese Bemerkungen und Zitate durch Neuheit glänzen, aber es ist für den Leser jedenfalls interessant, sich immer und immer wieder daran zu erinnern, wie namentlich Marx, Engels und Lassalle an die Untersuchung konkreter historischer Fragen einzelner Länder herangegangen sind. Und beim Durchlesen der lehrreichen Zitate aus Marx und Engels sieht man mit besonderer Anschaulichkeit, in welch lächerliche Lage sich Rosa Luxemburg gebracht hat. Sie betont beredt und zornig die Notwendigkeit einer konkreten historischen Analyse der nationalen Frage in den verschiedenen Ländern zu verschiedener Zeit und unternimmt nicht den geringsten Versuch, zu bestimmen, welches historische Stadium der Entwicklung des Kapitalismus Russland am Anfang des 20. Jahrhunderts durchlebt, welches die Besonderheiten der nationalen Frage in diesem Lande sind. Rosa Luxemburg zeigt an Beispielen, wie andere die Frage marxistisch untersucht haben, womit sie wie geflissentlich unterstreicht, wie häufig der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist und wie häufig mit guten Ratschlägen nur der mangelnde Wille oder die Unfähigkeit verdeckt wird, sie in Wirklichkeit zu befolgen.
Nehmen wir einen der lehrreichen Vergleiche. Rosa Luxemburg wendet sich gegen die Parole der Unabhängigkeit Polens und bezieht sich dabei auf ihre Arbeit vom Jahre 1893, in der die schnelle „industrielle Entwicklung Polens“ auf Grund des Absatzes der Industrieprodukte Polens in Russland dargetan wurde. Es ist überflüssig zu sagen, dass daraus noch nichts für die Frage des Rechtes auf Selbstbestimmung folgt, dass damit nur das Verschwinden des alten feudalen Polens bewiesen wird usw. Rosa Luxemburg jedoch geht unmerklich und ständig zur Schlussfolgerung über, dass unter den Faktoren, die Russland und Polen verbinden schon jetzt die rein ökonomischen Faktoren der modernen kapitalistischen Beziehungen vorherrschten.
Nun geht aber unsere Rosa zur Frage der Autonomie über, und obgleich ihr Aufsatz „Die nationale Frage und die Autonomie“ schlechtweg überschrieben ist, beginnt sie, das ausschließliche Recht des Königreichs Polen auf Autonomie darzutun (vergl. hierzu „Prosweschtschenije“, Jahrg. 1913, Nr. 12). Um Polens Recht auf Autonomie zu erhärten, charakterisiert Rosa Luxemburg die Staatsform Russlands offensichtlich nach ökonomischen wie politischen, kulturellen wie soziologischen Merkmalen, die zusammengenommen ein Gesamtbild ergeben, das dem Begriff des „asiatischen Despotismus“ entspricht („Przegląd“, Nr. 12, S. 137).
Es ist allbekannt, dass eine derartige Staatsform große Zähigkeit in solchen Fällen an den Tag legt, wo in der Ökonomie des in Frage stehenden Landes völlig patriarchalische, vorkapitalistische Züge überwiegen und die Entwicklung der Warenwirtschaft wie auch die Differenzierung der Klassen verschwindend gering sind. Wenn nun im einem solchen Lande, dessen Staatsform sich durch ihren scharf vorkapitalistischen Charakter auszeichnet, ein national abgegrenztes Gebiet mit schneller Entwicklung des Kapitalismus existiert, dann wird, je rascher diese kapitalistische Entwicklung vor sich geht, der Widerspruch zwischen diesem Gebiet und der vorkapitalistischen Staatsform nur um so schärfer und die Abtrennung des vorgeschrittenen Gebietes – das mit dem Staatsganzen nicht durch „modern kapitalistische“, sondern durch „asiatisch-despotische“ Bande verknüpft ist, nur um so wahrscheinlicher.
So hat Rosa Luxemburg selbst die Frage der sozialen Struktur der russischen Staatsmacht in ihrem Verhältnis zu dem bürgerlichen Polen keineswegs zu Ende gedacht, die Frage der konkreten historischen Besonderheiten der nationalen Bewegungen in Russland aber hat sie nicht einmal gestellt.
Bei dieser Frage müssen wir daher etwas verweilen.
III. Die konkreten Besonderheiten der nationalen Frage in Russland und seine bürgerlich-demokratische Umgestaltung
„ … Ungeachtet des zu allgemeinen Prinzips des ,Selbstbestimmungsrechtes der Nationen‘, das als reiner Gemeinplatz auftritt und offenbar in gleicher Weise nicht nur auf die Völker Russlands, sondern auch auf die in Deutschland und Österreich, in der Schweiz und in Schweden, in Amerika und in Australien lebenden Nationen anwendbar ist, finden wir es doch nirgends, in keinem einzigen Programm der gegenwärtigen sozialistischen Parteien.“ („Przegląd“, Nr. 6, S. 483.)
So schreibt Rosa Luxemburg am Anfang ihrer Attacke gegen den § 9 des marxistischen Programms. Während sie uns unterschiebt, dass wir diesen Programmpunkt als „reinen Gemeinplatz“ auffassen, verfällt gerade Rosa Luxemburg selbst in diesen Fehler und erklärt mit ergötzlicher Dreistigkeit, dieser Punkt „sei offenbar in gleicher Weise“ auf Russland, Deutschland usw. anwendbar.
Offenbar, erwidern wir, ist Rosa Luxemburg entschlossen, in ihrem Aufsatz eine Sammlung aller logischen Fehler zu geben, die zum Lehrgebrauch für Gymnasiasten geeignet sind. Denn die Tirade Rosa Luxemburgs ist von A bis Z Unsinn und ein Hohn auf die historisch konkrete Fragestellung.
Wenn man das marxistische Programm nicht kindisch, sondern marxistisch auslegt, so ist sehr leicht zu begreifen, dass es sich auf die bürgerlich-demokratischen nationalen Bewegungen bezieht. Ist dem einmal so – und es ist zweifellos so –, dann ergibt sich daraus „offenbar“, dass sich dieses Programm „im großen Ganzen“, als „Gemeinplatz“ usw. auf alle Fälle von bürgerlich-demokratischen nationalen Bewegungen bezieht. Nicht weniger offenbar wäre auch für Rosa Luxemburg bei nur ein wenig Nachdenken der Schluss, dass sich unser Programm nur auf Fälle bezieht, in denen eine solche Bewegung vorhanden ist.
Hätte Rosa Luxemburg über diese offenbaren Erwägungen nachgedacht, so würde sie ohne besondere Mühe einsehen, welchen Unsinn sie gesagt hat. Während sie uns das Vorbringen eines „Gemeinplatzes“ vorwirft, bringt sie gegen uns das Argument vor, dass im Programm der Länder, wo es keine bürgerlich-demokratischen nationalen Bewegungen gibt, von der Selbstbestimmung der Nationen nicht die Rede ist! Ein hervorragend gescheites Argument!
Die politische und ökonomische Entwicklung verschiedener Länder wie auch ihre marxistischen Programme zu vergleichen, ist vom Gesichtspunkte des Marxismus von ungeheurer Bedeutung, denn sowohl die allgemeine kapitalistische Natur der modernen Staaten als auch ihr allgemeines Entwicklungsgesetz stehen außer Zweifel. Aber man muss es auch verstehen, einen solchen Vergleich vorzunehmen. Die elementare Vorbedingung hierfür ist die Klärung der Frage, ob die historischen Epochen der Entwicklung der zu vergleichenden Länder miteinander vergleichbar sind. Z. B. können nur vollkommene Ignoranten (wie der Fürst E. Trubetzkoi in der „Russkaja Mysl“) das Agrarprogramm der russischen Marxisten mit den westeuropäischen Programmen „vergleichen“; denn unser Programm beantwortet die Frage nach der bürgerlich-demokratischen Umgestaltung des Agrarwesens, von der in den westlichen Ländern überhaupt nicht die Rede ist.
Dasselbe gilt auch für die nationale Frage. In der Mehrzahl der westlichen Länder ist sie schon längst gelöst. Es ist lächerlich, in den westlichen Programmen eine Antwort auf nicht existierende Fragen zu suchen. Rosa Luxemburg hat hier gerade die Hauptsache außer acht gelassen: den Unterschied zwischen den Ländern mit vollendeten und denen mit nicht vollendeten bürgerlich-demokratischen Umgestaltungen.
Dieser Unterschied ist der Angelpunkt der ganzen Frage. Die völlige Ignorierung dieses Unterschiedes verwandelt den langen Aufsatz Rosa Luxemburgs in einen Haufen leerer, inhaltsloser Gemeinplätze.
Im kontinentalen Westeuropa umfasst die Epoche der bürgerlich-demokratischen Revolutionen einen ziemlich bestimmten Zeitraum, etwa die Jahre von 1789 bis 1871. Gerade dieser Zeitraum war die Epoche der nationalen Bewegungen und der Schaffung von Nationalstaaten. Nach Abschluss dieser Epoche verwandelte sich Westeuropa in ein geordnetes System bürgerlicher Staaten, die dabei in der Regel einheitliche Nationalstaaten sind. Heute in den Programmen der westeuropäischen Sozialisten das Selbstbestimmungsrecht zu suchen, bedeutet daher, das ABC des Marxismus nicht zu verstehen.
In Osteuropa und in Asien hat die Epoche der bürgerlich-demokratischen Revolutionen erst im Jahre 1905 begonnen. Die Revolution in Russland, Persien, in der Türkei und m China, die Balkankriege – das ist die Kette der Weltereignisse unserer Epoche und unseres „Orients“. Und nur ein Blinder kann es fertigbringen, in dieser Kette von Ereignissen nicht das Erwachen einer ganzen Reihe von bürgerlich-demokratischen nationalen Bewegungen und Bestrebungen zur Errichtung national unabhängiger und national einheitlicher Staaten zu sehen. Gerade deswegen und nur deswegen, weil Russland jetzt zusammen mit seinen Nachbarländern diese Epoche durchlebt, brauchen wir den Punkt über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in unserem Programm.
Aber verfolgen wir das oben angeführte Zitat aus Rosa Luxemburgs Aufsatz etwas weiter:
„… Insbesondere“ – schreibt sie – „das Programm der Partei, die in einem Reich mit sehr bunt zusammengewürfelter Bevölkerung wirkt und für die die nationale Frage eine erstklassige Rolle spielt, nämlich das Programm der österreichischen Sozialdemokratie, enthält nicht das Prinzip vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ (ebenda).
So will man den Leser „insbesondere“ durch das Beispiel Österreichs überzeugen. Sehen wir einmal vom konkret historischen Gesichtspunkte aus zu, ob am diesem Beispiel viel Gescheites dran ist.
Stellen wir zuerst die Grundfrage nach der Beendigung der bürgerlich-demokratischen Revolution. In Österreich begann sie mit dem Jahre 1848 und endete mit dem Jahre 1867. Seitdem herrscht dort schon fast ein halbes Jahrhundert die im großen Ganzen feststehende bürgerliche Verfassung, auf Grund deren die legale Arbeiterpartei legal wirkt.
Daher gibt es unter den inneren Entwicklungsbedingungen Österreichs (d. h. vom Gesichtspunkt der Entwicklung des Kapitalismus in Österreich im Allgemeinen und bei den verschiedenen Nationen im Besonderen) keine Faktoren, die solche Sprünge verursachen könnten, deren Begleiterscheinung u. a. auch die Errichtung selbständiger Staaten sein kann. Wenn Rosa Luxemburg bei ihrem Vergleich voraussetzt, dass sich Russland in diesem Punkt in ähnlichen Verhältnissen befindet, so lässt sie nicht nur eine grundfalsche, antihistorische Voraussetzung zu, sondern rutscht auch unwillkürlich zum Liquidatorentum hinab.
Zweitens haben vor allem die sehr verschiedenem Wechselbeziehungen zwischen den Nationalitäten in Österreich und in Russland auf dem Gebiete der uns beschäftigenden Frage eine besonders große Bedeutung. Österreich war nicht nur lange Zeit ein Land mit deutscher Vorherrschaft, sondern die österreichischen Deutschen prätendierten auch auf die Hegemonie innerhalb der deutschen Nation überhaupt. Diese „Prätention“ wurde, wie sich vielleicht Rosa Luxemburg (die ja angeblich die Gemeinplätze, Schablonen, Abstraktionen so gar nicht liebt …) gütigst erinnern wird, durch den Krieg von 1866 zerschlagen. Die in Österreich herrschende Nation, die deutsche, sah sich außerhalb der Grenzen des selbständigen deutschen Staates, der sich im Jahre 1871 endgültig konstituierte. Auf der anderen Seite erlitt der Versuch der Ungarn, einen selbständigen Nationalstaat zu errichten, schon im Jahre 1849 unter den Schlägen des russischen leibeigenen Heeres Schiffbruch,
So, entstand eine außerordentlich eigenartige Lage: Bei den Ungarn und dann ebenso bei den Tschechen eine Hinneigung, nicht zur Loslösung von Österreich, sondern zur Erhaltung der Einheit Österreichs, und zwar gerade im Interesse der nationalen Unabhängigkeit, die durch die räuberischen und stärkeren Nachbarn ganz vernichtet werden könnte! Österreich fügte sich kraft dieser eigenartigen Lage zu einem Staat mit zwei Zentren (dualistischem Staat) zusammen und jetzt verwandelt es sich in einen Staat mit drei Zentren (trialistischen: Deutsche, Ungarn, Slawen).
Gibt es etwas Ähnliches in Russland? Gibt es bei uns ein Bestreben der „Fremdstämmigen“ zur Vereinigung mit den Großrussen aus Furcht vor einer schlimmeren nationalen Unterdrückung ?
Es genügt, diese Frage zu stellen, um zu sehen, bis zu welchem Grade das Vergleichen Österreichs mit Russland in der Frage der nationalen Selbstbestimmung unsinnig, schablonenhaft und voll Unwissenheit ist.
Die besonderen Verhältnisse Russlands in der nationalen Frage sind dem, was wir in Österreich sahen, geradezu entgegengesetzt. Russland ist ein Staat mit einem einzigen nationalen Zentrum: dem großrussischen. Die Großrussen bewohnen ein gigantisches, zusammenhängendes Territorium und erreichen die Zahl von annähernd 70 Millionen Menschen. Die Besonderheit dieses Nationalstaates besteht darin, 1. dass die „Fremdstämmigen“ (die alle zusammen die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen: 57 Prozent) gerade in den Grenzgebieten leben; 2. dass die Unterdrückung dieser Fremdstämmigen viel stärker ist als in den Nachbarländern (und sogar nicht nur in den europäischen); 3. dass in einer ganzen Reihe von Fällen die in den Grenzgebieten lebenden unterdrückten Nationalitäten jenseits der Grenze ihre Stammesbrüder haben, die eine größere nationale Unabhängigkeit genießen (es genügt, an die West- und Südgrenze des Reiches zu erinnern: an die Finnen, Schweden, Polen, Ukrainer, Rumänen) ; 4. dass die Entwicklung des Kapitalismus und das allgemeine kulturelle Niveau häufig in den „fremdstämmigen“ Grenzgebieten auf höherer Stufe stehen als im Zentrum des Reiches. Und schließlich sahen wir gerade in den asiatischen Nachbarländern die beginnende Periode bürgerlicher Revolutionen und nationaler Bewegungen, die zum Teil die verwandten Nationalitäten in Russland ergreifen.
So wird gerade durch die historisch konkreten Besonderheiten der nationalen Frage in Russland die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen in der gegenwärtigen Epoche für uns besonders wichtig.
Übrigens ist schon rein tatsächlich die Behauptung Rosa Luxemburgs, dass im Programm der österreichischen Sozialdemokratie nichts von einer Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen enthalten sei, unrichtig. Wir brauchen nur das Protokoll des Brünner Kongresses aufzuschlagen, der das nationale Programm angenommen hat; da finden wir die Erklärung des ruthenischen Sozialdemokraten Hankewitsch im Namen der gesamten ukrainischen (ruthenischen) Delegation (S. 85 des Protokolls) und des polnischen Sozialdemokraten Reger im Namen der gesamten polnischen Delegation (S. 108) darüber, dass die österreichischen Sozialdemokraten der beiden genannten Nationen die Forderung nach nationaler Vereinigung, Freiheit und Selbständigkeit ihrer Völker zu ihren Forderungen zählen. So hat die österreichische Sozialdemokratie das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zwar nicht direkt als Programmpunkt aufgestellt, aber sich doch gleichzeitig vollkommen damit abgefunden, dass Teile der Partei die Forderung nach nationaler Selbständigkeit erheben. Das bedeutet natürlich faktisch eben die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen! Der Hinweis Rosa Luxemburgs auf Österreich stellt sich also in jeder Beziehung als ein Zeugnis gegen Rosa Luxemburg heraus.
IV. Der „Praktizismus“ in der nationalen Frage
Mit besonderem Eifer haben die Opportunisten das Argument Rosa Luxemburgs aufgegriffen, der § 9 unseres Programms enthalte nichts „Praktisches“. Rosa Luxemburg selbst ist von diesem Argument so entzückt, dass wir in ihrem Aufsatz an die achtmal auf jeder Seite die Wiederholung dieser „Parole“ finden.
„Der § 9“ – schreibt sie – „gibt keinerlei praktische Anweisung für die Tagespolitik des Proletariats, keinerlei praktische Lösung der nationalen Probleme.“
Betrachten wir einmal dieses Argument, das auch so formuliert wird, dass der § 9 entweder überhaupt gar nichts oder die Verpflichtung ausdrückt, alle nationalen Bestrebungen zu unterstützen.
Was bedeutet die Forderung, in der nationalen Frage „praktisch“ zu sein?
Entweder die Unterstützung aller nationalen Bestrebungen; oder die Beantwortung der Frage nach Lostrennung jeder Nation mit „ja oder nein“; oder überhaupt die unmittelbare „Durchführbarkeit“ der nationalen Forderungen.
Betrachten wir alle diese drei möglichen Deutungen der Forderung des „Praktischseins“.
