Wir interviewten Helmut Dahmer, Herausgeber der „Denkzettel“, einer Auswahl aus Trotzkis wichtigsten Werken. Er sprach unter anderem über das Nachkriegsdeutschland, die Frankfurter Schule, Trotzki und die Linke Opposition.
Genosse Dahmer, magst Du dich selbst vorstellen?
Ich bin Soziologe, geprägt durch die „Frankfurter Schule“ und mit einem starken Interesse für die Freudsche Psychoanalyse. Politisch stehe ich der trotzkistischen Bewegung nahe und gebe eine zehnbändige Auswahlausgabe von Trotzkis Schriften heraus.
Wie war die Situation eines politisch interessierten Jugendlichen im Nachkriegsdeutschland?
Ich wurde vor dem Krieg geboren und wuchs in einer nordhessischen Kleinstadt (mit damals vielleicht 8.000 Einwohnern) auf, die sich durch den (heute vergessenen) romantischen Dichter Ernst Koch (Prinz Rosa-Stramin, 1834), große Kirschplantagen und die „Deutsche Kolonialschule“ auszeichnete. Die Schüler der „Kolonialschule“ setzten schon am Abend des 8. Novembers 1938 die Synagoge in Brand und veranstalteten einen Pogrom gegen ihre jüdischen Mitbürger, von denen in den folgenden Jahren 55 in Konzentrationslagern umkamen. Im April 1945 wurde ich Zeuge, wie die Nazis und ihre Mitläufer nächtelang Bücher und Dokumente verbrannten und Parteiabzeichen und sonstige Orden in Puppenköpfe einnähten oder im Garten vergruben. Als die amerikanischen Panzer anrückten, sprengten Fanatiker und Volkssturmleute die Brücken; der Ort wurde daraufhin beschossen. Ich sah einen ersten Jeep mit farbigen Soldaten, die eine große Hakenkreuzfahne erbeutet hatten. Auf das Gerücht hin, die SS plane einen Gegenangriff, wurde das Städtchen geräumt… Die Grenze zur sowjetischen Besatzungszone lag nur wenige Kilometer ostwärts. Im Herbst des Jahres begann wieder die Schule. Zwischen den Lehrern, denen die Militärregierung den Prügel aus der Hand genommen hatte, und den Schülern, die auf das von ihnen Erlebte nun mit der Parole „Ohne mich!“ reagierten, entwickelte sich eine starke Spannung. Wir lehnten Schul-Lesungen vormaliger Blut-und-Boden-Dichter (wie Wilhelm Pleyer) ebenso ab wie Vorträge von Exilrussen, die uns zur Verteidigung des Abendlandes aufriefen, oder die Wiedereinführung des „Deutschland-Lieds“. Sogar den Sportunterricht verweigerten wir…
Woran konntet ihr Euch nach 12 Jahren Faschismus und Atomisierung der Arbeiterbewegung orientieren?
Auf der Suche nach Alternativen kam ich bald in Kontakt mit Ausläufern der „Bündischen Jugend“, die das Hitlerreich überdauert hatten. Die stadtflüchtige, lebensreformerische „Wandervogelbewegung“ war im Gemetzel des ersten Weltkriegs untergegangen. Die Jugend-Bünde, die in der Zeit der Weimarer Republik entstanden, waren im Vergleich zur Vorkriegsjugendbewegung sehr viel politischer; manche hatten ein paramilitärisches Gepräge. Die 1929 gegründete, kosmopolitisch orientierte „Deutsche Jungenschaft“ (dj. 1. 11), deren Spiritus rector, Eberhard Koebel (tusk), sich der KPD angeschlossen hatte, weigerte sich – zusammen mit einigen anderen, kleineren Gruppen –, in der Hitlerjugend aufzugehen. Aus diesem Kreis kamen die Geschwister Scholl, und das 1955 erschienene Erinnerungsbuch Die Weiße Rose von Inge Aicher-Scholl enthält ein Porträt der „Deutschen Jungenschaft“.
