Die Mehrheit der britischen WählerInnen hat für einen Austritt aus der EU gestimmt. Nach dem Aussetzen des Schengen-Abkommens im Zuge der Flüchtlingskrise droht der EU nun eine Eskalation ihrer Zerfallstendenzen.
Knapp 52% der WählerInnen stimmten für einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU. Das ist nicht der Erfolg der subjektiven politischen Entscheidung des „englischen Hinterwäldlers“, wie die Liberalen und Reformisten nun warnend vor dem Schaden von „zu viel Demokratie“ erklären. Die Desintegration der EU ist das Resultat des verschärften (Verdrängungs-)Wettbewerbes in der Epoche der kapitalistischen Krise. Um die Folgen des Votums auch für Österreich abzusehen, muss man verstehen, was die EU eigentlich ist. Sie ist nicht etwa eine „Friedens-Union“, sondern das Gemeinschaftsprojekt der europäischen Kapitalistenklassen. Nachdem das deutsche Kapital es nach zwei Weltkriegen aufgeben musste zu versuchen Europa militärisch zu dominieren, suchte es zusammen mit dem französischen einen gemeinsamen wirtschaftlichen Weg. Die Alternative wäre die globale Bedeutungslosigkeit des „alten Kontinentes“ gewesen. Die kleineren Nationalstaaten mussten sich den Fakten, die die Großen geschaffen haben, anpassen. Dies galt selbst für Großbritannien, das sich lang der Illusion hingab als ehemaliges Empire weiter eine dominierende Rolle auf Weltmeeren und Kontinenten zu spielen.
Der Mythos des „Friedensprojekt Europa“ entstand, weil es den verschiedenen Kapitalfraktionen in Zeiten des Aufschwungs möglich war, ihre Konflikte scheinbar gleichberechtigt und ohne direkte Konfrontation zu lösen. Aber diese Zeiten sind ein für alle Mal vorbei, was sowohl das Zertrampeln Griechenlands (und vor allem seiner ArbeiterInnen) durch das deutsche Kapital, als auch der Brexit zeigen. Solange die Märkte expandieren und alle, wenn auch ungleich stark, profitieren, lässt sich trefflich kultiviert streiten. Der europäische Binnenmarkt setzt dabei an einem der zwei grundlegenden kapitalistischen Widersprüche an: Er überwindet die innereuropäische Kleinstaaterei und schafft einen großen Markt für die Waren der modernen Großproduktion. Der zweite Widerspruch des Kapitalismus ist das Privateigentum der Produktionsmittel, das in seinem Streben nach Profit Krisen und soziale Kahlschläge auslöst. Dieser Widerspruch wird durch die EU nicht überwunden, sondern vielmehr politisch potenziert. Die EU ist die zentrale Soziabbauagentur Europas. Dabei agiert sie als Arm der stärksten Bourgeoisie am Kontinent, also des deutschen Kapitals.
Die Reaktionen auf das Votum der BritInnen reflektieren deutlich die unterschiedlich gelagerten nationalen Interessen des Kapitals. Einmal mehr ist es die Brüsseler Bürokratie rund um Kommissionspräsident Juncker, sekundiert von der deutschen Sozialdemokratie, die die aggressivste Haltung einnehmen. Sie wollen ein Exempel statuieren und drängen massiv auf einen schnellen Schnitt mit dem Königreich, wollen im Zuge dessen die Integration Europas beschleunigen und vertiefen. Verbündete sind dabei der italienische Ministerpräsident Renzi und andere, die sich erhoffen die Position des eigenen (schwächeren) Kapitalismus durch den Abgang der britischen Konkurrenz zu stärken und endlich wieder mehr deutsche Liebe in Form finanzieller Zuwendung zu erfahren. Beinahe humoristisch ist auch die Position Belgiens, dessen Außenminister offensiv um die Übersiedlung britischer Firmen auf „seine“ Seite des Ärmelkanals wirbt.
