Im letzten Teil seiner Einführung geht Alan Woods auf die Anwendung der dialektischen Methode auf die materialistische Geschichtsauffassung ein, die Rolle des Staates und des Individuums in der Geschichte.
Der historische Materialismus
Von Marx gibt es eine ausgezeichnete, wenn auch wenig zitierte Definition des historischen Materialismus im dritten Band des Kapital:
„Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt.
Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit zugleich seine spezifische politische Gestalt. Es ist jedes Mal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten – ein Verhältnis, dessen jedesmalige Form stets naturgemäß einer bestimmten Entwicklungsstufe der Art und Weise der Arbeit und daher ihrer gesellschaftlichen Produktivkraft entspricht – , worin wir das innerste Geheimnis, die verborgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses, kurz, der jedesmaligen spezifischen Staatsform finden.
Dies hindert nicht, daß dieselbe ökonomische Basis – dieselbe den Hauptbedingungen nach – durch zahllos verschiedne empirische Umstände, Naturbedingungen, Racenverhältnisse, von außen wirkenden geschichtlichen Einflüssen usw., unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebnen Umstände zu begreifen sind.“ (Karl Marx: Das Kapital Bd. III, S. 799–800.)
Der wesentliche Inhalt der sozialen Entwicklung ist die Entwicklung der Produktivkräfte. Aber auf der Grundlage der Produktivkräfte entstehen Eigentumsbeziehungen und ein komplexer Überbau aus rechtlichen, religiösen und ideologischen Beziehungen. Letztere bilden die Formen, in denen sich die Ersteren ausdrücken. Inhalt und Form können in Widerspruch zueinander geraten, aber letztendlich wird der Inhalt immer die Form bestimmen.
Der Inhalt ändert sich schneller als die Formen, was zu Widersprüchen führt, die es zu lösen gilt. Der veraltete Überbau behindert sodann die Entwicklung der Produktivkräfte. So steht die Entwicklung der Produktivkräfte, die ungeahnte Höhen erreicht hat, in unserer Epoche in einem offenen Konflikt mit dem Privateigentum und dem Nationalstaat. Die alten Formen ersticken die Entwicklung der Produktivkräfte. Sie müssen zerbrochen werden, damit dieser Widerspruch aufgelöst werden kann. Die überholten Formen werden durch neuere ersetzt, die im Einklang mit den Bedürfnissen der Produktivkräfte stehen.
Jede nachfolgende sozioökonomische Formation eröffnet die Möglichkeit einer Weiterentwicklung der Produktivkräfte und steigert damit die Macht der Menschheit über die Natur. Auf diese Weise wird die materielle Grundlage für den von Friedrich Engels vorhergesagten Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit geschaffen.
Klassengesellschaft
Die Spezies Homo sapiens entstand vor etwa 100.000 bis 250.000 Jahren, vielleicht sogar schon vor 400.000 Jahren. Was wir Zivilisation nennen ist etwa fünftausend Jahre alt und entstand durch die Aufteilung der Gesellschaft in Klassen. Das bedeutet, dass der Menschheit über 95 Prozent ihrer Geschichte der Segen des Privateigentums, der Polizei und der Armee, der monogamen Familie und des Gegensatzes zwischen Stadt und Land vorenthalten blieb – all jene Institutionen, die von etablierten Sozialwissenschaftlern als gegeben und unvergänglich akzeptiert werden.
Die Klassengesellschaft selbst hat im Laufe ihrer Entwicklung eine Reihe von grundlegenden Veränderungen oder Revolutionen erlebt. Im Großen und Ganzen ist die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft, wie Marx erklärte, durch eine Reihe von Etappen oder „Epochen“ gekennzeichnet. Auf einem gewissen Entwicklungsstand der Produktivkräfte sind sozioökonomische Systeme entstanden, die sich durch kommunalen Landbesitz, Sklaverei, Leibeigenschaft oder Lohnarbeit auszeichneten. Jede dieser Formationen hatte einen eigenen politischen und kulturellen „Überbau“ und funktionierte nach eigenen Bewegungsgesetzen.