Vom Korea-Krieg und vom Juni-Aufstand 1953 habe ich noch wenig verstanden. Doch den Algerien-Aufstand im November 1954 habe ich bewußt erlebt (und in späteren Jahren dann die in Köln erscheinende Informationszeitung Freies Algerien verkauft). Der Beginn meines Studiums fiel mit der ungarischen Revolution von 1956 zusammen, ich suchte nach Erklärungen und erhielt über Freunde aus der Bündischen Jugend die Dokumente des 5. Weltkongresses der IV. Internationale („Aufstieg und Fall des Stalinismus“). War ich in Bonn der „Gruppe der Wehrdienstverweigerer“ beigetreten, so schloß ich mich in Göttingen dem „Sozialistischen Studentenbund“ (SDS) an (und etwas später für einige Zeit auch der SPD und der GEW). Die deutsche Sektion der IV. Internationale bestand (in Westdeutschland) aus einigen Dutzend Genossen. Weil sie im Prinzip vom KPD-Verbot (von 1956) mitbetroffen war, trat die Organisation (vor 1969) nicht offen auf. Ein kleines Häuflein von Remigranten, die schon in den dreißiger Jahren politisch aktiv gewesen waren, sorgte für den Zusammenhang zwischen den lokalen Gruppen und hielt auch den Kontakt zur internationalen Organisation. Neben der Quatrième Internationale und ihrem deutschen Ableger, die internationale, erschien seit 1953 die Monatszeitschrift Sozialistische Politik, die von linken Sozialisten verschiedener politischer Orientierung herausgegeben und geschrieben wurde. Wir rechneten damit, daß sich möglicherweise der Verfassungsschutz und vielleicht auch die CIA für unsere kleine Organisation interessierten, nicht aber damit, daß auch der ostdeutsche Staatssicherheitsdienst und seine russischen Hintermänner die westdeutschen „Dissidenten“ argwöhnisch überwachten und versuchten, Agenten in die nichtstalinistischen Gruppierungen einzuschleusen.
Gegen Ende der fünfziger Jahre bildete sich in verschiedenen europäischen Ländern eine „Neue Linke“ heraus, die sich sowohl von den stalinistischen wie von den sozialdemokratischen Organisationen absetzte. Der westdeutsche SDS orientierte sich an diesen Strömungen, doch auch die Überlebenden der zwischen oder jenseits von KPD und SPD stehenden Gruppierungen der Weimarer Zeit (KPO, SAP, ISK, Anarchosyndikalisten und Trotzkisten) hatten einen gewissen Einfluß. Im SDS gab es auch eine (um die Zeitung Konkret gescharte) stalinophile Fraktion, die sich an der SED orientierte. Seit dem Bruch der Titoisten mit dem Kominform-Büro (dem Nachfolger der 1943 von Stalin aufgelösten III. Internationale) schien vielen auch der jugoslawische (Selbstverwaltungs-)Kommunismus eine Alternative zu bieten. 1961 schloß die SPD ihren Studentenverband aus, und die SED riegelte die DDR (mit „Mauer“ und „Todesstreifen“) ab. Ich studierte am Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ und leitete im SDS Arbeitskreise über Karl Korsch und Rosa Luxemburg.
In den Jahren 1964 bis 1969 war ich Tutor des Walter-Kolb-Studenten-hauses im Frankfurter Westend, unweit der Universität. Die Frankfurter SPD hatte das „Kolb-Heim“ für ihren Studentenverband geplant, doch in den Sechzigern wurde es zu einem Zentrum der „antiautoritären“ Bewegung. Hier trafen sich Studenten aus antikolonialen Befreiungsbewegungen und NATO-Deserteure, hier wurden Versammlungen abgehalten und Projekte entwickelt. Am 7. 11. 1967 hißten wir eine rote Fahne zur Erinnerung an die Revolution der russischen Arbeiterräte von 1917. In der Sozialdemokratie sah ich keinerlei Möglichkeit zu einer politischen Arbeit, wohl aber in der (damals linken) Chemie-Gewerkschaft, wo ich Mitte der sechziger Jahre ein neuartiges politisches Bildungsprogramm für die Gewerkschaftsjugend entwickelte. Die Studentenbewegung griff auch auf Schüler und Lehrlinge über. Sogar in den Höchster Farbwerken nahe Frankfurt kam es zu einer Rebellion gegen die autoritären Hausordnungen in den Lehrlingswohnheimen. Ich erinnere mich an eine öffentliche Diskussion darüber, die zu dem „Beschluß“ führte, solche Hausordnungen einfach zu zerreißen. Neben mir auf dem Podium saß damals die SDS-Genossin und Konkret-Redakteurin Ulrike Meinhof. Zu den „Maoisten“, den Sympathisanten der chinesischen „Kulturrevolution“ hielt ich ebenso Distanz wie zu den Kreisen, aus denen später die RAF hervorging. Ich war und bin überzeugt, daß weder der Massenterror noch der „individuelle“ das eiserne Gehäuse des Kapitalismus aufsprengen kann.