Die Bourgeoisie, die natürlicherweise am Anfang jeder nationalen Bewegung als Hegemon auftritt, bezeichnet die Unterstützung aller nationalen Bestrebungen als praktisch. Aber die Politik des Proletariats in der nationalen Frage (wie auch in den übrigen Fragen) unterstützt nur die Bourgeoisie in einer bestimmten Richtung, stimmt aber mit ihrer Politik niemals ganz überein. Die Arbeiterklasse unterstützt die Bourgeoisie nur im Interesse des nationalen Friedens (den die Bourgeoisie niemals ganz herstellen kann und der nur durch die vollständige Demokratisierung zu verwirklichen ist), im Interesse der Gleichberechtigung, im Interesse der günstigen Bedingungen für den Klassenkampf. Darum bringen die Proletarier gerade gegen den Praktizismus der Bourgeoisie eine grundsätzliche Politik in der nationalen Frage auf den Plan und unterstützen die Bourgeoisie immer nur bedingt. Jede Bourgeoisie erstrebt in der nationalen Frage entweder Privilegien für ihre eigene Nation oder ausschließliche Vorteile für sie; das nennt man „praktisch sein“. Das Proletariat ist gegen jedes Privileg, gegen jede Ausnahmestellung. Von ihm „Praktizismus“ zu verlangen, heißt im Fahrwasser der Bourgeoisie segeln, in Opportunismus verfallen.
Soll man auf die Frage nach der Lostrennung bei jeder Nation mit „ja oder nein“ antworten? Das scheint eine eminent „praktische“ Forderung zu sein. In Wirklichkeit aber ist es töricht; in der Theorie ist es metaphysisch und in der Praxis führt es zur Unterordnung des Proletariats unter die Politik der Bourgeoisie. Die Bourgeoisie stellt immer ihre eigenen nationalen Forderungen in den Vordergrund. Sie stellt sie unbedingt. Für das Proletariat sind sie den Interessen des Klassenkampfes untergeordnet. Es ist theoretisch unmöglich, im Voraus zu sagen, ob die Lostrennung einer Nation oder ihre gleichberechtigte Stellung neben einer anderen Nation die bürgerlich-demokratische Revolution vollenden wird; für das Proletariat ist es wichtig, in beiden Fällen die Entwicklung seiner Klasse zu sichern; für die Bourgeoisie ist es wichtig, diese Entwicklung zu erschweren, dadurch, dass sie die Aufgaben des Proletariats hinter den Aufgaben „ihrer“ Nation zurückstellt. Daher beschränkt sich das Proletariat auf die sozusagen negative Forderung der Anerkennung des Rechtes auf Selbstbestimmung, ohne einer bestimmten Nation etwas zu garantieren und ohne Verpflichtung, ihr auf Kosten einer anderen Nation irgend etwas zu geben.
Das mag nicht „praktisch“ sein, aber es garantiert am sichersten die am meisten demokratische der möglichen Lösungen; das Proletariat braucht nur diese Garantien, die Bourgeoisie jeder Nation dagegen braucht Garantien für ihre Vorteile – ohne Rücksicht auf die Lage (die möglichen Nachteile) anderer Nationen.
Die Bourgeoisie interessiert vor allem die „Durchführbarkeit“ einer bestimmten Forderung; daher die ewige Politik des Kuhhandels mit der Bourgeoisie der anderen Nationen zum Schaden des Proletariats. Für das Proletariat ist dagegen die Erstarkung seiner Klasse gegenüber der Bourgeoisie, die Erziehung der Massen im Geiste der konsequenten Demokratie und des Sozialismus von Wichtigkeit.
Das mag für die Opportunisten nicht „praktisch“ sein, aber es ist in Wirklichkeit die einzige Garantie, eine Garantie für die maximale nationale Gleichberechtigung und den maximalen nationalen Frieden sowohl gegen den Feudalismus als auch; gegen die nationalistische Bourgeoisie.
Die ganze Aufgabe der Proletarier in der nationalen Frage ist vom Standpunkt der nationalistischen Bourgeoisie aller Nationen „unpraktisch“, denn die Proletarier fordern die „abstrakte“ Gleichberechtigung, die grundsätzliche Beseitigung auch der geringsten Privilegien, und sind Feinde jedweden Nationalismus. Da Rosa Luxemburg das nicht verstanden hat, hat sie durch ihre unvernünftigen Lobpreisungen des Praktizismus den Opportunisten, besonders den opportunistischen Konzessionen an den großrussischen Nationalismus, Tür und Tor sperrangelweit geöffnet.
Warum an den großrussischen? Weil die Großrussen in Russland eine Unterdrückernation sind und der Opportunismus sich in nationaler Beziehung naturgemäß bei den Unterdrückernationen anders äußert als bei den unterdrückten Nationen.
Die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen werde im Namen ihrer „praktischen“ Forderungen das Proletariat zur unbedingten Unterstützung ihrer Bestrebungen aufrufen. Es sei weitaus praktischer, zur Lostrennung einer bestimmten Nation direkt „ja“ zu sagen, nicht aber zum Recht der Lostrennung aller und jedweder Nationen!
Das Proletariat ist gegen einen solchen Praktizismus: es erkennt die Gleichberechtigung und das gleiche Recht auf den Nationalstaat an, aber höher als alles andere schätzt und stellt es die Vereinigung der Proletarier aller Nationen, und es wertet jede nationale Forderung, jede nationale Lostrennung unter dem Gesichtswinkel des Klassenkampfes der Arbeiter. Die Parole des Praktizismus ist in der Tat nur die Parole der kritiklosen Übernahme bürgerlicher Bestrebungen.
Man sagt uns: durch eure Unterstützung des Rechts auf Lostrennung unterstützt ihr den bürgerlichen Nationalismus der unterdrückten Nationen. So spricht Rosa Luxemburg, und so spricht es ihr der Opportunist Semkowski nach – beiläufig gesagt, der einzige Vertreter liquidatorischer Ideen in dieser Frage in der liquidatorischen Zeitung!
Wir antworten: Nein. Gerade der Bourgeoisie kommt es hier auf die „praktische“ Lösung an, wahrend die Arbeiterschaft auf das prinzipielle Auseinanderhalten zweier Tendenzen Wert legt. Soweit die Bourgeoisie einer unterdrückten Nation gegen die unterdrückende kämpft, soweit sind wir immer und in jedem Fall entschlossener als alle anderen dafür, denn wir sind die stärksten und konsequentesten Feinde der Unterdrückung. Soweit die Bourgeoisie einer unterdrückten Nation ihrem bürgerlichen Nationalismus vertritt, sind wir dagegen. Kampf gegen die Privilegien und die Gewaltherrschaft der Unterdrückernation und keinerlei Duldsamkeit gegenüber irgendwelchem Streben der unterdrückten Nation nach Privilegien.
Wenn wir die Parole des Rechtes auf Selbstbestimmung nicht aufstellen und in der Agitation nicht propagieren werden, so werden wir nicht nur der Bourgeoisie sondern auch den Feudalen und dem Absolutismus der unterdrückenden Nation in die Hände arbeiten. Dieses Argument hat Kautsky schon längst gegen Rosa Luxemburg vorgebracht, und es ist unanfechtbar. Aus Furcht, der nationalistischen Bourgeoisie Polens zu „helfen“, kommt Rosa Luxemburg durch ihre Ablehnung des Rechtes auf Lostrennung im Programm der russischen Marxisten in Wirklichkeit den großrussischen Schwarzhundertern zu Hilfe. Sie unterstützt in Wirklichkeit die opportunistische Aussöhnung mit den Privilegien (und mit Schlimmerem als den Privilegien) der Großrussen.
Hingerissen vom Kampfe gegen den Nationalismus in Polen, hat Rosa Luxemburg den großrussischen Nationalismus vergessen, obgleich gerade dieser Nationalismus jetzt schlimmer als jeder andere ist; denn gerade er ist weniger bürgerlich als vielmehr feudal, gerade er ist der bedeutendste Hemmschuh für die Demokratie und den Kampf des Proletariats. Jeder bürgerliche Nationalismus einer unterdrückten Nation hat einen allgemein demokratischen, gegen Unterdrückung gerichteten Inhalt, und diesen Inhalt unterstützen wir unbedingt: dabei trennen wir davon streng das Streben nach einer Ausnahmestellung für die eigene Nation, bekämpfen das Bestreben des polnischen Bourgeois, die Juden zu unterdrücken usw. usw.
Das ist „unpraktisch“ vom Gesichtspunkte des Bourgeois und des Kleinbürgers aus. Das ist aber die einzige sowohl praktische als auch grundsätzliche und die Demokratie, die Freiheit und den proletarischen Zusammenschluss tatsächlich fördernde Politik in der nationalen Frage.
Anerkennung des Rechtes auf Loslösung für alle; Beurteilung jeder konkreten Loslösungsfrage vom Gesichtspunkte der Beseitigung jeder Nichtgleichberechtigung, jedes Privilegs, jeder Ausnahmestellung.
Nehmen wir einmal die Lage einer unterdrückten Nation. Kann ein Volk frei sein, das andere Völker unterdrückt? Nein. Die Interessen der Freiheit der großrussischen BevölkerungA verlangen den Kampf gegen diese Unterdrückung. Die lange, jahrhundertelange Geschichte der Niederhaltung der Bewegungen der unterdrückten Nationen und die durch die „oberen“ Klassen betriebene systematische Propagierung einer solchen Niederhaltung haben in der Gestalt von Vorurteilen usw. der Sache der Freiheit des großrussischen Volkes selbst ungeheure Hindernisse bereitet.
Die großrussischen Schwarzhunderter unterhalten bewusst diese Vorurteile und fachen sie an. Die großrussische Bourgeoisie findet sich mit diesen Vorurteilen ab und passt sich ihnen an. Das großrussische Proletariat kann seine Ziele nicht verwirklichen, kann sich den Weg zur Freiheit nicht ebnen, wenn es nicht systematisch gegen diese Vorurteile ankämpft.
Die Errichtung eines selbständigen und unabhängigen Nationalstaates ist in Russland bis jetzt das Vorrecht der großrussischen Nation allein geblieben. Wir, die großrussischen Proletarier, verteidigen keinerlei Privilegien, und wir verteidigen auch dieses Privileg nicht. Wir kämpfen auf dem Boden des gegebenen Staates, wir vereinigen die Arbeiter aller Nationen des gegebenen Staates, wir können uns nicht für diesen oder jenen Weg der nationalen Entwicklung verbürgen, wir verfolgen unsere Klassenziele auf allen möglichen Wegen.
Aber zu diesen Zielen zu gelangen ist unmöglich, wenn wir nicht gegen jeden Nationalismus kämpfen und nicht die Gleichheit der Arbeiter aller Nationen verfechten. Ob es z. B. der Ukraine beschieden sein wird, einen selbständigen Staat zu errichten, das hängt von tausend Faktoren ab, die im Voraus nicht bekannt sind. Und da wir nicht zwecklos „weissagen“ wollen, halten wir hartnäckig fest an dem, was außer Zweifel steht: an dem Recht der Ukraine auf einen solchen Staat. Wir achten dieses Recht, wir unterstützen nicht die Privilegien der Großrussen gegenüber den Ukrainern, wir erziehen die Massen im Geiste der Anerkennung dieses Rechts, im Geiste der Ablehnung staatlicher Privilegien irgendeiner Nation.
Während der sprunghaften Entwicklung, die alle Länder im Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen durchmachten, waren Konflikte und Kämpfe für das Recht auf den Nationalstaat möglich und wahrscheinlich. Wir Proletarier erklären uns von vornherein als Gegner der großrussischen Privilegien und betreiben unsere gesamte Propaganda und Agitation in diesem Sinne.
Auf der Jagd nach dem „Praktizismus“ übersieht Rosa Luxemburg die wichtigste praktische Aufgabe des großrussischen wie des andersnationalen Proletariats: die Aufgabe der täglichen Agitation und Propaganda gegen jedes staatlich-nationale Privileg, für das Recht, das gleiche Recht aller Nationen auf einen eigenen Nationalstaat. Diese Aufgabe ist (gegenwärtig) in der nationalen Frage unsere wichtigste Aufgabe, denn nur auf diesem Wege verfechten wir die Interessen der Demokratie und des gleichberechtigten Bundes aller Proletarier sämtlicher Nationen.
Diese Propaganda mag sowohl vom Standpunkt der großrussischen Unterdrücker als auch vom Standpunkt der Bourgeoisie der unterdrückten Nationen aus (die einen wie die anderen verlangen ein bestimmtes Ja oder Nein und bezichtigen die Sozialdemokraten der „Unbestimmtheit“) „unpraktisch“ erscheinen. In Wirklichkeit verbürgt gerade diese Propaganda und nur sie eine wirklich demokratische und wirklich sozialistische Erziehung der Massen. Nur eine solche Propaganda verbürgt sowohl die größten Aussichten auf den nationalen Frieden in Russland, falls es ein national bunt zusammengesetztes Land bleibt, als auch die friedlichste (und für den proletarischen Klassenkampf unschädlichste) Teilung Russlands in verschiedene Nationalstaaten, falls eine solche Teilung in Frage kommen sollte.
Zwecks konkreterer Erläuterung dieser einzig und allein proletarischen Politik in der nationalen Frage wollen wir die Stellung des großrussischen Liberalismus zur „Selbstbestimmung der Nationen“ und das Beispiel der Lostrennung Norwegens von Schweden einer Betrachtung unterziehen.
V. Die liberale Bourgeoisie und die sozialistischen Opportunisten zur nationalen Frage
Wir haben gesehen, dass Rosa Luxemburg zu ihren wirksamsten „Trümpfen“ im Kampfe gegen das Programm der russischen Marxisten das folgende Argument rechnet: die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes kommt einer Unterstützung des bürgerlichen Nationalismus der unterdrückten Nationen gleich. Anderseits, sagt Rosa Luxemburg, wenn man unter diesem Rechte nur den Kampf gegen jede Vergewaltigung einer Nation verstehen soll, dann sei kein besonderer Programmpunkt nötig, denn die Sozialdemokraten seien überhaupt gegen jede nationale Vergewaltigung und Nichtgleichberechtigung.
Das erste Argument schiebt, wie Kautsky schon vor fast zwanzig Jahren unwiderleglich bewiesen hat, den Nationalismus, der seinen Verfechtern anhaftet, ungerechtfertigterweise anderen zu; denn aus Furcht vor dem bürgerlichen Nationalismus der unterdrückten Nationen spielt Rosa Luxemburg in Wirklichkeit dem reaktionären großrussischen Nationalismus in die Hände! Das zweite Argument ist im Grunde ein ängstliches Herumdrücken um die Frage: Schließt die Anerkennung der nationalen Gleichberechtigung die Anerkennung des Rechtes auf Lostrennung ein oder nicht? Wenn ja, so bedeutet das, dass Rosa Luxemburg die grundsätzliche Richtigkeit des § 9 unseres Programms anerkennt. Wenn nicht, so erkennt sie die nationale Gleichberechtigung nicht an. Ausweichen und Drumherumreden gilt da nicht!
Indessen ist der beste Prüfstein für die obenerwähnten und alle ähnlichen Argumente die Untersuchung der Stellung der verschiedenen Gesellschaftsklassen zu dieser Frage. Der Marxist ist! zu dieser Überprüfung verpflichtet. Man muss vom Objektiven ausgehen, man muss die Wechselbeziehungen der Klassen in diesem Punkte ins Auge fassen. Da Rosa Luxemburg dies unterlässt, verfällt sie geradewegs in jene Sünde der Metaphysik, der Abstraktheit, der Gemeinplätze, der Verallgemeinerung usw., deren sie ihre Gegner vergeblich bezichtigen möchte.
Es handelt sich um das Programm der russländischen Marxisten, d. h. der Marxisten aller Nationalitäten Russlands. Folgt daraus nicht, dass man auch die Stellung der herrschenden (Klassen Russlands ins Auge fassen muss?
Die Stellung der „Bürokratie“ (man verzeihe uns den ungenauen Ausdruck)1 und der feudalen Gutsbesitzer vom Typus des vereinigten Adelsstandes ist allgemein bekannt: unbedingte Ablehnung sowohl der Gleichberechtigung der Nationalitäten als auch des Selbstbestimmungsrechts. Die alte, aus der Zeit der Leibeigenschaft übernommene Losung lautet: Absolutismus, Orthodoxie, Nationalwesen, wobei man nur die großrussische Nation im Auge hat. Sogar die Ukrainer werden für „Fremdstämmige“ erklärt, sogar ihre Muttersprache wird verfolgt.
Betrachten wir nun die russische Bourgeoisie, die zu einer, wenn auch nur sehr bescheidenen Teilnahme an der Macht, am Gesetzgebungs- und Verwaltungssystem vom „3. Juni“ „berufen“ worden ist. Dass die Oktobristen in der vorliegenden Frage tatsächlich mit den Rechten gehen, darüber braucht man nicht viel Worte zu verlieren. Leider widmen manche Marxisten der Stellung der liberalen großrussischen Bourgeoisie, der Progressisten und der Kadetten, viel weniger Aufmerksamkeit. Und doch wird jeder, der diese Stellung nicht untersucht und nicht bedenkt, bei der Beurteilung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen unvermeidlich in den Fehler der Abstraktheit und der leeren Wortmacherei verfallen.
Im vergangenen Jahre hat die Polemik der „Prawda“ mit der „Rjetsch“ dieses im diplomatischen Umgehen direkter Antworten auf „unangenehme“ Fragen so gewandte Hauptorgan der Kadettenpartei gezwungen, doch einige wertvolle Eingeständnisse zu machen. Der ganze Lärm entstand wegen des allgemeinen ukrainischen Studentenkongresses in Lemberg im Sommer 1913. Der Leib-„Ukrainist“ oder ukrainische Mitarbeiter der „Rjetsch“, Herr Mogiljanski, veröffentlichte einen Artikel, in dem er die Idee der Lostrennung der Ukraine, für die der National-Soziale Donzow eingetreten war und der der erwähnte Kongress zugestimmt hatte, mit den erlesensten Schimpfwörtern („Fieberphantasien“, „Abenteurertum“ u. dgl.) überschüttete.
Die Zeitung „Rabotschaja Prawda“, die sich keineswegs mit Herrn Donzow solidarisierte, sondern geradeheraus sagte, dass er ein National-Sozialer sei und viele ukrainische Marxisten nicht mit ihm übereinstimmen, erklärte trotzdem, dass der Ton der „Rjetsch“ oder richtiger: ihre prinzipielle Stellung der Frage für einen großrussischen Demokraten sowie für jeden, der als Demokrat gelten will, vollkommen ungehörig, unzulässig sei. Mag die „Rjetsch“ gegen die Herren Donzow polemisieren, aber es ist für ein angeblich demokratisches großrussisches Organ prinzipiell unzulässig, die Freiheit der Lostrennung, das Recht auf Lostrennung außer Acht zu lassen.
