10 Jahre nach dem Beginn der Krise auf den Finanzmärkten blickt der Journalismus mit gemischten Gefühlen zurück. Eine marxistische Analyse liefert Martin Zuba.
In einer ganzen Reihe von Artikeln werden düstere (Anti-)Heldengeschichten erzählt. Sie handeln vom Schrecken der Börsianer, deren Welt in den Wochen und Monaten nach der Lehman-Brothers-Pleite am 15. September zusammenbricht. Fassungslos starren sie auf krakelige Linien, die nach unten zeigen, oder stehen mit den in Kartons gepackten persönlichen Gegenständen aus ihrem Büro auf den Straßen der Finanzdistrikte Londons oder New Yorks. Quasi über Nacht verlieren mit der Kettenreaktion an den Börsen die Papiere an Wert, getrieben von spektakulären Bankenpleiten in fast allen Ländern. Eine schlimme Zeit für die Finanzindustrie, erinnern wir uns mit Erleichterung, denn diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei.
Man kann sich eine Fortsetzung der Banker-Geschichte in den Sitzungszimmern der Finanzverwaltung, Notenbanken, Regierungen und internationalen Organisationen vorstellen: In eilig zusammengerufenen Sitzungen eröffnen die Finanzberater den Regierungen, dass wir es mit einer Krise von bisher unvorstellbaren Ausmaß zu tun haben, vergleichbar vielleicht noch mit dem Crash von 1929, der die Weltwirtschaft bis zum 2. Weltkrieg im Würgegriff hielt. Jetzt gilt es nicht, nach Ursachen zu forschen oder nach Schuldigen zu suchen, sondern rasch zu handeln, bevor Kettenreaktionen eintreten, die noch größeren Schaden anrichten. Und tatsächlich springen die Regierungen über ihren „neoliberalen“ Schatten. Dieselben Politiker, die noch Tage zuvor vor zu starken Eingriffen des Staates in die Wirtschaft, der überlegenen Effizienz des freien Marktes gesprochen haben, machen ohne mit der Wimper zu zucken Milliardenbeträge für Banken locker.
Die Politik ist längst keine Ideologiefrage mehr. Es gibt nur noch eine Maxime: Die Verhinderung des Eintretens des Wertverlusts, durch die Deckung fauler Kredite durch die öffentliche Hand und die Umwälzung der Krisenlast auf die breite Masse.
Im Jahr 2008 verlieren die Aktienindizes durchwegs die Hälfte ihres Wertes, der ATX beispielsweise schließt am 31.12.2008 mit 60% unter dem Höchststand im Jahr 2007. Der phänomenale Kurssturz an der Börse ist vor allem ein deutliches Symbol des Marktes selbst, der nach der Krise den Unternehmen keine rosige Zukunft attestiert. Ganze Branchen, neben der Bankenindustrie etwa auch die Stahl- und Autoindustrie, werden von massiven staatlichen Zuwendungen abhängig, um nicht bankrott zu gehen.
Zwischendurch wird in der Kapitalistenklasse, der Bourgeoise nur ganz leise die Frage aufgeworfen, ob das auch gut gehen wird. Können die Staatsfinanzen einen so hohen, sprunghaften Anstieg der Verschuldung aushalten, ohne dass die Märkte das Vertrauen verlieren? Treten durch die Banken-Subventionen also genau jene Konsequenzen ein, auf die wir die ganze Zeit verwiesen haben, als wir vor den zu hohen Pensionen und Sozialausgaben gewarnt haben? Natürlich war das eine rein rhetorische Frage, denn eine Alternative gab es angeblich ohnehin nicht.
Mit riesigen Summen wird auch in den Jahren ab 2010 jongliert, als die Märkte das Vertrauen in die Tragfähigkeit der Staatsschulden einiger Länder verlieren und so die „Finanzkrise“ zur „Eurokrise“ mutiert. Mechanismen wie der „Euro-Rettungsschirm“ stellen eine Fortsetzung der Politik der Vergesellschaftung von Schulden auf höherem Niveau dar. Während die entscheidende Bedeutung der „Rating-Agenturen“ für das Schicksal der Staaten in den Massenmedien erklärt werden, und so die Mechanismen, mit denen „die Märkte“ Einfluss auf die Politik nehmen, aufgezeigt werden, beginnt sich gesellschaftlicher Widerstand gegen reichenfreundliche Krisenbewältigungspolitik zu formieren. Unter dem Motto „Wir zahlen eure Krise nicht“ finden Demonstrationen statt. Insgesamt bleiben die Forderungen aber vage. Noch ist unklar, wie sich die größten Staatsinterventionen seit dem Zweiten Weltkrieg zu Gunsten des Kapitals auf die Gesellschaft auswirken werden. Diese Auswirkungen sind heute nur allzu offensichtlich.
