Teil 2 der neuen Broschüre von Alan Woods zur aktuellen Finanzmarktkrise, der Perspektive einer Weltwirtschaftskrise und den politischen Folgen dieser Entwicklung.
Der Bankrott der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften
Die Ökonomen halten standfest an der alten Illusion fest, dass eine weltweite Rezession unmöglich sei. Angeblich hätten sie die Lehren der Vergangenheit gelernt (so wie ein Trunkenbold nach einem Kater). Sie stellten die Behauptung auf, dass die Finanzkrise auf die USA beschränkt bliebe, dass sich die US-Wirtschaft vom Rest der Welt abkoppeln ließe (auch wenn sie damit ihrer bisherigen These von der Globalisierung widersprechen); dass Europa und China die neuen Lokomotiven der Weltwirtschaft würden usw…
Wie hohl diese Argumente heute doch klingen! Die Grundstückspreise fallen weltweit. Die Weltwirtschaft wächst nur mehr sehr schwach, die europäischen Volkswirtschaften schwächeln merklich, und mit der Perspektive weiterer Bankenpleiten und einer Verknappung des Kreditgeschäfts wird dieser Prozess weitergehen. Es stimmt, dass die sogenannten “emerging-market”-Länder bis jetzt ihr Wachstum halten konnten. Doch es ist undenkbar, dass sich diese Länder von der generellen Krise abschotten können, wenn die Kapitalflüsse auszutrocknen beginnen und die Rohstoffpreise sinken werden. Natürlich wird dieser Prozess seine Zeit brauchen und die Form einer ungleichen Entwicklung annehmen. Einige Länder werden schneller in die Krise schlittern als andere. Doch schlussendlich werden alle davon betroffen sein.
Es ist dabei zweitrangig, in welchem Land die Krise ihren Anfang nimmt. Unter den gegenwärtigen Bedingungen wird die Krise nicht in einem Land Halt machen. In diesem Fall begann alles in den USA, wo die Spekulationsmanie ins Extreme gegangen war. Doch bald schon – und zwar gegen alle Prognosen der Wirtschaftsexperten – breitete sich die Krise auf Irland, Spanien, Großbritannien und den Rest von Europa aus. Die negativen Auswirkungen dieser Krise werden auch Lateinamerika, Asien und Afrika treffen. Es wird wie in einem Dominospiel sein, wo ein Stein nach dem anderen fällt. China wird sich diesem Prozess nicht entziehen können, auch wenn die dortige Ökonomie sich noch entwickelt und Wachstumsraten vorweisen kann.
In einer Krise sehen sich die KapitalistInnen zu außergewöhnlichen Maßnahmen gezwungen, um auf den schrumpfenden Märkten ihren Anteil halten zu können. Sie senken die Verkaufspreise, setzen auf Preisdumping und andere Methoden, die alle darauf abzielen, die Konkurrenz klein zu kriegen. Damit verschärfen sie aber die Krise noch, weil sie somit eine deflationäre Spirale nach unten verstärken. Die Menschen üben Kaufzurückhaltung, weil sie auf sinkende Preise hoffen, was die Preise noch mehr drückt. Wir sehen dieses Phänomen derzeit ganz besonders deutlich auf den Immobilienmärkten.
Diese Seuche breitet sich international zusehends aus und ist nicht kontrollierbar. Es wird offensichtlich sein, dass jedes Land zu viel produziert aber auch zu viel importiert hat. (siehe Kapital, Band 3) In jedem Land wurde zu sehr auf den Kredit gesetzt, was wiederum Inflation und Spekulation angeheizt hat. Diese Probleme müssen jetzt, wenn auch unter Schmerzen, gelöst werden. Mit anderen Worten: Es geht hier nicht um das eine oder das andere Land, um irgendeine Bank oder diesen und jenen individuellen Spekulanten, sondern um das System selbst. Zwar wird kein Abschwung ewig anhalten. Langfristig wird man wieder ein neues Gleichgewicht herstellen können. Preise werden sich wieder stabilisieren, die Profitbedingungen werden sich wieder verbessern, und ein neuer Zyklus wird beginnen. Doch dieses Szenario ist noch lange nicht in Sicht. Niemand weiß, wie lange diese Krise andauern wird. Und wie sagte doch einst Keynes: „Auf lange Sicht sind wir alle tot.“
Hinterher ist man immer klüger. Jetzt sprechen sie davon, dass dies die tiefste Krise seit den 1930ern sei, und dabei hoffen sie, dass niemandem der Widerspruch zwischen dieser Aussage und den Vorhersagen der jüngsten Vergangenheit auffällt.
