Die Wirtschaftskrise bedroht die Existenz aller. Verschwörungen, Medienmanipulation und andere unlautere Absichten der Herrschenden scheinen für viele eine verlockende Erklärung zu sein. Doch der Kapitalismus braucht keine Verschwörungen, um Schrecken ohne Ende zu erzeugen. Von Sandro Tsipouras.
„Menschenrechte, Freiheit und demokratische Grundrechte“, „Freiheit statt Impfzwang“, „Freiheit statt Tyrannei“, „Freiheit statt Angst“, „für unabhängige Medien“, „gib Gates keine Chance“ – in den Forderungen, die auf den sich immer weiter verbreitenden Corona-Demos zur Schau gestellt werden, steht Vernünftiges ganz eng neben Verrücktem. Wer wäre nicht für demokratische Grundrechte und unabhängige Medien? Und ist es nicht verständlich, dass man sich unwohl bei dem Gedanken fühlt, von einer intransparenten Regierung eine Spritze verabreicht zu bekommen, ohne nein sagen zu dürfen? Wieso sollte man einem Superreichen wie Bill Gates nicht misstrauen?
Auf diese wichtigen politischen Fragen wird von den OrganisatorInnen und BesucherInnen der Corona-Demos allerdings überhaupt keine politische Antwort gegeben. Es gibt auch keine politische Erklärung dafür. Stattdessen eint die TeilnehmerInnen die Überzeugung, Opfer eines großen Betrugs zu sein. In ihrer Vorstellung gibt es irgendwo ein dunkles, zigarrenvernebeltes Hinterzimmer, in dem eine unheimliche Elite finstere Pläne schmiedet. Die Absurditäten des Alltags sind in ihren Augen keine Absurditäten mehr, weil man sie als Teil eines solchen großen Plans versteht.
Von 5G-Gegnertum über die US-amerikanische Verschwörungstheorie „QAnon“, die in Donald Trump den heldenhaften Vorkämpfer gegen ein Pädophilennetzwerk im US-Staatsapparat erkannt haben will, bis hin zur Überzeugung, dass Impfungen eine Verschwörung der Pharmaindustrie sind, um uns krank zu machen oder gar Überwachungschips einzupflanzen, sind die verschiedensten Theorien auf den Demos vertreten. Wie man sich den „großen Plan“ erklärt, spielt aber gar keine Rolle, von Lösungen ganz zu schweigen. Es reicht den TeilnehmerInnen völlig, sich gegenseitig versichern zu können, dass hier „etwas faul“ ist (egal was). Dass wir „belogen“ werden (egal von wem und worüber). Dass „die“ (egal wer) „uns für bescheuert halten“ (egal warum) und uns unsere „Rechte“ (egal welche) nehmen wollen (egal wozu).
Wer gegen eingebildete Bedrohungen (Impfzwang, 5G, Bargeldabschaffung) auf die Straße geht, will, dass sich etwas ändert, ohne, dass sich etwas ändert. Diese Leute stellen Forderungen, die überhaupt keine Änderung bringen, außer, dass „die Verantwortlichen“ eben von ihrem hinterlistigen Treiben ablassen und dem Rechtsstaat, den Grundrechten, der Medienfreiheit und anderen schönen Dingen mehr Respekt zollen sollen, indem sie von niemandem mehr verlangen, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Die Überzeugung, dass ein großer Betrug für die Missstände auf der Welt verantwortlich sei, ist also die Kehrseite einer anderen Überzeugung: Wenn „die Verantwortlichen“ einfach nur anständige Leute wären, Leute wie du und ich, wie ja auch HC Strache „einer von uns“ ist, wenn „da oben“ einfach mal jemand „aufräumen“ würde, dann wäre alles in schönster Ordnung. Eigentlich müsste das alles gar nicht so sein.