Nach Verlauf einiger Monate trat Herr Mogiljanski in Nr. 331 der „Rjetsch“ mit „Erläuterungen“ hervor, da er aus der Lemberger ukrainischen Zeitung „Schljachi“ von den Erwiderungen des Herrn Donzow erfuhr, der u. a. bemerkt hatte, dass „nur die russische sozialdemokratische Presse den chauvinistischen Ausfall der „Rjetsch“ gebührend gestempelt (gebrandmarkt?) habe“. Die „Erläuterungen“ des Herrn Mogiljanski bestanden darin, dass er dreimal wiederholte: „Die Kritik an den Donzowschen Rezepten“ „hat mit einer Ablehnung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen nichts zu tun.“
„Man muss sagen“ – schrieb Herr Mogiljanski –, „dass auch das ,Selbstbestimmungsrecht der Nationen‘ nicht etwa ein Fetisch“ (hört! hört!) „ist, der keine Kritik zulässt: ungesunde nationale Lebensbedingungen können ungesunde Tendenzen in der nationalen Selbstbestimmung erzeugen, und diese aufzuzeigen, bedeutet noch keine Ablehnung des Selbstbestimmungsrechtes.“
Wie man sieht, waren diese Phrasen eines Liberalen über den „Fetisch“ ganz im Geiste der Phrasen Rosa Luxemburgs gehalten. Augenscheinlich wünschte Herr Mogiljanski, einer direkten Antwort auf die Frage, ob er das Recht auf politische Selbstbestimmung, d. h. auf Lostrennung, anerkennt oder nicht, auszuweichen.
Und die „Proletarskaja Prawda“ (Nr. 4 vom 11. Dez. 1913) hat diese Frage sowohl an Herrn Mogiljanski als auch an die ganze Partei der Kadetten in einer Weise gestellt, die kein Ausweichen zulässt.
Daraufhin veröffentlichte die Zeitung „Rjetsch“ (Nr. 340) eine nicht unterschriebene, d. h. offizielle redaktionelle Erklärung, die auf diese Frage Antwort gibt. Diese Antwort läuft auf drei Punkte hinaus:
1. Im § 11 des Programms der Kadettenpartei werde direkt scharf und klar vom „Recht der freien kulturellen Selbstbestimmung“ der Nationen gesprochen.
2. Die „Proletarskaja Prawda“ „wirft“ nach Ansicht der „Rjetsch“ die Selbstbestimmung mit dem Separatismus, der Lostrennung der einen oder anderen Nation, „hoffnungslos durcheinander“.
3. „Tatsächlich haben es die Kadetten nie und nimmer unternommen, das Recht der ,Lostrennung von Nationen‘ vom russischen Staate zu verteidigen“ (vergl. den Aufsatz „Der Nationalliberalismus und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ in der „Proletarskaja Prawda“ Nr. 12 vom 20. XII. 1913).
Richten wir unsere Aufmerksamkeit zuerst auf den zweiten Punkt der Erklärung der „Rjetsch“. Wie anschaulich zeigt er den Herren Semkowski, Libman, Jurkewitsch und den anderen Opportunisten, dass ihr Geschrei und Gerede über die angebliche „Unklarheit“ oder „Unbestimmtheit“ des Sinnes der „Selbstbestimmung“ in Wirklichkeit, d. h. infolge der objektiven Wechselbeziehungen der Klassen und das Klassenkampfes in Russland, nur ein einfaches Nachplappern der Reden der liberal-monarchistischen Bourgeoisie darstellt!
Als die „Proletarskaja Prawda“ den aufgeklärten Herren „konstitutionellen Demokraten“ von der „Rjetsch“ drei Fragen stellte: 1. Bestreiten sie, dass in der ganzen Geschichte der internationalen Demokratie, besonders seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, unter Selbstbestimmung der Nationen gerade die politische Selbstbestimmung, das Recht auf die Bildung eines selbständigen Nationalstaates verstanden wird? 2. Bestreiten sie, dass der bekannte Beschluss des Londoner internationalen Sozialistenkongresses von 1896 denselben Sinn hat und 3. dass Plechanow, als er noch im Jahre 1902 über die Selbstbestimmung schrieb, darunter gerade die politische Selbstbestimmung verstand? – als die „Proletarskaja Prawda“ diese drei Fragen gestellt hatte, schwiegen die Herren Kadetten!!
Sie antworteten kein Wort, weil sie nichts zu antworten hatten. Sie mussten schweigend gestehen, dass die „Proletarskaja Prawda“ unbedingt Recht hatte.
Das Geschrei der Liberalen über das Thema der Unklarheit des Begriffs der „Selbstbestimmung“ und über das „hoffnungslose Durcheinanderwerfen“ mit dem Separatismus bei den Sozialdemokraten ist nichts anderes als das Bestreben, die Frage zu verwirren, sich an der Anerkennung eines allgemeingültigen demokratischen Prinzips vorbei zu drücken. Wenn die Herren Semkowski, Libman und Jurkewitsch nicht solche Ignoranten wären, so hätten sie sich ein Gewissen daraus gemacht, vor den Arbeitern in liberalem Geiste aufzutreten.
Aber gehen wir weiter. Die „Proletarskaja Prawda“ hat die „Rjetsch“ gezwungen, anzuerkennen, dass die Worte von der „kulturellen“ Selbstbestimmung im Programm der Kadetten gerade die Ablehnung der politischen Selbstbestimmung bedeuten.
„Tatsächlich haben es die Kadetten nie und nimmer unternommen, die ,Lostrennung von Nationen‘ vom russischen Staate zu verteidigen“ – – diese Worte der „Rjetsch“ hat die „Proletarskaja Prawda“ nicht ohne Grund der „Nowoje Wremja“ und der „Semschtschina“ als Musterbeispiel der „Loyalität“ unserer Kadetten empfohlen. Die Zeitung „Nowoje Wremja“ ließ sich natürlich in Nr. 13 563 die Gelegenheit nicht entgehen, den „Juden“ zu erwähnen und den Kadetten alle Arten von Anzüglichkeiten zu sagen, erklärte aber trotzdem:
„Was den Sozialdemokraten als ein Axiom politischer Weisheit gilt“ (d. h. die Anerkennung des Selbstbestimmungs- und Lostrennungsrechtes der Nationen), „beginnt heutzutage sogar in Kadettenkreisen Meinungsverschiedenheiten hervorzurufen,“
Die Kadetten stellten sich grundsätzlich ganz auf den Standpunkt der „Nowoje Wremja“, als sie erklärten, dass sie „es nie und nimmer unternommen haben, die Lostrennung von Nationen vom russischem Staate zu verteidigen“. Darin besteht eben eine der Grundlagen des Nationalliberalismus der Kadetten, ihrer Verwandtschaft mit den Purischkjewitsch, ihrer ideologisch-politischen und praktisch-politischen Abhängigkeit von diesen.
„Die Herren Kadetten haben Geschichte studiert“ – schrieb die Proletarskaja Prawda“ – „und wissen sehr wohl zu welchen, gelinde gesagt, ,pogromähnlichen‘ Ereignissen die Anwendung jenes angestammten Rechtes der Purischkjewitsch, ,festzunehmen und nicht gewähren lassen‘, in der Praxis häufig geführt hat.“
So gut sie auch den feudalen Ursprung und Charakter der Allgewalt der Purischkjewitsch kennen, stellen sich die Kadetten nichtsdestoweniger ganz auf den Boden der gerade von dieser Klasse geschaffenen Verhältnisse und Grenzen. Obwohl sie sehr gut wissen, wie viel Nichteuropäisches, Antieuropäisches (Asiatisches würden wir sagen, wenn das nicht wie eine unverdiente Geringschätzung der Japaner und Chinesen klänge) in den Verhältnissen und Grenzen liegt, die gerade von dieser Klasse geschaffen oder festgelegt worden sind, erkennen die Herren Kadetten sie doch als Schranken an, die nicht überschritten werden dürfen.
Das ist eben eine Anpassung an die Purischkjewitsch, eine Bauchrutscherei vor ihnen, die Angst, ihre Stellung zu erschüttern, eine Verteidigung der Purischkjewitsch gegen die Volksbewegung, gegen die Demokratie.
„Das bedeutet in Wirklichkeit – schrieb die ,Proletarskaja Prawda‘ – eine Anpassung an die Interessen der Fronherren und an die schlimmsten nationalistischen Vorurteile der herrschenden Nation an Stelle eines systematischen Kampfes gegen diese Vorurteile.“
Als Leute, die etwas von Geschichte verstehen und Anspruch darauf erheben, als Demokraten zu gelten, versuchen die Kadetten nicht einmal zu behaupten, dass die demokratische Bewegung, die heutzutage sowohl Osteuropa als auch Asien charakterisiert, die bestrebt ist, beide nach dem Muster der zivilisierten kapitalistischen Länder umzugestalten, – dass diese Bewegung unbedingt die Grenzen unverändert lassen müsse, die durch die feudale Epoche festgelegt worden sind, eine Epoche der Allmacht der Purischkjewitsch und der Rechtlosigkeit der breiten Schichten des Bürgertums und Kleinbürgertums.
Dass die in der Polemik zwischen „Proletarskaja Prawda“ und „Rjetsch“ angeregte Frage keineswegs nur eine literarische Frage sondern wirklich eine brennende politische Tagesfrage ist, das bewies u. a. die letzte Konferenz der Kadettenpartei vom 23. bis 25. März 1914. Im offiziellen Bericht der „Rjetsch“ (Nr. 83 vom 26. 3. 1914) über diese Konferenz lesen wir:
„Die nationalen Fragen behandelte man ebenfalls besonders lebhaft. Die Kiewer Delegierten, denen sich N. W. Nekrassow und A. M. Koljubakin anschlossen, verwiesen darauf, dass die nationale Frage ein heranreifender gewichtiger Faktor sei, dem man unbedingt entschlossener als bisher nähertreten müsse. F. F. Kokoschkin verwies jedoch darauf “ (das ist dasselbe „jedoch“, das dem Schtschedrinschen „aber“ entspricht: „Aber – die Ohren wachsen nun einmal nicht über Stirnhöhe“), „dass sowohl das Programm als auch die bisherige politische Erfahrung ein sehr vorsichtiges Umgehen mit den ,dehnbaren Formeln‘ der ,politischen Selbstbestimmung der Nationalitäten‘ erfordern.“
Diese im höchsten Grade bemerkenswerten Betrachtungen auf der Kadettenkonferenz verdienen die größte Aufmerksamkeit aller Marxisten und aller Demokraten. (In Klammern sei bemerkt, dass die „Kijewskaja Mysl„, die offenbar sehr gut unterrichtet ist und die Gedanken des Herrn Kokoschkin zweifellos richtig wiedergibt, hinzufügte, dass er, natürlich als Warnung für seine Opponenten, die Gefahr des „Zerfalls“ des Reiches besonders hervorhob.)
Der offizielle Bericht der „Rjetsch“ ist virtuos diplomatisch zurechtgemacht, damit er möglichst wenig den Schleier lüfte und möglichst viel verberge. Aber dennoch ist in den Grundzügen klar, was auf der Kadettenkonferenz vor sich gegangen ist. Die Liberalen Bourgeois-Delegierten, die mit der Lage der Dinge in der Ukraine vertraut sind, und die „linken“ Kadetten stellten die Frage gerade der politischen Selbstbestimmung der Nationen. Sonst hätte Herr Kokoschkin gar keinen Grund gehabt, zum „vorsichtigen Umgehen“ mit dieser „Formel“ zu mahnen.
Im Programm der Kadetten, das doch selbstverständlich den Delegierten der Kadettenkonferenz bekannt war, steht nämlich nicht politische sondern „kulturelle“ Selbstbestimmung. Herr Kokoschkin verteidigte also dieses Programm gegen die Delegierten aus der Ukraine, gegen die linken Kadetten, und er verteidigte die „kulturelle“ Selbstbestimmung gegen die „politische“. Es ist vollkommen klar, dass Herr Kokoschkin durch seine Stellungnahme gegen die „politische“ Selbstbestimmung, durch die Hervorhebung der Gefahr eines „Zerfalls des Staates“, durch seine Bezeichnung der Formel der „politischen Selbstbestimmung“ als „dehnbar“ (ganz im Geiste Rosa Luxemburgs!) den großrussischen Nationalliberalismus gegen die „linkeren“ oder die demokratischeren Elemente der Kadettenpartei und gegen die ukrainische Bourgeoisie verteidigt hat.
Herr Kokoschkin siegte auf der Kadettenkonferenz, wie aus dem verräterischen Wörtlein „jedoch“ im Bericht der „Rjetsch“ ersichtlich ist. Der großrussische Nationalliberalismus triumphierte bei den Kadetten. Wird nicht dieser Sieg dazu beitragen, den Verstand der unvernünftigen Individuen unter den russischen Marxisten aufzuhellen, die, in die Fußstapfen der Kadetten tretend, gleichfalls angefangen haben, gegen die „dehnbaren Formeln der politischen Selbstbestimmung der Nationalitäten“ anzukämpfen?
Verfolgen wir „jedoch“, im Wesen der Sache, den Gedankengang des Herrn Kokoschkin. Mit der Berufung auf die „bisherige politische Erfahrung“ (d.h. offenbar auf die Erfahrung des Jahres 1905, als die großrussische Bourgeoisie für ihre nationalen Privilegien fürchtete und durch ihre Furcht die Kadettenpartei in Furcht versetzte) und mit der Hervorhebung der Gefahr eines „Zerfalls des Staates“ zeigte Herr Kokoschkin ein hervorragendes Verständnis dafür, dass politische Selbstbestimmung nichts anderes bedeuten kann als das Recht auf Lostrennung und auf die Errichtung eines selbständigen Nationalstaates. Es fragt sich nun, wie man vom Standpunkte der Demokratie im Allgemeinen und vom Standpunkte des proletarischen Klassenkampfes im Besonderen diese Befürchtungen des Herrn Kokoschkin aufzufassen hat.
Herr Kokoschkin will uns glauben machen, dass die Anerkennung des Lostrennungsrechtes die Gefahr des „Zerfalls des Staates“ vergrößert. Das ist der Gesichtspunkt des Stadtpolizisten Mymrezow mit seiner Devise: „Festnehmen und nicht gewähren lassen!“ Vom Gesichtspunkte der Demokratie aus ist es „gerade umgekehrt: die Anerkennung des Lostrennungsrechtes verringert die Gefahr eines „Zerfalls des Staates“.
Herr Kokoschkin urteilt ganz und gar im Geiste der Nationalisten. Auf ihrem letzten Kongress zeterten diese gegen die ukrainischen „Mazepisten“. Die ukrainische Bewegung – riefen Herr Sawenko und Komp. – droht die Verbindung zwischen Russland und der Ukraine zu lockern, denn Österreich verstärkt durch das Ukrainophilentum die Verbindung der Ukrainer mit Österreich (!!). Es bleibt unverständlich, weshalb Russland nicht versuchen kann, die Verbindung der Ukrainer mit Russland durch dieselben Methoden zu verstärken die die Herren Sawenko Österreich zum Vorwurf machen, nämlich den Ukrainern die Freiheit der Muttersprache, Selbstverwaltung, einen autonomen Landtag und dergl. zu gewähren?
Die Gedankengänge der Herren Sawenko und der Herren Kokoschkin sind von ganz gleicher Beschaffenheit und schon rein logisch gleich lächerlich und albern. Ist es nicht klar, dass je mehr Freiheit die ukrainische Nationalität in diesem oder jenem Lande hat, um so fester die Verbindung dieser Nationalität mit dem entsprechenden Lande sein wird? Es scheint unmöglich, diese elementare Wahrheit zu bestreiten, ohne mit allen Prämissen der Demokratie entschieden zu brechen. Kann es aber für eine Nationalität als solche eine größere Freiheit geben als die Freiheit der Lostrennung, die Freiheit der Errichtung eines selbständigen Nationalstaates?
Um diese durch die Liberalen (und die, die ihnen aus Unverstand nach schwätzen) in Verwirrung gebrachte Frage noch klarer zu machen, wollen wir ein ganz einfaches Beispiel anführen. Nehmen wir die Scheidungsfrage. Rosa Luxemburg schreibt in ihrem Aufsatz, dass ein zentralisierter demokratischer Staat, der sich mit der Autonomie der besonderen Teile sehr wohl vertrage, alle wichtigen Zweige der Gesetzgebung, u. a. auch die Gesetzgebung über die Ehescheidung in der Hand des zentralen Parlamentes belassen müsse. Diese Sorge für die Sicherung der Freiheit der Ehescheidung durch die zentrale Gewalt des demokratischen Staates ist durchaus begreiflich. Die Reaktionäre sind gegen die Freiheit der Ehescheidung, sie mahnen zum „vorsichtigen Umgehen“ mit ihr und schreien, dass sie den „Zerfall der Familie“ bedeute. Die Demokratie behauptet dagegen, dass die Reaktionäre Heuchler seien, dass sie in Wirklichkeit die Allmacht der Polizei und der Bürokratie, die Privilegien des einen Geschlechtes und die schlimmste Unterdrückung der Frau verteidigen; dass in Wirklichkeit die Scheidungsfreiheit nicht den „Zerfall“ der Familienbande sondern im Gegenteil ihre Erstarkung auf den in einem zivilisierten Staat einzig möglichen und dauerhaften demokratischen Grundlagen bedeute.
Den Anhängern der Selbstbestimmungs-, d. h. der Lostrennungsfreiheit vorzuwerfen, dass sie zum Separatismus aufmuntern, ist eine ebensolche Dummheit und Heuchelei, wie den Anhängern der Freiheit der Ehescheidung vorzuwerfen, dass sie zur Zerstörung der Familienbande aufmuntern. Ähnlich wie in der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Freiheit der Ehescheidung die Verteidiger der Privilegien und der Käuflichkeit auftreten, auf denen sich die bürgerliche Ehe aufbaut, bedeutet im kapitalistischen Staate die Ablehnung des Selbstbestimmungs-, d. h. des Lostrennungsrechtes der Nationen nur eine Verteidigung der Privilegien der herrschenden Nation und der polizeilichen Verwaltungsmethoden zum Nachteil der demokratischen Methoden.