Angela Merkel repräsentiert dagegen die schweren Bataillone des deutschen Kapitals. Das will vor allem andern Stabilität, keine Experimente. Sie will die britische Regierung nicht auf einen schnellen Austritt drängen und verschließt sich der Utopie einer überfallsartigen rascheren Integration der EU. Sie weiß, dass ein solches Unterfangen die Desintegration vielmehr beschleunigen würde (nächstes Jahr könnte Marie Le Pen französische Präsidentin sein!). Nicht zuletzt ist GB, das seine eigene Industrie fast vollständig zerstört hat, der zweitwichtigste Absatzmarkt Deutschlands. Daher fordert sie einen „pragmatischen Realismus“, d.h. eine sachorientierte Politik, die auf Basis der realen zentrifugalen Tendenzen Europas vorsichtig agiert. Das entspricht auch dem Willen des britischen Großkapitals. Die Banker der Londoner City suchen intensiv nach einem Weg den Brexit noch aufzuhalten. Etwa indem sie in zwei Jahren nochmal ein Votum durchführen, um bis dahin die britische Wirtschaftskrise und ihre Drohungen für sich arbeiten zu lassen. Doch so oder so, die sorgsam gehegte Illusion der Stabilität ist nicht nur in der EU als Ganzes dahin, sondern vor allem innerhalb der britischen Politik. Die VertreterInnen von Nordirland und Schottland haben schon angekündigt, ihrerseits aus dem Königreich ausscheiden zu wollen. Die regierende konservative Partei („Tories“) befindet sich in einem regelrechten Bürgerkrieg, Premierminister Cameron kündigte seinen Rücktritt an.
Doch auch die „Pro-Brexit-Tories“ und die Rechtsnationalisten der UKIP sind in keiner komfortablen Lage: Ihre gesamte Demagogie über die zusätzlichen Milliarden, die ein Brexit in die Sozialsysteme spülen würde und die freie Hand, sich vor Immigration abzuschotten entpuppt sich als Lüge. Sie glaubten nie tatsächlich zu gewinnen, sondern hofften nur sich mit Hetze gegen Ausländer und „Brüssel“ in eine stärkere Position zu bringen.
In der Labourpartei versucht die bürgerliche Fraktion, die Parteiapparat und den Parlamentsclub kontrolliert, den durch ein Mitgliedervotum gewählten linken Vorsitzenden Jeremy Corbyn zu entfernen. Die Rückgewinnung der vollen Kontrolle über Labour, die Entfernung der „zugeströmten jungen Radikalen“ (Financial Times) ist ein vom britischen Kapital orchestrierter Putsch gegen die Arbeiterbewegung. Das ist kein Zufall: müssen die Bürokratie der Arbeiterbewegung doch gerade jetzt unter allen Umständen für ihre kapitalistischen Herren die Stabilität im Königreich garantieren. Doch es regt sich großer Widerstand der Parteibasis, Demonstrationen mit tausenden TeilnehmerInnen zur Unterstützung von Corbyn finden statt. Unsere britische Schwesterströmung beteiligt sich unter dem Slogan „Defend Corbyn, fight for socialism“ an den Mobilisierungen zu seiner Unterstützung.
Letztendlich zeigen die Ereignisse um das „Brexit“-Referendum, wie notwendig es ist, dass die Arbeiterklasse eine klare eigenständige Stimme erhebt. Das reformistische Märchen vom Umbau der EU in eine „Sozialunion“ ist gerade in Zeiten der (von EU-Institutionen durchgesetzten und überwachten) brutalen Sparpakete ein böser Witz. Die Rückkehr zur Kleinstaaterei unter dem Vorzeichen „nationaler Souveränität“ ebenso. Im Kapitalismus sind so oder so für die ArbeiterInnen und Jugendlichen in ganz Europa nur Krisen, Sparpakete und Leid zu erwarten. Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!
Wien, 29. Juni 2016
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