Die bürgerlichen ÖkonomInnen haben sich in den letzten 20-30 Jahren als absolute unfähig erwiesen, Prozesse zu erklären geschweige denn vorherzusehen. Seit Jahrzehnten haben sie uns davon zu überzeugen versucht, dass der Konjunkturzyklus außer Kraft gesetzt werden konnte, dass das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit der Vergangenheit angehört, dass das Gespenst der Inflation gezähmt worden sei usw. Die reformistischen Politiker haben diesen Nonsens natürlich akzeptiert. So sagte der britische Regierungschef Gordon Brown vor kurzem: „Der Konjunkturzyklus ist Vergangenheit.“ Die bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften haben nur den Zweck, ein degeneriertes und bankrottes System zu rechtfertigen.
Was wir vorhersagten
Verglichen wir diese Aussagen mit den Perspektiven, die unsere Strömung aufgestellt haben. Im Gegensatz zu den meisten bürgerlichen Ökonomen, die den schweren Fehler begangen haben, ihrer eigenen Propaganda zu glauben, versuchten wir die Realität zu beschreiben. In unserem Dokument “Auf des Messers Schneide: Perspektiven der Weltwirtschaft” aus dem Jahre 1999 schrieben wir folgende Zeilen:
“In der Vergangenheit wurde die Rolle der Fed (der US-Notenbank, Anm.) darin gesehen, darauf zu schauen, dass die Party nicht allzu sehr ausufert. Doch das ist nicht mehr länger der Fall. Während in der Öffentlichkeit weiterhin ein Lippenbekenntnis zu einer Austeritätspolitik abgegeben wird, tolerierte Alan Greenspan in zunehmendem Ausmaß, dass die größte Orgie der Geschichte abging. Und zwar obwohl er sich der Gefahren dieser Finanzspekulation bewusst sein müsste. Er verhält sich wie einst Kaiser Nero, der vor dem Hintergrund des brennenden Rom ein Ständchen zum Besten gab. Durch die Anhebung der Leitzinsen hat er weiteres Benzin ins Feuer gegossen. Ein altes Sprichwort schein sich aufs Neue zu bewahrheiten: ‘Wen die Götter zerstören wollen, den machen sie verrückt.’“
In demselben Dokument lesen wir:
“Der Entwicklung der Produktivkräfte sind heutzutage durch das Privateigentum an Produktionsmitteln und den Nationalstaat enge Grenzen gesetzt. Für eine Zeit lang aber kann der Kapitalismus diese Grenzen durch eine Reihe von Maßnahmen umgehen. Dazu zählen vor allem die Entwicklung des Welthandels und die Ausweitung des Kredits. Marx erklärte schon vor langer Zeit die Rolle des Kredits im kapitalistischen System. Der Kredit ist ein Mittel zur Erweiterung des Marktes über seine natürlichen Grenzen hinweg. Dies geht aber nur zu einem sehr hohen Preis, denn dieses Mittel bereitet den Boden für eine noch viel katastrophalere Krise in der Zukunft:
‘Die kapitalistische Produktion strebt beständig, diese ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerem Maßstab entgegenstellen.
Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind.’“ (Karl Marx, Das Kapital Band 3,MEW 25, S. 260)
Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Die schnelle Ausdehnung des Kredits und der Verschuldung führt zu einer Expansion des Marktes, doch ab einem gewissen Punkt muss sich diese Entwicklung in ihr Gegenteil verkehren. Während des Booms scheinen der Kreditwirtschaft keine Grenzen gesetzt. Dies erinnert an das Füllhorn aus der griechischen Mythologie. Doch wenn die Krise hereinbricht, lösen sich diese Illusionen schnell in Nichts auf. Die Rückzahlungen verzögern sich, Waren sind nicht mehr zu verkaufen, weil die Märkte gesättigt sind, und die Preise beginnen wieder zu fallen. Die Entwicklung des Weltmarkts kann an diesem grundlegenden Prozess nichts ändern, vielmehr hebt er ihn auf eine noch höhere Stufe. Die Akkumulation von Schulden macht die Krise letztendlich nur noch tiefer. Die jüngste Krise in Japan bestätigt diese These mehr als ausreichend. Nach einem Jahrzehnt des Booms mit rasch steigenden Aktienpreisen zerplatzte die Blase letztlich aufgrund eines steilen Anstiegs der Zinsrate. Die Lage war damals sehr ähnlich dem, was wir heute in den USA vor uns haben. Am 25. Dezember 1989 hatte die Bank von Japan die Zinssätze angehoben, was zu einem Börsencrash führte. Da die Grundstückpreise aber weiter stiegen, war eine neuerliche Anhebung der Zinssätze notwendig. Schlussendlich wurden die Zinssätze um sechs Prozent angehoben und bis Ende des Jahres waren die Aktienpreise um 40% eingebrochen. Die japanische Notenbank hielt die Zinssätze aber weiter auf einem hohen Niveau. Damals wurde Japan von ÖkonomInnen für seine konsequente Wirtschaftspolitik gelobt, doch das Ergebnis war eine zahn Jahre andauernde Rezession.
Durch die Globalisierung und die Abschaffung aller Einschränkungen bei Kreditgeschäften und Finanztransaktionen wurde eine unvorstellbare wirtschaftliche Expansion ermöglicht, gleichzeitig gab es aber auch noch sie ein großes Potential für einen weltweiten Crash. Doch es ist nicht so, dass die Krise von diesem fiktiven Kapital, Betrügereien an der Börse und dem exzessiven Einsatz von Krediten verursacht wird. Marx erklärte dies bereits im dritten Band des ‘Kapitals’:
‚Sehn wir ab ebenfalls von den Scheingeschäften und spekulativen Umsätzen, die das Kreditwesen fördert. Dann wäre eine Krise nur erklärlich aus Mißverhältnis der Produktion in verschiednen Zweigen und aus einem Mißverhältnis, worin der Konsum der Kapitalisten selbst zu ihrer Akkumulation stände. Wie aber die Dinge liegen, hängt der Ersatz der in der Produktion angelegten Kapitale großenteils ab von der Konsumtionsfähigkeit der nicht produktiven Klassen; während die Konsumtionsfähigkeit der Arbeiter teils durch die Gesetze des Arbeitslohns, teils dadurch beschränkt ist, daß sie nur solange angewandt werden, als sie mit Profit für die Kapitalistenklasse angewandt werden können. Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.‘
(Karl Marx, Das Kapital Band 3, MEW 25, S. 501)
Die Ausweitung des Welthandels und die Öffnung neuer Märkte in Asien hat der Weltwirtschaft einen zeitlich befristeten Antrieb gegeben, doch zu einem hohen Preis – einem umso größeren Zusammenbruch zu einem späteren Zeitpunkt. Die kommende Entwicklung wird genau so ausschauen.”
Diese Zeilen schrieben wir vor fast einem Jahrzehnt, als die Mehrheit der bürgerlichen Ökonomen die Möglichkeit einer Weltwirtschaftskrise leugnete. Es sei hier die Frage erlaubt, wer die Prozesse in der Weltwirtschaft besser verstanden hat und wer die korrekteren Voraussagen traf – die bürgerlichen Ökonomen oder die Marxisten?
Kann China die Welt retten?