Zweifellos ruft das durch die gesamten Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft erzeugte Politikastertum zuweilen äußerst leichtsinnige und sogar einfach alberne Schwätzereien der Parlamentarier und Journalisten über die Lostrennung irgendeiner Nation hervor. Aber nur Reaktionäre können sich durch dergleichen Geschwätz erschrecken lassen (oder sich erschreckt stellen). Wer auf dem Standpunkte der Demokratie, d. h. auf dem Standpunkte der Entscheidung staatlicher Fragen durch die Masse der Bevölkerung steht, der weiß sehr wohl, dass zwischen dem Geschwätz der Politikaster und der Entscheidung der Massen ein himmelweiter Abstand liegt. Die Massen der Bevölkerung kennen aus ihrer täglichen Erfahrung sehr gut die Bedeutung der geographischen und ökonomischen Bande sowie die Vorzüge eines großen Marktes und eines großen Staates, und zur Lostrennung werden sie nur dann bereit sein, wenn die nationale Unterdrückung und die nationalen Reibungen das Zusammenleben vollkommen unerträglich machen und zu einem Hemmnis aller wirtschaftlichen Beziehungen werden. In einem solchen Falle aber wird die Lostrennung eben im Interesse sowohl der kapitalistischen Entwicklung als auch der Freiheit des Klassenkampfes liegen.
Von welcher Seite man also auch an die Betrachtungen des Herrn Kokoschkin herantritt, sie erscheinen als der Gipfel von Albernheit und als Hohn auf die Prinzipien der Demokratie. Aber eine gewisse Logik haben diese Betrachtungen: es ist die Logik der Klasseninteressen der großrussischen Bourgeoisie. Herr Kokoschkin ist ebenso wie die Mehrheit der Kadettenpartei der Lakai des Geldsacks dieser Bourgeoisie. Er verteidigt ihre Privilegien überhaupt und ihre staatlichen Privilegien im Besonderen, er verteidigt sie zusammen mit Purischkjewitsch, im Verein mit ihm, – nur glaubt Purischkjewitsch mehr an den Prügelstock der Leibeigenschaft, während die Kokoschkin und Komp. sehen, dass dieser Stock ihn Jahre 1905 kräftig eingeknickt worden ist, und sich infolgedessen mehr auf die bürgerlichen Mittel des Volksbetruges verlassen. So schrecken sie z. B. die Kleinbürger und Bauern mit dem Gespenst des „Zerfalls des Staates“ und betrügen sie mit Redensarten von der Vereinigung der „Volksfreiheit“ mit den historischen Grundpfeilern usw.
Die wirkliche klassenmäßige Bedeutung der liberalen Gegnerschaft gegen das Prinzip der politischen Selbstbestimmung der Nationen liegt einzig und allein im Nationalliberalismus, in der Verfechtung der staatlichen Privilegien der großrussischen Bourgeoisie. Und die russischen Opportunisten unter den Marxisten, die gerade jetzt, in der Epoche des Systems des 3. Juni, gegen das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zu Felde gezogen sind, sie alle: der Liquidator Semkowski, der Bundist Libman und der ukrainische Kleinbürger Jurkewitsch, befinden sich in Wirklichkeit einfach im Schlepptau des Nationalliberalismus und korrumpieren die Arbeiterklasse durch nationalliberale Ideen.
Die Interessen der Arbeiterklasse und ihres Kampfes gegen den Kapitalismus erfordern volle Solidarität und engste Einheit der Arbeiter aller Nationen, sie erfordern Widerstand gegen die nationalistische Politik der Bourgeoisie aller Nationalitäten. Daher wäre es ein Ausweichen vor den Aufgaben der proletarischen Politik und eine Unterordnung der Arbeiter unter die bürgerliche Politik, sowohl wenn die Sozialdemokraten anfingen, das Selbstbestimmungsrecht, d. h. das Recht der unterdrückten Nationen auf Lostrennung abzulehnen, als auch wenn die Sozialdemokraten es unternähmen, jede nationale Forderung der Bourgeoisie der unterdrückten Nationen zu unterstützen. Dem Lohnarbeiter ist es ganz gleichgültig, ob sein Hauptausbeuter die großrussische Bourgeoisie sein wird, die gegenüber der fremdstämmigen den Vorrang genießt, oder die polnische Bourgeoisie, die gegenüber der jüdischen im Vorrang ist, usw. Der Lohnarbeiter, der sich seiner Klasseninteressen bewusst geworden ist, verhält sich gleichgültig sowohl gegenüber den staatlichen Privilegien der großrussischen Kapitalisten als auch gegenüber den Versprechungen der polnischen und ukrainischen Kapitalisten, die das Paradies auf Erden zu schaffen versprechen, wenn sie selbst staatliche Privilegien errungen haben werden. Die Entwicklung des Kapitalismus schreitet fort und wird fortschreiten sowohl in einem national bunt zusammengesetzten Staate als auch in getrennten Nationalstaaten.
In jedem Falle bleibt der Lohnarbeiter ein Objekt der Ausbeutung, und ein erfolgreicher Kampf gegen diese erfordert die Unabhängigkeit des Proletariats vom Nationalismus, sozusagen gänzliche Neutralität der Proletarier im Kampfe der Bourgeoisie verschiedener Nationen um den Vorrang. Die geringste Unterstützung der Privilegien der „eigenen“ nationalen Bourgeoisie durch das Proletariat irgendeiner Nation wird notwendigerweise das Misstrauen des Proletariats der anderen Nation hervorrufen, wird die internationale Klassensolidarität der Arbeiter schwächen und sie zur Freude der Bourgeoisie entzweien. Die Ablehnung des Selbstbestimmungs- oder Lostrennungsrechtes aber bedeutet in der Praxis notwendigerweise Unterstützung der Privilegien der herrschenden Nation.
Wir können uns davon noch anschaulicher überzeugen, wenn wir das konkrete Beispiel der Lostrennung Norwegens von Schweden heranziehen.
VI. Die Lostrennung Norwegens von Schweden
Rosa Luxemburg führt besonders dieses Beispiel an und knüpft daran die folgenden Betrachtungen:
„Das letzte Ereignis in der Geschichte der föderativen Beziehungen, die Lostrennung Norwegens von Schweden, die seinerzeit von der sozialpatriotischen polnischen Presse (siehe den Krakauer Naprzód) schleunigst als erfreuliche Äußerung der Kraft und Fortschrittlichkeit der Tendenz zur staatlichen Lostrennung aufgegriffen wurde, verwandelte sich alsbald in einen schlagenden Beweis dafür, dass der Föderalismus und die daraus entspringende staatliche Lostrennung keineswegs der Ausdruck von Fortschrittlichkeit oder Demokratie sind. Nach der sogenannten norwegischen ,Revolution‘, die in der Absetzung und Entfernung des schwedischen Königs aus Norwegen bestand, wählten sich die Norweger seelenruhig einen neuen König, nachdem sie den Plan, die Republik zu errichten, durch Volksabstimmung in aller Form abgelehnt hatten. Was die oberflächlichen Verehrer jeder nationalen Bewegung und jedes Scheins von Unabhängigkeit als ,Revolution‘ ausschrieen, war die einfache Äußerung eines bäuerlichen und kleinbürgerlichen Partikularismus, des Wunsches, für sein Geld auch einen ,eigenen‘ König zu besitzen anstatt eines durch die schwedische Aristokratie aufgezwungenen, war folglich eine Bewegung, die entschieden nichts mit Revolutionarismus gemeinsam hat. Zugleich hat diese Geschichte des Zerfalls der schwedisch-norwegischen Union von neuem bewiesen, bis zu welchem Grade auch in diesem Falle die bis dahin existierende Föderation nur der Ausdruck rein dynastischer Interessen und folglich eine Form des Monarchismus und der Reaktion war“ (Przegląd).
Das ist wortwörtlich alles, was Rosa Luxemburg über diesen Punkt sagt!! Und man muss gestehen, es wäre schwer, die Hilflosigkeit der eigenen Stellung plastischer auszudrücken, als es Rosa Luxemburg an diesem Beispiel getan hat.
Die Frage war und ist die, ob für die Sozialdemokraten in einem national bunt zusammengesetzten Staate ein Programm notwendig ist, das das Selbstbestimmungs- oder Lostrennungsrecht anerkennt.
.Was sagt uns über diese Frage das von Rosa Luxemburg selbst herangezogene Beispiel Norwegens?
Unsere Verfasserin dreht und wendet sich, sie witzelt und wettert gegen den „Naprzód“, aber die Frage beantwortet sie nicht!! Rosa Luxemburg spricht von allem möglichen, um nicht ein Wort über das Wesen der Frage zu sagen!!
Zweifellos offenbarten die norwegischen Kleinbürger, die für ihr Geld ihren eigenen König haben wollten und den Plan der Errichtung einer Republik durch die Volksabstimmung zu Falle brachten, überaus schlechte kleinbürgerliche Eigenschaften. Zweifellos hat der „Naprzód“ dadurch, dass er das nicht bemerkte, ebenso schlechte und ebenso kleinbürgerliche Qualitäten offenbart.
Aber was soll das alles?
Es war doch die Rede vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen und von der Stellung des sozialistischen Proletariats zu diesem Rechte! Warum antwortet Rosa Luxemburg nicht auf diese Frage, warum geht sie um sie herum wie die Katze um dem heißen Brei?
Man sagt, in den Augen der Maus sei die Katze das stärkste Raubtier. In den Augen Rosa Luxemburgs ist offenbar der „Frak“ das stärkste Raubtier. „Frak“ nennt man in der Volkssprache die „Polnische Sozialistische Partei“, die sogenannte revolutionäre Fraktion, und das Krakauer Blättchen „Naprzód“ teilt die Ideen dieser „Fraktion“. Der Kampf gegen dem Nationalismus dieser „Fraktion“ hat Rosa Luxemburg in dem Grade verblendet, dass sie außer dem „Naprzód“ alles aus den Augen verliert.
Wenn „Naprzód“ „ja“ sagt, hält Rosa Luxemburg es für ihre heilige Pflicht, unverzüglich „nein!“ zu rufen, und denkt gar nicht daran, dass sie durch diese Methode nicht ihre Unabhängigkeit vom „Naprzód“ sondern gerade das Gegenteil beweist: ihre lächerliche Abhängigkeit von den „Fraki“, ihre Unfähigkeit, die Dinge von einem etwas höheren und weiteren Gesichtspunkte als von der Krakauer Maulwurfperspektive aus anzusehen. Der „Naprzód“ ist gewiss ein sehr schlechtes und durchaus unmarxistisches Organ, aber das braucht uns nicht daran zu hindern, das Beispiel Norwegens in seinem Kern zu erfassen, wenn wir es schon einmal heranziehen.
Um das Beispiel Norwegens marxistisch zu erfassen, müssen wir nicht bei den schlechten Eigenschaften der schrecklich scheußlichen „Fraki“ verweilen, sondern 1. bei den konkreten historischen Besonderheiten der Lostrennung Norwegens von Schweden und 2. dabei, welcher Art die Aufgaben des Proletariats beider Länder bei dieser Lostrennung waren.
Norwegen ist mit Schweden durch geographische, ökonomische und sprachliche Bande verbunden, die nicht weniger eng sind als die zwischen vielen nicht großrussischen slawischen Nationen und den Großrussen. Aber die Vereinigung Norwegens mit Schweden war keine freiwillige, so dass Rosa Luxemburg ganz zu Unrecht von einer „Föderation“ spricht, einfach weil sie nicht weiß, was sie sagen soll. Die Monarchen haben zur Zeit der napoleonischen Kriege Norwegen gegen den Willen der Norweger an Schweden übergeben, und die Schweden mussten Truppen nach Norwegen schicken, um es sich zu unterwerfen.
Nachher gab es trotz der außerordentlich weitgehenden Autonomie, die Norwegen genoss (eigener Landtag usw.), im Verlauf langer Jahrzehnte ununterbrochen Reibungen zwischen Norwegen und Schweden, und die Norweger strebten mit allen Kräften danach, das Joch der schwedischen Aristokratie abzuwerfen. Im August 1905 warfen sie es endlich wirklich ab: der norwegische Landtag beschloss, dass der schwedische König aufgehört hat, König von Norwegen zu sein, und das nachher durchgeführte Referendum, die Befragung des norwegischen Volkes, ergab eine erdrückende Stimmenmehrheit (ungefähr 200.000 gegen einige Hundert) für die völlige Lostrennung von Schweden. Die Schweden fanden sich nach einigem Schwanken mit der Tatsache der Lostrennung ab.
Dieses Beispiel zeigt uns, auf welcher Grundlage Fälle einer Lostrennung von Nationen unter den heutigen ökonomischen und politischen Verhältnissen möglich sind und welche Form unter Umständen die Lostrennung bei politischer Freiheit und Demokratie annimmt.
Kein Sozialdemokrat wird, wenn er sich nicht für völlig uninteressiert an den Fragen der politischen Freiheit und der Demokratie erklären will (und in diesem Falle würde er selbstverständlich aufhören, Sozialdemokrat zu sein), leugnen können, dass dieses Beispiel faktisch beweist, dass es für die klassenbewusste Arbeiterschaft Pflicht ist, eine dahingehende systematische Propaganda und Vorbereitung zu betreiben, dass die wegen nationaler Lostrennungen möglichen Konflikte nur auf diese Weise erledigt werden, wie 1905 der Konflikt zwischen Norwegen und Schweden erledigt worden ist, nicht aber „auf russisch“. Gerade das wird durch die Forderung des Programms nach Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen zum Ausdruck gebracht. Und Rosa Luxemburg musste sich mit Hilfe grimmiger Angriffe gegen die Kleinbürgerlichkeit der norwegischen Kleinbürger und gegen den Krakauer „Naprzód“ um das für ihre Theorie unangenehme Faktum herumdrücken, denn sie begriff sehr wohl, in welchem Maße durch dieses historische Faktum ihre Phrasen, als sei das Selbstbestimmungsrecht der Nationen eine „Utopie“, als sei es dasselbe wie das Recht, „von goldenen Tellern zu essen“ usw., unwiderruflich widerlegt worden. Solche Phrasen sind nur der Ausdruck eines beschränkt-selbstgenügsamen opportunistischen Glaubens an die Unabänderlichkeit des bestehenden Kräfteverhältnisses zwischen den Nationalitäten Osteuropas.
Gehen wir weiter. In der Frage der Selbstbestimmung der Nationen wie in jeder anderen Frage interessiert uns vor allem und über alles die Selbstbestimmung des Proletariats innerhalb der Nationen. Rosa Luxemburg umging bescheidentlich auch diese Frage, in dem richtigen Gefühl, wie verhängnisvoll die Untersuchung dieser Frage an Hand des von ihr selbst angeführten Beispiels Norwegens für ihre „Theorie“ wäre.
Wie war die Stellung des norwegischen und des schwedischen Proletariats im Lostrennungskonflikt, und wie musste sie sein? Die klassenbewussten Arbeiter Norwegens hatten natürlich nach der Lostrennung für die Republik zu stimmenB, und wenn es Sozialisten gab, die anders stimmten, so zeigt das nur, wie viel stumpfsinniger, kleinbürgerlicher Opportunismus zuweilen noch im europäischen Sozialismus steckt. Darüber kann es nur eine Meinung geben, und wir erwähnen diesen Punkt nur deshalb, weil Rosa Luxemburg versucht, den Kern der Sache durch Gerede zu verwischen, das nicht zum Thema gehört. In der Lostrennungsfrage wissen wir nicht, ob das norwegische sozialistische Programm die norwegischen Sozialdemokraten verpflichtete, sich an eine bestimmte Meinung zu halten. Nehmen wir an, dass dem nicht so war, dass die norwegischen Sozialisten die Frage offen ließen, wie weit die Autonomie Norwegens für den freien Klassenkampf genügte und in welchem Grade die ewigen Reibungen und Konflikte mit der schwedischen Aristokratie die Freiheit des Wirtschaftslebens beeinträchtigten. Dass aber das norwegische Proletariat die Pflicht hatte, gegen diese Aristokratie und für die norwegische bäuerliche Demokratie einzutreten (trotz allen kleinbürgerlichen Beschränktheiten derselben), das ist unbestreitbar.
Und das schwedische Proletariat? Bekanntlich propagierten die schwedischen Gutsbesitzer, unterstützt von den schwedischen Pfaffen, den Krieg gegen Norwegen; und da Norwegen weit schwächer ist als Schweden, da es schon eine schwedische Invasion erlebt hat, da ferner die schwedische Aristokratie in ihrem Vaterlande sehr schwer ins Gewicht fällt, so bedeutete diese Propaganda eine sehr ernsthafte Bedrohung. Man kann sich dafür verbürgen, dass die schwedischen Kokoschkins die schwedischen Massen lange und eifrig korrumpiert haben durch Ermahnungen zum „vorsichtigen Umgehen“ mit den „dehnbaren Formeln der politischen Selbstbestimmung der Nationen“, durch Ausmalen des drohenden „Zerfalls des Staates“ und durch Predigten über die Vereinbarkeit der „Volksfreiheit“ mit dem System der schwedischen Aristokratie. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass die schwedische Sozialdemokratie sowohl die Sache des Sozialismus als auch die Sache der Demokratie verraten hätte, wenn sie nicht aus allen Kräften gegen die gutsbesitzerliche wie auch gegen die „Kokoschkinsche“ Ideologie und Politik angekämpft hätte, wenn sie nicht außer der Gleichberechtigung der Nationen, im allgemeinen (die auch von den Kokoschkins anerkannt wird) auch das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und die Lostrennungsfreiheit Norwegens verteidigt hätte.
Der enge Zusammenschluss der norwegischen und schwedischen Arbeiter, ihre vollkommene proletarische Klassensolidarität hat durch diese Anerkennung des norwegischen Lostrennungsrechtes durch die schwedischen Arbeiter gewonnen. Denn die norwegischen Arbeiter überzeugten sich so davon, dass die schwedischen Arbeiter nicht vom schwedischen Nationalismus, angesteckt sind und dass für sie die Verbrüderung mit den norwegischen Arbeitern hoher steht als die Privilegien der schwedischen Bourgeoisie und Aristokratie. Das Zerreißen der Bandes die die europäischen Monarchen und die schwedische Aristokratie Norwegen aufgezwungen haben, hat die Bande zwischen den norwegischen und den schwedischen Arbeitern gefestigt. Die schwedischen Arbeiter haben bewiesen, dass sie es verstehen werden, in allen Wandlungen der bürgerlichen Politik – auf dem Boden der bürgerlichen Verhältnisse ist eine neue gewaltsame Unterwerfung der Norweger unter die Schweden durchaus möglich! – die vollkommene Gleichberechtigung und Klassensolidarität der Arbeiter beider Nationen im Kampfe gegen die schwedische wie gegen die norwegische Bourgeoisie zu wahren und zu verteidigen.
