Am 4. Dezember findet in Italien ein Referendum über weitreichende Verfassungsänderungen statt, die eine autoritäre Wende bedeuten würden. Roberto Sarti, von unserer Schwesterströmung „Rivoluzione“ schreibt warum diese Verfassungsreform abzulehnen ist, warum es nicht ausreicht die jetzige Verfassung zu verteidigen und wie eine revolutionäre Alternative aussehen müsste.
Die Reform der Verfassung ist ein zentrales Projekt der Regierung Renzi und wurde von der Mehrheit des Parlaments bereits abgesegnet. Die geplanten Änderungen deuten alle in dieselbe Richtung: Es geht um eine Stärkung der Machtbefugnisse der Regierung und eine Einschränkung der Rechte des Parlaments. Die Regierung fährt alle Geschütze auf, um die Bevölkerung von der Notwendigkeit dieser Reformen zu überzeugen. Die wichtigsten Argumente von Renzi & Co. lauten: „Dadurch werden die Kosten der Politik sinken“, „die Regierung rückt dadurch näher an die BürgerInnen heran“, „das ist das Aus für das Zweikammernsystem“.
Es ist fast unmöglich sich dieser medial breit getragenen Kampagne zu entziehen. TV-Spots, Plakate sind allgegenwärtig. Realität und Propaganda klaffen aber weit auseinander. Der Senat wird nicht abgeschafft, sondern es ändert sich nur die Zusammensetzung. In Zukunft sollen die Senatsmitglieder nicht mehr direkt von den BürgerInnen gewählt werden, sondern aus den Reihen der RegionalrätInnen sowie der BürgermeisterInnen kommen bzw. vom Staatspräsidenten nominiert werden. Die Kosten werden durch diese Maßnahme nicht spürbar sinken. Der neue Senat verliert aber an Einfluss und wird der Regierung nicht mehr das Vertrauen aussprechen müssen. Er wird aber den Staatspräsidenten wählen sowie Verfassungsgesetze und internationale Verträge, einschließlich jener auf EU-Ebene, und Gesetze betreffend dem Wahlrecht absegnen.
Die Macht der Regierung wird auf alle Fälle ausgeweitet. So soll es künftig den Mechanismus geben, dass das Parlament von der Regierung aufgefordert werden kann, in einer bestimmten Sitzung Maßnahmen auf die Tagesordnung zu setzen, die sie für essentiell erachtet. Diese müssen dann prioritär im Parlament behandelt werden. Diese Verfassungsänderungen gehen Hand in Hand mit einem neuen Wahlgesetz, dem Italicum, das der stimmenstärksten Liste unabhängig von ihrer tatsächlichen Stärke die absolute Mehrheit der Parlamentssitze garantiert. So können theoretisch auch schon 20% der gültigen Stimmen für eine Absolute reichen.
Eine autoritäre Wende
Renzis Projekt darf nicht isoliert von internationalen Entwicklungen betrachtet werden. Aus Perspektive der Bürgerlichen ist es angesichts der tiefsten Wirtschaftskrise der Geschichte des Kapitalismus und der zunehmenden sozialen Instabilität unerlässlich, dass die Regierungen nicht mehr so stark einer demokratischen Kontrolle ausgesetzt sind. Sie sollen die Möglichkeit haben, das Schiff der „freien Marktwirtschaft“ ungehindert über das stürmische Meer zu dirigieren. Dem liegt die These zugrunde, dass es in den westlichen Staaten zu viel Demokratie gibt, was eine Umsetzung notwendiger „Reformen“ (sprich: Austerität ohne Ende und Angriffe auf die Rechte der Menschen) erschwert.
Die Großbank JP Morgan warnte 2013, dass die Verfassungen in Südeuropa „einen starken Einfluss sozialistischer Ideen zeigen“, und stärkte den Regierungen den Rücken, soziale Rechte aus den Verfassungen zu nehmen. Mittlerweile steht so viel auf dem Spiel, dass die wichtigen Kapitalstrategen bereit sind die Maske fallen zu lassen und jede Form von „Fortschrittlichkeit“ aufzugeben. Erst vor kurzem hat Eugenio Scalfari, der Gründer der Tageszeitung „La Repubblica“ eine Lobrede auf die Oligarchie verfasst. Sie sei die „einzige Form der Demokratie“, in der wenige am Lenkrad sitzen und es viele Passagiere gibt“, im Gegensatz zur „direkten Demokratie“.
Als MarxistInnen verteidigen wir alle demokratischen Rechte, die die italienische Verfassung umfasst und die die individuellen Freiheiten schützen und die Organisierung der Arbeiterklasse begünstigen. Aus diesem Grund lehnen wir auch jede Verfassungsänderung ab, die autoritäre Elemente stärkt.