Ein altes Sprichwort erzählt von einem Ertrinkenden, der sich in letzter Verzweiflung an einem Strohhalm festhält. Die Bourgeoisie und ihre Apologeten sind von der Tiefe der Krise extrem alarmiert und halten nun nach einem solchen Strohhalm Ausschau. Bis vor kurzem ruhten alle ihre Hoffnungen auf Asien und insbesondere China. Doch Chinas Ökonomie ist mittlerweile fest in den Weltmarkt eingebettet und wird somit auch all seine Schwankungen widerspiegeln.
Trotz des Abschwungs in den USA verzeichnete die Exportwirtschaft weiterhin starke Wachstumsraten. Die Exporte nahmen in den ersten acht Monaten dieses Jahres um 22 Prozent zu. Teil der Erklärung ist, dass chinesische Unternehmen in anderen boomenden Entwicklungsländern neue Märkte finden konnten. Doch das kann das Unvermeidliche nur hinauszögern. Nach der Krise an der Wall Street und der Stagnation in Europa und Japan stellen sich die Investoren nun auch zusehends die Frage, ob nicht auch China von dieser Krise betroffen sein wird. Nach fünf Jahren starken Wirtschaftswachstums sehen wir auch in China eine Verlangsamung des Wachstums. Ein Wachstum unter 8 Prozent at jedoch große Folgen für China selbst wie auch für die ganze Weltwirtschaft. Unter Ökonomen kursiert immer mehr die Sorge, dass der Bankensektor in China ebenfalls auf einen Crash zusteuert.
Es mehren sich bereits die Anzeichen für Probleme in der Exportwirtschaft. Die Textilindustrie in Guangdong gerät zusehends unter Druck. Im ersten Halbjahr 2008 gingen die Exporte aus diesem Bereich im 13,3 Mrd. $ (9,1 Mrd. €) zurück. Auch die Exporte bei Spielzeug, Lampen und Plastikprodukten stagnieren oder sind bereits rückläufig. Das hängt mit der schwachen Nachfrage in den USA zusammen, wo der Konsum in den Monaten Juli und August zurückgegangen ist. Die Gesamtexporte von Guangdong mit den USA verlangsamten sich auf 6,3 Prozent in den ersten sieben Monaten dieses Jahres. Das kann kein Zufall mehr sein.
Ein starker Euro und ein Anstieg der Exporte von Guandong nach Europa um 27 Prozent haben den schwachen Dollar und die schrumpfende Nachfrage auf dem US-Markt ein wenig ausgeglichen. Doch die Anzeichen für einen deutlichen Abschwung in Europa, einem der wichtigsten Märkte für China, werden immer offensichtlicher. Das wird früher oder später Auswirkungen auf die chinesische Exportwirtschaft haben. „Das könnte die Ruhe vor dem Sturm sein“, sagt Stephen Green, ein Ökonom bei Standard Chartered in Shanghai.
Dazu kommen die sogar noch größeren Sorgen bezüglich des Immobilienmarktes in China, in den in denen letzten Jahren ein großer Anteil der Investitionen geflossen war. Seit dem Sommer gehen die Verkaufszahlen zurück, die Bautätigkeit nimmt ab, die Produktion von Stahl, Beton usw. stagniert bestenfalls nur noch. All dies sind Anzeichen für eine schwache Aktivität auf diesem Markt. „Wir glauben, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Einbruch des Immobiliensektors in China sehr hoch ist”, sagt Jerry Lou, ein Analyst von Morgan Stanley in Shanghai.
Dieses Szenario hätte aber ernsthafte Konsequenzen für den Bankensektor. Wenn das Wachstum des BIP im kommenden Jahr unter 8 Prozent liegt, dann wird das die Preise auf den Immobilienmärkten noch weiter drücken und zu einem Kollaps der Investitionen im privaten Sektor führen. Die sozialen und politischen Folgen einer solchen Entwicklung wären beträchtlich.