Daraus ist unter anderem ersichtlich, wie unbegründet und überhaupt nicht ernst zu nehmen die von den „Fraki“ gelegentlich unternommenen Versuche sind, unsere Meinungsverschiedenheiten mit Rosa Luxemburg gegen die polnische Sozialdemokratie „auszunützen“. Die „Fraki“ sind keine proletarische, keine sozialistische, sondern eine kleinbürgerlich-nationalistische Partei, eine Art polnischer Sozialrevolutionäre. Vom einer Einigkeit der russischem Sozialdemokraten mit dieser Partei war nie die Rede und konnte niemals die Rede sein. Dagegen hat kein Marxist Russlands je die Annäherung und Vereinigung mit den polnischen Sozialdemokraten „bereut“. Der polnischen Sozialdemokratie gebührt das ungeheure Verdienst, als erste in dem mit nationalistischen Strömungen und Leidenschaften ganz durchsetzten Polen eine wirklich marxistische, wirklich proletarische Partei geschaffen zu haben, Aber dieses Verdienst der polnischen Sozialdemokraten ist ein großes Verdienst nicht dank dem Umstand, dass Rosa Luxemburg gegen den § 9 des russischen marxistischen Programms Unsinn geredet hat, sondern trotz diesem bedauerlichen Umstande.
Gewiss ist für die polnischen Sozialdemokraten das „Selbstbestimmungsrecht“ nicht von so hoher Bedeutung wie für die russischen. Es ist vollkommen verständlich, dass der Kampf gegen das nationalistisch verblendete Kleinbürgertum Polens die polnischen Sozialdemokraten zwang, mit besonderem (manchmal vielleicht ein klein wenig übermäßigem) Eifer den „Bogen zu überspannen“. Es hat auch kein einziger russischer Marxist je daran gedacht, gegen die polnischen Sozialdemokraten den Vorwurf zu erheben, dass sie gegen die Lostrennung Polens seien. Diese Sozialdemokraten begehen nur dann einen Fehler, wenn sie – wie Rosa Luxemburg – versuchen, die Notwendigkeit der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes im Programm der russischen Marxisten zu bestreiten.
Das heißt, im Grunde genommen, dass man die Verhältnisse, wie sie am Krakauer Horizont erscheinen, als Maßstab für alle Völker und Nationen Russlands nimmt, darunter auch für die Großrussen. Das heißt, dass man zwar das Gegenteil eines „polnischen Nationalisten“, aber nicht ein russischer, ein internationaler Sozialdemokrat ist.
Denn die internationale Sozialdemokratie steht ausdrücklich auf dem Boden der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Darauf wollen wir denn auch jetzt zu sprechen kommen.
VII. Die Resolution des Londoner internationalen Kongresses von 1896
Dieser Beschluss lautet:
„Der Kongress erklärt, dass er für volles Selbstbestimmungsrecht aller Nationen eintritt und mit den Arbeitern jedes Landes sympathisiert, das gegenwärtig unter dem Joch des militärischen, nationalen oder anderen Despotismus leidet. Er fordert die Arbeiter aller dieser Länder auf, in die Reihen der klassenbewussten Arbeiter der ganzen Welt zu treten, um mit ihnen gemeinsam für die Überwindung des internationalen Kapitalismus und die Durchsetzung der Ziele der internationalen Sozialdemokratie zu kämpfen.“C
Wie wir schon aufgezeigt haben, wissen unsere Opportunisten, die Herren Semkowski, Libman, Jurkewitsch, schlechterdings nichts von diesem Beschluss. Rosa Luxemburg aber kennt und zitiert seinen vollen Text, der denselben Ausdruck enthält wie unser Programm: „Selbstbestimmung“.
Es fragt sich nun, wie Rosa Luxemburg dieses Hindernis beseitigt, das ihrer „originellen“ Theorie im Wege steht?
Ganz einfach:… der Schwerpunkt liegt hier im zweiten Teil der Resolution … ihr deklaratorischer Charakter, nur durch Missverständnis kann man sich auf sie berufen!!
Die Hilflosigkeit und Kopflosigkeit unserer Verfasserin ist einfach erstaunlich! Gewöhnlich weisen auf den deklaratorischen Charakter konsequent demokratischer und sozialistischer Programmpunkte nur die Opportunisten hin, die einer direkten Polemik gegen diese Punkte feige ausweichen. Offenbar erwies sich Rosa Luxemburg diesmal nicht ohne Grund in der betrüblichen Gesellschaft der Herren Semkowski, Libman, und Jurkewitsch. Rosa Luxemburg kann sich nicht entschließen, geradeheraus zu erklären, ob sie die angeführte Resolution für richtig oder für falsch hält. Sie windet und versteckt sich, als rechnete sie auf einen so unaufmerksamen oder unwissenden Leser, der den ersten Teil der Resolution vergisst, ehe er den zweiten gelesen hat, oder der von den Debatten in der sozialistischen Presse vor dem Londoner Kongress niemals etwas gehört hat.
Aber Rosa Luxemburg irrt sehr, wenn sie sich einbildet, dass es ihr vor den klassenbewussten Arbeitern Russlands so leicht gelingen wird, die Resolution der Internationale in einer wichtigen grundsätzlichen Frage mit Füßen zu treten, ohne sie auch nur einer kritischen Untersuchung zu würdigen.
In den Debatten vor dem Londoner Kongress – hauptsächlich auf den Seiten der deutschen marxistischen Zeitschrift „Die Neue Zeit“ – ist der Standpunkt Rosa Luxemburgs dargelegt worden, und dieser Standpunkt hat vor der Internationale im wesentlichen eine Niederlage erlitten!
Darin liegt der Kern der Sache, den besonders der russische Leser im Auge behalten muss.
Die Debatten wurden über die Frage der Unabhängigkeit Polens geführt. Drei Standpunkte wurden geäußert:
1. Der Standpunkt der „Fraki“, in deren Namen Häcker auftrat. Sie wollten, dass die Internationale in ihrem Programm die Forderung der polnischen Unabhängigkeit anerkenne. Dieser Vorschlag wurde nicht angenommen. Dieser Standpunkt erlitt vor der Internationale eine Niederlage.
2. Der Standpunkt Rosa Luxemburgs: Die polnischen Sozialisten sollen nicht die Unabhängigkeit Polens fordern. Von einer Verkündung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen konnte von diesem Standpunkt aus überhaupt nicht die Rede sein. Auch dieser Standpunkt erlitt vor der Internationale eine Niederlage.
3. Der Standpunkt, den damals am ausführlichsten Karl Kautsky entwickelte, der gegen Rosa Luxemburg auftrat und die äußerste „Einseitigkeit“ ihres Materialismus nachwies. Die Internationale könne heute nicht die Unabhängigkeit Polens in ihr Programm aufnehmen, aber die polnischen Sozialisten – sagte Kautsky – könnten eine solche Forderung durchaus vorbringen. Vom sozialistischen Standpunkte aus sei es absolut falsch, unter den Verhältnissen nationaler Unterdrückung die Aufgaben der nationalen Befreiung zu ignorieren.
In der Resolution der Internationale wurden denn auch die wesentlichsten, grundlegendsten Thesen dieses Standpunktes reproduziert: einerseits die absolut direkte, keinerlei schiefe Auslegung zulassende Anerkennung des vollen Selbstbestimmungsrechts für alle Nationen; anderseits die ebenso unzweideutige Aufforderung an die Arbeiter zur internationalen Vereinigung ihres Klassenkampfes.
Wir glauben, dass diese Resolution vollständig richtig ist und dass für die Länder Osteuropas und Asiens am Anfang des 20. Jahrhunderts gerade diese Resolution, und zwar im unzertrennbaren Zusammenhang ihrer beiden Teile, der proletarischen Klassenpolitik in der nationalen Frage die einzig richtige Direktive gibt.
Verweilen wir etwas ausführlicher bei den drei oben angeführten Standpunkten.
Es ist bekannt, dass Karl Marx und Friedrich Engels die aktive Unterstützung der Forderung der Unabhängigkeit Polens als eine absolute Verpflichtung der gesamten westeuropäischen Demokratie und erst recht der Sozialdemokratie betrachteten Für die vierziger und sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die Epoche der bürgerlichen Revolution in Österreich und Deutschland und der „Bauernreform“ in Russland, war dieser Standpunkt vollkommen richtig und allein konsequent demokratisch und proletarisch. Solange die Volksmassen in Russland und in den meisten slawischen Ländern noch in ungestörtem Schlummer lagen, solange es in diesen Ländern noch keine selbständigen demokratischen Massenbewegungen gab, solange war die Freiheitsbewegung der Schlachtschitzen in Polen von ungeheurer, erstrangiger Bedeutung nicht nur vom Gesichtspunkte der gesamtrussischen und der gesamten slawischen, sondern auch vom Gesichtspunkte der gesamten europäischen Demokratie ausD.
Aber wenn auch dieser Marxsche Standpunkt für das zweite Drittel oder das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts vollständig richtig war, so hat er im 20. Jahrhundert aufgehört, richtig zu sein. In der Mehrheit der slawischen Länder und sogar in einem der rückständigsten slawischen Länder, in Russland, sind selbständige demokratische Bewegungen und sogar eine selbständige proletarische Bewegung erwacht. Das Polen, der Schlachtschitzen ist verschwunden und hat seinen Platz an das kapitalistische Polen abgetreten. Unter diesen Umständen musste Polen seine ausschließliche revolutionäre Bedeutung verlieren.
Wenn die PPS (die „Polnische Sozialistische Partei“, die jetzigen „Fraki“) im Jahre 1896 versuchte, den in einer anderen Epoche in Geltung gewesenen Marxschen Standpunkt „festzulegen“, so bedeutete das schon ein Ausspielen des Buchstabens des Marxismus gegen den Geist des Marxismus. Daher hatten die polnischen Sozialdemokraten vollkommen recht, als sie gegen die nationalistische Begeisterung des polnischen Kleinbürgertums auftraten, die sekundäre Bedeutung der nationalen Frage für die polnischen Arbeiter aufzeigten, als erste eine rein proletarische Partei in Polen schufen und das überragend wichtige Prinzip des engsten Bündnisses des polnischen Arbeiters mit dem russischen in ihrem Klassenkampfe verkündeten.
Bedeutete das aber, dass die Internationale am Anfang des 20. Jahrhunderts das Prinzip der politischen Selbstbestimmung oder das Lostrennungsrecht der Nationen für Osteuropa und Asien für überflüssig erklären durfte? Das wäre eine ungeheure Absurdität gewesen, die (theoretisch) einer Anerkennung der Vollendung der bürgerlich-demokratischen Umgestaltung des türkischen, russischen, chinesischen Staates und (praktisch) einem opportunistischen Verhalten gegenüber dem Absolutismus gleichkäme.
Nein. In der Epoche der bereits begonnenen bürgerlich-demokratischen Revolutionen, in der Epoche des Erwachens und der Zuspitzung nationaler Bewegungen, in der Epoche des Entstehens selbständiger proletarischer Parteien muss die Aufgabe dieser Parteien in Osteuropa und Asien in der nationalen Politik eine zweifache sein: Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes für alle Nationen, denn die bürgerlich-demokratische Umgestaltung ist noch nicht vollendet, denn die proletarische Demokratie verteidigt konsequent, ernsthaft und aufrichtig, nicht auf liberale, nicht auf Kokoschkinsche Art, die Gleichberechtigung der Nationen – und das engste, unzertrennbare Bündnis im Klassenkampfe der Proletarier aller Nationen innerhalb des gegebenen Staates in allen und jeglichen Wandlungen seiner Geschichte, bei allen und jeglichen Grenzänderungen der verschiedenen Staaten durch die Bourgeoisie.
Gerade diese doppelte Aufgabe des Proletariats wird in der Resolution der Internationale von 1896 formuliert. Gerade von dieser Art ist in ihren prinzipiellen Grundlagen die Resolution der Sommerberatung der russischen Marxisten von 1913. Es gibt Leute, denen es „widerspruchsvoll“ erscheint, dass diese Resolution in ihrem vierten Punkte durch die Anerkennung des Selbstbestimmungs- und Lostrennungsrechtes. dem Nationalismus sozusagen ein Maximum „gibt“ (in Wirklichkeit bedeutet die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes für alle Nationen ein Maximum an Demokratie und ein Minimum an Nationalismus), im fünften Punkte aber die Arbeiter vor den nationalistischen Losungen jedweder Bourgeoisie warnt und die Vereinigung und Verschmelzung der Arbeiter aller Nationen in international einheitlichen proletarischen Organisationen fordert. Hierin einen „Widerspruch“ sehen können aber nur ganz flache Geister, die z. B. nicht begreifen, wieso die Einheit und die Klassensolidarität der schwedischen und norwegischen Arbeiter gewannen, als die schwedischen Arbeiter die freie Lostrennung Norwegens als eines selbständigen Staates durchsetzten.
VIII. Der Utopist Karl Marx und die praktische Rosa Luxemburg
Während sie die Unabhängigkeit Polens für eine „Utopie“ erklärt und dies bis zum Überdruss wiederholt, ruft Rosa Luxemburg ironisch aus: Warum nicht die Forderung der Unabhängigkeit Irlands aufstellen?
Offenbar ist es der „praktischen“ Rosa Luxemburg unbekannt, wie sich Karl Marx zur Frage der Unabhängigkeit Irlands verhalten hat. Hierbei muss man verweilen, um die Analyse einer konkreten Forderung nach nationaler Unabhängigkeit vom wirklich marxistischen und nicht opportunistischen Standpunkte aus aufzuzeigen.
Marx hatte die Gewohnheit, den ihm bekannten Sozialisten, wie er sich ausdrückte, „auf den Zahn zu fühlen“, sie auf ihr Bewusstsein und ihre Überzeugung zu prüfen. Nachdem er Lopatin kennengelernt hatte, schrieb er am 5. Juli 1870 an Engels ein im höchsten Grade schmeichelhaftes Urteil über den jungen russischen Sozialisten, fügte aber hinzu:
„Schwacher Punkt: Polen. Hier spricht er ganz wie ein Engländer – say an English Chartist of the old school“ [d. h. ein englischer Chartist der alten Schule] – „von Irland.“
Marx befragt einen Sozialisten, der einer Unterdrückernation angehört, nach seiner Stellung zu der unterdrückten Nation und legt sofort den den Sozialisten der herrschenden Nationen (der englischen und der russischen) gemeinsamen Fehler bloß: Unverständnis für ihre sozialistischen Pflichten gegenüber den unterdrückten Nationen, Wiederkäuen der von der „Großmacht“-Bourgeoisie übernommenen Vorurteile.
Ehe wir zu den positiven Erklärungen Marxens über Irland übergehen, muss vorausgeschickt werden, dass sich Marx und Engels zur nationalen Frage im Allgemeinen, streng kritisch verhielten und sie nach ihrer bedingt historischen Bedeutung einschätzten. So schrieb Engels am 23. Mai 1851 an Marx, dass er durch das Studium der Geschichte in der polnischen Frage zu pessimistischen Schlüssen gekommen sei, dass die Bedeutung Polens eine zeitlich begrenzte sei und aufhören werde, wenn Russland in die agrarische Revolution hineingerissen sein wird. Die Rolle der Polen in der Geschichte sei „tapfere, krakeelsüchtige Dummheit“.
„Auch nicht ein einziger Moment ist anzugeben, wo Polen, selbst nur gegen Russland, den Fortschritt mit Erfolg repräsentierte oder irgend etwas von historischer Bedeutung tat.“
Russland habe viel mehr Elemente der Zivilisation, der Bildung, der Industrie, der Bourgeoisie als das „chevaleresk-bärenhäuternde Polen“. „Was ist Warschau und Krakau gegen Petersburg, Moskau, Odessa usw!“ Engels glaubt nicht an den Erfolg polnischer Adelsaufstände.
Aber alle diese Gedanken, in denen so viel genialer Scharfsinn steckt, haben Engels und Marx nicht im Geringsten gehindert, zwölf Jahre später, als Russland immer noch schlief, Polen aber in Flammen stand, den tiefsten und glühendsten Anteil an der polnischen Bewegung zu nehmen.
Im Jahre 1864, als er die Inauguraladresse für die Internationale verfasste, schrieb Marx an Engels (am 4. November 1864), dass man gegen den Mazzinischen Nationalismus kämpfen müsse.
„Soweit in der Adresse die International Politics“ [internationale Politik] „vorkommt, spreche ich von countries“ [Ländern], „nicht von nationalities“ [Nationalitäten] „und denunziere Russland, nicht die minores gentium“ [die Kleineren, weniger Bedeutenden] – schrieb Marx.
Im Vergleich mit der „Arbeiterfrage“ unterlag die untergeordnete Bedeutung der nationalen Frage für Marx keinem Zweifel. Aber von einer Ignorierung der nationalen Bewegung ist seine Theorie himmelweit entfernt.
Es kam das Jahr 1866. Marx schreibt an Engels über die „Proudhon-Clique“ in Paris: diese
„erklärt … Nationalitäten für Unsinn, attackiert Bismarck und Garibaldi usw. Als Polemik gegen den Chauvinismus ist ihr Treiben nützlich und erklärlich. Aber als Proudhongläubige (meine hiesigen sehr guten Freunde Lafargue und Longuet gehören auch dazu), die meinen, ganz Europa müsse und werde still auf dem Arsch sitzen, bis die Herren in Frankreich ,La misère et l’ignorance'“ [Elend und Unwissenheit] „abgeschafft, … sind sie grotesk.“ (Brief vom 7. Juni 1866.)
„Gestern – schreibt Marx am 20. Juni 1866 – war im International Council“ [Generalrat] „Debatte über die jetzige Kriegssache …Die Diskussion was wound up“ [wurde aufgerollt], „wie vorherzusehen, mit der ,question of nationality‘ [Nationalitätenfrage] überhaupt und der Stellung, die wir dazu einnehmen … Übrigens rückten die (Nichtarbeiter) Repräsentanten der jeune France‘ “ (des jungen Frankreichs] „damit heraus, dass alle Nationalität und Nationen selbst ,des prejuges surannés'“ [veraltete Vorurteile] „sind. Proudhonisierter Stirnerianismus … die ganze Welt wartet, bis die Franzosen reif sind, eine soziale Revolution zu machen… Die Engländer lachten sehr, als ich meinen speech“ [meine Rede] „damit eröffnete, dass unser Freund Lafargue etc., der die Nationalitäten abgeschafft hat, uns französisch‘, i. e. in einer Sprache angeredet, die 9/10 des Auditoriums nicht verstand. Ich deutete weiter an, dass gänzlich unbewusst er unter Negation der Nationalitäten ihre Absorption in die französische Musternation zu verstehen scheine.“
Die SchlussfoIgerung aus allen, diesen kritischen Bemerkungen Marxens ist klar; die Arbeiterklasse darf sich am allerwenigsten aus der nationalen Frage einen Fetisch machen, denn die Entwicklung des Kapitalismus erweckt nicht unbedingt alle Nationen zu selbständigem Leben. Aber wenn einmal nationale Massenbewegungen entstanden sind, bedeutet die Abwendung von ihnen, die Weigerung, das Fortschrittliche in ihnen zu unterstützen, in Wirklichkeit die Kapitulation vor ,nationalistischen Vorurteilen; vor allem die Anerkennung des Vorurteils, die „eigene“ Nation sei eine „Musternation“ (oder, fügen wir hinzu, eine Nation, die das ausschließliche Vorrecht auf staatliche Konstituierung besitzt)E.
