Mit der knappen Zustimmung des jüngsten SPD-Sonderparteitags zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen und Bildung einer Großen Koalition (GroKo) mit der Union ist die komplette SPD-Führung vorerst noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen. Wir veröffentlichen einen Artikel unserer deutschen Schwesterorganisation Der Funke
Ein Nein der Delegierten zu den GroKo-Plänen hätte eine schwere existenzielle Niederlage des Vorstands um Parteichef Martin Schulz und die Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles bedeutet und ihren Abgang beschleunigt.
Die Konfrontation zwischen großen Teilen der Basis und dem Parteiapparat war in den letzten Jahrzehnten noch nie so groß wie heute. Die Kehrtwende des kapitalhörigen Vorstands in Sachen GroKo hat das Fass zum Überlaufen gebracht.
Nun hat der Parteivorstand eine kleine Atempause bekommen. Vermutlich im Februar oder spätestens März 2018 soll die gesamte SPD-Mitgliedschaft über einen Koalitionsvertrag zwischen SPD und CDU/CSU abstimmen. Gegner der GroKo, allen voran die Jusos, setzen darauf, dass die Mitgliedschaft in einer Urabstimmung das GroKo-Projekt noch in letzter Sekunde ausbremst. Wie zu hören ist, soll jetzt eine Kampagne „Zehner gegen GroKo“ gestartet werden, um Menschen zum kurzfristigen SPD-Eintritt für zwei Monate um den Preis von zehn Euro und damit zur Teilnahme an der Urabstimmung zu bewegen.
Der Vorstoß des Juso-Verbands mit seiner „NoGroKo“-Kampagne ist die größte sichtbare Rebellion in der SPD seit langer Zeit. Frühere Vorstöße der Basis etwa gegen den Rechtsruck der Parteispitze, Gerhard Schröders Agenda 2010, Bundeswehreinsätze im Ausland, Lauschangriff, Autobahnprivatisierung, Bahnprivatisierung oder Einschränkung des Asylrechts waren weniger spektakulär und bargen weniger Schlagkraft in sich. Doch heute ist die Krise der SPD im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten existenzbedrohend. Wer einen Kampf gegen die GroKo führt, muss sich allerdings auch der Tragweite dieser Auseinandersetzung bewusst sein und sich programmatisch und perspektivisch für die großen Auseinandersetzungen rüsten. Denn hinter den GroKo-Befürwortern steht die Lobby und geballte Macht des Kapitals im stärksten kapitalistischen Land Europas.
Vordergründig geht es um Karrieren, Posten, Privilegien und Prestige für die Parteispitze, die mit Regierungsämtern verbunden sind. Die Angst vor Neuwahlen, ein Schreckgespenst von Schulz und Co., steckt allen Parlamentariern in den Knochen, die es gerade in den Berliner „Club“ geschafft haben und diese mit einem Bundestagsmandat verbundenen Annehmlichkeiten für vier Jahre nicht durch einen vorgezogenen Urnengang auf Spiel setzen wollen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch die so genannte „Parlamentarische Linke“ in der SPD-Fraktion sich für GroKo-Verhandlungen ausgesprochen hat.
Die Spitzen der Gewerkschaften, die gut mit dem rechten SPD-Flügel vernetzt sind, setzen in ihrer politischen Hilflosigkeit und Nähe zum Kapital darauf, dass sich durch direkte Drähte in die Ministerien einzelne Dinge ganz ohne Kampf und Druck von unten durchsetzen lassen. Daher gehören sie zu den glühenden GroKo-Befürwortern. Die Gewerkschaftsbasis sollte dies nicht hinnehmen und klarstellen: DGB-Chef Reiner Hoffmann hat nicht in unserem Namen gesprochen, als er beim SPD-Sonderparteitag die GroKo anpries.
Entscheidend für ein Verständnis der Treibfedern im aktuellen Konflikt ist ein Blick auf Klasseninteressen und insbesondere den Druck des Kapitals auf die SPD-Führer. Die Banken und Großkonzerne sind bisher mit GroKo-Regierungen gut gefahren und konnten sich in allen entscheidenden Fragen stets auf die Loyalität der SPD-Führung verlassen. Auch die SPD-Spitze finanziert ihren Apparat und ihre Parteitage längst nicht mehr allein aus Mitgliedsbeiträgen, sondern zunehmend von Spenden des Kapitals, wie die Berichte und Veröffentlichungen im Bundesanzeiger beweisen. Sollten namhafte Männer und Frauen aus der SPD-Spitze ihre Spitzenposten verlieren, so stehen ihnen in der Regel die Türen für ein warmes Plätzchen als hochdotierte Manager, Lobbyisten und Aufsichtsratsmitglieder offen. So lässt das Kapital auch die abgewählten Regierungschefs Hannelore Kraft (NRW) und Torsten Albig (Schleswig-Holstein) nicht im Regen stehen. Kraft sitzt jetzt im Aufsichtsrat des Steinkohlenkonzerns RAG und Albig ist seit Jahresanfang Chefrepräsentant des Deutsche Post DHL-Konzerns in Brüssel. Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der mit seiner Agenda 2010 Millionen in die Armut gestürzt hat, hat nach seinem Abgang schon mehrere lukrative Posten in der Wirtschaft besetzt. Derzeit ist er Aufsichtsratsvorsitzender des russischen Ölkonzerns Rosneft. Kein Wunder, dass auch Schröder vehement die GroKo befürwortet.
