„Ich bin eine Kämpferin und keine Drückebergerin“, verteidigte sich Liz Truss weinerlich vor dem britischen Unterhaus. Nur wenige Stunden später sollte dieses tapfere Schlachtross des rechten, libertären Tory-Flügels vor der Premier-Residenz Downing-Street 10 seinen Rücktritt erklären. Damit geht Truss als die kürzest dienende Premierministerin in die britische Geschichte ein. Wie es dazu kam und wie es jetzt weitergeht, erklärt David Walch.
Nachdem Truss am sechsten September in die Downing Street eingezogen war, folgten nur 17 Tage bis zum Zusammenbruch ihrer Autorität – ihre untergebenen Minister folgten ihren Weisungen nicht mehr und stellten sich offen gegen sie. Der britische Economist bemerkte dazu zynisch am 11. Oktober, dass, wenn man die zehn Tage der Staatstrauer um Elisabeth II. abziehe, nurmehr sieben Tage tatsächlicher Macht verblieben, was etwa der Haltbarkeitsdauer eines Kopfsalats entspreche. Anstatt mit ihrer wirtschaftsliberalen Politik in die Fußstapfen der „Iron Lady“ Thatcher einzutreten, wurde Truss zur Witzfigur, der „Iceberg Lady“.
Schock trifft volatile Märkte
Die frisch amtierende Regierung Truss wollte auf einem durchaus unorthodoxen Weg die britische Wirtschaft ankurbeln. Ein „Mini-Budget“, das am 23. Oktober von Finanzminister Kwarteng präsentiert wurde, sah die Aufnahme massiver Kredite zur Finanzierung von Steuersenkungen vor allem für Reiche vor.
Diese Ankündigung sorgte noch am selben Tag für den Absturz des Kurses britischer Staatsanleihen (genannt „gilts“), was zu einem starken Abverkauf derselben durch Pensionsfonds führte. Um einen weiteren Absturz des Gilt-Kurses einzudämmen und die Stabilität der Finanzmärkte zu garantieren, sah sich die Bank of England zum Aufkauf von Gilts gezwungen. Anstatt die ohnehin nervösen Märkte durch vorausschauende Politik zu beruhigen, verursachten Truss und Kwarteng ein wahrhaftes Chaos und wurden von der Autorität der Staatsbank zurückgepfiffen. In den Umfragen fielen die Konservativen auf 21%, während Labour mit 54% eine überwältigende Mehrheit prognostiziert wurde.
Mitte Oktober sah sich Truss gezwungen, zurückzurudern. Freilich nahm sie die Verantwortung nicht auf sich, sondern servierte ihren Finanzminister ab. An seiner Stelle folgte der Truss-Gegner Jeremy Hunt, welcher, so scheint es, von den gemäßigteren Tories als Kindermädchen für die angeschlagene Truss eingesetzt wurde, um den verursachten Schaden zu minimieren.
Mit dem Scheitern der Premierministerin, welche das von Boris Johnson hinterlassene Chaos und Vertrauensproblem der Tory-Regierung lindern hätte sollen, stehen wir nun vor einer noch unbeliebteren Regierungspartei in einer noch misslicheren Lage. Zum dritten Mal in drei Jahren muss sich die Partei auf einen Führungswechsel einstellen.
Nach Johnson und Truss ist das konservative Establishment aber nicht mehr gewillt, zu große Experimente einzugehen: Das „1922 Committee“ des Parlamentsklubs setzte fest, dass potenzielle Kandidaten die Unterstützung von 100 Parlamentariern (beim letzten Mal waren es noch 20) brauchen, um ins Rennen zu gehen. Neben Penny Mordaunt und Rishi Sunak wurde auch der erst kürzlich aus dem Amt entfernte Boris Johnson als Kandidat für das Amt gehandelt – mit dem Argument, mit ihm habe man immerhin Wahlen gewonnen, konnte er doch immer noch eine beachtliche Schicht der Tory-Granden hinter sich scharen. Letztendlich setzte sich Sunak, der im Vergleich zum restlichen Zirkus „vernünftige“ Kandidat, durch.
Mit Rishi Sunak hat das Kapital nun seinen bevorzugten Premier. Foto: flickr/communitiesuk
Aber vernünftig oder nicht, der zukünftige Premier kann sich der Realität nicht verweigern und muss mit den ökonomischen Verwerfungen der gegenwärtigen Krise umgehen. Zu erwartende Maßnahmen sind Einsparungen sowie Steuererhöhungen.