Aber kehren war zur irischem Frage zurück.
Marx‘ Stellung zu dieser Frage kommt am klarsten in den folgenden Briefstellen zum Ausdruck:
„Diese Demonstration der englischen Arbeiter für Fenianism“ [Fenianismus] „habe ich auf alle Art zu provozieren gesucht … Ich habe früher Trennung Irlands von England für unmöglich gehalten. Ich halte sie jetzt für unvermeidlich, obgleich nach der Trennung Federation“ [Föderation] „kommen mag.“
So schrieb Marx im dem Briefe an Engels vom 2. November 1867.
Im Briefe vom 30. November desselben Jahres fügte er hinzu:
„Fragt sich nun, was sollen wir den englischen Arbeitern raten? Nach meiner Ansicht müssen sie Repeal“ [Sprengung] „der Union“ (Irlands von, England, d. h. die Lostrennung Irlands von England)2 (kurz den Witz von 1783, nur demokratisiert und den Zeitumständen angepasst) „zu einem Artikel ihres Pronunziamento machen. Es ist dies die einzige legale und daher einzig mögliche Form der irischen Emanzipation, die in das Programm einer englischen Partei aufgenommen werden kann. Die Erfahrung muss später zeigen, ob die bloße Personalunion zwischen den 2 Ländern fort existieren könnte …
Was die Irländer brauchen, ist:
1. Selbstregierung und Unabhängigkeit von England.
2. Agrarische Revolution“ …
Marx, der der irischen Frage ungeheure Wichtigkeit zuschrieb, hielt in einem Londoner deutschen Arbeiterverein einen anderthalbstündigen Vortrag über dieses Thema. (Brief vom 17. Dezember 1867.)
Engels erwähnt in seinem Brief vom 20. November 1868 den „Hass gegen die Irländer unter den englischen Arbeitern“, aber kaum ein Jahr später (24. Oktober 1869) schreibt er, auf dasselbe Thema zurückkommend:
„Von Irland nach Russland il n’y a qu’un pas“ [ist nur ein Schritt] … „An der irischen Geschichte kann man sehen, welch ein Pech es für ein Volk ist, wenn es ein anderes unterjocht hat. Alle englischen Schweinereien haben ihren Ursprung in der irischen Pale3„. „Die Cromwellsche Zeit muss ich noch ochsen, so viel aber scheint mir gewiss, dass die Sache auch in England eine andere Wendung genommen, wenn nicht in Irland die Notwendigkeit gewesen, militärisch zu herrschen und eine neue Aristokratie zu schaffen.“
Erwähnen wir beiläufig auch den Brief von Marx an Engels vom 18. August 1869.
„In Posen – wie Zabieki anzeigte – haben die polnischen Arbeiter {Zimmerleute etc.) siegreich einen strike“ [Streik] „beendet durch Hilfe ihrer Berliner Kollegen. Dieser Kampf gegen Monsieur le Capital – selbst in der untergeordneten Form des strike – wird anders mit den nationalen Vorurteilen fertig als die Friedensdeklamationen der Herrn Bourgeois.“
Welche Politik in der irischen Frage Marx innerhalb der Internationale verfolgte, ist aus dem Folgenden ersichtlich:
Am 18. November 1869 schrieb Marx an Engels, dass er im Generalrat der Internationale eine Rede von ungefähr fünfviertel Stunden über das Verhalten des britischen Ministeriums zur Frage der Amnestierung der Iren gehalten und dazu die folgende Resolution4 vorgeschlagen habe:
„Der Generalrat beschließt:
dass Mr. Gladstone in seiner Antwort auf die irischen Forderungen nach Freilassung der eingekerkerten irischen Patrioten … bewusst die irische Nation beleidigt;
dass er die politische Amnestie an Bedingungen knüpft, die in gleicher Weise die Opfer der Missregierung und das Volk, dem sie angehören, herabwürdigen;
dass er, der trotz seiner verantwortlichen Stellung öffentlich und begeistert die Rebellion der amerikanischen Sklavenhalter begrüßte, jetzt beginnt, dem irischen Volk die Lehre des passiven Gehorsam zu predigen;
dass sein ganzes Vorgehen in der irischen Amnestiefrage das wahre und echte Produkt jener Eroberungspolitik ist, durch deren feurige Anprangerung Herr Gladstone seine Tory-Nebenbuhler aus dem Amt trieb;
dass der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation der mutigen, festen und hochherzigen Art, in der das irische Volk seine Amnestiebewegung betreibt, seine Bewunderung ausdrückt;
dass diese Beschlüsse allen Sektionen der Internationalen Arbeiterassoziation und den mit ihr verbundenem Arbeitervereinen in Europa und Amerika mitgeteilt werden sollen.“
Am 10. Dezember 1869 schreibt Marx, dass er seine Ausführungen über die irische Frage im Generalrat der Internationale folgendermaßen vorbringen werde:
„ … ganz abgesehen von aller ,internationalen‘ und „humanen‘ justice for Irland Phrase“ [,Gerechtigkeit für Irland‘-Phrase], – „die sich im international Council“ [Generalrat des internationalen Arbeiterassoziation] „von selbst versteht, – ist es das direkte absolute Interesse der English Working Class“ [englischen Arbeiterklasse], „to get rid of their present connexion with Ireland“ [ihren gegenwärtigen Zusammenhang mit Irland loszuwerden]. „Und dies ist meine vollste Überzeugung, und aus Gründen, die ich teilweise den englischen Arbeitern selbst nicht mitteilen kann. Ich habe lange geglaubt, es sei möglich, das irische Regime durch English Working Class ascendancy“ [steigenden Einfluss der englischen Arbeiterklasse] „zu stürzen. Ich habe stets diese Ansicht in der New-York Tribüne (amerikanische Zeitung, an der Marx mitarbeitete5) vertreten. Tieferes Studium hat mich nun vom Gegenteil überzeugt. Die English Working Class“ [englische Arbeiterklasse] „wird nie was ausrichten, before it has got rid of Ireland“ [bevor sie Irland losgeworden ist]. „Der Hebel muss in Irland angelegt werden … die englische Reaktion in England (wie zu Cromwells Zeit) wurzelte in der Unterjochung Irlands.“ (Sperrungen von Marx.)
Hiernach muss dem Leser die Stellung Marxens zur irischen Frage vollkommen klar sein.
Der „Utopist“ Marx ist so „unpraktisch“ dass er für die Lostrennung Irlands eintritt, die auch ein halbes Jahrhundert später nicht verwirklicht war. Was hat diese Marxsche Politik hervorgerufen, und war sie nicht ein Fehler?
Anfangs hatte Marx geglaubt, dass nicht die nationale Bewegung der unterdrückten. Nation, sondern die Arbeiterbewegung innerhalb der Unterdrückernation Irland befreien werde. Marx macht aus den nationalen Bewegungen nichts Absolutes, denn er weiß, dass nur der Sieg der Arbeiterklasse volle Befreiung aller Nationalitäten bewirken kann. Alle möglichen Wechselbeziehungen zwischen den bürgerlichen Freiheitsbewegungen der unterdrückten Nationen und der proletarischen Freiheitsbewegung innerhalb der Unterdrückernation im Vorhinein zu berechnen (das ist gerade das Problem, das die nationale Frage im heutigen Russland so schwierig macht), ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Aber die Umstände fügten sich so, dass die englische Arbeiterklasse auf ziemlich lange Zeit unter den Einfluss der Liberalen geriet, ihr Anhängsel wurde und durch eine liberale Arbeiterpolitik sich selbst enthauptete. Die bürgerliche Freiheitsbewegung in Irland erstarkte und nahm revolutionäre Formen an. Marx revidiert seinen Standpunkt und berichtigt ihn. „Welch ein Pech für ein Volk, wenn es ein anderes unterjocht hat.“ Die englische Arbeiterklasse wird sich nicht befreien, solange Irland nicht von der englischen Unterdrückung befreit sein wird! Die Reaktion in England erstarkt und nährt sich von der Versklavung Irlands (so wie sich die Reaktion in Russland von der Versklavung einer ganzen Reihe von Nationen nährt I).
Marx bringt in der Internationale seine Sympathieresolution für die „irische Nation“, das „irische Volk“ zur Annahme (der gescheite L. Wl. hätte den armen Marx wahrscheinlich in Grund und Boden verurteilt, weil er den Klassenkampf vergesse!) und propagiert die Lostrennung Irlands von England, „obgleich nach der Trennung Föderation kommen mag“.
Welches sind die theoretischen Prämissen dieses Marxschen Schlusses? In England ist die bürgerliche Revolution überhaupt längst beendet. Aber in Irland ist sie noch nicht beendet; sie wird erst jetzt, ein halbes Jahrhundert später, durch die Reformen der englischen Liberalen vollendet. Wäre der Kapitalismus in England so schnell gestürzt worden, wie Marx anfangs erwartete, so wäre in Irland für eine bürgerlich-demokratische, allgemein-nationale Bewegung kein Raum gewesen. Nachdem diese nun aber einmal entstanden war, riet Marx den englischen Arbeitern, sie zu unterstützen, ihr einen revolutionären Anstoß zu geben und sie im Interesse ihrer eigenen Freiheit zu Ende zu führen.
Die ökonomische Verbindung Irlands mit England in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war gewiss noch enger als die Verbindung Russlands mit Polen, der Ukraine usw. Das „Unpraktische“ und die „Undurchführbarkeit“ der Lostrennung Irlands (schon infolge der geographischen Verhältnisse und infolge der unermesslichen Kolonialmacht Englands) fiel in die Augen. Obwohl grundsätzlicher Gegner des Föderalismus, will Marx doch in diesem Falle sogar einer FöderationF zustimmen, wenn nur die Befreiung Irlands nicht auf reformistischem, sondern auf revolutionärem Wege vor sich geht, kraft der Bewegung der Volksmassen in Irland, unterstützt von der englischen Arbeiterklasse. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass nur eine solche Lösung der geschichtlichen Aufgabe für die Interessen des Proletariats und die Schnelligkeit der gesellschaftlichen Entwicklung am günstigen wäre.
Es kam anders. Sowohl das irische Volk als auch das englische Proletariat erwiesen sich als zu schwach. Erst jetzt wird die irische Frage auf Grund eines elenden Kuhhandels der englischen Liberalen mit der irischen Bourgeoisie (und das Beispiel Ulsters zeigt, wie schwerfällig) durch Bodenreform (mit Loskauf) und Autonomie (die immer noch nicht eingeführt ist) gelöst. Was heißt das? Folgt daraus, dass Marx und Engels „Utopisten“ waren, dass sie „nicht zu verwirklichende“ nationale Forderungen stellten, dass sie dem Einfluss der irischen kleinbürgerlichen Nationalisten unterlagen (der kleinbürgerliche Charakter der Fenierbewegung steht fest) usw.?
Nein. Auch in der irischen Frage verfolgten Marx und Engels eine konsequent proletarische Politik, die die Massen wirklich im Geist der Demokratie und des Sozialismus erzog. Nur diese Politik war geeignet, sowohl Irland als auch England zu erlösen von dem fünfzigjährigen Verschleppen der notwendigen Umgestaltungen und von der Entstellung dieser Umgestaltungen durch die Liberalen zugunsten der Reaktion.
Die Politik von Marx und Engels in der irischen Frage gab das gewaltigste, auch heute noch ungeheure praktische Bedeutung besitzende Musterbeispiel dafür, wie sich das Proletariat der Unterdrückernationen zu irrationalen Bewegungen zu verhalten hat; sie gab eine Warnung vor jener „knechtischen. Eilfertigkeit“, mit der die Kleinbürger aller Länder, Farben und Sprachen jede Veränderung der durch die Gewaltpolitik und die Privilegien der Grundherren und der Bourgeoisie einer Nation geschaffenen Staatsgrenzen als „utopisch“ bezeichnen.
Wenn das irische und das englische Proletariat sich die Marxsche Politik nicht zu eigen und die Lostrennung Irlands nicht zu ihrer Losung gemacht hätten, so wäre das ihrerseits der schlimmste Opportunismus, eine Vernachlässigung der Aufgaben von Demokraten und Sozialisten und eine Konzession an die englische Reaktion und Bourgeoisie gewesen.
IX. Das Programm von 1903 und seine Liquidatoren
Das Protokoll des Parteitages von 1903, auf dem das Programm der russischen Marxisten angenommen wurde, ist zur größten Seltenheit geworden, und die ungeheure Mehrzahl der heute in der Arbeiterbewegung Tätigen weiß nichts von der Begründung der einzelnen Programmpunkte (um so weniger, als bei weitem nicht alle hierhergehörende Literatur den Segen der Legalität genießt…). Daher ist eine Untersuchung der Art und Weise, wie die uns interessierende Frage auf dem Parteitage von 1903 behandelt wurde, unumgänglich notwendig.
Wir bemerken vorweg, dass man aus der russischen sozialdemokratischen Literatur über das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, so dürftig sie ist, doch ganz klar ersehen kann, dass dieses Recht immer im Sinne des Lostrennungsrechtes aufgefasst wurde. Die Herren Semkowski, Libman, Jurkewitsch, die das bezweifeln, die den § 9 als „unklar“ bezeichnen usw., sprechen nur aus völliger Unwissenheit oder Unbekümmertheit von „Unklarheit“. Schon im Jahre 1902 schrieb Plechanow in der „Sarja“, als er für das „Selbstbestimmungsrecht“ im Programmentwurf eintrat, dass diese Forderung für die bürgerlichen Demokraten nicht verbindlich, „für die Sozialdemokraten aber verbindlich“ sei.
„Wenn wir sie außer acht ließen oder uns nicht entschließen könnten, sie zu erheben“ – schrieb Plechanow –, „aus Furcht, die nationalen Vorurteile unserer Zeitgenossen großrussischer Nation zu verletzen, so würde in unserem Munde der Ruf ,Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‘ zur schändlichen Lüge werden.“
Das ist eine sehr treffende Charakteristik des Hauptargumentes für den zur Betrachtung stehenden Programmpunkt, so treffend, dass unsere „die Anverwandtschaft vergessenden“ Programmkritiker sie nicht ohne Grund immer ängstlich umgangen haben und umgehen. Die Lossagung von diesem Programmpunkt, mit welchen Motiven man sie auch verhüllen möge, bedeutet in Wirklichkeit eine „schändliche“ Konzession an den großrussischen Nationalismus. Warum an den großrussischen, wo doch vom Selbstbestimmungsrecht aller Nationen die Rede ist? Weil wir von der Lostrennung von den Großrussen sprechen. Das Interesse der Vereinigung der Proletarier, das Interesse ihrer Klassensolidarität fordert die Anerkennung des Lostrennungsrechtes der Nationen – das ist es, was vor vierzehn Jahren Plechanow in den zitierten Worten feststellte; wenn sie darüber nachgedacht hätten, so hätten unsere Opportunisten wahrscheinlich nicht so viel Unsinn über die Selbstbestimmung geredet.
Auf dem Parteitage von 1903, wo dieser von Plechanow vertretene Programmentwurf bestätigt wurde, konzentrierte sich die Hauptarbeit in der Programmkommission. Ein Protokoll wurde darüber leider nicht geführt. Und doch wäre es gerade in diesem Punkte besonders interessant, denn nur in der Kommission versuchten die Vertreter der polnischen Sozialdemokraten, Warschawski und Hanecki, ihre Ansichten zu vertreten und die „Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes“ zu bekämpfen. Ein Leser, der ihre Argumente (in der Rede Warschawskis und in seiner und Haneckis Erklärung, S. 134–136 und S. 388–390 der Parteiprotokolle) mit den Argumenten Rosa Luxemburgs in ihrem von uns zergliederten polnischen Aufsatz vergleichen wollte, würde finden, dass sie vollkommen identisch sind.
Wie verhielt sich zu diesen Argumenten die Programmkommission des 2. Parteitags, wo vor allem Plechanow den polnischen Marxisten entgegentrat? Man hat über diese Argumente grausam gelacht! Die Torheit des Ansinnens an die russischen Marxisten, die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes zu streichen, wurde so klar und anschaulich dargetan, dass die polnischen Marxisten sich nicht einmal entschlossen, ihre Argumente vor dem Plenum des Parteitags zu wiederholen!! Sie verließen den Parteitag, da sie sich von der Hoffnungslosigkeit ihrer Stellung vor der höchsten Versammlung der russischen wie der jüdischen, georgischen und armenischen Marxisten überzeugt hatten.
Diese historische Episode hat selbstverständlich eine sehr wichtige Bedeutung für jeden, der sich für sein Programm ernsthaft interessiert. Die völlige Zerschlagung der Argumente der polnischen Marxisten in der Programmkommission des Parteitags und ihr Verzicht auf den Versuch, ihre Ansichten in der Vollversammlung des Parteitags zu vertreten, sind außerordentlich bedeutsame Tatsachen. Nicht ohne Grund schwieg Rosa Luxemburg in ihrem Aufsatz vom Jahre 1908 darüber „bescheiden“ – offenbar war ihr die Erinnerung an den Parteitag schon gar zu unangenehm! Sie schwieg auch von dem geradezu lächerlich missglückten Antrag, den § 9 des Programms zu „verbessern“, den Warschawski und Hanecki 1903 im Namen aller polnischen Marxisten stellten und den zu wiederholen weder Rosa Luxemburg noch die anderen polnischen Sozialdemokraten sich je entschlossen haben (noch entschließen werden).
Wenn aber Rosa Luxemburg, um ihre Niederlage vom Jahre 1903 zu verbergen, von diesen Tatsachen schwieg, so werden sich doch Leute, die an der Geschichte ihrer Partei interessiert sind, darum kümmern, diese Tatsachen zu erfahren und ihre Bedeutung zu ergründen.