Alarmsignale kommen auch aus anderen Teilen der Ökonomie. Der Crash an der Börse hat einen negativen Effekt auf das Konsumentenvertrauen. Das Einkommen der städtischen Bevölkerung steigt längst nicht mehr so schnell wie in den vergangenen Jahren. Die Verkaufszahlen auf dem Automarkt sind im vergangenen Monat um 6 Prozent zurückgegangen, auch die Zahl der Flugreisen war diesen Sommer deutlich niedriger als im Vorjahr. Gome, der landesweit größte Elektrofachmarkt, veröffentlichte ebenfalls sinkende Verkaufszahlen.
Die Regierung hat aus Angst vor einer Krise bereits den Zinssatz gesenkt. Der Spielraum für die Geldpolitik ist jedoch aufgrund der Angst vor einer sich wieder entzündenden Inflation sehr eingeschränkt. Die Teuerungsrate erreichte im Februar 8,7 Prozent, um dann im August auf 4,9 Prozent zu sinken. Zhou Xiaochuan, Chef der Zentralbank, sagte diesen Monat: “Die Inflation hat sich in den letzten Monaten tatsächlich abgeschwächt, doch wir dürfen nicht nachlassen, weil die Rate bald schon wieder nach oben gehen könnte.”
Eine Rezession in China oder selbst ein deutlicher Rückgang des Wirtschaftswachstums könnte ernsthafte Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben, beginnend bei den Rohstoffe produzierenden Ländern in Afrika, dem Nahen Osten und in Lateinamerika. Der Kupferpreis zum Beispiel ist in den vergangenen beiden Monaten um 23 Prozent eingebrochen, zum Teil ist dies eine Folge der wachsenden Angst, dass die Nachfrage nach diesem Metall in China weiter sinken wird.
Von Geschäftemachern und Spekulanten
Es existiert bereits jetzt eine Stimmung des wachsenden Unmuts und der Feindseligkeit gegenüber „dem Markt“, d.h. gegenüber dem Kapitalismus. Als Reaktion darauf versuchen einige populistische bürgerliche Politiker den in der Öffentlichkeit vorherrschenden Zorn auf spezifische Teile der kapitalistischen Klasse – die „Geschäftemacher und Spekulanten“ der Hochfinanz – zu lenken.
Plötzlich scheint es unter Politikern wieder modern zu sein, diese mysteriösen Individuen, die ehrwürdige Finanzinstitute zu Fall gebracht haben, ins Visier zu nehmen. Wie soll es aber möglich sein, dass nur eine kleine Handvoll gieriger Individuen eine solch phänomenale Macht in ihren Händen konzentrieren kann? Wer sind diese Menschen? Wie heißen sie? Wo leben sie? Niemand weiß es. Aber es ist in einer Krise immer von Vorteil, wenn man jemand hat, dem man die Schuld zuschieben kann. Und wenn dieser „jemand“ auch noch anonym und unauffindbar ist, umso besser.
