Warum im Gegensatz zur Ideologieproduktion der Herrschenden in all seiner Vielfalt der Sozialismus schon immer möglich war, argumentiert Fabian Laudenbach.
Der aktuelle Zustand des Kapitalismus erinnert uns einmal mehr auf eindrucksvolle Art und Weise an Marx’ These, dass die inneren Mechanismen dieser Wirtschaftsordnung in zyklischen Abständen zu Krisen führen müssen. Gegenwärtig würden wohl nur die allerdreistesten Zungen ernsthaft behaupten, der Kapitalismus wäre genau jenes System, welches die Grundbedürfnisse der Menschheit am besten befriedigen kann.
Was die derzeitige Weltwirtschaftskrise nun auch in den Industrieländern zutage bringt, galt im Weltmaßstab seit jeher: Knapp die Hälfte der Erdbevölkerung fristet ihr Dasein mit weniger als zwei US-Dollar am Tag. Für über 20% ist es gar weniger als ein kümmerlicher Dollar, der zum Leben ausreichen muss. Gleichzeitig liegt erwiesenermaßen mehr als 90% des Reichtums auf der Welt in den Händen von weniger als 10% der Menschheit.
Jüngste Umfragen zeigen, dass ein Großteil der Weltbevölkerung ernste Zweifel am Kapitalismus hat. Eine BBC-Studie, die Ende vergangenen Jahres in 27 sehr unterschiedlichen Ländern mit 29.000 Befragten aus allen sozialen Schichten durchgeführt wurde, liefert die Bestätigung dafür. Dieser Umfrage zufolge sind nur 11% der Meinung, der Kapitalismus wurde gut funktionieren. 89 % hingegen vertreten die Ansicht, unser Wirtschaftssystem hätte tiefgehende Probleme. Ganze 23% (in Frankreich sogar 43%) meinen, der Kapitalismus muss durch eine vollkommene andere Wirtschafsordnung ersetzt werden. Eine vom renommierten Meinungsforschungsinstitut Emnid erst dieses Frühjahr veröffentlichte Studie hat ergeben, dass 72% der West- und 80% der Ostdeutschen sich durchaus vorstellen könnten, in einer sozialistischen Gesellschaft zu leben, wenn ihnen dadurch nur eine gerechte Vermögensverteilung und Vollbeschäftigung garantiert wären.
Sozialismus, aber wie?
Müssen wir aber nicht feststellen, dass der Sozialismus im vergangenen Jahrhundert seine Chance bekommen hat und sich dabei bestenfalls als noble Idee herausgestellte, die in ihrer praktischen Umsetzung nur scheitern kann? Die Degeneration der anfänglich demokratisch von den Massen getragenen Sowjetunion zu einer diktatorischen Apparatherrschaft hat scheinbar die Idee der klassenlosen Gesellschaft ohne die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen des Utopismus überführt. Aber eben nur scheinbar. MarxistInnen sehen in der Geschichte der Sowjetunion vielmehr die volle Bestätigung des wissenschaftlichen Sozialismus.
Die Tragödie der Sowjetunion nur wenige Jahre nach der Oktoberrevolution war der logische Abschluss eines Prozesses, der mit dem Sturz des Zarenregimes begonnen hatte. Nach diesem bildeten die ArbeiterInnen, BäuerInnen und Soldaten ihre eigenen Organe der Kontrolle und der Machtausübung – die Räte (Sowjets). Es stellte sich heraus, dass diese gegenüber dem Parlamentarismus die weit demokratischere Form der Regierung sind. So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Übernahme der Macht durch diese von den Massen begeistert begrüßt wurde und im Gegensatz zu bürgerlichen Lügenmärchen praktisch vollkommen friedlich verlief.
Die Frage des Internationalismus war für die junge Sowjetrepublik eine Frage des nackten Überlebens. Die führenden Bolschewiki wussten genau, dass ein sozial, wirtschaftlich und kulturell rückständiges Russland in Anbetracht der kapitalistischen Übermacht schnell scheitern müsste und setzten daher all ihre Hoffnungen auf baldige erfolgreiche Revolutionen im Westen. „Sollte dies nicht eintreten, so wäre es – das beweisen sowohl die geschichtlichen Erfahrungen als auch die theoretischen Erwägungen – hoffnungslos, zu glauben, dass z.B. ein revolutionäres Russland angesichts eines konservativen Europas (…) in der kapitalistischen Welt durchhalten könnte“, wusste nicht nur Lenin schon 1918. Erstens sei das industriell äußerst schwach entwickelte Agrarland Russland auf die wirtschaftliche Unterstützung eines westeuropäischen ArbeiterInnenstaates angewiesen, zweitens sei jedes Land, in dem die Revolution gesiegt hat, ein Land weniger, welches Russland im Falle eines imperialistischen Krieges überfallen würde. Aus diesen und anderen Überlegungen heraus gründeten die Bolschewiki 1919 die Kommunistische – die Dritte – Internationale, die rasch zu einer Organisation mit Massenverankerung in zahlreichen Ländern wurde und sich die Globalisierung der Revolution zum Ziel setzte.
Die vom russischen Proletariat erwartete internationale Revolution sollte nicht lange auf sich warten lassen: Inspiriert durch das Vorbild der Sowjetunion gingen die ArbeiterInnen Europas auf die Barrikaden. In Österreich und Deutschland gründeten sich mächtige ArbeiterInnen- und Soldatenräte, Ungarn und Bayern riefen 1919 gar die Räterepublik aus, 1920 hielten die ArbeiterInnen Norditaliens alle Fabriken besetzt; starke revolutionäre Bewegungen gab es außerdem in Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Bulgarien, Finnland u.a. Die Zeichen für den Kapitalismus standen schlecht.