Der Versuch, die „allgemeinen“ Gesetze der politischen Ökonomie zu entdecken, die gleichermaßen für das alte Ägypten, das mittelalterliche Europa und die moderne Weltwirtschaft gelten, macht daher keinen Sinn. Es ist notwendig, die besonderen Gesetze zu erforschen, die diese Systeme bestimmen, „den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren“, um die Worte von Marx zu verwenden (Karl Marx: Das Kapital Bd. I, S. 27.).
Heute entspricht die kapitalistische Anarchie der Produktion nicht mehr den Anforderungen der modernen Industrie, Technologie und Wissenschaft. Der einzige Weg, die Widersprüche des Kapitalismus zu lösen und so die Ursache für Hunger, Armut, Kriege und Terrorismus zu beseitigen, liegt in der sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass der Prozess der menschlichen Entwicklung eine ständige Beschleunigung erfahren hat. Der Untergang des Römischen Reiches, das die Sklaverei in ihrer am weitesten entwickelten Form darstellte, verursachte zunächst einen Zusammenbruch der Zivilisation in Europa, dann ihre langsame Wiederbelebung unter dem feudalen System, das etwas mehr als tausend Jahre existierte. Der Feudalismus dauerte weit kürzer als die Sklavenhaltergesellschaft, und der Kapitalismus existiert erst seit zwei oder drei Jahrhunderten.
Im Kapitalismus war das Entwicklungstempo der Produktivkräfte weitaus schneller als in jeder früheren Gesellschaftsformation. In dieser Epoche gab es mehr Erfindungen als in der gesamten bisherigen Geschichte. Aber diese fieberhafte Entwicklung von Industrie, Wissenschaft und Technik steht im Widerspruch zu den engen Grenzen, die durch das Privateigentum und den Nationalstaat gesetzt sind.
Der altersschwache Kapitalismus ist nicht mehr in der Lage, die Produktivkräfte wie in der Vergangenheit zu entwickeln. Dies ist die Hauptursache für die gegenwärtige Krise, welche die Existenz der Menschheit zu bedrohen beginnt.
Widersprüche in der Gesellschaft
Die dialektischen Gesetze sind nicht auf die Natur beschränkt, sondern gelten auch im Bereich der menschlichen Gesellschaft, der Geschichte und der Ökonomie. Zu der Liste von Phasenübergängen, die in Büchern wie Ubiquity beschrieben werden, können wir auch Revolutionen hinzufügen, die Ausdruck des Kampfes zwischen den Klassen sind.
Wir haben uns bereits mit dem Konzept der kritischen Masse in Bezug auf Phänomene wie dem Atom beschäftigt, das zeigt, dass die internen Widersprüche durch spezifische Kräfte innerhalb bestimmter Grenzen eingedämmt werden, dass aber die Überschreitung dieser Grenzen zu einer Kritikalität mit explosiven Folgen führt. Ähnliche Prozesse können wir in der Gesellschaft beobachten.
Im Kommunistischen Manifest erklären Marx und Engels, dass die Geschichte aller bisher existierenden Klassengesellschaften die Geschichte von Klassenkämpfen ist. Die Existenz von Klassengegensätzen droht die Gesellschaft auseinanderzureißen. Um den Klassenkampf zu regulieren und zu kontrollieren, entsteht eine Macht, die über der Gesellschaft steht und sich zunehmend von ihr entfremdet. Diese Macht ist der Staat.
Die Rolle der Staatsmacht besteht darin, das Fortbestehen des Status quo zu gewährleisten, die Ordnung aufrechtzuerhalten und dafür zu sorgen, dass sich die Kräfte, die die Gesellschaft zu zerreißen drohen, in akzeptablen Grenzen halten. Im Endeffekt besteht der Staat aus bewaffneten Formationen: der Polizei, der Armee, den Gefängnissen und Gerichten. Letzten Endes muss sich die herrschende Klasse, die zahlenmäßig eine Minderheit darstellt, auf die Ausübung oder zumindest die Androhung von Gewalt stützen, um ihre Herrschaft behaupten zu können.