Welche Rolle spielte die „Frankfurter Schule“?
Als ich 1960 nach Frankfurt ging, hatte ich die Minima Moralia und die Dialektik der Aufklärung gelesen. Im Sommer 1960 schrieb ich eine größere Arbeit über den Begriff des Bewußtseins bei Hegel und Marx. Von Horkheimer und Adorno erwartete ich weniger eine politische als eine Orientierung in philosophischen Fragen. 1965 veröffentlichte ich eine Einleitung zu einem Reprint von Trotzkis Die permanente Revolution, und 1971 dokumentierte ich (in einer zweibändigen, kommentierten Edition) Trotzkis Schriften über Deutschland.
Im Unterschied zu 1917/18 kam es 1945 nicht zu einem Versuch, die Struktur der Gesellschaft, die Krieg und Holocaust hervorgebracht hatte, revolutionär zu verändern. Die totalitären Regime hatten die alte Arbeiterbewegung zertrümmert und die Spontaneität der Arbeiter, Angestellten, Bauern und Intellektuellen nachhaltig gelähmt. Erst die nächste Generation war wieder zu einem Aufbegehren imstande. Der gemeinsame Nenner der Studentenbewegungen in Japan und in den USA, in Mexiko, Frankreich, Westdeutschland und Prag war der Protest gegen autoritäre Lebensformen und gegen den Vietnamkrieg. In Westdeutschland ging es politisch um den Kampf gegen die Notstandsgesetze, kulturell um die Durchsetzung einer freieren Lebensform, und das hieß zunächst einmal, das Schweigen der Elterngeneration zu brechen und den Kampf um die Erinnerung (an Krieg und Holocaust) aufzunehmen. In Frankfurt waren die Beziehungen zwischen dem SDS und den Vertretern der „Frankfurter Schule“ natürlich besonders eng. Horkheimer, Adorno und Habermas war der Aktionismus der Studenten unheimlich, doch Herbert Marcuse, der aus den USA zu Besuchen herüberkam, ergriff vorbehaltlos Partei für die Studentenrebellen. Deren Kritik an der Frankfurter Schule markierte vor allem zwei Defizite: Zum einen wurde am „Institut für Sozialforschung“ die Kritik der politischen Ökonomie nicht fortgeschrieben, zum andern blieben Fragen der politischen Organisation in Lehre und Publikationen ausgeklammert. Manche Kritiker haben Horkheimer auch verargt, daß er zögerte, seine Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung (1932-1941) in den sechziger Jahren unverändert nachdrucken zu lassen, und Horkheimer und Adorno, daß sie die Terminologie der Dialektik der Aufklärung in den Auflagen von 1947 und 1969 (gegenüber der ersten Version von 1944) änderten. Für die Ersetzung von „Monopol“, „Kapital“, „Profit“ und „Ausbeutung“ durch teils unverfänglichere, teils spezifischere Ausdrücke („Faschismus“, „Industrie“ oder „Wirtschaftsapparatur“, „Konzerne“, „Versklavung“…) machten die Autoren sachliche und taktische Motive geltend: Jede Theorie sei Ausdruck ihrer Zeit und wandele sich mit den Verhältnissen, die sie formuliert. Im übrigen gelte es, Mißverständnissen entgegenzuwirken. Das Mißverständnis, das sie vor allem fürchteten, war, mit den Ideologen des Stalinismus verwechselt zu werden, die aus der Marxschen Kritik und Revolutionstheorie eine Staatsreligion und ein Disziplinierungsmittel gemacht hatten. [1]
Georg Lukács hat von den “Frankfurtern“ gesagt, sie hätten sich im „Grand Hotel Abgrund“ eingerichtet…