Plötzlich beginnen diese “Geschäftemacher und Spekulanten” dieselbe Rolle in der Ökonomie zu spielen wie Al Kaida in der internationalen Politik. In Wirklichkeit sind alle Banker und Kapitalisten „Geschäftemacher und Spekulanten“. Sie müssen es sein, weil das kapitalistische System auf Geschäftemacherei und Spekulation basiert. Es gründet sich auch auf die Gier. Keine Marktwirtschaft ohne Gier. Die Gier nach Profit ist die treibende Kraft des kapitalistischen Systems – und zwar seit Anfang an. Ja aber, jetzt sind sie zu weit gegangen, zu gierig, sie verdienen zu viel! Das sagt z.B. David Walker, der Vorstandsvorsitzende der Peter G. Peterson Foundation:
“Können wir aus der Subprime-Krise Lehren ziehen? Die Antwort ist ja. Die jüngsten Maßnahmen mussten gesetzt werden, weil es die Regierungen versäumt haben, effektive Formen der Regulierung in Verbindung mit den Hypotheken- und Derivatgeschäften zu erstellen. Die Gier war zügellos. Fannie Mae und Freddie Mac waren längst von ihrem ursprünglichen Weg abgewichen und verfolgten längst nicht mehr öffentliche Interessen, sondern versuchten nur noch den Profit zu maximieren. Die lasche Kontrolle war das Ergebnis der mächtigen Lobbies an der Wall Street.” (The Financial Times, 22. September 2008)
Das trifft genau den Punkt. Während die Beschäftigten vielleicht leistungsbezogene Sonderzahlungen erhielten, zahlten sich die Bosse selbst obszön hohe Beträge aus – und zwar egal, wie das Ergebnis ihrer Tätigkeit war. Wenn es dem Unternehmen gut geht, zahlt es den ArbeiterInnen vielleicht ein wenig mehr, die Bosse kassierten aber voll ab. Wenn es dem Unternehmen schlecht geht, dann bekommen die ArbeiterInnen gar nichts, und die Bosse bereichern sich noch immer fürstlich. Und wenn das Unternehmen pleite geht, wird den ArbeiterInnen gekündigt (bestenfalls mit einem „Sozialplan“), doch die Bosse, welche das Unternehmen ruiniert haben, erhalten einen „goldenen Handschlag“.
Diese Tatsachen sind allesamt bekannt. Über Jahre murrten die ArbeiterInnen über die täglichen Ungerechtigkeiten und die soziale Ungleichheit. Doch die Wirtschaft lief gut, und der Markt schien zu funktionieren und brachte für die meisten Ergebnisse (wenn auch sehr ungleiche). Die öffentliche Meinung war durch den ohrenbetäubenden Chor der Medien gleichgeschaltet, die PolitikerInnen aller Parteien sprachen mit einer Stimme und akzeptierten das Argument „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s allen gut“.
“Konzentrierte Ökonomie”
Lenin sagte einst, dass Politik konzentrierte Ökonomie sei. Die Wirtschaftskrise, die jetzt die ganze Welt überschattet, hat weitreichende Auswirkungen auf die Psychologie aller Klassen – angefangen bei den Kapitalisten selbst. In einer Periode des Aufschwungs ist der Druck bürgerlicher Ideologien auf die Arbeiterklasse und ihre Organisationen natürlich doppelt so stark. In Großbritannien z.B. gab es in den letzten 20 Jahren keine ernsthafte Rezession mehr. Die Argumente der Bürgerlichen, PolitikerInnen wie WirtschaftsexpertInnen (die wiederum Hand in Hand arbeiten), von den wunderbaren Qualitäten des „freien Marktes“ fanden ein Echo in den Reihen der Arbeiterklasse und speziell in ihrer Führung.
Das war die materielle Basis für die völlige Degeneration der Sozialdemokratie und der “Kommunistischen” Parteien in Europa und der Gewerkschaftsführungen. In Großbritannien, wo die kapitalistische Konterrevolution in den letzten drei Jahrzehnten ganz besonders weit gegangen war, war es der Nährboden, auf dem New Labour unter der Führung von Tony Blair gedeihen konnte.
Für die linken AktivistInnen in der ArbeiterInnenbewegung war diese Periode ein einziger Alptraum, der kein Ende zu nehmen schien. Es schien kein Ende der Degeneration der Führungen der Massenorganisationen in Sicht. Immer wieder zeigten diese, dass es noch tiefer gehen kann. Alles haben sie unternommen, um die herrschende Klasse und den Markt zufrieden zu stellen. Die Niedergeschlagenheit der Basis führte zu Apathie, die Massenorganisationen wurden immer leerer, das entstehende Vakuum füllten KarrieristInnen aus der Mittelschicht, die auf der Suche nach netten Jobs waren. Das wiederum verstärkte den Rechtsruck, was wiederum die Ernüchterung bei den ArbeiterInnen vertiefte. Es schien ein Teufelskreis zu sein. Doch jetzt werden sich die Dinge schnell wieder ändern.