Des „Rätsels“ Lösung: die Produktionsweise
Die Wahrheit ist ungleich schlimmer: Es muss durchaus so sein, solang der Kapitalismus existiert. Er erzeugt Schrecken ohne Ende, ganz unabhängig davon, wer in den Chefetagen und Regierungen sitzt. Der Kapitalismus unterdrückt uns in grellem Tageslicht. Er braucht sich in keinem Hinterzimmer zu verstecken. Was wir erleben, hat niemand geplant, sondern es ist die normale Funktionsweise dieses Wirtschaftssystems. Die Welt, mit der wir konfrontiert sind, zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie vollkommen außer Kontrolle ist, dass niemand hier das Steuer in der Hand hat, dass es niemanden gibt, durch dessen Beseitigung wundersamer Weise alles in Ordnung kommen könnte, dass niemand weiß, was morgen sein wird. Die Verwirrung und Unsicherheit, die die Corona-DemonstrantInnen empfinden, wird von den Mächtigen der Gesellschaft genauso empfunden. Friedrich Engels nannte es: „Anarchie der Produktion“. Dieser Zustand ist einfach nur die logische Konsequenz dessen, dass die Geschicke der Menschheit von der Tatsache bestimmt werden, dass ihre produktiven Kapazitäten das Privateigentum irgendwelcher UnternehmerInnen sind, die sie zur persönlichen Bereicherung missbrauchen, dass die sich dabei auch noch gegenseitig permanent totkonkurrieren müssen, um überleben zu können, und dass deshalb die Menschheit gezwungen ist, sich absolut chaotisch, unkoordiniert und planlos durch Wirtschaftskrisen, Gesundheitskrisen, Klimakrisen, Kriege, Hunger und Unterdrückung hindurchzuschleppen.
Das ist der Grund, warum die Länder das Virus in Konkurrenz zueinander bekämpfen und dabei Hunderttausende krepieren lassen. Das ist der Grund, warum eine Stilllegung der Wirtschaft ohne den Existenzverlust einer endlosen Zahl von KleinunternehmerInnen nicht zu haben ist: Der Kapitalismus lässt es nicht zu, dass man auf Pause drückt, weil immer irgendwo ein Konkurrent lauert, der die Pause auszunutzen sucht. In einer Planwirtschaft gäbe es hier überhaupt kein Problem.
Die Verzweiflung der Mittelschichten
Die Corona-Demos sind also ihrem Wesen nach zutiefst konservativ. Indem sie die Schuld an den Zuständen auf irgendwelche „Verantwortlichen“ schieben, nehmen sie die Zustände selbst aus der Schusslinie. Aus diesem Grund sind sie auch so anschlussfähig für Rechtsextreme, die sich etwa in Deutschland, Spanien und den USA zu Tausenden unter die Corona- DemonstrantInnen mischen. Das wesentliche Merkmal des Rechtsextremismus ist, dass er berechtigten Unmut so verdreht, dass er den Zuständen, die den Unmut erzeugt haben, nicht mehr entgegensteht, sondern sie im Gegenteil festigt. Jemand beschwert sich über zu geringe Löhne? Die Ausländer sind schuld, und damit nicht die Chefs, die die Löhne gesenkt haben, und damit haben die Chefs freie Hand, die Löhne weiterhin zu senken, wie sie wollen. Der Rechtsextremismus hat schon immer die Rolle gespielt, im Interesse der Reichen die übrigen Menschen durch Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Antisemitismus oder ähnliche Ideologien gegeneinander aufzuhetzen. Die italienischen Faschisten sind aus Streikbrecher-Schlägerbanden entstanden.
Rechtsextreme sind deshalb immer auch Verschwörungstheoretiker. Das ideologische Konstrukt des „jüdischen Bolschewismus“ der Nazis ist der Höhepunkt dieser politischen Methodik, die an jedes Problem nur mit dem Ziel herangeht, irgendwelche Schuldigen ausfindig zu machen und zu beseitigen. Dadurch wird die dem Kapitalismus innewohnende „normale“ Entfremdung zur Barbarei gesteigert.
Der Marxismus erklärt, dass eine Ideologie, um in einer Gesellschaft wirkmächtig zu werden, die Interessen einer bestimmten Klasse oder Schicht vertreten muss. Der Rechtsextremismus und die übrigen Verschwörungstheorien sind dem Klassencharakter nach identisch. Es sind die ideologischen Produkte der Verzweiflung der Mittelschichten. Der Antisemitismus der Nazis hatte genau denselben Zweck wie jetzt die Theorie, COVID-19 werde von den Monopolen eingesetzt, um „den Mittelstand“ endgültig zu vernichten.