„… Wir beantragen – schrieben die Freunde Rosa Luxemburgs an den Parteitag von 1903, als sie ihn verließen –, dem 7. (jetzt 9.) Abschnitt des Programmentwurfes die folgende Fassung zu geben: § 7: Einrichtungen, die allen zum Staatsverband gehörigen Nationen volle Freiheit der kulturellen Entwicklung garantieren.“ (Protokoll, S. 390.)
So traten damals die polnischen Marxisten mit derartig unbestimmten Anschauungen über die nationale Frage hervor, dass sie anstatt der Selbstbestimmung eigentlich nichts anderes beantragen als ein Pseudonym für die berüchtigte national-kulturelle Autonomie“!
Das klingt fast unglaublich, aber es ist leider Tatsache. Auf dem Parteitage selbst fand sich, obwohl dort 5 Bundisten mit 5 Stimmen und 3 Kaukasier mit 6 Stimmen – nicht gerechnet die beratende Stimme Kostrows – anwesend waren, nicht eine einzige Stimme für die Beseitigung des Punktes über die Selbstbestimmung. Für die Ergänzung dieses Punktes durch die „national-kulturelle Autonomie“ (für die Formel Goldblatts: „Schaffung von Einrichtungen, die den Nationen volle Freiheit der kulturellen Entwicklung gewährleisten“) sprachen sich drei und für die Libersche Formel („Recht auf ihre der Nationen – Freiheit der kulturellen Entwicklung“) vier Stimmen aus.
Jetzt, wo eine russische liberale Partei, die Partei der Konstitutional-Demokraten, entstanden ist, wissen wir, dass in ihrem Programm die politische Selbstbestimmung der Nationen durch die „kulturelle Selbstbestimmung“ ersetzt ist. Die polnischen Freunde Rosa Luxemburgs haben also ihren „Kampf“ gegen den Nationalismus der PPS mit dem Erfolg geführt, dass sie beantragt haben, das marxistische Programm gegen das liberale einzutauschen! Und dabei beschuldigten sie gleichzeitig unser Programm des Opportunismus – ist es da verwunderlich, dass in der Programmkommission des zweiten Parteitags diese Bezichtigung nur Gelächter hervorrief?!
In welchem Sinne wurde die „Selbstbestimmung“ von den Delegierten des zweiten Parteitags verstanden, von denen, wie wir gesehen haben, kein einziger gegen die „Selbstbestimmung der Nationen“ war?
Davon legen die drei folgenden Auszüge aus dem Protokoll Zeugnis ab:
„Martynow ist der Ansicht, dass man dem Wort Selbstbestimmung nicht eine in weitem Sinne gehaltene Auslegung geben darf; es bedeutet nur das Recht der Nationen auf Absonderung in einem besonderen politischen Ganzen, keineswegs gebietsweise Selbstverwaltung.“ (S. 171.)
Martynow war Mitglied der Programmkommission, in der die Argumente der Freunde Rosa Luxemburgs widerlegt und ausgelacht wurden. Nach seinen Anschauungen war Martynow damals Ökonomist, ein heftiger Gegner der „Iskra“, und falls er eine Meinung geäußert hätte, die von der Mehrheit der Programmkommission nicht geteilt wurde, so wäre ihm gewiss widersprochen worden.
Als nach der Kommissionsarbeit der § 7 (jetzt § 9) auf dem Parteitage besprochen wurde, nahm als erster der Bundist Goldblatt das Wort.
„Gegen das ,Selbstbestimmungsrecht’“ – sagte Goldblatt – „kann man unmöglich etwas einwenden. Falls irgendeine Nation für ihre Selbständigkeit kämpft, kann man sich nicht dagegenstellen. Wenn Polen keine Lust hat, in eine gesetzliche Ehe mit Russland einzutreten, so soll man es nicht stören, wie sich Gen. Plechanow ausgedrückt hat. In diesem Rahmen stimme ich seiner Ansicht zu.“ (S. 175-176.)
Plechanow nahm im Plenum des Parteitags überhaupt nicht das Wort zu diesem Punkte. Goldblatt bezieht sich auf die Worte Plechanows in der Programmkommission, wo das „Selbstbestimmungsrecht“ ausführlich und populär im Sinne des Lostrennungsrechts erläutert wurde. Liber, der nach Goldblatt sprach, bemerkte:
.Natürlich, wenn irgendeine Nationalität nicht imstande ist, innerhalb der Grenzen des russischen Staates zu leben, so wird ihr die Partei keine Hindernisse in den Weg legen.“ (S. 176.)
Der Leser sieht, dass auf dem zweiten Parteitage, wo das Programm angenommen wurde, nur eine Meinung darüber bestand dass Selbstbestimmung „nur“ das Recht auf Lostrennung bedeutet. Selbst die Bundisten machten sich damals diese Wahrheit zu eigen, und nur in unserer traurigen Zeit der sich hinziehenden Konterrevolution und aller Art von „Resignation“ haben sich dummdreiste Leute gefunden, die das Programm als „unklar“ bezeichnen. Aber ehe wir unsere Zeit diesen traurigen „Auch-Sozialdemokraten“ widmen, wollen wir mit der Stellung der Polen zum Programm zu Ende kommen.
Sie kamen auf dem zweiten Parteitag (von 1903) mit einer Erklärung über die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Einigung. Aber sie verließen den Parteitag nach ihrem „Missgeschick“ in der Programmkommission, und ihr letztes Wort war eine schriftliche Erklärung, die im Parteitagsprotokoll abgedruckt ist und den obenerwähnten Vorschlag enthält, die Selbstbestimmung durch die „national-kulturelle Autonomie“ zu ersetzen.
Im Jahre 1906 traten die polnischen Marxisten in die Partei ein, wobei sie weder bei ihrem Eintritt noch später auch nur ein einziges Mal (weder auf dem Parteitag von 1907 noch auf den Konferenzen von 1907 und 1908 oder im Plenum von 1910) einen einzigen Antrag auf Abänderung des § 9 des russischen Programms einbrachten!!
Das ist Tatsache.
Und diese Tatsache beweist trotz aller Phrasen und Beteuerungen anschaulich, dass die Freunde Rosa Luxemburgs die Debatten über diese Frage in der Programmkommission des zweiten Parteitags und die Entschließung dieses Parteitags für erschöpfend hielten, dass sie schweigend ihren Fehler einsahen und ihn wieder gutmachten, als sie 1906, nach ihrem Verlassen des Parteitags im Jahre 1903, in die Partei eintraten, ohne jemals den Versuch zu machen, auf dem Parteiwege die Frage einer Revision des § 9 aufzurollen.
Der Aufsatz Rosa Luxemburgs erschien, von ihr unterschrieben, im Jahre 1908 – selbstverständlich ist es noch nie einem Menschen auch nur in den Sinn gekommen, das Recht der Parteischriftsteller auf Kritik des Programms zu bestreiten –, und nach diesem Aufsatz hat ebenfalls keine einzige offizielle Instanz der polnischen Marxisten die Frage einer Revision des § 9 aufgeworfen.
Daher erweist Trotzki manchen Verehrern Rosa Luxemburgs einen wahren Bärendienst, wenn er in Nr. 2 der „Borjba“ (März 1914) im Namen der Redaktion schreibt:
„… Die polnischen Marxisten sind der Ansicht, dass das „Recht auf nationale Selbstbestimmung“ jedes politischen Gehalts absolut bar und aus dem Parteiprogramm zu entfernen ist“ (S. 25).
Der dienstfertige Trotzki ist gefährlicher als ein, Feind6! Anderswoher als aus „Privatgesprächen“ (d. h. einfach aus Klatsch, von dem Trotzki immer lebt) konnte er nicht Beweise dafür sammeln, dass die „polnischen Marxisten“ überhaupt mit jedem Artikel Rosa Luxemburgs übereinstimmen. Trotzki hat die „polnischen Marxisten“ als Leute ohne Ehre und Gewissen hingestellt, die nicht einmal ihre Überzeugung und das Programm ihrer Partei zu achten imstande sind. Der dienstfertige Trotzki!
Als die Vertreter der polnischen Marxisten im Jahre 1903 wegen des Selbstbestimmungsrechtes den zweiten Parteitag verließen, damals konnte Trotzki sagen, dass sie dieses Recht für gehaltlos und für reif zur Entfernung aus dem Programm hielten.
Aber hernach traten die polnischen Marxisten in die Partei ein, die dieses Programm hatte, und stellten keinen einzigen Antrag auf seine ÜberprüfungG.
Warum hat Trotzki diese Tatsachen den Lesern seiner Zeitschrift verschwiegen? Nur deshalb, weil es für ihn vorteilhaft ist, auf die Entfachung von Differenzen zwischen den polnischen und den russischen Gegnern der Liquidatoren zu spekulieren und die russischen Arbeiter in der Programmfrage zu betrügen.
Noch niemals, noch in keiner ernsthaften Frage des Marxismus hatte Trotzki feste Meinungen, immer „kroch er in die Risse und Spalte“ dieser oder jener Meinungsdifferenzen und lief dabei von einer Seite auf die andere. Im gegenwärtigen Augenblick befindet er sich in der Gesellschaft der Bundisten und Liquidatoren. Diese Herren aber machen mit der Partei nicht viel Umstände.
Man höre den Bundisten Libman:
„Als die russische Sozialdemokratie“ – schreibt dieser Gentleman – „vor 15 Jahren den Punkt über das Recht jeder Nationalität auf ,Selbstbestimmung‘ in ihr Programm aufnahm, da fragte sich jedermann (!!), was denn eigentlich dieser Mode-(!!) Ausdruck heißen sollte! Darauf gab es keine Antwort (!!). Dies Wort blieb (!!) in Nebel gehüllt. Tatsächlich war es damals schwer, diesen Nebel zu zerstreuen. Die Zeit ist noch nicht gekommen, wo man diesen Punkt konkretisieren könnte – sagte man uns damals –, möge er jetzt im Nebel (!!) bleiben, das Leben selbst wird zeigen, welcher Inhalt in diesen Punkt hineinzulegen ist.“
Ist es nicht großartig, wie sich dieser „Junge ohne Hosen“ über das Parteiprogramm lustig macht? Und warum macht er sich lustig?
Nur darum, weil er ein vollendeter Ignorant ist, der nichts gelernt und nicht einmal ein bisschen in der Parteigeschichte gelesen hat, sondern einfach in einen Kreis von Liquidatoren geraten ist, wo es „zum guten Ton gehört“, in Fragen der Partei und des Parteilebens nackt dazustehen.
Bei Pomjalowski7 prahlt der Schüler des Priesterseminars damit, dass er „ins Krautfass gespuckt“ hat8. Die Herren Bundisten sind weitergegangen, Sie lassen die Libmänner los, damit diese Gentlemen öffentlich in ihr eigenes Fass spucken. Dass es einen gewissen Beschluss eines internationalen Kongresses gegeben hat, dass auf dem Parteitage der eigenen Partei zwei Vertreter des eigenen „Bundes“ (und was für „strenge“ Kritiker und entschiedene Gegner der „Iskra“ sie waren!) vollkommen imstande waren, den Sinn der „Selbstbestimmung“ zu verstehen, und ihr sogar zustimmten – was geht das alles die Herren Libmänner an? Und wird es nicht leichter sein, die Partei zu liquidieren, wenn die „Parteischriftsteller“ (nicht lachen!) mit der Parteigeschichte und dem Parteiprogramm auf Seminaristenart umgehen werden?
Dann gibt es einen zweiten „Jungen ohne Hosen“, den Herrn Jurkewitsch von dem „Dswin“. Herr Jurkewitsch hatte wahrscheinlich die Protokolle des zweiten Parteitags in Händen, denn er zitiert die von Goldblatt übernommenen Worte Plechanows und zeigt sich mit der Tatsache vertraut, dass Selbstbestimmung nur das Recht auf Lostrennung bedeuten kann. Aber das hindert ihn nicht, unter dem ukrainischen Kleinbürgertum gegen die russischen Marxisten die Verleumdung zu verbreiten, sie träten für die „staatliche Einheit“ Russlands ein (1913, Nr. 7–8, S. 83 u. a.). Gewiss konnten sich die Herren Jurkewitsch zur Entfremdung der ukrainischen Demokratie von der großrussischen nichts Geeigneteres ausdenken als diese Verleumdung. Diese Entfremdung aber liegt auf der Linie der ganzen Politik der Literatengruppe um den „Dswin“, die die Abtrennung der ukrainischen Arbeiter au einer besonderen nationalen Organisation propagiertH.
Einer Gruppe nationalistischer Kleinbürger, die das Proletariat spalten – denn das ist die objektive Rolle des „Dswin“ – kam es natürlich durchaus zu, heillose Verwirrung über die nationale Frage zu verbreiten. Es versteht sich von selbst, dass die Herren Jurkewitsch und Libman – die „furchtbar“ gekränkt sind, wenn man von ihnen sagt, dass sie „an. der Peripherie der Partei“ stehen – kein Wort, buchstäblich nicht ein einziges Wörtlein darüber sagten, wie sie denn im Programm die Frage des Lostrennungsrechtes entscheiden möchten.
Und nun der dritte und wichtigste „Junge ohne Hosen“, Herr Semkowski, der auf den Blättern der liquidatorischen Zeitung vor dem großrussischen Publikum den § 9 des Programms in Grund und Boden donnert und gleichzeitig erklärt, dass er „auf Grund von mancherlei Erwägungen nicht den Vorschlag teilt“, dass dieser Paragraph entfernt werden müsse!!
Unglaublich, aber wahr.
Im August 1912 rollt die Liquidatorenkonferenz offiziell die nationale Frage auf. Anderthalb Jahre lang kein einziger Aufsatz, außer dem Aufsatz des Herrn Semkowski über die Frage des § 9. Und in diesem Aufsatz bekämpft der Autor das Programm, aber er „teilt auf Grund von mancherlei“ (wohl ein geheimes Leiden?) „Erwägungen nicht“ den Vorschlag, es zu verbessern!! Man kann garantieren, dass sich auf der ganzen Welt nicht leicht Beispiele von solchem Opportunismus und von Schlimmerem als Opportunismus, von Lossagung von der Partei, von Liquidierung der Partei finden lassen.
Was für Argumente Semkowski vorbringt, dafür genügt ein Beispiel:
„Wie wäre es“ – schreibt er –, „wenn das polnische Proletariat gewillt wäre, im Rahmen eines Staates den gemeinsamen Kampf mit dem ganzen russischen Proletariat zu führen, die reaktionären Klassen der polnischen Gesellschaft dagegen Polen von Russland trennen wollten und bei einem Referendum (allgemeiner Volksbefragung) die Mehrheit der Stimmen für die Trennung gewännen: müssten wir russischen Sozialdemokraten im Zentralparlament zusammen mit unseren polnischen Genossen gegen Lostrennung, oder, um das Selbstbestimmungsrecht‘ nicht zu verletzen, für die Lostrennung stimmen?“ („Nowaja Rabotschaja Gaseta“, Nr. 71.)
Hieraus ersieht man, dass Herr Semkowski nicht einmal versteht, wovon die Rede ist! Er hat nicht daran gedacht, dass das Selbstbestimmungsrecht die Entscheidung der Frage gerade nicht durch das zentrale Parlament, sondern nur durch das Parlament (Landtag, Referendum und dgl.) des sich lostrennenden Gebietes voraussetzt.
Durch das kindische Bedenken „Wie wäre es“, wenn in der Demokratie die Mehrheit für die Reaktion wäre, wird die Frage der wirklichen, echten, lebendigen Politik verschleiert, wo sowohl die Purischkjewitsch als auch die Kokoschkin schon den bloßen Gedanken an Lostrennung für verbrecherisch halten! Das Proletariat ganz Russlands muss wohl heute nicht den Kampf gegen die Purischkjewitsch und Kokoschkin, sondern, ihnen ausweichend, gegen die reaktionären Klassen Polens führen!!!
Und dergleichen unglaublicher Quatsch steht im Organ der Liquidatoren, in welchem Herr L. Martow einer der ideellen Führer ist. Derselbe L. Martow, der den Programmentwurf verfasst und ihn im Jahre 1903 zur Annahme gebracht hat, der auch später noch für die Freiheit der Lostrennung schrieb9. L. Martow urteilt jetzt offenbar nach der Regel:
Dafür ist kein Kluger nötig,
Read ist zu geh’n erbötig.
Lasset ihn nur zieh’n10.
Er lässt Read-Semkowski ziehen und erlaubt ihm, in einer Tageszeitung, vor Schichten neuer Leser, die unser Programm nicht kennen, es zu verdrehen und endlose Verwirrung zu stiften!
Ja, ja, das Liquidatorentum ist weit gekommen – vom Parteigeist ist bei sehr vielen sogar einst angesehenen Sozialdemokraten jede Spur verschwunden.
Rosa Luxemburg kann man gewiss nicht Libman, Jurkewitsch oder Semkowski gleichstellen, aber die Tatsache, dass sich gerade solche Leute an ihre Fehler klammern, beweist besonders anschaulich, welchem Opportunismus sie verfallen ist.
X. Schluss
Ziehen wir das Fazit.
Vom Standpunkte der marxistischen Theorie im Allgemeinen bietet die Frage des Selbstbestimmungsrechts keine Schwierigkeiten. Ernsthaft kann weder von einer Anfechtung der Londoner Resolution von 1896 die Rede sein, noch darüber gestritten werden, dass unter Selbstbestimmung nur das Lostrennungsrecht zu verstehen oder dass die Bildung selbständiger Nationalstaaten eine Tendenz aller bürgerlich-demokratischen Umwälzungen ist.
Schwierigkeiten entstehen bis zu einem gewissen Grade dadurch, dass in Russland das Proletariat der unterdrückten Nationen und das Proletariat der Unterdrückernation Seite an Seite kämpften und kämpfen müssen. Die Einheit des proletarischen Klassenkampfes für den Sozialismus zu wahren, allen bürgerlichen und reaktionären Einflüssen des Nationalismus Widerstand zu leisten – darin besteht die Aufgabe. Bei den unterdrückten Nationen ruft die Absonderung des Proletariats zu einer selbständigen Partei mitunter einen so erbitterten Kampf gegen den Nationalismus der betreffenden Nation hervor, dass sich die Perspektive verzerrt und man den Nationalismus der Unterdrückernationen vergisst.