Das menschliche Bewusstsein ist generell eher konservativ. Die Menschen fürchten Veränderungen und halten an dem fest, was ihnen gewohnt ist. Routine und Traditionen wiegen schwer auf dem Massenbewusstsein, das im Regelfall den Ereignissen hinterher hinkt. Doch in der Geschichte kommt es immer wieder zu kritischen Punkten, wo die Ereignisse plötzlich eine derartige Geschwindigkeit erlangen, dass das Bewusstsein mit einem Knall aufholt. Jetzt haben wir wohl einen derart kritischen Punkt erreicht.
Was für die Industrienationen zutrifft, trifft erst recht für die sogenannte “Dritte Welt” noch hundert Mal mehr zu. Die Zahl jener, die in Asien, Afrika und Lateinamerika in extremer Armut leben, steigt rasant an. Ein von der UNO vor kurzem veröffentlichter Bericht gibt an, dass ein Viertel aller Kinder in den Entwicklungsländern an Untergewicht leidet. Mehr als 500.000 Frauen sterben jedes Jahr an den Folgen einer Geburt bzw. an Komplikationen im Laufe der Schwangerschaft. Ein Drittel der Stadtbevölkerung in diesen Ländern lebt in Slums. Ein Bericht der Inter-American Bank von diesem Sommer warnte, dass die steigenden Lebensmittelpreise 26 Millionen Menschen in Lateinamerika zu absolutem Elend verdammen. Das ist die Ausgangsposition nach einer weltweit langen Periode wirtschaftlichen Wachstums. Das war das Beste, das der Kapitalismus zu bieten hatte. Was wird nun unter den Bedingungen der Krise passieren?
Wir haben es daher mit einem weltweiten Phänomen zu tun, das mit revolutionären Implikationen schwanger geht. Mit anderen Worten: Die Globalisierung drückt sich als globale Krise des Kapitalismus aus.
Gibt es eine Lösung?
Nun erzählt man uns, dass die gegenwärtige Krise das Ergebnis fehlender Regulierung des Finanzsystems ist. Dies gelte vor allem für die USA. Jetzt müssten die richtigen Maßnahmen her, damit “so etwas nie wieder passieren kann”. Darin liegt eine gewisse Ironie! Die letzten drei Jahrzehnte haben alle bürgerlichen Ökonomen und PolitikerInnen genau das Gegenteil vertreten: alle Formen von Regulierung seien schlecht für die Wirtschaft (und vor allem für den Finanzsektor) und sollten daher abgeschafft werden.
Dann darf es natürlich nicht an demagogischen Erklärungen fehlen, dass die exzessiven Sonderzahlungen und Aktienoptionen für SpitzenmanagerInnen verboten werden sollten. Das ist aber nicht viel mehr als heiße Luft. Doch wie soll das erreicht werden? Die Banker haben unzählige Möglichkeiten einer verstärkten Regulierung zu entkommen. Die öffentlichen, den Regulierungsbehörden zugänglichen Bilanzen sind im Regelfall nur ein Teil des gesamten Geschäftsgebahrens der Banken.
Das Argument zugunsten einer Regulierung der Aktienmärkte ist absurd, wie auch das (temporäre) Verbot der Praxis von „Leerverkäufen“. Damit die Märkte funktionieren können, ist es notwendig, dass Aktien gekauft und verkauft werden können. Dies muss auf der Grundlage von Schätzungen erfolgen, ob Aktienpreise steigen oder fallen werden. Die Idee, dass es nur zulässig ist Aktien zu kaufen, wenn deren Preis steigt, ist dementsprechend eine Dummheit.
Die Ratingagenturen, die entscheiden sollten, ob ein Kredit gut oder schlecht ist, schauten sich nicht mehr an, ob die hypothekengestützten Wertpapierpakete tatsächlich durch reale Werten gedeckt waren. Die KäuferInnen der von Fannie Mae und Freddie Mac ausgestellten Schuldverschreibungen machten dies unter der Annahme, dass die US-Regierung die Garantie übernehmen würde. In der Folge müssen die US-SteuerzahlerInnen für Hypotheken in der Höhe von rund 5000 Mrd. $ gerade stehen, und es ist noch lange nicht absehbar, wie hoch der Endbetrag letztlich sein wird.