Der Aufruf zur Gewalt ist jedoch nur das letzte Mittel. Der herrschenden Klasse steht eine ganze Reihe von Instrumenten zur Verfügung, um die Kontrolle über die Gesellschaft auszuüben. Sie verfügt nicht nur über das Gewaltmonopol, sondern hat de facto auch ein Monopol auf Kultur. Die Schulen und Universitäten, die Presse und die Massenmedien und alle anderen Kultureinrichtungen sind das privilegierte Eigentum der herrschenden Klasse, das sie im eigenen Interesse nutzt und missbraucht.
Die Philosophischen Fakultäten der Universitäten haben, wie alle anderen auch, eine sehr nützliche Funktion aus der Sicht der herrschenden Klasse: Sie sollen den Marxismus und alle anderen „subversiven“ Geistesströmungen bekämpfen und der Jugend Ideen einimpfen, die den Interessen der herrschenden Klasse und dem Status quo entsprechen. Es reicht aus, auf die Lawine anti-revolutionärer Propaganda hinzuweisen, die zum hundertsten Jahrestag der Russischen Revolution über die Bücherläden und Fernsehschirme rollte.
Eine der mächtigsten Waffen in den Händen der herrschenden Klasse ist die Religion. Die utilitaristische, oder besser gesagt, zynische Sichtweise auf die Religion wurde schon vor langer Zeit vom römischen Philosophen Seneca geäußert, als er sagte: „Religion gilt dem gemeinen Manne als wahr, dem Weisen als falsch und dem Herrschenden als nützlich.“ Diese Sichtweise beinhaltet einige Wahrheiten, insbesondere wenn sie der Erklärung der Rolle der organisierten Religion dienen soll.
Napoleon sah die Kirche als eine sehr nützliche Institution, um die Massen zu kontrollieren und seine eigene Macht zu stärken, obwohl er selbst nicht gläubig war. Wahrscheinlich hatte Kaiser Konstantin, der das Christentum zur Staatsreligion des Römischen Reiches machte, obwohl es keinen wirklichen Beweis dafür gibt, dass er selbst jemals getauft wurde, einen ähnlichen Zugang zur Kirche.
Aber das kann nicht die tiefen Wurzeln der Religion in der Volksseele erklären. Um den mächtigen Einfluss der Religion auf das Denken und Fühlen der Massen verstehen zu können, muss man den Charakter der Klassengesellschaft und die Rolle der Entfremdung verstehen. In diesem Sinne hatte Marx ein viel tieferes Verständnis von Religion als die Linkshegelianer wie Strauß.
In der kapitalistischen Gesellschaft sind Menschen voneinander entfremdet und fremden Kräften unterworfen, die sich ihrer Kontrolle entziehen und die sie nicht verstehen. Der wahre Gott im Kapitalismus ist weder Jehova noch Allah, sondern Mammon, der Gott des Reichtums. Seine wahren Tempel sind nicht die Kirchen, Moscheen oder Synagogen, sondern die Börsen, die das Schicksal von Millionen von Menschen bestimmen.
Im ersten Band des Kapital gibt es ein berühmtes Kapitel über den Warenfetischismus. Dies erklärt sehr anschaulich die Macht des Geldes in der bürgerlichen Gesellschaft. Alle menschlichen Beziehungen werden durch diese Macht vermittelt und zu etwas Unmenschlichem, Hässlichem und Unterdrückendem verzerrt. Die menschliche Psychologie wird durch diese fremde Kraft massiv konditioniert. Sie führt dazu, dass die Menschen nicht nach ihren Fähigkeiten, ihrer körperlichen Stärke, ihrer Schönheit oder ihrem Intellekt beurteilt werden, sondern rein nach ihrem Geldvermögen.