Aber eine solche Verzerrung der Perspektive ist nur für kurze Zeit möglich. Die Erfahrung des gemeinsamen Kampfes der Proletarier verschiedener Nationen zeigt zu klar, dass wir die politischen Fragen nicht vom „Krakauer“ sondern vom gesamtrussischen Gesichtspunkte aus stellen müssen. In der gesamtrussischen Politik aber herrschen die Purischkjewitsch und Kokoschkin. Ihre Ideen herrschen, ihre Hetze gegen die Fremdstämmigen wegen ihres „Separatismus“, wegen ihrer Gedanken an die Lostrennung wird in der Duma, in den Schulen, in den Kirchen, in den Kasernen, in Hunderten und Tausenden von Zeitungen propagiert und getrieben. Dieses großrussische Gift des Nationalismus vergiftet die politische Atmosphäre ganz Russlands. Das „Pech“ des Volkes, das andere Völker unterjocht, stärkt die Reaktion in ganz Russland. Die Erinnerungen an die Jahre 1849 und 1863 bilden eine lebendige politische Tradition, die, wenn nicht Stürme von sehr großen Dimensionen dazwischen kommen, noch für lange Jahrzehnte jede demokratische und besonders jede sozialdemokratische Bewegung zu erschweren droht.
Wie natürlich auch mitunter der Standpunkt mancher Marxisten aus den unterdrückten Nationen scheinen mag (deren „Pech“ mitunter in der Verblendung der Bevölkerungsmassen durch die Ideen „ihrer“ nationalen Befreiung besteht), so ist doch zweifellos in Wirklichkeit, infolge der objektiven Klassenverhältnisse in Russland, die Ablehnung der Verfechtung des Selbstbestimmungsrechts gleichbedeutend mit dem schlimmsten Opportunismus, einer Ansteckung des Proletariats durch die Ideen der Kokoschkins. Diese Ideen aber sind im Grunde die Ideen und die Politik der Purischkjewitsch.
Wenn also der Gesichtspunkt Rosa Luxemburgs anfänglich noch als spezifisch polnische, „Krakauer“ Beschränktheit der AuffassungIentschuldigt werden konnte, so wird heute, wo der Nationalismus, und besonders der großrussische Regierungsnationalismus, überall erstarkt ist, wo er die Politik lenkt, eine solche Beschränktheit der Auffassung einfach unverzeihlich. Tatsächlich klammern sich an sie die Opportunisten aller Nationen, die die Idee der „Stürme“ und „Sprünge“ fliehen, die bürgerlich-demokratische Umwälzung für beendet erklären und dem Kokoschkinschen Liberalismus nachstreben.
Der großrussische Nationalismus durchläuft wie jeder Nationalismus verschiedene Phasen, je nach der Vorherrschaft dieser oder jener Klassen in einem bürgerlichen Lande. Bis 1905 kannten wir fast nur Nationalreaktionäre. Nach der Revolution kamen: bei uns die Nationalliberalen auf.
Auf diesem Standpunkte stehen bei uns tatsächlich sowohl die Oktobristen als auch die Kadetten (Kokoschkin), d. h. die ganze heutige Bourgeoisie.
Weiter aber wird die Entstehung der großrussischen Nationaldemokraten unvermeidlich. Einer der Gründer der „volkssozialistischen“ Partei, Herr Peschechonow, brachte diesen Standpunkt schon zum Ausdruck, als er (im Augustheft des „Russkoje Bogatstwo“ für 1906) zur Vorsicht gegenüber den nationalistischen Vorurteilen des Bauern ermahnte. Wie sehr man uns, die Bolschewiki, auch wegen der „Idealisierung“ des Bauern verleumdet hat, so haben wir doch immer streng unterschieden und werden unterscheiden zwischen dem bäuerlichen Urteil und dem bäuerlichen Vorurteil, zwischen der demokratischen Haltung der Bauern gegen Purischkjewitsch und dem Bestreben der Bauern, mit den Pfaffen und Gutsbesitzern in Frieden zu leben.
Mit dem Nationalismus der großrussischen Bauern muss die proletarische Demokratie schon jetzt rechnen (nicht im Sinne von Konzessionen sondern im Sinne des Kampfes), und sie wird mit ihm vermutlich noch ziemlich lange zu rechnen habenJ. Das Erwachen des Nationalismus bei den unterdrückten Nationen, das sich nach 1905 so stark zeigte (wir erinnern nur an die Gruppe der „Föderations-Autonomisten“ in der ersten Duma, an das Anwachsen der ukrainischen Bewegung, der muselmanischen Bewegung usw.), wird unvermeidlich ein Erstarken das Nationalismus beim großrussischen Kleinbürgertum in Stadt und Land erzeugen. Je langsamer die demokratische Umgestaltung Russlands vor sich gehen wird, um so hartnäckiger, gröber und erbitterter werden die nationale Hetze und der nationale Zank zwischen den Bourgeoisien der verschiedenen Nationen sein. Der besonders reaktionäre Charakter der russischen Purischkjewitsch wird dabei bei diesen oder jenen unterdrückten Nationen, die manchmal in den Nachbarstaaten weit größere Freiheit genießen, „separatistische“ Strömungen hervorrufen (und verstärken).
Diese Lage der Dinge stellt das Proletariat Russlands vor eine zweifache oder, richtiger, zweiseitige Aufgabe: Kampf gegen jeden Nationalismus und in erster Linie gegen den großrussischen Nationalismus; Anerkennung nicht nur der vollen Gleichberechtigung aller Nationen im Allgemeinen sondern auch der Gleichberechtigung für staatliche Konstituierung, d. h. des Rechtes der Nationen auf Selbstbestimmung, auf Lostrennung; und gleichzeitig damit, gerade im Interesse des erfolgreichen Kampfes gegen jeglichen Nationalismus aller Nationen, eintreten für die Einheit des proletarischen Kampfes und der proletarischen Organisationen, für ihre engste Verschmelzung zu einer internationalen Gemeinschaft, den bürgerlichen Bestrebungen nach nationaler Absonderung zum Trotz.
Volle Gleichberechtigung der Nationen; Selbstbestimmungsrecht der Nationen.; Verschmelzung der Arbeiter aller Nationen – dieses nationale Programm lehrt die Arbeiter der Marxismus, lehrt sie die Erfahrung der ganzen Welt und die Erfahrung Russlands.
Der Aufsatz war schon gesetzt, als ich Nr. 3 der „Nascha Rabotschaja Gaseta“ erhielt, wo Herr Wl. Kossowski über die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts für alle Nationen schreibt11:
„Da es mechanisch aus der Resolution des I. Parteitags (1898) übernommen war, der es seinerseits den Resolutionen der internationalen sozialistischen Kongresse entlehnt hatte, wurde es vom Parteitag 1903, wie aus den Debatten ersichtlich ist, in dem Sinne aufgefasst, den die sozialistische Internationale ihm gegeben hatte: im Sinne der politischen Selbstbestimmung, d. h. der Selbstbestimmung der Nationen in der Richtung der politischen Selbständigkeit, Also berührt die Formel der nationalen Selbstbestimmung, die das Recht auf territoriale Absonderung bezeichnete, überhaupt nicht die Frage, wie innerhalb eines bestimmten staatlichen Organismus die nationalen Beziehungen für jene Nationalitäten zu regeln sind, die aus dem bestehenden Staate nicht austreten wollen oder können.“
Hieraus ist ersichtlich, dass Herr Wl. Kossowski die Protokolle des zweiten Parteitages von 1903 in Händen hatte und den wirklichen (und einzigen) Sinn des Begriffes der Selbstbestimmung sehr wohl kennt. Daneben stelle man die Tatsache, dass die Redaktion der bundistischen Zeitung „Zait“ Herrn Libman loslässt, sich über das Programm lustig zu machen und es als unklar zu bezeichnen!! Merkwürdige „Partei“-Sitten bei den Herren Bundisten… Weshalb Kossowski die Annahme der Selbstbestimmung durch den Kongress eine mechanische Übertragung nennt, das „weiß Allah“. Es gibt eben Leute, die „widersprechen wollen“; was, wie, warum, wozu, das ist ihnen gleichgültig.
A Einem gewissen L. Wl. aus Paris scheint dieses Wort unmarxistisch. Dieser L. Wl. ist erheiternd „superklug“. Der „superkluge“ L. Wl. schickt sich offenbar an, eine Untersuchung über die Ausmerzung der Worte „Bevölkerung“, „Volk“ usw. aus unserem Minimalprogramm (vom Standpunkt des Klassenkampfes!) auszuarbeiten. [Lenin meint hier den Artikel von L. Wl. (L. Wladimirow) in Nr. 5 der Zeitung „Sa Partiju“ unter der Überschrift „Die Sommer-Beratung des ZK mit den Parteifunktionären“. L. Wl. kritisierte die Resolution der „Sommer“-Beratung zur nationalen Frage, und zwar jenen Teil, in dem es heißt, dass die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen „nicht nur von den Grundprinzipien der internationalen Demokratie im Allgemeinen, sondern auch von der Sache der Befreiung der großrussischen Bevölkerung selbst gefordert wird“, die nicht imstande ist, einen demokratischen Staat zu errichten, wenn nicht der großrussische reaktionäre Nationalismus ausgerottet wird; L. Wl. schrieb: „Die Sozialdemokratische Partei Russlands tritt an diese oder jene politische Frage vom Standpunkte des Proletariats Russlands aus heran und nicht vom Standpunkte der großrussischen Bevölkerung aus. Unsere Partei wird selbstverständlich aus allen Kräften gegen den reaktionären großrussischen Nationalismus kämpfen, aber sie wird nicht den gewaltigen Schaden jedwedes anderen Nationalismus vergessen.“]
1 Das richtige Wort „Zarismus“ musste wegen der Zensur vermieden werden, denn der Aufsatz wurde in einer legalen Zeitschrift veröffentlicht. Die Red.
B Wenn die Mehrheit der norwegischen Nation für die Monarchie, das Proletariat aber für die Republik war, so standen dem norwegischen Proletariat, allgemein gesprochen, zwei Wege offen: entweder die Revolution, wenn die Verhältnisse dazu reif waren, oder die Unterordnung unter die Mehrheit und dauernde Propaganda und Agitation.
C Vergl. den offiziellen deutschen Bericht über den Londoner Kongress: „Verhandlungen und Beschlüsse des internationalen sozialistischen Arbeiter- und Gewerkschaftskongresses zu London, vom 27. Juli bis 1. August 1896″, Berlin 1897, S. 18. Es gibt eine russische Broschüre mit den Beschlüssen der internationalen Kongresse, wo anstatt „Selbstbestimmung“ fälschlich „Autonomie“ übersetzt ist.
D Es wäre eine außerordentlich interessante historische Arbeit, einen Vergleich zu ziehen zwischen dem Standpunkt eines polnischen aufständischen Schlachtschitzen von 1863, dem Standpunkt des russischen revolutionären Demokraten Tschernyschewski, der auch (ähnlich wie Marx) die Bedeutung der polnischen Bewegung zu schätzen verstand, und schließlich der Stellung des viel später hervorgetretenen ukrainischen Kleinbürgers Dragomanow, der den Standpunkt des Bauers zum Ausdruck brachte – eines Bauers, der noch so weit barbarisch, verschlafen, an seinem Misthaufen festgewachsen war, dass er aus berechtigtem Hass gegen den polnischen Pan die Bedeutung des Kampfes dieser Pane für die gesamtrussische Demokratie nicht begreifen konnte. (Vergl. „Das historische Polen und die gesamtrussische Demokratie“ von Dragomanow.) Dragomanow verdiente ganz und gar die begeisterten Küsse, mit denen ihn späterhin der schon zum Nationalliberalen gewordene Herr P. B. Struve belohnte.
E Vergl. noch den Brief Marxens an Engels vom 3. Juni 1867: „Mit wahrem Vergnügen aus der Pariser Korrespondenz der Times‘ die polenfreundlichen Exklamationen der Pariser wider Alex[ander] etc. ersehen. Herr Proudhon und seine kleine doktrinäre Clique sind nicht das French people“ [französische Volk]. Die Red.
2 Von Lenin hinzugefügt. Die Red.
3 Der der englischen Herrschaft unterworfene Teil Irlands (bis zum Jahre 1672, wo Irland vollständig unter die englische Herrschaft geriet). Die Red.
4 Der Resolutionsentwurf ist von Marx in englischer Sprache abgefasst. Die Red.
5 Zusatz Lenins. Die Red.
F Übrigens ist leicht zu begreifen, weshalb vom sozialdemokratischen Standpunkte aus unter „Selbstbestimmung“ der Nationen weder eine Föderation noch bloße Autonomie verstanden werden kann (obwohl, abstrakt gesprochen, das eine so gut wie das andere unter den Begriff „Selbstbestimmung“ fällt). Das Recht auf Föderation ist überhaupt Unsinn, denn eine Föderation ist eine Abmachung zwischen zwei Vertragspartnern. Die Marxisten können unmöglich die Verteidigung des Föderalismus schlechthin in ihr Programm aufnehmen; davon kann gar nicht die Rede sein. Was die Autonomie anbelangt, so verteidigen die Marxisten nicht „das Recht auf die Autonomie“, sondern die Autonomie selbst als allgemeines Universalprinzip eines demokratischen Staatswesens mit national bunt zusammengesetzter Bevölkerung und scharfen Unterschieden in den geographischen usw. Verhältnissen. Daher wäre es ebenso unsinnig, das „Recht der Nationen auf Autonomie“ wie das „Recht der Nationen auf Föderation“ anzuerkennen.
6 Anspielung auf das Sprichwort: „Ein dienstfertiger Narr ist gefährlicher als ein Feind“. Die Red.
G Man teilt uns mit, dass die polnischen Marxisten an der Beratung der russischen Marxisten im Sommer 1913 nur mit beratender Stimme teilgenommen, sich in der Frage des Rechtes auf Selbstbestimmung (auf Lostrennung) überhaupt der Stimme enthalten und sich überhaupt gegen dieses Recht ausgesprochen haben. Selbstverständlich hatten sie das volle Recht, so vorzugehen und wie früher in Polen gegen dessen Lostrennung zu agitieren. Aber das ist nicht ganz das, wovon Trotzki spricht, denn die „Entfernung des § aus dem Programm“ haben die polnischen Marxisten nicht gefordert.
7 Figur aus einer Satire Schtschedrin-Saltykows, Die Red.
8 Es handelt sich um den Seminaristen Ipse („Er selbst“) aus dem Werk Pomjalowskis „Skizzen aus einem Priesterseminar“, in welchem das Leben in den russischen Priesterseminaren geschildert wird.
H Vergl. besonders die Vorrede des Herrn Jurkewitsch zu dem Buch von Lewinski „Nariss roswitku ukrainskoho robitnitschoho ruchu w Galitschini“, Kiiw 1914. (Abriss der Entwicklung der ukrainischen Arbeiterbewegung ins Galizien, Kiiw 19.14. Die Red.)
9 Martow schrieb in dem nicht gezeichneten Leitartikel in Nr. 66 der „Iskra“ vom 15. Mai 1904 unter der Überschrift „Der revolutionäre Nationalismus und die Sozialdemokratie“ über die Beschlüsse der im April 1904 in Genf abgehaltenen „ersten Konferenz der georgischen revolutionären Fraktionen“: „Damit, dass die Sozialdemokratie für die freie Selbstbestimmung aller vom Zarismus unterdrückten Nationen agitiert, verpflichtet sie sich, stets und überall auf der Seite der Nationen zu stehen, die für ihre Befreiung kämpfen.“
Was die Forderung der national-kulturellen Autonomie anbelangt, so schrieb Martow hierüber indirekt in dem Artikel „Zur revolutionären Rezeptur“ in Nr. 107 der „Iskra“ vom 29. Juli 1905. Nachdem Martow Liquidator geworden war, schrieb er im Jahre 1913 in Nr. 10/11 der „Nascha Sarja“ in dem Artikel „Die Spaltung in der sozialdemokratischen Fraktion“ über die national-kulturelle Autonomie schon anders. In diesem Artikel suchte er nachzuweisen, dass die SDAPR diese Forderung nicht als ihrem Programm widersprechend betrachtet habe, denn sie habe 1906 auf dem IV. Parteitag den „Bund“ in ihre Reihen aufgenommen. Er schrieb: „Dass die Forderung staatlicher Einrichtungen, die die volle Entwicklung der nationalen Kultur gewährleisten, dem Programm der Sozialdemokratie prinzipiell nicht widerspricht, davon zeugt schon das Verhalten der österreichischen Arbeiterpartei und besonders Otto Bauers dieser Forderung gegenüber.“
10 Ein angeblich von L. Tolstoi verfasstes Spottlied auf den General Read aus der Zeit des Krimkrieges. Die Red.
I Es ist unschwer zu verstehen, dass die Anerkennung des Rechtes der Nationen auf Lostrennung durch die Marxisten ganz Russlands und in erster Linie durch die großrussischen keineswegs die Agitation der Marxisten dieser oder jener unterdrückten Nation gegen die Lostrennung ausschließt, so wie die Zuerkennung des Rechtes auf Ehescheidung nicht die Agitation gegen die Scheidung in diesem oder jenem Falle ausschließt. Wir glauben daher, dass unvermeidlich die Zahl der polnischen Marxisten wachsen wird, die über einen nicht bestehenden „Widerspruch“ lachen werden, der von Semkowski und Trotzki jetzt „aufgewärmt“ wird
J Es wäre interessant zu verfolgen, wie sich z, B, der polnische Nationalismus verändert, dadurch, dass er sich vom adeligen zum bürgerlichen und dann zum bäuerlichen wandelt. Ludwig Bernhard, der selbst auf dem Standpunkte eines deutschen Kokoschkin steht, beschreibt in seinem Buch „Das polnische Gemeinwesen im preußischen Staate“ eine außerordentlich charakteristische Erscheinung: die Bildung einer Art von „Bauernrepublik“ der Polen in Deutschland in der Form eines engen Zusammenschlusses aller genossenschaftlichen und sonstigen Verbände der polnischen Bauern im Kampfe für die Nationalität, die Religion, für die „polnische“ Erde. Die deutsche Unterdrückung vereinigte die Polen, sonderte sie ab und erzeugte den Nationalismus zuerst des Adels, dann der Bourgeoisie, zuletzt der bäuerlichen Massen (besonders seit dem 1873 begonnenen deutschen Feldzug gegen die polnische Sprache in den Schulen). Ebenso entwickelt sich die Sache auch in Russland, und zwar nicht our in Bezug auf Polen allein.
11 Lenin meint hier den Artikel des Bundisten Wladimir Kossowski in der „Nascha Rabotschaja Gaseta“ vom 19. (6.) Mai 1914 unter der Überschrift „Eine Legende der ,Prawda‘-Leute“.
[Geschrieben im Februar 1914; zum ersten Mal veröffentlicht 1914 in der Zeitschrift „Prosweschtschenije“ Nr. 4, 5 und 6. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 537-606]