Vor kurzem jährte sich zum 70. Mal der Todestag des russischen Revolutionärs Leo Trotzki. Rund um den Jahrestag seiner Ermordung kursierte wieder allerlei Merkwürdiges im Internet und im Blätterwald. Wir veröffentlichen hier eine Antwort von Helmut Dahmer auf einen Artikel in der Welt.
Am 21. August jährte sich die Ermordung Trotzkis durch Ramón Mercader, einen Auftragskiller der GPU, zum 70. Male. Dirk Maxeiner und Michael Miersch, die ansonsten mit „Frohen Botschaften“ gegen ökologische „Mythen“ angehen, fanden, dies sei eine Gelegenheit, um den Lesern der Welt endlich einmal klarzumachen, was es mit dem Verfechter des Internationalismus und der Arbeiterselbstverwaltung eigentlich auf sich hatte [1]. Bekanntermaßen schrieb der seine antistalinistischen Schriften zur Verteidigung der russischen und der internationalen Revolution. Gerade dadurch aber habe er – sagen Maxeiner und Miersch – als ein neuer Mephisto linken Intellektuellen einen Fluchtweg aus dem Gehäuse ihrer marxistischen Überzeugungen eröffnet. Der direkte Sprung vom Fellow-Traveller zum liberalen Demokraten, vom Antikapitalisten zum Antikommunisten hätte sie überfordert, doch der „Trotzkismus“ bot ihnen die Möglichkeit, ihren Konversionsweg in zwei Etappen zu absolvieren. „Stalin“, schreiben Maxeiner und Miersch, „hat diese Wirkung wohl geahnt [und Trotzki] deshalb besonders unerbittlich verfolgt…“ Der ahnungsvolle Racheengel im Kreml dürfte freilich noch ganz andere Gründe für seinen Ausrottungsfeldzug gegen Trotzki und dessen (wirkliche und vermeintliche) Anhänger gehabt haben. Aber lassen wir das…
Trotzki war, abgesehen von den Jahren 1917 bis 1923, in den Arbeiterorganisationen seiner Zeit stets in der Minderheit. Das hat ihm wüste Beschimpfungen jeder Art eingetragen. Für die Ideologen und Karikaturisten der „Weißen“ im russischen Bürgerkrieg war er „der Oger im Kreml“, für die Nazis die Inkarnation der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung, für die Stalinisten ein „Volksfeind“, „Terrorist“ und Gestapo-Agent. Doch selbst auf diesem wüsten Feld ist es Maxeiner und Miersch gelungen, noch ein paar neue Schmähungen zu erfinden. Trotzkis „Taten“, heißt es bei ihnen, „zählen zu den schlimmsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts“. Ein Leser, der ob dieses Superlativs ins Grübeln gerät, wird sogleich belehrt, es handele sich beim Organisator des Oktoberaufstands um einen „Kriegsverbrecher“, der „im russischen Bürgerkrieg Massenmorde befohlen“ habe. Nun möchte man natürlich gern wissen, welche Massen damals wann, wo und von wem umgebracht wurden. Schließlich ist die Kriegsführung der Roten Armee in den Jahren 1918-1921 gut erforscht, und Trotzki selbst, der „Verbrecher“ und „Prediger der ‚permanenten Revolution’“, hat in vier dicken Bänden sein Reden und Handeln als Kriegskommissar dokumentiert. In der einschlägigen historischen Literatur ist von den „Massenmorden“, auf die Maxeiner-Miersch verweisen, nirgends die Rede. Und so nimmt auch ihr Unternehmen eine „mephistophelische“ Wendung: In Sachen Trotzki werden die wackeren Streiter gegen ökologische Mythen selbst zu Mythenschmieden.