Dies führt zu einer ungeheuerlichen Situation, in der alle natürlichen menschlichen Beziehungen auf dem Kopf stehen. Wenn wir das Niveau unserer Zivilisation gemäß den Standards des heutzutage vorherrschenden Verhaltens gegenüber Frauen, Kindern und alten Menschen beurteilen, dann ist die moderne Gesellschaftsordnung nicht viel wert. Die schreckliche Bilanz von Gewalt an Frauen, Kindesmissbrauch und Prostitution im Kapitalismus schneidet miserabel ab verglichen mit der gemeinschaftlichen Erziehung der Kinder, wie es die Menschheit den größten Teil ihrer Geschichte praktizierte – zumindest vor dem Aufkommen dieser seltsamen sozialen Ordnung, die die Menschen gerne Zivilisation nennen. Wir entsinnen uns der Worte eines amerikanischen Ureinwohners zu einem Missionar:
„Ihr Weissen“, sprach er zu einem Missionar, „liebt nur eure Kinder. Wir lieben die Kinder vom Clan. Sie gehören zum ganzen Volk, und wir schauen zu ihnen. Sie sind Knochen von unsern Knochen, Fleisch von unserm Fleisch. Wir sind alle Vater und Mutter zu ihnen. Die Weissen sind Wilde; sie lieben ihre Kinder nicht. Wenn Kinder Waisen werden, müssen Leute dafür bezahlt werden, die für sie sorgen. Wir wissen nichts von so barbarischen Sitten.“ (Robert Briffault und Bronislaw Malinowski: Streitgespräch über die Anthropologie der Ehe, S. 27.)
Die entscheidende Wende
So wie es im Atomkern Kräfte gibt, die verhindern, dass er auseinanderfliegt, so gibt es in der Gesellschaft eine ganze Reihe von Mechanismen, die einem ähnlichen Zweck dienen. Aber die bei weitem mächtigste von ihnen ist eine Kraft, die in Form von Tradition, Gewohnheit und Routine in den Köpfen der Menschen selbst wirkt und ein wichtiges Element der Trägheit in der Gesellschaft darstellt.
Die meisten Menschen mögen keine Veränderungen. Sie fürchten jede Störung der bestehenden Ordnung, die ihnen wie ein Sprung ins Unbekannte erscheint. Die meisten Menschen werden mit außergewöhnlicher Hartnäckigkeit an althergebrachten Ideen, Vorurteilen, religiösen Überzeugungen sowie den herkömmlichen politischen Parteien und Führungen festhalten. Keine andere Kraft wirkt so stark im Sinne der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Aber wie alles andere in der Natur kann diese wirksame Trägheit die Dinge nur bis zu einem gewissen Grad zusammenhalten.
Unter der scheinbar ruhigen Oberfläche brodelt es. Unzufriedenheit, Wut, Verbitterung und Frustration ergeben ein explosives Gemisch, das danach strebt, einen Ausdruck zu finden. Früher oder später wird der Punkt erreicht sein, an dem Quantität in Qualität umschlägt.
Wir können den gleichen Prozess bei jedem Streik beobachten. In einem Arbeitskampf verändern sich auch die Menschen, die daran teilnehmen. Arbeiterinnen und Arbeiter, die in der Vergangenheit immer apathisch und passiv waren, werden plötzlich aktiv und überraschen nicht selten gerade diejenigen, die sich sonst gerne als die Fortschrittlichen sehen. In den Worten der Bibel gesprochen: „So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.“ Dieser Satz ist eine äußerst dialektische Feststellung!
Die Herausbildung eines kritischen Zustandes wurde von Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes in einer sehr poetischen und eindrucksvollen Sprache ausgedrückt:
„Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung. Zwar ist er nie in Ruhe, sondern in immer fortschreitender Bewegung begriffen. Aber wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht – ein qualitativer Sprung – und Jetzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baues seiner vorhergehenden Welt nach dem ändern auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas anderes im Anzuge ist. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.“(G. F. W. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 14–15.)
