Im Juli wurden die ersten Bilder des James-Webb-Teleskops (JWST), dem weitreichendsten Weltraumteleskop bisher, veröffentlicht. Sie zeigen, dass seine Entdeckungen in den nächsten Jahren unser Wissen über das Universum und seine Entwicklung auf neue Höhen heben werden. Gleichzeitig steckt das wissenschaftliche Denken – insbesondere in der Kosmologie – selbst in einer tiefen Krise. Doch Krisen sind nichts Bedauernswertes, sondern bereiten erst neue gesellschaftliche wie wissenschaftliche Revolutionen vor. Von Martin Halder.
Die Wissenschaft kann nicht isoliert von der Gesellschaft gesehen werden. Philosophie und Wissenschaft waren immer schon Gebiete, auf denen der Klassenkampf ideologisch ausgetragen wurde. In den Anfängen des Kapitalismus spielte das Bürgertum eine revolutionäre Rolle im Kampf gegen die religiösen Dogmen der Kirche. Doch spätestens im 20. Jahrhundert, mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsphase, verkehrt sich dies ins Gegenteil. Die tiefe Krise und Irrationalität des Systems äußern sich auch in einer Krise des Denkens und der Popularität mystischer Erklärungen.
Der Idealismus nimmt, wie Friedrich Engels aufzeigt, „in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art“ an. In dieser Hinsicht ist die Theorie, dass das Universum vor 13,8 Mrd. Jahren mit dem Urknall entstanden sei, das wahrscheinlich klassischste Beispiel für diesen Ansatz.
Schöpfungsmythos Urknall
In den 1920ern wurde beobachtet, dass sich die Galaxien, die wiederum aus Milliarden von Sternen bestehen, voneinander wegbewegen. Daraus wurde schlussgefolgert, dass das gesamte Universum einmal in einem Punkt konzentriert gewesen und dort entstanden sein müsste.
Das Problem dabei ist nicht das Entstehen und Vergehen von Sternen oder Galaxien selbst, dies ist sehr gut belegt und zeugt davon, dass nichts, auch nicht unsere eigene Galaxie, für immer existiert. Die Problematik dieser Theorie liegt in seiner Erklärung der Entstehung des gesamten Universums – von Materie, Raum und Zeit. Sie wirft sofort die Frage auf: Was war vor dem Urknall und wie wurde er ausgelöst? Denn wenn es vor dem Urknall nichts gab, kann nur Gott als letzte Ursache herhalten, was die Theorie auch zum Ausgangspunkt eines modernen Schöpfungsmythos gemacht hat. Es überrascht deshalb auch nicht, dass der Begründer der Urknalltheorie, Georges Lemaître, Astrophysiker und Priester war und der Papst sich 1951 für diese Lehre aussprach. Papst Franziskus meinte 2014, dass der Urknall eine göttliche Schöpfung verlangt.
Eine Vielzahl von WissenschaftlerInnen sind klarerweise beunruhigt von diesen religiösen Vereinnahmungen. Das Einzige allerdings, was sie dem entgegenhalten können, ist, die Frage nach dem davor nicht zu stellen, weil etwa am Punkt des Urknalls die anerkannten Naturgesetze zusammenbrechen würden oder die Zeit selbst erst mit der Existenz des Weltalls angefangen hat, es also kein „davor“ geben kann. Das sind Ansichten, die eine absolute Schranke für die Erkenntnis bedeuten, hinter der es sich religiöse und mystische Erklärungen erst recht bequem machen können.
Marxismus und Kosmologie
Als MarxistInnen wissen wir, dass die Welt nur zu verändern ist, wenn man sie wirklich versteht. So war der Ausgangspunkt für Marx bei der Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus auch nicht die Ökonomie oder die Politik, sondern die Entwicklung einer revolutionären Philosophie, des Dialektischen Materialismus. Eine Philosophie ist eine allgemeine Weltsicht, die sich auf alle Bereiche der Gesellschaft sowie der Natur anwenden lässt. Insofern wir keine WissenschaftlerInnen sind, geht es nicht darum, sich als MarxistInnen zu Detailfragen der wissenschaftlichen Forschung zu Wort zu melden oder Alternativtheorien auszuarbeiten, sondern zu den philosophischen Grundsatzfragen und gegen idealistische und somit unwissenschaftliche Anschauungen Stellung zu beziehen. Dies ist auch die Aufgabe, die Ted Grant und Alan Woods in den 1990ern mit dem Buch „Aufstand der Vernunft“ unternahmen. Sie wiesen darin nach, wie die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse den Dialektischen Materialismus bestätigen und sie kritisierten idealistische Theorien wie den Urknall.