Bei den Wanderern, die, unterwegs vom Antikapitalismus zum Pro-Kapitalismus, in Trotzkis Hütte übernachteten, handelte es sich, wie Maxeiner-Miersch berichten, um eine bunte Truppe. Genannt werden Koestler und Orwell, Manès Sperber, Willy Brandt und – Wolf Biermann. Daraufhin tritt nun Wolf Biermann selbst auf den Plan [2]. Aus dem Urlaub schickt er den beiden von ihm sehr geschätzten Welt-Autoren neue Lieder und Gedichte zum Dank für ihren „Kommentar zum 70. Todestag des Genossen Trotzki“. Der Dichter, der sich seiner Lektüre der Trotzki-Biographie Isaac Deutschers und verschiedener Trotzki-Schriften rühmt, nimmt am Trotzki-Bashing in der Welt keinerlei Anstoß, sondern schreibt, der fragliche Artikel habe ihn „froh“ gestimmt. Warum? Weil es eben der dort erwähnte „ehrenhafte Renegat“ und „erfahrene Doktor“ Manès Sperber gewesen sei, der ihm selbst bei einem Besuch in Paris seinen „faulen Kommunistenzahn“ gezogen habe: „Ich begriff, daß der Kommunismus, das ist ja die ideale Endlösung der sozialen Frage, ein blutiger Irrweg sein muß.“ Und dann erzählt er noch einmal die Geschichte, wie ihn Jakob Moneta, Redakteur der Metall-Zeitung und Trotzkist, nach 12 Jahren Auftritts- und Ausreiseverbot in der DDR 1976 (im Auftrag der IG Metall) zu einem Konzert nach Köln einlud, zu dem 8.000 Menschen kamen, woraufhin er von der SED-Führung ausgebürgert wurde. Jahre später, nach dem Untergang der DDR, kandidierte Moneta (wie einige andere Trotzkisten) bei Frankfurter Wahlen auf der Liste von Gysis PDS. Waren aber Trotzkisten und Stalinisten nicht eigentlich Todfeinde? Biermann verstand die Welt nicht mehr. Doch dann kam ihm jäh eine Erleuchtung. GPU und Stasi hatten ja stets versucht, die trotzkistischen Gruppen, die sie nicht einfach liquidieren konnten, wenigstens zu unterwandern! „Also erkannte ich nun, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, daß mein Freund Jakob von Anfang an ein Agent Provocateur und eine Kreatur im Apparat des MfS-Generals für West-Spionage, Markus Wolf, gewesen sein muß. Und die ganze Einladung im Herbst 1976 […] war offensichtlich eine Hundefängerei, die allerdings aus erkennbaren Gründen gründlich ihre Ziele verfehlte. Ein Roman das alles!“
So folgt – vom „Kommentar“ zum „Leserbrief“ – auf die Verleumdung des ermordeten russischen Revolutionärs eine zweite, diesmal die eines Lebenden, den ich seit einem halben Jahrhundert kenne und für dessen Anti-Stalinismus ich mich verbürgen kann. Jakob Moneta, der Autor von Büchern wie Die Kolonialpolitik der französischen KP (1968) oder Aufstieg und Niedergang des Stalinismus, zur Geschichte der KPdSU (1971), wäre der wunderlichste aller stalinistischen „Agenten“, von denen wir Kenntnis haben…
In besseren Tagen konnte man bei Biermann Verse wie diese lesen: „Du ahnst ja nicht, wie sehr ich mich / Zermartere und quäle / Denn Haß auf Menschen, die man liebt / Verbrennt die eigne Seele.“ [3] Daß er heute, von seinen Erfahrungen mit SED- und Stasi-Verfolgern gezeichnet, nicht in der Lage ist, seine Phantasien auf ihren Realitätsgehalt hin zu überprüfen, bevor er seinen vormaligen Freund Moneta öffentlich eine „Canaille seiner Todfeinde“ und einen „Wahlaffen“ der „flott gewendeten DDR-Nomenklatura“ nennt, ist betrüblich. Seine Behauptung, Jakob Moneta sei ein stalinistischer Agent, ist infam.
Was ist nur aus Biermann, dem Liedermacher in der Nachfolge Heines und Brechts, geworden? Die Stalin-Ära, in der über Nacht (echte) Genossen zu „Volksfeinden“ mutierten, während (vermeintliche) Todfeinde zu geehrten Bündnispartnern avancierten, hat nachhaltig zur Verwirrung der politischen Geister beigetragen. Der falsche Messias im Kreml ließ einen Nikolai Bucharin als faschistischen Spion erschießen, nannte Hitler einen „ganzen Kerl“ und stellte seinen GPU-Chef Berija im Februar 1945 (in Jalta) dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt unverblümt als „unseren Himmler“ vor. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis wir aus dem Schatten der totalitären Regime heraustreten und auch die Albtraum-Welt des Kalten Krieges, in der es von Agenten, Doppelagenten und Denunzianten wimmelte, hinter uns lassen können. Dann wird eine verbesserte „Realitätsprüfung“ (Freud) es auch „Ketzern“ wie Biermann erlauben, Freund und Feind auseinanderzuhalten und zwischen realen und imaginären Verfolgern zu unterscheiden.
Helmut Dahmer, Wien
29. 8. 2010
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[1] Maxeiner, Dirk, und Michael Miersch: „Das gute Wirken des Verbrechers Leo Trotzki.“ Welt-Online, 19. 8. 2010. – Maxeiner/Miersch: „Vorbild aller Renegaten.“ Die Welt, Berlin, 20.- 8. 2010.
[2] Biermann, Wolf: „’Ich wollte in meinem Leben nie Trotzkist sein.’“ (Leserbrief.) Welt Online, 26. 8. 2010.
[3] Biermann, Wolf (1972): Deutschland. Ein Wintermärchen. Berlin. Kapitel IX, S. 35.