Handfeste Klasseninteressen und Lobbyarbeit
Eine zunehmend wichtige Rolle bei der Durchsetzung kapitalistischer Klasseninteressen in der SPD scheint der von den Parteistrukturen unabhängige und mit üppigen Finanzen ausgestattete Verein Wirtschaftsforum der SPD e. V. zu spielen. In ihm haben sich Kapitalisten und Spitzenmanager aus der Wirtschaft mit SPD-Parteibuch und besonderer Nähe zu den Entscheidungsträgern in der SPD zusammengeschlossen.
Gründungspräsident des Wirtschaftsforums ist der langjährige Preussag- bzw. TUI-Manager Michael Frenzel, der auch in Aufsichtsräten von NordLB und VW saß und noch im DB-Aufsichtsrat sitzt. Geschäftsführer des Vereins und Manager in der Geschäftsstelle im Berliner Regierungsviertel ist Frank Wilhelmy. Der einstige Juso aus Rheinland-Pfalz hat längst mit den bis Ende der 1980er Jahre von ihm hochgehaltenen „marxistischen“ Versatzstücken aus der „Stamokap“-Theorie gebrochen. Er gilt als entscheidender Entdecker, Coach und Förderer von Andrea Nahles und hat ihre steile Karriere in den letzten 25 Jahren von der Juso-Landesvorsitzenden zur Juso-Bundesvorsitzenden, Bundestagsabgeordneten, SPD-Vizechefin und -Generalsekretärin, Arbeitsministerin und SPD-Fraktionschefin begleitet und gestützt. Wilhelmy war SPD-Landesgeschäftsführer in Niedersachsen und ab 2007 nach eigenen Angaben „Politik- und Unternehmensberater mit langjähriger Erfahrung auf den Feldern Marken-Kommunikation, Kampagnen und Strategieentwicklung in Wirtschaft, Verbänden und Politik“.
„Eine Richtungsentscheidung, die Zuversicht erlaubt!“, lautet der Titel einer Erklärung, mit der das Wirtschaftsforum an 22. Januar 2018 auf die 56-Prozent-Entscheidung des SPD-Sonderparteitags pro GroKo reagierte. „Die Führung der SPD hat gute Argumente vorgebracht und Führungsstärke gezeigt. Martin Schulz, Andrea Nahles und andere haben die Partei vor einer existentiellen Krise gerade noch bewahren können. Verantwortungsethik hat sich gegen Gesinnungsethik durchgesetzt“, heißt es in der Erklärung, die aus Wilhelmys Feder stammen dürfte.
Deutsches Kapital und Europa
„Nicht zuletzt ist auch der Weg zu einer Stärkung der Europäischen Union frei“, so die Erklärung des Wirtschaftsrats weiter. Tatsächlich gibt das deutsche Kapital auch in der Europäischen Union den Ton an und setzt daher auf stabile politische Koalitionen in Berlin. Dies schließt Gedankenspiele von einer Minderheitsregierung Merkel aus, die für jedes Gesetz erneut bei den Abgeordneten um eine parlamentarische Mehrheit ringen müsste. Martin Schulz ist als langjähriger EU-Parlamentspräsident im Europa der Banken und Konzerne gut vernetzt, hat die Erpressung Griechenlands im Interesse der Banken stets gestützt und hätte auch als deutscher Außenminister deren Interessen fest im Blick. Der von manchen GroKo-Gegnern gehegte Traum von „skandinavischen Verhältnissen“, „Sternstunden der parlamentarischen Demokratie“ und der Tolerierung einer Regierung Merkel ist letztlich ein unrealistischer Traum.
Steve Hudson vom neu gegründeten Verein NoGroKo hat den Kampf um eine „Rückgewinnung der SPD“ ausgerufen. Vorbild ist dabei offensichtlich der mit der Wahl von Jeremy Corbyn zum Parteichef eingeleitete unübersehbare Linksruck der britischen Labour Party. Corbyn war 2015 bei der Urwahl als absoluter Außenseiter im Parteiapparat angetreten und fand mit seinen radikalen linken Forderungen ein starkes Echo bei Arbeitern und Jugendlichen. Hunderttausende sind seither in die Labour Party eingetreten, um Corbyn zu unterstützen und Labour nach Jahrzehnten des Rechtsrucks zurück zu erobern. Die Entwicklung von Labour unter Corbyn ist ein Kontrastprogramm zum Siechtum sozialedemokratischer Parteien unter rechten Führungen in den Niederlanden, Frankreich, Griechenland und Österreich. Dort haben sich die Parteiapparate mit rechter, pro-kapitalistischer Politik selbst die Basis abgegraben.