Gesellschaftliche Auswirkungen
Dass die Regierungen letztlich das Vertrauen der Märkte zurückgewinnen, lag nämlich an zwei entscheidenden Umständen. Erstens daran, dass sie in der tagtäglichen Politik bewiesen haben, dass sie bereit und fähig sind, jedem erdenklichen Preis zu zahlen, um die Vermögenswerte zu decken – sei es die Vernichtung der Lebensperspektive ganzer Jahrgänge griechischer oder spanischer Jugendlicher, die Verarmung großer Schichten der Gesellschaft in allen Ländern. Zweitens daran, dass die sogenannte Wettbewerbsfähigkeit tatsächlich „verbessert“ wurde.
Das geschah durch die Flexibilisierung der Arbeitszeit, KV-Abschlüsse unter der Inflation und eine massive Ausweitung des Niedriglohnsektors bei gleichzeitiger Erhöhung des Arbeitsdrucks beispielsweise in der „Industrie 4.0“ (wie Uber, Foodora, Amazon etc.) aber auch in vielen anderen Branchen wie der italienischen Autoindustrie oder der Drucker-Branche. Dieser Zusammenhang von der Lehman-Brothers Pleite zu der Arbeits- und Lebenswelt heute wird in den Massenmedien üblicherweise nicht hergestellt.
Nicht zuletzt brachte die Politik der Rettung der Vermögenswerte der Reichen um jeden Preis den politischen Niedergang des sozialdemokratischen Lagers. Sein Anspruch, im Rahmen des kapitalistischen Systems für Gerechtigkeit und eine gute Lebensperspektive der Lohnabhängigen zu sorgen, verkommt im Zeitalter der Krisenbewältigung zu einer zynischen Floskel.
Und die Wählerschaft reagiert: Während im Jahr 2000 noch in zehn der damals 15 EU-Ländern sozialdemokratische Parteien in den Regierungen waren, sind es 2018 gerade einmal sieben von 28 (Portugal, Spanien, Malta, Rumänien, Slowakei, Deutschland, und –noch– Schweden).
Stattdessen sehen wir einen Zulauf zu sogenannten „europakritischen“ oder „populistischen“ Parteien. Die traditionellen Volksparteien, die die im Sinne des Kapitals agieren, werden von WählerInnen abgestraft. In Griechenland wurde die linke Kleinpartei Syriza zur politischen bestimmenden Kraft, Spanien erlebte den Aufstieg der Podemos, einer Partei, deren Führung sich weder als weder links noch rechts, sondern als populär bezeichnet, aber von der Unterstützung her klar von einer zuvor heimatlos gewordenen Linken und AktivistInnen des Klassenkampfes dominiert wird.
Wir erleben auch eine Rechtsentwicklung der etablierten Parteien bzw. einen Aufstieg neurechter Bewegungen. In Italien regiert heute eine Koalitionsregierung einer populistischen Formation (5 Sterne) und einer rechtsdemagogischen Partei (Lega).
Diese ständige Erosion und Neubildung von politischen Formationen und Politikgestalten wie Donald Trump sind Ausdruck des Widerspruchs zwischen den Bedürfnissen des Kapitals und der Lebensinteressen der Massen. Die Parteienlandschaft ist heute deshalb so instabil wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Es herrscht ein ständiger Prozess des Abtestens und Verwerfens von Parteien durch das Wahlvolk. Die Strategie der Bürgerlichen ist dabei die Verdrängung sozial- und wirtschaftspolitischer Fragestellungen aus der gesellschaftlichen Debatte.
Als Systemkritik getarnter, wohl portionierter Rassismus ersetzt in Ländern wie Österreich jeglichen Anspruch, dem Verfall des Wohlstands und der Zukunftschancen der Menschen als Begleiterscheinung der Krisenbewältigung etwas entgegen zu setzen – was nur auf Basis des systematischen Versagens der reformistischen Linken erst möglich geworden ist.
Auffallend ist bei der Lektüre der Artikel zur Finanzkrise nämlich auch, dass 10 Jahre nach der Lehman-Pleite die Auswirkungen der Krisenbewältigung auf die Lebensperspektiven der Menschen Randnotizen sind, während die polizeiliche und militärische Sicherheit gegen das „andere“ wie eine kaputte Schallplatte überall und jederzeit präsent ist. Doch selbst in der Fratze des Rassismus wird die Krise der Gesellschaft zu einem Problem für die Europäische Union, die auf freiem Verkehr von Gütern und Menschen beruht. Die Formel, auf die man sich einigen konnte, ist eine Festungsmauer um den Kontinent zu bauen, im laufenden Jahre sind 2000 Menschen an dieser Außengrenze ertrunken.
Die Europäische Union hat nun zusätzlich ein „Populismusproblem“, das sich aktuell am deutlichsten im Konflikt zwischen Brüssel und Rom (und auch im Konflikt in der italienischen Regierung zwischen 5 Sterne, Lega und den Technokraten-Minister) um das italienische Staatsdefizit ausdrückt. Die Regierung Tsipras in Griechenland ergab sich innerhalb von wenigen Monaten dem Druck der europäischen Kapitalinstitutionen, es bleibt nun abzuwarten, wie der Konflikt zwischen der italienischen Koalitionsregierung und den EU-Institutionen und Mitgliedstaaten ausgetragen werden wird.