Abflauende Hoffnungen
Letztendlich setzte sich keine einzige dieser Revolutionen durch. Neben Fehlern der jungen, unerfahrenen Kommunistischen Parteien war dafür insbesondere die gewaltsame Reaktion verantwortlich, welche nicht nur die ungarische Rätebewegung in Blut ertränkte, sondern auch in Österreich und Deutschland (mit aktiver Unterstützung der sozialdemokratischen Führung) der revolutionären Bewegung den Garaus machte und früher oder später (zuerst in Italien) zum Faschismus führte. Die für die junge Sowjetunion dringend erforderliche internationale Unterstützung blieb also aus.
Die wirtschaftliche Situation im neuen Staat stand aber schon infolge des jahrelangen Krieges gegen die Armeen von 21 fremden Mächten, welche sich an der Invasion Russlands beteiligten, nicht zum Besten. Statt alle Kraft in den wirtschaftlichen Aufbau des Landes zu stecken, musste die gesamte Wirtschaft der militärischen Verteidigung gewidmet werden. In einem ohnedies bitterarmen Land hatte dies verheerende Auswirkungen – Millionen starben an den Verheerungen des Krieges. Weitere Millionen flohen vor Hunger aufs Land und konnten sich so nicht dem dringend erforderlichen wirtschaftlichen Aufbau und ihrer vorhergehenden politischen Aktivität für den Sowjetstaat widmen.
Die langfristige wirtschaftliche Entwicklung des Sozialismus ist aber ohne permanente Höherentwicklung der Wirtschaft und damit die bessere Versorgung der Bevölkerung nicht möglich. Engels beschrieb Kommunismus einst sogar als Gesellschaft allgemeinen Überflusses. Doch selbst die fortschreitende ökonomische Entwicklung wurde durch die Invasion der Westmächte und das Ausbleiben erfolgreicher Invasionen in zentralen Invasionen verunmöglicht.
Gleichzeitig mussten auf Grund der Flucht aus den Städten und des geringen Bildungsniveaus zunehmend zaristische BeamtInnen für die Verwaltung des Staates eingesetzt werden. Beunruhigt darüber, auf die Fähigkeiten der alten Eliten angewiesen zu sein, nannte Lenin zu Beginn der 1920er die Sowjetunion einen zaristischen Staat, der lediglich mit Sowjetöl geschmiert sei und diagnostizierte erste Tendenzen der Bürokratisierung, gegen die seiner Meinung nach aufs Schärfste vorgegangen werden musste. In diesem letzten Kampf seines Lebens hatte er von der Parteiführung einzig Leo Trotzki als Verbündeten.
Gleichzeitig zogen sich viele ArbeiterInnen aus der politischen Aktivität zurück – ernüchtert durch das Ausbleiben der internationalen Revolution und die unzureichende Weiterentwicklung des wirtschaftlichen und sozialen Systems; andere fanden den Tod im Krieg oder starben am Hunger.
Die Macht ging folglich zunehmend an jene Kraft über, die dieses Vakuum am besten zu füllen wusste. Die Bürokratie war objektiv betrachtet am Besten dazu im Stande, den allgemeinen Mangel zu verwalten. Stalin als einfältiger aber entschlossener Egomane ohne besondere theoretischen Fähigkeiten war aus Sicht dieser Kräfte der beste Vertreter ihrer Interessen.
Um die noch weit verbreiteten Ideale des Internationalismus und der direkten Rätedemokratie auszulöschen, ging er über die Leichen von Millionen KommunistInnen. Mit seiner sog. Theorie des Sozialismus in einem Lande ordnete er die Dritte Internationale im krassen Gegensatz zu allen internationalistischen Prinzipien des Marxismus vollständig den außenpolitischen Interessen des Kreml unter und vernichtete so jede Aussicht auf die Verhinderung der Degeneration des ArbeiterInnenstaates. Jahrzehnte der stalinistischen Diktatur waren der Preis dafür, dass die bürokratische Clique eine einfache Grundtatsache ignorierte: Der Sozialismus ist international – oder er ist nicht!
Welche Alternative?
Lenin und Trotzki haben nie geleugnet, Fehler begangen zu haben. Die Bürgerlichen werden auch nicht müde, schadenfroh darauf aufmerksam zu machen. Sie vergessen allerdings gerne darauf, die eigentlichen UrheberInnen dieser Tragödie zu erwähnen: die Herrschenden aller kapitalistischen Länder, welche dem jungen Arbeiterstaat einen verheerenden Verteidigungskrieg aufzwangen, unterstützt von Europas Sozialdemokratien, die durch die Verhinderung der Revolution in ihren jeweiligen Länden für das all zu frühe Ende der sozialistischen Hoffnungen in der Sowjetunion sorgten.
Heute stehen die Chancen für den Sozialismus ungleich besser. Die wirtschaftliche Entwicklung ist so weit gediehen, dass ein weltweit hohes Produktionsniveau möglich ist. Die Bildung der Massen ist so weit vorangeschritten, dass sie die Produktion tatsächlich selbst demokratisch leiten könnten. Und neue Technologien machen alltägliche echte Demokratie zu einer realistischen Möglichkeit. Auch die Erfahrung des gescheiterten Experiments in der Sowjetunion wird einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, ihre Fehler nicht zu wiederholen, wenn wir daraus lernen.
Schließlich zeigt sich heute deutlich denn je zuvor, dass wir vor der Wahl zwischen Sozialismus und Barbarei stehen. Wir meinen aber: Eine sozialistische Welt ist nicht nur möglich – vor allem aber nötig!