Mit einem Nein zur GroKo wäre es im Fall der SPD sicher nicht getan. Nötig wären eine grundlegende Aufarbeitung und Abkehr von der Politik der vergangenen Jahrzehnte und ein klarer, unzweideutiger Bruch mit Agenda 2010, Hartz-Gesetzen, Privatisierung der Altersvorsorge, Vermögensumverteilung, kapitalfreundlicher und imperialistischer Außenpolitik, Aufrüstung, Auslandseinsätzen der Bundeswehr und anderen Eckpfeilern der bisherigen Regierungspolitik. Vor allem braucht es eine solide politische Basis, sozialistische Perspektiven, Entschlossenheit und Organisation. Es geht nicht um kleinere oder größere Trostpflaster, sondern um eine grundlegende Umgestaltung der Eigentums- und Machtverhältnisse.
Solche Aussagen fehlten allerdings in dem Redebeitrag von Juso-Chef Kevin Kühnert beim Sonderparteitag, der als prominentester GroKo-Gegner bekannt ist. Er war inhaltlich defensiv und gab sich fast versöhnlich gegenüber der Parteispitze, die ihrerseits mit Schmeicheleien die Kritiker einzulullen versuchte. Schließlich wissen führende SPD-Apparatschicks wie Scholz, Nahles und andere aus eigener Erfahrung, wie sich aufmüpfige Jusos durch Zuckerbrot und Peitsche in den Apparat einbinden lassen.
Mit politischen Halbheiten ihrer führenden Köpfe droht die gerade anrollende SPD-interne Opposition ausgebremst zu werden. Auch der von vielen SPD-Mitgliedern mit Sympathie verfolgte aktuelle Kampf um die Labour Party zeigt, dass trotz Jeremy Corbyn an der Spitze die Anhänger des rechten Parteiflügels nicht lockerlassen. Die „Blairites“ sitzen immer noch in Parlamentsfraktion, Stadräten und Parteiapparat und werden alles tun, um Corbyn zu sabotieren, falls sie nicht von unten abgesetzt werden. Auch in der SPD besetzt der rechte, kapitalnahe Flügel um die „Seeheimer“ zentrale Positionen.
Von Karl und Rosa lernen
Vergessen wir nicht, dass Karl Liebknecht 1907 Initiator und Mitbegründer der sozialistischen Arbeiterjugendbewegung war, auf deren Tradition sich heute Jusos und Falken berufen. Er war ein mutiger Vorkämpfer der antimilitaristischen und sozialistischen Opposition gegen den 1. Weltkrieg. Er und Rosa Luxemburg zogen als Vertreter des revolutionären linken Flügels der Arbeiterbewegung den Hass der Herrschenden und ihrer Handlanger am rechten SPD-Flügel um Ebert, Noske und Scheidemann auf sich und wurden wegen ihrer Ideen und scharfen Kritik am 15. Januar 1919 ermordet. Wenn es hart auf hart kommt, werden die Kapitalistenklasse und die heutigen Eberts und Noskes gegenüber ihren Kritikern im 21. Jahrhundert genau so wenig tolerant sein.
Mit der derzeitigen SPD-Spitze, die alles auf die Karte der GroKo setzt und sich den Interessen der Kapitalistenklasse verschrieben hat, ist ein grundlegender Kurswechsel nicht zu machen. Daher kann der Kampf gegen die GroKo letztlich nur erfolgreich sein, wenn die aktuelle kapitalhörige Führung, die die SPD heruntergewirtschaftet hat, zum Abtritt gezwungen wird. An ihre Stelle müssen kämpferische Vertreter der Basis treten, die sich einem klaren sozialistischen Programm in den besten sozialistischen Traditionen der Arbeiterbewegung verbunden fühlen.
Der engagierte Kampf der GroKo-Gegner findet weit über die SPD-Mitglieder- und Anhängerschaft hinaus Beachtung – auch unter LINKE-Mitgliedern, in Betrieben und Gewerkschaften und in sozialen Bewegungen. Statt Zeit für Debatten über „rot-rote“ oder „rot-rot-grüne“ Koalitionen und bürokratische Deals von oben zu verschwenden, sollten sich die ersthaft für die Interessen der arbeitenden Klasse und eine Veränderung der Gesellschaft engagierten Basismitglieder in LINKE und SPD vernetzen und eine linke Einheitsfront von unten gegen GroKo und Kapital aufbauen. Wir sollten uns auf die gemeinsamen sozialistischen Traditionen besinnen, die sich am Leben und Werk von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg festmachen. Der Schlüssel liegt jetzt bei der Basis.