Der „mittelständische Betrieb“, der Bäcker, der Metzger, der Schlosser, der kleine Ladenbesitzer, der Häuslebauer, der „Startup- Unternehmer“ oder gar „Freelancer“ sehen kein Zukunftsszenario, in dem sie nicht unter die Räder gerieten. Im Kapitalismus werden sie von den Monopolen gnadenlos in den Boden konkurriert – und die brauchen dafür gar kein Virus – das schafft die Marktwirtschaft ganz allein! Jetzt, da das Virus diese Situation verschärft, die im Kapitalismus immer schon angelegt war, geraten die Mittelschichten in Panik. Weil es ihnen aber gerade darum geht, ihr bisschen Eigentum und ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, können sie sich auch nicht dazu entschließen, den Kapitalismus zu bekämpfen. Sie wollen einen Kapitalismus, in dem ihnen nichts passiert. Weil das unmöglich ist, nehmen sie Zuflucht in unmöglichen Gedankenkonstrukten. Einer solchen Betrachtungsweise verdankt sich dann auch der Vorwurf einiger Corona-DemonstrantInnen an Sebastian Kurz, den marktradikalsten Kanzler dieser Republik seit ihrem Bestehen, er schade mit seiner Politik „der Wirtschaft“. Wenn der Kapitalismus, wie es ihm aufgrund seiner innewohnenden Funktionsweise unausweichlich immer wieder geschehen muss, in eine Krise gerät, die die Existenzen dieser Menschen bedroht, wissen sie sich die Lage nur durch finstere Mächte zu erklären; durch irgendwen, der ihnen Böses will.
Lenin sagte: „Es gibt keine völlig ausweglose Lage“. Das gilt auch für die Teile der Gesellschaft, die jetzt zu mehr oder weniger extremistischem Verschwörungsdenken hintendieren. Wenn die Arbeiterklasse die Macht in der Gesellschaft ergreift und die Monopole verstaatlicht, beseitigt sie damit auch die Bedrohung, der diese Menschen im Kapitalismus immer ausgesetzt bleiben werden. In einer sozialistischen Gesellschaft gibt es keine Möglichkeit, unter die Räder zu geraten, keine „gescheiterten Existenzen“ und damit auch keinen Grund für existenzielle Verzweiflung mehr. Die „Tyrannei“ und die „Angst“, die den Corona-DemonstrantInnen so zu schaffen machen, können nur aufhören, wenn die kapitalistische Produktionsweise überwunden wird.
Verschwörungen sind irrelevant
Die Medien lügen. Es stimmt. Aber sie tun das nicht, weil sie sich mit irgendwem zu irgendeinem Zweck verschworen hätten. Sie lügen, weil sie als gewinnorientierte Unternehmen den Kapitalismus – das System, von dem sie profitieren – verteidigen. Die Pharmaindustrie hat ein Interesse daran, uns krank zu machen. Es stimmt. Aber das liegt nicht an ihrer Bosheit, sondern daran, dass sie aus profitorientierten Unternehmen besteht, die bankrottgehen, wenn sie keine KundInnen haben. Die Regierung (jede Regierung) lügt. Es stimmt. Aber sie tut das nicht, weil sie einen großen Geheimplan hätte (auch wenn Sebastian Kurz sich das vielleicht sogar einredet), sondern weil es mit ihr sofort zu Ende wäre, wenn sie die Wahrheit über ihr Tun aussprechen würde. Auch die Geheimdienste sind permanent in irgendwelche Verschwörungen verstrickt und Wikileaks hat es bewiesen. Es stimmt. Aber es spielt keine Rolle.
Dass die Interessen der Reichen und die der übrigen Menschen grundsätzlich unvereinbar sind, ist hier das Problem. Das hat sich niemand ausgedacht und da gibt es keine Schuldigen. Das Einzige, was dagegen hilft, ist, die Macht der Reichen zu brechen und die Interessen der übrigen Menschen durchzusetzen, und das bedeutet: Verstaatlichung der Banken und Schlüsselindustrien unter Arbeiterkontrolle.
Das wiederum setzt voraus: Eine starke Arbeiterbewegung, bewaffnet mit einem revolutionären Programm. Dafür aber sind die Corona-Demos ein Hindernis. Wer den Kapitalismus stürzen will, muss Verschwörungstheorien und ihre politischen Aktionen als politische Gegner betrachten und entsprechend bekämpfen.
(Funke Nr. 184/3.6.2020)