Gleichzeitig machen wir aber den Ruf nach „Verteidigung der Verfassung“ nicht zu unserer Losung, wie es die offizielle Kampagne für ein „Nein“ beim Referendum tut. Die ReformistInnen haben ein anderes Verständnis vom Staat als wir. Sie glauben an den Rechtsstaat und sehen den Klassencharakter des Staates nicht.
Doch die kapitalistische Gesellschaft ist in Klassen gespalten, und es gibt die herrschende Klasse, das sind die KapitalistInnen, die über die Produktionsmittel verfügen und das Finanzsystem kontrollieren. Da die herrschenden Klassen seit Anbeginn der Spaltung der Gesellschaft in Klassen immer nur eine Minderheit dargestellt haben, haben sie sich immer schon die Frage gestellt, wie sie ihre wirtschaftliche Stellung gegen die Mehrheit der ausgebeuteten Klassen beschützen können. Aus dieser Notwendigkeit entsteht der Staat mit seinen „Formationen bewaffneter Männer“ (Friedrich Engels), mit seiner Legislative und einem Justizapparat, die alle darauf ausgerichtet sind, das Eigentum und die Machtposition einer Minderheit zu garantieren.
Der Charakter der italienischen Verfassung
Die italienische Verfassung stammt aus dem Jahr 1947, sie hat ganz spezielle Charakteristika, weil sie unmittelbar nach dem Volksaufstand, der Resistenza, gegen den Nazifaschismus verfasst wurde. Dabei ist zu beachten, dass die italienische Arbeiterklasse damals nicht nur gegen den Faschismus, sondern auch gegen die kapitalistische Barbarei als solches gekämpft hat. Um es mit dem linksliberalen Politiker Piero Calamandrei zu sagen: „Um die Linke für eine verpasste Revolution zu entschädigen, weigerte sich die Rechte nicht, in die Verfassung das Versprechen auf eine künftige Revolution aufzunehmen.“ Doch die im ersten Teil der Verfassung verbrieften Versprechen nach Gleichheit und Freiheit wurden von Anfang an negiert. Zwischen 1948 und 1950 wurden 62 ArbeiterInnen von den Ordnungskräften ermordet, 3126 wurden verletzt, und bis Ende 1950 gab es mehr als 92.000 politisch motivierte Verhaftungen.
Polizei und Justiz kümmerten sich stets in erster Linie um die Einhaltung des berühmten Artikels 42 der Verfassung: „Das Privateigentum wird durch das Gesetz anerkannt und garantiert.“ Kein Wunder, stellte der Staatsapparat doch auch eine vollständige Kontinuität zur faschistischen Ära dar. 1960 noch dürften 62 von 64 Präfekten eine faschistische Vergangenheit gehabt haben, so auch die 135 Polizeipräsidenten und ihre 139 Stellvertreter. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Verfassung die Gründung der neofaschistischen MSI nie für illegal erklärt hat. Und auch Organisationen wie Forza Nuova oder Casapound, die heute die extreme Rechte dominieren, können sich legal bewegen.
Lenin erklärte das schon 1918 äußerst gut: „Man nehme die Grundgesetze der modernen Staaten, man nehme die Methoden, mit denen sie regiert werden, man nehme die Versammlungs- oder Pressefreiheit, die ‚Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz‘ – und man wird auf Schritt und Tritt die jedem ehrlichen und klassenbewußten Arbeiter wohlbekannte Heuchelei der bürgerlichen Demokratie erblicken. Es gibt keinen einzigen Staat, und sei es auch der demokratischste, wo es in der Verfassung nicht Hintertürchen oder Klauseln gäbe, die der Bourgeoisie die Möglichkeit sichern, ‚bei Verstößen gegen die Ruhe und Ordnung‘ – in Wirklichkeit aber, wenn die ausgebeutete Klasse gegen ihr Sklavendasein ‚verstößt‘ und versucht, sich nicht mehr wie ein Sklave zu verhalten – Militär gegen die Arbeiter einzusetzen, den Belagerungszustand zu verhängen u. a. m. Kautsky beschönigt schamlos die bürgerliche Demokratie, indem er verschweigt, wie z. B. die demokratischsten und republikanischsten Bourgeois in Amerika oder der Schweiz gegen streikende Arbeiter vorgehen“ (Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, LW28, S. 243).