1923 gab es in Thüringen (Geraberg) ein Treffen („Arbeitswoche“) von linken Intellektuellen, an dem (neben Friedrich Pollock, Felix Weil, K. A. Wittfogel, Karl Korsch, Richard Sorge, Béla Fogarasi und anderen) auch Lukács teilgenommen hat und das heute als Keimzelle des „westlichen Marxismus“ (Perry Anderson) gilt. Später gingen die Teilnehmer dieser Konferenz politisch verschiedene Wege. Lukács wurde zu einem frommen Stalin-Anhänger und widerrief seinen Hegel-Marxismus von 1923 (Geschichte und Klassenbewußtsein). Horkheimer, der sich ebensowohl an Kant, Hegel und Schopenhauer wie an Rosa Luxemburg orientierte, übernahm 1931 die Leitung des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“ und überführte es ins Exil. In den dreißiger Jahren grenzten er, Marcuse und Adorno ihren undogmatischen Marxismus als „Kritische Theorie“ vom Weltanschauungsmarxismus der Sozialdemokraten und der Stalinisten ab. Lukács veröffentlichte 1954/55 eine große philosophiehistorische Studie, in der er „den Weg Deutschlands zu Hitler auf dem Gebiet der Philosophie“ nachzuzeichnen suchte. Die Geschichte des „Irrationalismus“ begann für ihn mit Schelling, auf den dann Schopenhauer, Nietzsche und Freud folgten. Adorno schrieb über Lukács’ Zerstörung der Vernunft, das Buch dokumentiere vor allem die Zerstörung von Lukács’ eigener. Lukács hatte 1933, im Moskauer Exil, gegen die linken, nicht parteigebundenen Intellektuellen polemisiert, sie hätten sich in einem „Hotel Abgrund“ eingerichtet. Er selbst versuchte in der Folge, mit Hilfe von Widerrufen und Selbstkritiken im „Hotel GULag“ zu überleben. [2] Die in die Vereinigten Staaten emigrierten und 1949 nach Frankfurt zurückgekehrten marxistischen Philosophen wahrten ihre Unabhängigkeit und nutzten ihr Privileg. Ihre Kritik der instrumentellen Vernunft, die Antisemitismus-Studien und die Weiterführung der von Feuerbach und Marx begonnenen Hegelkritik (Negative Dialektik) gehören zu unserem theoretischen Fundus. Bei der von Horkheimer, Marcuse und Adorno entwickelten Kritik der instrumentalisierten Vernunft (oder des „Positivismus“) handelt es sich um eine Selbstkritik der Vernunft, nicht um deren Verwerfung.
War Trotzkis Analyse der Degeneration der Sowjetunion den „Frankfurtern“ in den dreißiger Jahren bekannt?
Ja. In den Briefen und Texten Horkheimers, Benjamins und Adornos gibt es eine Reihe von direkten und indirekten Verweisen auf Trotzki. Benjamin war (wie Siegfried Kracauer) ein begeisterter Leser von Trotzkis Autobiographie (Mein Leben) und seiner Geschichte der russischen Revolution. In einem bei Kriegsausbruch geschriebenen Aufsatz Horkheimers über das Schicksal der europäischen Juden hieß es: „Die Respektlosigkeit vor einem Seienden, das sich zum Gott aufspreizt, ist die Religion derer, die im Europa der Eisernen Ferse nicht davon lassen, ihr Leben an die Vorbereitung eines besseren zu wenden.“ Auch die Trotzkisten (von Walter Held [Heinz Epe] bis zu Johre [Joseph Weber) haben damals die „Frankfurter Schule“ zur Kenntnis genommen und sich kritisch mit ihr auseinandergesetzt.
Kritiker der „Frankfurter Schule“ sagen, Horkheimer und Adorno hätten nicht mehr auf die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt gesetzt und den Marxismus auch nicht für eine „Wissenschaft“ gehalten.