Die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft – der Klassenkampf – bestehen in der einen oder anderen Form und mit mehr oder weniger starker Intensität fort, bis ein kritischer Punkt erreicht ist. An dieser Stelle treten bestimmte Symptome auf, die die Unmöglichkeit aufzeigen, wie bisher weiterzumachen: Die herrschende Klasse ist gespalten und kann nicht mehr auf die alte Weise regieren; die Massen treten in Aktion, um die bestehende Ordnung herauszufordern; die Mittelschichten schwanken zwischen Revolution und Reaktion. All diese Symptome deuten auf eine bevorstehende drastische Veränderung hin.
Der Prozess der Klassenspaltung der Gesellschaft wurde am besten durch den großen russischen Revolutionär Leo Trotzki dargestellt. Im Kapitel über die Doppelherrschaft in seiner Geschichte der Russischen Revolution schreibt er folgendes:
„Antagonistische Klassen existierten in der Gesellschaft stets, und die von der Macht ausgeschlossene Klasse ist unvermeidlich bestrebt, den Staatskurs in diesem oder jenem Grade in ihre Richtung zu lenken. Das bedeutet jedoch noch keinesfalls, dass in der Gesellschaft eine Doppel- oder Vielherrschaft besteht. Der Charakter eines politischen Regimes wird unmittelbar bestimmt von dem Verhältnis der unterdrückten Klassen zu den herrschenden. Die Einzelherrschaft, die notwendige Bedingung der Widerstandsfähigkeit eines jeden Regimes, kann nur so lange bestehen, wie es der herrschenden Klasse gelingt, ihre ökonomischen und politischen Formen als die einzig möglichen der ganzen Gesellschaft aufzuzwingen.
Die gleichzeitige Herrschaft des Junkertums und der Bourgeoisie – in der hohenzollernschen oder in der republikanischen Form – ist, so stark zeitweilig die Konflikte zwischen den beiden Partnern der Macht auch sein mögen, noch keine Doppelherrschaft: Sie haben eine gemeinsame soziale Basis, ihre Zusammenstöße drohen nicht den Staatsapparat zu spalten. Das Regime der Doppelherrschaft entsteht nur aus dem unversöhnlichen Zusammenprall der Klassen, ist demzufolge nur in einer revolutionären Epoche möglich und bildet eines ihrer wesentlichen Elemente.“ (Leo Trotzki: Geschichte der Russischen Revolution. Februarrevolution, S. 177.)
Die Rolle des Individuums
Am 13. Oktober 1806 schrieb ein erregter Hegel in einem Brief an seinen Freund Niethammer:
„Den Kaiser – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Rekognizieren hinausreiten; – es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht.“ (G. F. W. Hegel zit. nach Jaeschke: Hegel Handbuch, S. 24.)
Wie Beethoven und viele der fortschrittlichsten Intellektuellen seiner Zeit war der junge Hegel ein glühender Bewunderer der Französischen Revolution. In der Person Napoleons dachte er, sehe er den Geist dieser Revolution auf dem Pferderücken reiten. Natürlich war seine Einschätzung vom Charakter und der Rolle Napoleons falsch. Doch in seiner Sicht auf die Französische Revolution als der wesentliche Zeitgeist lag er richtig. Der Marxismus leugnet nicht die Rolle des Individuums in der Geschichte, wie Engels erklärt:
„Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber bis jetzt nicht mit Gesamtwillen nach einem Gesamtplan, selbst nicht in einer bestimmt abgegrenzten gegebenen Gesellschaft. Ihre Bestrebungen durchkreuzen sich, und in allen solchen Gesellschaften herrscht ebendeswegen die Notwendigkeit, deren Ergänzung und Erscheinungsform die Zufälligkeit ist. Die Notwendigkeit, die hier durch alle Zufälligkeit sich durchsetzt, ist wieder schließlich die ökonomische. Hier kommen dann die sogenannten großen Männer zur Behandlung. Daß ein solcher und grade dieser zu dieser bestimmten Zeit in diesem gegebenen Lande aufsteht, ist natürlich reiner Zufall. Aber streichen wir ihn weg, so ist Nachfrage da für Ersatz und dieser Ersatz findet sich, tant bien que mal [recht oder schlecht], aber er findet sich auf die Dauer. Daß Napoleon grade dieser Korse, der Militärdiktator war, den die durch eignen Krieg erschöpfte französische Republik nötig machte, das war Zufall; daß aber in Ermangelung eines Napoleon ein andrer die Stelle ausgefüllt hätte, das ist bewiesen dadurch, daß der Mann sich jedesmal gefunden, sobald er nötig war: Cäsar, Augustus, Cromwell etc. Wenn Marx die materialistische Geschichtsauffassung entdeckte, so beweisen Thierry, Mignet, Guizot, die sämtlichen englischen Geschichtsschreiber bis 1850, daß darauf angestrebt wurde, und die Entdeckung derselben Auffassung durch Morgan beweist, daß die Zeit für sie reif war und sie eben entdeckt werden mußte.