In Italien zum Beispiel wird laut Artikel 40 das Recht zu streiken durch Gesetze geregelt. Das heißt natürlich auch, dass die Verfassung es vorsieht, dass das Streikrecht eingeschränkt oder aufgehoben wird, wie es im Transportsektor oder im öffentlichen Dienst auch passiert. Die Rechte, die der berühmte erste Teil der italienischen Verfassung beinhaltet (Arbeit, Gesundheit, Bildung usw.), waren nicht gottgegeben, sondern mussten erst in langen Kämpfen von der Arbeiterklasse errungen. Ohne den Heißen Herbst 1969 und die Klassenkämpfe der 1970er Jahre wäre die Verfassung geduldiges Papier geblieben. Die Bürgerlichen wurden damals gezwungen, Reformen zuzugestehen. Doch bei erstbester Gelegenheit haben sie begonnen, diese Zugeständnisse wieder zurückzunehmen. Seit den 1980er Jahren sehen wir einen ununterbrochenen Abbau progressiver Aspekte im Gesetzessystem dieses Landes, einschließlich der Verfassung. Besiegelt wurde das mit dem Artikel 81, der ein ausgeglichenes Budget gebietet. Dieser Artikel wurde so nebenbei mit den Prostimmen von vielen UnterstützerInnen der aktuellen Nein-Kampagne in die Verfassung eingefügt. Damit ist eine permanente Sparpolitik de facto in der Verfassung festgeschrieben worden.
Die italienische Verfassung ist also nicht „die schönste der Welt“, wie manche gerne behaupten. Eine Rückkehr zu einer „idealen Demokratie“ ist unmöglich, eine reformistische Utopie, die schon Lenin zu entkräften versuchte: „Die Scheidemann und Kautsky reden von ‚reiner Demokratie‘ oder von ‚Demokratie‘ überhaupt, um die Massen zu betrügen und ihnen das bürgerliche Wesen der heutigen Demokratie zu verhehlen. Soll die Bourgoisie den ganzen Staatsapparat auch weiterhin in der Hand behalten, soll eine Handvoll Ausbeuter die alte, bürgerliche Staatsmaschine auch weiterhin in ihrem Interesse ausnutzen! Unter solchen Verhältnissen durchgeführte Wahlen werden von der Bourgoisie natürlich gern als ‚freie‘, ‚gleiche‘, ‚demokratische‘ ‚allgemeine‘ ‚Volkswahlen hingestellt, weil diese Worte dazu dienen die Wahrheit zu verschleiern, zu verschleiern, dass das Eigentum an Produktionsmitteln und die politische Macht bei den Ausbeutern bleiben, dass deshalb von wahrer Freiheit, von wahrer Gleichheit für die Ausgebeuteten, d.h. für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung gar keine Rede sein kann.“ (Über Demokratie und Diktatur, LW28, S 374f.)
Heute steckt dieses von Lenin beschriebene System des Betruges und der Täuschung in einer schweren Krise. Mit der Erosion der Mittelschichten erodiert auch die Basis der parlamentarischen Demokratie. Die Bourgeoisie hat in der Praxis immer wieder gezeigt, dass sie bereit ist demokratische Entscheidungen zu negieren, wenn es aus ihrer Interessenslage heraus notwendig schien. Aktuell macht sie daraus keinen sonderlichen Hehl mehr. Das „Nein“ von 61% der griechischen Bevölkerung gegen die Erpressungen durch die Troika wurde einfach ignoriert, stattdessen wurde die Regierung von Alexis Tsipras zur Kapitulation gezwungen. Im Zuge der EU-Krise wurden „Expertenregierungen“ wie 2011 jene von Mario Monti in Italien, zur Durchsetzung der Sparpolitik eingesetzt. Demokratisch gewählte Regierungen wie jene von Dilma in Brasilien wurden des Amtes enthoben.
Die bürgerliche Demokratie entpuppt sich in den Augen von Millionen immer mehr als Farce. Die Stimme der WählerInnen verliert in Wahlsystemen, die immer mehr auf ein Mehrheitswahlrecht umgestellt werden, mehr und mehr ihren Wert. Den Parlamenten werden Schritt für Schritt Entscheidungsbefugnisse entzogen. Dies erklärt auch, warum in den großen sozialen Bewegungen, die wir in den letzten Jahren international gesehen haben, der Ruf nach einem Ende der Macht der Banken, Konzerne und Superreichen, die die Hälfte des weltweiten Reichtums kontrollieren.
Als MarxistInnen weigern wir uns, unseren Kampf für Demokratie auf die Verteidigung der bürgerlichen Demokratie zu beschränken, die in Wirklichkeit immer mehr zu einer leeren Hülle verkommt. Der Herrschaft des Kapitals, der Oligarchie stellen wir die Losung nach einer Arbeiterregierung entgegen.