Die Frage, die sich stellt, ist ganz klar: Entweder wir haben eine freie Marktwirtschaft, die auf der Profitlogik basiert, oder wir haben eine staatliche Planwirtschaft. Ein „regulierter Kapitalismus“ aber ist ein Widerspruch in sich. In einem Artikel der Financial Times war die treffende Aussage zu lesen: „Unabhängig davon, welche komplizierten Modelle die Politiker sich jetzt einfallen lassen werden, um die strittigen Geldtransfers einzuschränken, werden intelligente Köpfe im Finanzsystem einen Weg finden, die Regulierungen zu umgehen oder aus den regulierten Teilen dieser Branche auszusteigen.”
Jetzt muss es darum gehen, diese grotesken Casinos, die über das Schicksal von Millionen Menschen entscheiden, abzuschaffen und die kapitalistische Anarchie durch eine rational organisierte Gesellschaft auf der Grundlage einer Planwirtschaft zu ersetzen. Es wird nun mehrfach behauptet, dass die von Bush und Brown getätigten Maßnahmen eine Form der Verstaatlichung wären. Doch diese Maßnahmen haben absolut nichts gemein mit der sozialistischen Idee von Verstaatlichung. Denn damit soll eben nicht die wirtschaftliche Macht einer kleinen Minderheit von superreichen Parasiten gebrochen werden.
Sozialisten lehnen eine solche Politik radikal ab. Diese Formen der „Verstaatlichung“ sind nichts anderes als eine Art von Staatskapitalismus mit dem Ziel, das kapitalistische System als Gesamtes zu retten. Dies wird zwangsläufig zu einer weiteren Monopolisierung, zu Massenentlassungen, Bankschließungen und anderen arbeiterfeindlichen Maßnahmen führen. Die Banker werden für ihre ruchlosen Aktivitäten vom Staat auch noch belohnt. Ihre Verluste werden vom Staat mit dem Geld der SteuerzahlerInnen übernommen, die Banken sollen so wieder profitabel gemacht werden. Die Banker sollen sich so gleich zweifach auf Kosten der Allgemeinheit bereichern können. Und dann soll die Spekulation wieder von vorne beginnen können.
Es führt kein Weg daran vorbei, die Banken, Versicherungen und die großen Konzerne, also die Schaltstellen der Ökonomie, zu verstaatlichen. Entschädigungszahlungen sollen nur dort geleistet werden, wo dies nachweisbar erforderlich ist. Nur wenn die Produktivkräfte vergesellschaftet sind, wird es möglich sein, einen rationalen Produktionsplan zu erstellen. Nur dann können wirtschaftliche Entscheidungen im Interesse der Allgemeinheit und nicht von einer parasitären Minderheit getroffen werden.
Das ist das grundlegende Ziel der sozialistischen Bewegung. Diese Ideen werden von Millionen Menschen, die damit bisher nicht viel anfangen konnten, aufgrund ihrer eigenen Lebenserfahrung verstanden und begrüßt werden. Die Menschen, die auf den Straßen von New York gegen den Plan von Bush und Paulson demonstriert haben, waren keine Sozialisten. Vor einigen Monaten waren sie wahrscheinlich sogar noch glühende Verfechter der freien Marktwirtschaft. Sie haben wohl noch nie in ihrem Leben Marx gelesen und sahen sich zweifelsohne als patriotische AmerikanerInnen. Doch das Leben lehrt, und in Situationen wie diesen lernen die Menschen in wenigen Tagen mehr als sonst ihr ganzes Leben lang. Die Lohnabhängigen in den USA werden jetzt schnell lernen. Und wie schon Victor Hugo einst sagte: „Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist!“
Alan Woods, London, September 26, 2008
Teil 1 findet sich hier