So mit allem andern Zufälligen und scheinbar Zufälligen in der Geschichte. Je weiter das Gebiet, das wir grade untersuchen, sich vom Ökonomischen entfernt und sich dem reinen abstrakt Ideologischen nähert, desto mehr werden wir finden, daß es in seiner Entwicklung Zufälligkeiten auf weist, desto mehr im Zickzack verläuft seine Kurve. Zeichnen Sie aber die Durchschnittsachse der Kurve, so werden Sie finden, daß, je länger die betrachtete Periode und je größer das so behandelte Gebiet ist, daß diese Achse der Achse der ökonomischen Entwicklung um so mehr annähernd parallel läuft.“ (Friedrich Engels: Brief an W. Borgius, S. 206–207.)
Wir haben bereits den Prozess der Keimbildung erwähnt, diesen kritischen Punkt, an dem ein bestimmtes Phänomen am Rande einer grundlegenden Veränderung steht. Der Umschlag von Quantität in Qualität erfolgt entweder durch einen externen Schock oder durch das Vorhandensein eines Katalysators. Wir sehen genau den gleichen Prozess in einer Revolution.
Alle objektiven Faktoren, die für eine Revolution notwendig sind, können vorhanden sein, aber damit sich das Potenzial realisiert, braucht es noch etwas anderes. Die Rolle eines Katalysators in einer vorrevolutionären Situation wird von der revolutionären Partei und ihrer Führung übernommen. Sie ist es, die der noch unstrukturierten und konfusen Bewegung der Massen die notwendige Kohärenz, Struktur, Programmatik und Organisation gibt, die es braucht, um die bestehende Ordnung zu stürzen. Selbst wenn diese Ordnung schon schwer angeschlagen ist und kurz vor dem Sturz zu stehen scheint, so stellt sie doch noch immer eine gewaltige Macht dar, die erst bewusst überwunden werden muss.
Jede revolutionäre Partei in der Geschichte repräsentierte anfangs nur eine kleine Minderheit. Zu Beginn stellt sie für die bestehende Ordnung keine ernsthafte Bedrohung dar. Sie beginnt, wie jeder andere lebende Organismus, als Embryo. Aber ein Embryo, der alle notwendigen genetischen Informationen enthält, um einen gesunden Menschen zu bilden, kann wachsen und sich entwickeln.
Auch wenn es paradox scheint, führte beispielsweise die Entschlossenheit der frühen Calvinisten[1] nicht zu Pessimismus und einer Paralyse ihres Willens, sondern hatte den gegenteiligen Effekt. Die Puritaner[2] waren davon überzeugt, dass sie auf der Seite einer Kraft kämpften, die unvermeidlich siegen würde. Sie sahen es als ihre religiöse Pflicht an, „den guten Krieg zu führen“ und das Reich Himmels auf Erden so schnell wie möglich zu errichten. Ihre absolute Überzeugung, dass sie damit erfolgreich sein würden, spornte sie in ihren Handlungen an.