Ihre Erfahrung war, daß die Arbeiterrevolutionen entweder von Gegenrevolutionen niedergeschlagen oder (wie in der Sowjetunion) von usurpatorischen Bürokratien überwältigt wurden. In den reformistischen oder stalinistischen internationalen Massenorganisationen sahen sie „weltumspannende Maschinerien zur Lähmung der Spontaneität“ (Horkheimer). Der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft durch die internationale Arbeiterklasse waren sie – nach Workuta-Kolyma, Auschwitz und Hiroshima – weniger sicher als Marx, der ja selbst schon von der drohenden Alternative eines „gemeinsamen Untergangs der beiden kämpfenden Klassen“ gesprochen hatte. Marcuse zählte in den sechziger Jahren die radikale Minderheit der jungen („antiautoritären“) Generation in den kapitalistischen Staaten (Studenten und Intellektuelle), in den unterprivilegierten ethnischen Gruppen und in der Frauenbewegung der USA zur antikapitalistischen Opposition. Er hoffte, diese Gruppen würden im Bunde mit dem (in „Nationalen Befreiungsbewegungen“ organisierten) „agrarischen Proletariat“ der unterentwickelten Länder, den europäischen Arbeiterorganisationen und reformierten nachkapitalistischen Regimen in Rußland und China das kapitalistische Weltsystem durch eine internationale, demokratisch kontrollierte Planwirtschaft ersetzen.
Horkheimer, Adorno und Marcuse sahen ihre Aufgabe vor allem darin, die Marxsche Kritik der (idealistischen) Philosophie und der Sozialverhältnisse, denen sie entstammte, zu erneuern, das heißt: über den quietistischen Partei-Marxismus der alten Sozialdemokratie und den voluntaristischen Staats-„Mar-xismus“ der Stalinisten hinauszukommen. Die Marxsche Theorie war für die „Frankfurter“ weder eine Naturwissenschaft noch eine Geisteswissenschaft, vielmehr ein Drittes: Eine genetische Kritik gesellschaftlicher Institutionen, die es den vergesellschafteten Menschen, die einstweilen Objekte und Opfer der Geschichte sind, ermöglicht, sich zu „Subjekten“ oder „Autoren“ ihrer Vergesellschaftung zu machen.
In den vergangenen 10-15 Jahren ist eine große Zahl von Veröffentlichungen über Trotzki, die Linke Opposition und die IV. Internationale erschienen. Wie ist dies anhaltende Interesse zu erklären?
Die europäische Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit ist gescheitert. Sie hat weder den zweiten Weltkrieg, noch den Holocaust verhindern können. Die Sozialdemokratie ist zu einer prokapitalistischen Reformpartei geworden, der Stalinismus ist tot, der Anarchismus marginalisiert. Trotzki war der Theoretiker der „permanenten Revolution“ und der Organisator des Oktoberaufstands und der Roten Armee. Seit 1923 kämpfte er gegen die „thermidorianische Entartung“ des nachrevolutionären Regimes und in den dreißiger Jahren gegen Stalins despotisches Terror-Regime. Er sah voraus, daß, nachdem Stalin der bäuerlichen Mehrheit des Landes den Krieg erklärt, die (neue) Arbeiterklasse als politischen Faktor ausgeschaltet und die III. Internationale in ein Werkzeug der russischen Außenpolitik verwandelt hatte, der propagierte „Aufbau des Sozialismus in einem Lande“ scheitern werde. In den dreißiger Jahren war der in die Türkei abgeschobene Trotzki, dessen Odyssee ihn über Frankreich und Norwegen nach Mexiko führte, der einzige Soziologe, der – als Zeitgenosse –noch heute gültige Analysen der fatalen Entwicklung der UdSSR und Hitlerdeutschlands (sowie des spanischen Bürgerkriegs) veröffentlichte und vor einem neuen Weltkrieg mit verheerenden Folgen warnte. Während heute niemand mehr Stalin oder Mao liest (und leider auch nicht mehr Lenin), werden Trotzkis Bücher ständig neu aufgelegt. „Nach Geist, Temperament und Stil steht er Marx näher als irgendein anderer [von dessen] Schülern und Anhängern“, schrieb der Trotzki-Biograph Isaac Deutscher.