Die nächste Krise kommt bestimmt
Wer aber meint, dass durch die Krisenbewältigung ab 2008 die Gefahr einer neuerlichen wirtschaftlichen Kettenreaktion mit fatalem Charakter gebannt ist, irrt. Zuletzt wurden Argentinien und die Türkei zum Schauplatz dieser schwelenden Gefahr. Die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind heute wesentlich instabiler als sie es 2008 waren. Das ist vor allem daran festzumachen, dass die Wahlerfolge der angeblichen „Systemkritiker“ zu einer Renaissance des Protektionismus führten. Davon zeugen zahlreiche Handelskonflikte, die in regelmäßigem Abstand von US-Präsident Trump losgetreten werden. Ab 2008 traten die Politiker der führenden Wirtschaftsmächte noch mit der Aussage an die Weltöffentlichkeit, dass sie entschlossen sind, die Krise gemeinsam zu bewältigen und keinesfalls in Protektionismus verfallen werden.
Neben den Handelskonflikten stellt aber auch die „Normalisierung“ der Finanzpolitik eine Gefahr für die europäische Wirtschaft dar. Ende 2018 will die EZB das Anleihenkaufprogramm stoppen, mit dem in den letzten 10 Jahren 2,5 Billionen Euro in die Märkte gestopft hat und die Leitzinsen von gegenwärtig 0% wieder anheben. Man muss sich vergegenwärtigen, dass der derzeitige „Aufschwung“ (von dem ohnehin nur die Arbeitgeber und Aktionäre profitieren, weil europaweit Löhne stagnieren und Arbeitsbedingungen permanent verschlechtert werden) zu einem Großteil aufgrund dieser expansiven Geldpolitik der Zentralbank, die seit 2008 kaum gelockert wurde, möglich war. Der Leitzins in Europa steht bei 0. Gleichzeitig warnen AnalystInnen vor der nächsten großen Krise.
Und sie haben recht: Es ist in so einer Situation nur eine Frage der Zeit, bis der Konjunkturzyklus die nächste wirtschaftliche Katastrophe produziert.
Mit dem neuerlichen Ausbruch der Krise wird der brachiale Kampf ums Überleben am feindseligen Markt in die nächste Runde gehen. Die Regierungen werden wieder Geld in die Hand nehmen müssen, um Wirtschaftszweige vor dem Bankrott zu retten, und werden im Sozialbereich kürzen, um diese Ausgaben stemmen zu können, ohne selbst von den Finanzmärkten fallen gelassen zu werden. Doch sie werden unter den oben beschriebenen Umständen viel weniger Möglichkeiten haben, auf eine neue Krise zu reagieren. Wir wissen nicht, was passieren wird. Doch eines ist sicher: Eine neue Krise wird explosiver und chaotischer werden als die letzte.
Die Unternehmen werden die Ausbeutung ihrer Beschäftigten weiter erhöhen müssen, um nicht vom Markt verdrängt zu werden. Damit verbunden werden auch die etablierten politischen Kräften vor neuen Herausforderungen stehen und unter massiven Druck kommen.
Der Kampf um die Ausrichtung der Arbeiterbewegung steht noch vor uns. Der Funke setzt sich dafür ein, dass die Organisationen der Arbeiterbewegung es als ihre einzige Aufgabe ansehen, die Menschen im Kampf gegen die Vernichtung der Lebensgrundlagen durch die kapitalistische Krisenrealität zu organisieren, und dem Bürgerblock aus rassistischer Hetze, alternativlosen Sparpolitik und Ausbau des Überwachungs- und Unterdrückungsapparats eine entschiedene Opposition entgegenstellen.
Der Kapitalismus hat im letzten Jahrzehnt einer immer größer werdenden Masse an von Armut bedrohten PensionistInnen, schikanierter Arbeitsloser, jeglicher Zukunftsperspektiven beraubter Jugendlicher und sich immer höherem Arbeitsdruck ausgesetzten ArbeiterInnen bewiesen, dass dieses System nicht in der Lage ist, die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Mit dem Ausbruch der nächsten Krise wird er die Menschheit in noch mehr Armut, Rassismus und Krieg stürzen.
Wir setzen uns dafür ein, stattdessen den Kapitalismus zu stürzen und ein sozialistisches Wirtschaftssystem aufzubauen, in dem die Bedürfnisse aller Menschen im Mittelpunkt stehen. Nur eine demokratische Planwirtschaft ist in der Lage, sich den wirtschaftlichen Herausforderungen, die sich mit dem Klimawandel und der globalen Ungleichheit ergeben, angemessen zu widmen.
(Funke Nr. 168 / November 2018)
Ergänzende Leseempfehlung: Kurzartikel „Finanzmarkt und Realwirtschaft„