Die Arbeiterregierung
Die Lösung der aktuellen Krise der Menschheit liegt in der internationalen sozialistischen Revolution. Die wirtschaftliche Macht muss der herrschenden Klasse entrissen werden. Die großen Konzerne, das Finanzsystem, das Transportwesen, die Kommunikationsindustrie und die Massenmedien müssen vergesellschaftet und unter die Kontrolle der Arbeiterklasse gestellt werden. Die Revolutionierung der Wirtschaftsordnung muss aber einhergehen mit der Herausbildung eines gleichermaßen neuen politischen Systems, das das alte ersetzen soll.
Im heutigen Kapitalismus gewährt uns die herrschende Klasse in Form des parlamentarischen Systems, dass wir alle vier oder fünf Jahre die Abgeordneten zum Parlament wählen. Auch wenn wir mit diesen Abgeordneten unzufrieden sind, haben wir keine Möglichkeit sie bis zur nächsten Wahl abzuwählen. Von den hohen Staatsbeamten und den Richtern ganz zu schweigen, auf ihre Bestellung haben wir keine Einflussmöglichkeit. Wir haben es hier mit einer Kaste zu tun, die nicht abgesetzt werden kann, und die noch dazu aufgrund ihres Sonderstatus eine ganz besondere Bedeutung für die Bourgeoisie haben, falls die Interessen der Herrschenden in Gefahr sind.
Eine Arbeiterregierung muss sich auf die Selbstorganisation der Lohnabhängigen stützen, die mittlerweile gemeinsam mit ihren Familien überall auf der Welt die Mehrheit in der Gesellschaft darstellen. Die Lohnabhängigen sollen alle wichtigen gesellschaftlichen Belange bestimmen. Die Entscheidungen darüber sollen in Räten (Sowjets) und Volksversammlungen getroffen werden, also in Organismen, wo eine freie Diskussion möglich ist, wo Beschlüsse gefasst werden, wo aber auch die notwendigen Maßnahmen umgesetzt werden.
Lenin hat am Vorabend der Oktoberrevolution vier Grundbedingungen für ein System der Arbeiterdemokratie skizziert, die wir auch heute noch als überaus aktuell erachten:
- Alle Macht den Räten!
- Alle Funktionäre erhalten nicht mehr als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn und sind jederzeit wähl- aber auch wieder abwählbar.
- Alle Funktionen werden nach dem Rotationsprinzip besetzt. In den Worten Lenins: „Auch der erst beste Koch kann ein Land regieren.“
- Auflösung der stehenden Heere und Ersetzung durch eine Arbeitermiliz.
Es gibt natürlich genügend Stimmen, die meinen, dass dies ein unrealistisches Konzept sei und führen dafür sein Scheitern in der Sowjetunion an. Lenin hat aber in seinem Buch „Staat und Revolution“ den Schlüssel dafür geliefert, den es braucht, damit ein solches System funktionieren kann: „Die kapitalistische Kultur hat die Großproduktion, hat Fabriken, Eisenbahnen, Post, Telefon u.a. geschaffen, und auf dieser Basis sind die meisten Funktionen der alten „Staatsmacht“ so vereinfacht worden und können auf so einfache Operationen der Registrierung, Buchung und Kontrolle zurückgeführt werden, daß diese Funktionen alle Leute, die des Lesens und Schreibens kundig sind, ausüben können, so daß man sie für gewöhnlichen „Arbeiterlohn“ wird leisten und ihnen jeden Schimmer eines Vorrechts, eines „Vorgesetztenrechts“ wird nehmen können (und müssen).“
Die Arbeiterklasse verfügt heute im Vergleich zu Russland 1917 aber über viel größere technisches sowie administratives Know-how und kulturelles Niveau, um die Gesellschaft zu führen. In der kapitalistischen Gesellschaft werden unvorstellbar viele Fähigkeiten gar nicht ausgeschöpft. Denken wir nur an die vielen AkademikerInnen, die in irgendwelchen prekären Jobs arbeiten, die nicht ihrer Ausbildung entsprechen.
Die Entwicklung eines Systems der Selbstorganisation diesen Typs ist natürlich nicht im Reagenzglas möglich. Dazu braucht es eine Massenbewegung, eine revolutionäre Bewegung, die den Sturz des jetzigen Systems auf die Tagesordnung setzt.
Das ist die einzige Alternative zum Niedergang der bürgerlichen Demokratie. Diese Alternative wird sich aber nur durchsetzen, wenn es gelingt eine revolutionäre Organisation und Führung aufzubauen, die keine Illusionen in die Reformierbarkeit des heutigen Systems hat und den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen ist, um die Bewegung auf die revolutionäre Umwälzung der ökonomischen und politischen Verhältnisse auszurichten.