Aus marxistischer Sicht ist der Sozialismus unvermeidlich, und zwar in dem Sinne, dass der Kapitalismus sein Potenzial zur Entwicklung der Gesellschaft und zur Förderung der Kultur und der Zivilisation ausgeschöpft hat. Indem der Kapitalismus die Produktivkräfte auf das gegenwärtige Niveau gehoben hat, hat er die Basis für die nächste logische Stufe gelegt, nämlich die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Überwindung des Privateigentums und des Nationalstaates.
Dieser Prozess kann durch eine Reihe von Faktoren beschleunigt oder verzögert werden, nicht zuletzt durch den subjektiven Faktor. Es wird viele Möglichkeiten für die Arbeiterklasse geben, die Macht in ihre Hände zu nehmen. Doch das bloße Vorhandensein einer Möglichkeit bedeutet nicht unbedingt, dass das Potenzial realisiert wird. Das hängt vom konkreten Handeln der Menschen, ihrer Kampfbereitschaft und der Qualität ihrer Führung ab.
Der Kapitalismus befindet sich in einem Zustand des offensichtlichen Verfalls. Die senile Dekadenz dieses Systems stellt eine tödliche Bedrohung für die Zivilisation und die Menschheit selbst dar. Die Verlängerung dieses Todeskampfes bedeutet eine Verschärfung der Krise und der damit verbundenen Übel – soziale Not, Krieg und massive Zerstörung.
Wir haben daher die Pflicht, das Leiden der Menschheit möglichst gering zu halten, indem wir alles in unserer Macht Stehende tun, den Prozess der Revolution zu beschleunigen. Denn nur eine siegreiche soziale Revolution kann den Todesqualen des altersschwachen kapitalistischen Systems ein Ende setzen. In diesem Sinne sind bewusst handelnde Revolutionärinnen und Revolutionäre die Agenten einer geschichtlichen Notwendigkeit, ebenso wie Oliver Cromwells Ironsides[3], die französischen Jakobiner und die russischen Bolschewiki in früheren Epochen die Akteure einer notwendigen sozialen Transformation waren.
Dialektik – die wissenschaftliche Grundlage für eine revolutionäre Praxis
Was die genetische Information für den menschlichen Körper, ist in der revolutionären Partei die marxistische Theorie. Die Partei, auch wenn sie klein ist, kann nur wachsen, wenn sie die notwendige Qualität aufweist. Wenn sie saubere Arbeit leistet und sich ihr die notwendigen Möglichkeiten bieten, wird sie wachsen und sich entwickeln. Qualität wird in Quantität umgewandelt, aber Quantität wiederum wird ab einem gewissen Punkt in eine neue Qualität umschlagen. Unter bestimmten Bedingungen kann eine Massenpartei zu einem Faktor werden, und ihr Handeln kann dann breite Massen beeinflussen. Dann wird sie in eine Position kommen, wo es darum geht, die Massen zum Sieg zu führen.
Die Geschichte der bolschewistischen Partei ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Keine andere Partei in der Geschichte hat in so kurzer Zeit einen so großen Erfolg erzielt und die ursprünglich winzigen und isolierten Gruppen marxistischer Kader in eine Massenpartei verwandelt, die in der Lage war, die größte soziale Revolution der Geschichte durchzuführen.
Lenin und Trotzki haben der revolutionären Theorie immer eine enorme Bedeutung beigemessen und auf dieser Grundlage Perspektiven, Taktiken und Strategien ausgearbeitet. Diese ernsthafte Herangehensweise war letztendlich das Geheimnis ihres Erfolgs. Von Anfang an pochte Lenin auf die Schlüsselrolle, die Theorie einnimmt. Schon in Was tun? schrieb Lenin:
„Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser Gedanke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart.“(Lenin: Was tun?, S. 379.)