Die menschenverschlingenden Regime Stalins und Hitlers sind zusammengebrochen. Doch das Zeitalter der Kriege und Massaker dauert an. Ein Fünftel der Menschheit lebt in irdischen Paradiesen, ein anderes Fünftel vegetiert in irdischen Höllen. Wer damit sich nicht abfinden will, hält Ausschau nach Alternativen. Eine davon ist die von Trotzki entwickelte. Er setzte auf die internationale Solidarität der Unterprivilegierten – der Ausgebeuteten und Verelendeten –, auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, auf eine weltweite Arbeiterselbstverwaltung, die imstande sein werde, den Hunger abzuschaffen und das Verhältnis der Menschen zu ihrer Naturbasis von Grund auf zu verändern.
Trotzki und der Trotzkismus stehen für eine unerledigte und nicht-diskreditierte Alternative. Ein Teil der neu erscheinenden Literatur dient (wie eh und je) dem Zweck, diese Alternative in Verruf zu bringen. (Für die Stalinisten war Trotzki ein „Volksfeind“ beziehungsweise ein Gestapo-Agent; das Standardargument der nicht-stalinistischen Trotzki-Gegner lautet – seit Willy Huhn –, er sei nur ein „gescheiterter Stalin“ gewesen, schließlich habe er ja die politische Mitverantwortung für die Niederschlagung des Kronstädter Aufstands von 1921 übernommen…)
Kannst du noch etwas zur Neuauflage der „Denkzettel“ sagen?
1971 hatte ich Trotzkis Deutschlandschriften dem Vergessen entrissen. In den siebziger Jahren wurden im Frankfurter Suhrkamp-Verlag klassische Texte der politischen und psychoanalytischen Literatur wiederaufgelegt, und ich empfahl dem Lektor Günther Busch, eine deutsche Version der in den USA erschienenen Trotzki-Anthologie The Age of Permanent Revolution herauszubringen. (Busch hat dann auch den Titel der deutschen Ausgabe, „Denkzettel“, erfunden.) Im Hinblick auf eine größere Edition von Trotzki-Schriften kümmerte ich mich um Übersetzung und Kommentierung des Bandes und sorgte auch für ein Personen- und Sachregister. In den achtziger Jahren wurden etwa 15.000 Exemplare davon verkauft. Später wurde das Buch nicht mehr aufgelegt, und die Rechte fielen an mich zurück. Die Wiener Gruppe um die Zeitschrift Der Funke zeigte Interesse an einer Neuauflage. Diese Genossen haben mit großer Energie in kurzer Frist den jetzt vorliegenden Band hergestellt. Das Buch ist schön geworden, kostet nicht die Welt und sollte von vielen gelesen werden.
(13./27. August 2010)
—
[1] Kritiker der taktischen Kompromisse Horkheimers und Adornos sollten sich die Verhältnisse vergegenwärtigen, unter denen diese Philosophen lebten und schrieben. Deutsche Juden und Freigeister („Dissidenten“) wie sie hatten weder in dem von Hitlerdeutschland beherrschten Europa, noch in Stalins Herrschaftsbereich eine Überlebenschance. In den vierziger Jahren galt ihre Aufmerksamkeit vor allem der faschistischen Unterströmung innerhalb der nordamerikanischen Gesellschaft, und sie wären, hätten sie das Land nicht verlassen, vielleicht wie Chaplin und Brecht, Hanns Eisler und C. L. R. James in den Strudel der McCarthyschen Kommunistenhatz geraten. Im Westdeutschland des Kalten Kriegs und im Milieu von Universitätsprofessoren, die (in ihrer großen Mehrheit) wenige Jahre zuvor noch profaschistisch und antisemitisch eingestellt gewesen waren, wurden die marxistischen Remigranten natürlich überaus kritisch beäugt. 1968 wurden sie als Jugendverführer und kryptokommunistische Aufwiegler attackiert.
[2] Georg Lukács wurde 1956 noch einmal, wie schon 1919, Minister für Volksbildung – diesmal in der Regierung von Imre Nagy. Nach der Niederschlagung des Aufstands wurde er zunächst nach Rumänien deportiert und aus der Partei ausgeschlossen; seine Schriften wurden unterdrückt. Von seiner Option für die ungarische Rätebewegung von 1956 aber ist Lukács nie abgerückt.