Das 40 Milliarden Pfund Defizit im britischen Budget wird auf Kosten der Arbeiterklasse gefüllt werden müssen – und das angesichts einer massiven Inflation von über zehn Prozent, die einen massiven Druck auf die Bevölkerung ausübt. Der aktuelle Finanzminister Hunt wird am 31. Oktober einen mittelfristigen Ausgabenplan vorlegen.
Es ist davon auszugehen, dass dieser Kürzungen bei den Ausgaben für Infrastruktur und Sozialwesen enthalten und einen Versuch darstellen wird, die Krise auf die Arbeiterklasse abzuwälzen.
Wer wird die britische Bourgeoisie erretten?
Mit den Zerwürfnissen innerhalb der Tories werden die Rufe nach Neuwahlen immer lauter. Zwar scheint es im ersten Moment unwahrscheinlich, dass sich die parlamentarische Mehrheit der Konservativen für den Verzicht auf die Futtertröge der Macht entscheiden sollte, doch die Unfähigkeit eine stabile Regierung in Zeiten der tiefen Krise hervorzubringen drängt in diese Richtung. Nach zwölf Jahren an der Regierung, so der Economist, sind die Tories mit den Nachwehen des Brexit in eine Krise der Unfähigkeit zu regieren gerutscht, in der sie nicht mehr für Stabilität garantieren können, sondern diese im Gegenteil durch Unberechenbarkeit untergraben. Die herrschende Klasse sieht ihre traditionelle Partei für den Moment in der Sackgasse und sucht anderswo nach Linderung ihrer Schmerzen.
Als rettender Heiland erscheint ihr der glänzende Ritter seiner Majestät, Keir Starmer, seines Zeichens rechter Labour-Vorsitzender. Dieser spricht sich lautstark für Neuwahlen aus – Labour solle das Steuer übernehmen und Britannia in sichere Fahrwasser lenken, anstatt dass diese mit einem neuen Experiment an der Spitze der Tories auf Grund läuft und der soziale Frieden zerbricht. Eine „stabile Labour-Regierung“ sei der Ausweg aus der Krise.
„Sir“ Keir Starmer: Der rechte Labour-Vorsitzende (von der ehemaligen Königin zum Ritter geschlagen!) sieht sich als zukünftiger Retter des kapitalistischen Regimes in Großbritannien.
Nieder mit dem verrotteten System
Ein Schlag nach dem anderen trifft den britischen Kapitalismus: Die andauernden Krisen, die skandalgetränkte Johnson-Administration und ihr Zusammenbruch, der Tod der die Nation einigenden Monarchin Elisabeth und der Machtantritt des Widerlings Charles und nunmehr das Desaster Truss. All das, während die Arbeiterklasse mit horrender Inflation kämpft. Ihre Perspektive ist nicht Resignation, sondern Kampf. Der Streiksommer in Großbritannien (wir berichteten in Ausgabe 206) hat sich in einen Streikherbst fortgesetzt. Nach einem kurzen Moment nationaler Zurückhaltung nach dem Tode Elisabeths ist der Kampf nun wieder in vollem Gange.
Über den Oktober hinweg brachten die Eisenbahner, Hafen- und Postarbeiter ihre jeweiligen Sektoren zum Stillstand. In anderen Branchen, wie im Gesundheitsbereich oder bei den Lehrern, zeichnen sich Arbeitskämpfe bereits ab. Die britische Arbeiterklasse will nicht für die Krise aufkommen und Reallohnverluste einstecken. Unsere GenossInnen von Socialist Appeal intervenieren in dieser Bewegung und argumentieren für eine Ausweitung der Streiks und ein sozialistisches Programm. Wir sagen: volle Kraft voraus, wir zahlen eure Krise nicht, nieder die unfähige Regierung der Reichen, vorwärts zum Sturz des verfaulten Kapitalismus.
Die voraussichtliche Machtübernahme der Labour-Partei wird unter der derzeitigen Führung die Probleme der Arbeiterklasse nicht lindern können, sondern dem Sparkurs lediglich ein freundlicheres und scheinbar unbeflecktes Antlitz verleihen. Daher sagen wir: Sturz jeder Regierung der herrschenden Klasse, für eine sozialistische Führung der Labour-Partei!
(Funke Nr. 208/25.10.2022)