Die wesentliche Bedeutung der dialektischen Methode als wissenschaftliche Grundlage für jede revolutionäre Praxis hat Trotzki in seiner Autobiographie Mein Leben auf brillante Weise erläutert:
„Später wurde das Gefühl der Überlegenheit des Ganzen über das Detail ein unzertrennliches Stück meines schriftstellerischen Schaffens und meiner politischen Betätigung. Der stumpfsinnige Empirismus, das Anbeten des mitunter nur eingebildeten oder falsch verstandenen Faktums waren mir verhaßt. Ich suchte für die Fakten Gesetze. Das führte natürlich manchmal zu voreiligen und unrichtigen Verallgemeinerungen, besonders in meiner Jugend, als mir die Verallgemeinerungen sowohl das Buchwissen wie die Lebenserfahrung fehlten. Aber auf allen Gebieten ohne Ausnahme konnte ich mich nur dann frei bewegen und handeln, wenn ich den Faden des Ganzen in der Hand hielt. Der sozialrevolutionäre Radikalismus, der die geistige Achse meines ganzen Lebens werden sollte, ist gerade aus dieser intellektuellen Feindschaft zu der Brockenrafferei, zum Empirismus, zu allem geistig Umgeformten und theoretisch Zerfahrenen erwachsen.“ (Leo Trotzki: Mein Leben, S. 88.)
Dieser „stumpfsinnige Empirismus, das Anbeten des mitunter nur eingebildeten oder falsch verstandenen Faktums“ ist, wie Trotzki betont, die philosophische Grundlage des Reformismus, der sich durch die feige Unterordnung unter „die Fakten des Lebens“ auszeichnet und der Politik stets als „die Kunst des Möglichen“ konzipiert. Die ernsthafte Herausforderung der herrschenden Ordnung wird als unmöglich, als utopischer Traum oder als gefährliches Abenteurertum angesehen. Demgegenüber unternimmt der Marxismus eine wissenschaftliche Analyse des Status quo, die unter die Oberfläche der „Fakten“ eindringt, um die verborgenen Widersprüche aufzudecken, die schließlich dazu führen werden, dass sich das, was stabil, solide und unveränderlich erscheint, in sein Gegenteil verkehrt.
Marx und Engels sagten, dass die Menschheit vor zwei Alternativen stehe: Sozialismus oder Barbarei. Die Elemente der Barbarei sehen wir bereits, und zwar nicht nur in den sogenannten Entwicklungsländern, wo Millionen von Menschen gezwungen sind, unter alptraumhaften Bedingungen von Armut, Hunger, Krankheit und Krieg zu leben, sondern auch in den sogenannten hochentwickelten kapitalistischen Ländern.
Das Ziel der Marxistinnen und Marxisten ist die sozialistische Transformation der Gesellschaft – und das weltweit. Wir sind der Ansicht, dass sich der Kapitalismus längst überlebt hat und sich in ein repressives, ungerechtes und unmenschliches System verwandelt hat. Das Ende der Ausbeutung und die Errichtung einer harmonischen sozialistischen Weltordnung, die auf einem rationalen und demokratisch erarbeiteten Wirtschaftsplan beruht, wird der erste Schritt zur Schaffung einer neuen und höheren Gesellschaftsform sein, in der wir uns als wirklich freie Menschen verstehen.
Die Philosophie in der modernen Epoche muss der großen Aufgabe dienen, die Arbeit der sozialistischen Revolution zu erleichtern, falsche Ideen zu bekämpfen und die wichtigsten Erscheinungsformen unserer Zeit rational zu erklären und so den Boden für einen grundlegenden Wandel in der Gesellschaft aufzubereiten. Mit den berühmten Worten von Karl Marx:
Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an sie zu verändern.
[1] Der Calvinismus ist eine religiöse Strömung, die in der Reformation entstand und die von dem aufsteigenden Bürgertum, insbesondere jenem im anglosächsischen Raum, aufgegriffen wurde.
[2] Eine religiös motivierte Bewegung, die calvinistische Grundsätze vertrat, und in der Englischen Revolution vom vorwärtstreibenden Teil rund um Oliver Cromwell verkörpert.
[3] die Kavallerietruppe, die mit Oliver Cromwell gegen die Monarchisten in England kämpfte
Einführung in die revolutionäre marxistische Philosophie – Teil 1
Einführung in die revolutionäre marxistische Philosophie – Teil 2