Der Marxismus hält den Theorien des Urknalls, die sich mal in mehr oder weniger wissenschaftlichem Gewand präsentieren, entgegen, dass das Universum unendlich in Raum und Zeit ist und sich ununterbrochen verändert. So sehen wir in der Entwicklung des Kosmos, wie sich aus ein und derselben Materie aus Sternenstaub feste Planeten formen und wie sich auf der Erde vom Pflanzen- und Tierreich bis hin zum Menschen komplexe Lebewesen entwickelten. Die Materie verändert ununterbrochen ihre Erscheinungsformen, doch sie selbst kann weder erschaffen noch vernichtet werden. Denn wäre dies der Fall, müsste aus dem „Nichts“ ein „Etwas“ entstanden sein oder umgekehrt. Niemand könnte in dem Fall erklären, warum und wie dieses „Etwas“ entstanden ist – ein komplett unwissenschaftlicher Gedanke. Denn der Siegeszug der Naturwissenschaften bedeutete gerade, sich vom kirchlichen Dogma „Die Wege des Herrn sind unergründlich“ frei zu machen und zu versuchen, Erscheinungen der Materie aus sich selbst heraus zu erklären. Ähnlich verhält es sich bei einem endlichen Universum, das etwas erfordern würde, das es begrenzt, das sich also hinter den Grenzen des Universums befindet. Dies könnte nur etwas mystisches Immaterielles sein, sonst wäre es wiederum Teil desselbigen. Wir sehen also: Hinter jedem Versuch, dem Universum räumliche oder zeitliche Grenze zu setzen, kann sich immer nur Religion und Mystizismus verstecken.
Die Bilder des JWST
Die Geschichte der Kosmologie und Astronomie zeigt eindrücklich, wie die scheinbaren Erkenntnisschranken jeder Generation von der nachfolgenden durchbrochen wurden. Anfang der 1920er ging man davon aus, dass das Universum einen Durchmesser von 200.000 Lichtjahren hat und drei Galaxien beherbergt. Seitdem hat man durch die Entwicklung der Teleskoptechnologie, allen voran dem Hubble-Teleskop (dem Vorgänger des JWST), immer mehr Formationen des Kosmos entschlüsselt, und heute geht man davon aus, dass das bekannte Universum eine unvorstellbare Anzahl von mehreren hundert Milliarden Galaxien enthält und einen Durchmesser von 90 Mrd. Lichtjahren aufweist.
Mit dem JWST werden erneut eine Vielzahl unbekannter Galaxien entdeckt und neue Erkenntnisse über die Entwicklung des Universums gesammelt werden. Ersten Berichten zufolge hat das JWST nur wenige Tage nach seiner Inbetriebnahme die älteste bis jetzt bekannte Galaxie (GLASS-z13) gefunden, die ungefähr 300 Mio. Jahre nach dem Urknall entstand. Kurz darauf sollen sogar noch ältere Galaxien gefunden worden sein. Auch wenn diese Daten noch verifiziert werden müssen, liegt es nahe, dass dies erst der Anfang neuer bahnbrechender Funde ist. Forscher stoßen auf Galaxien, Quasaren und supermassive Schwarze Löcher, die nur wenige hunderte Millionen Jahre nach dem Urknall entstanden sind. Dies hat, wie auch schon beim Vorgänger-Teleskop Hubble, bei vielen Astronomen für Überraschung gesorgt. Denn bisher hat man angenommen, dass sich Sternenansammlungen erst 500 Millionen Jahre nach dem Urknall entwickelt haben. Doch GLASS-z13 scheint so sternenreich zu sein, dass sie die milliardenfache Leuchtkraft unserer Sonne hat. „Unter den typischen Annahmen ist es praktisch unmöglich, eine so helle, massive und frühe Galaxie zu produzieren“, so bewertet es Rohan Naidu vom MIT das nun zu sehende.
Wie bereits in der Vergangenheit hat die Theorie immer wieder mit neuen Beobachtungen zu kämpfen. 2021 wurde ein Galaxienhaufen (Giant Arc) entdeckt, der sich über einen Raum von 3,3 Mrd. Lichtjahre erstreckt und 3,5 % des bekannten Universums ausmacht. Eine derartig große Formation widerspricht dem kosmologischen Standardmodell des Urknalls, laut diesem kein Objekt im All größer sein kann als 1,2 Mrd. Lichtjahre. In der Vergangenheit wurden solche Funde als „Ausreißer“ diskutiert, doch die Entdeckerin des Giant Arc Alexia Lopez meint dazu: „Die wachsende Zahl solcher Strukturen oberhalb des kosmologischen Größenlimits lässt sich immer schwerer ignorieren.“
Auf der Suche nach dem Dunklen
Um ihr Modell zu retten, hat die Theorie bereits viele Modifikationen erfahren, doch dadurch wurde sie immer spekulativer:
So geht das kosmologische Standardmodell des Urknalls davon aus, dass 90-95 % des Universums aus der sogenannten dunklen Materie und dunkler Energie besteht. Diese dunklen Elemente werden seit Jahrzehnten gesucht und bleiben unentdeckt. Jedes Mal, wenn die sehr kostspieligen Experimente fehlschlagen, postulieren die Forscher, dass sie noch schwerer aufzuspüren wären.
Die Problematik ist nicht die Annahme und Suche von unbekannten Teilchen per se, sondern dass seit Jahrzehnten nahezu ausschließlich ein einziges Konzept erfolglos beforscht wird, was auch durch den kapitalistischen Wissenschaftsbetrieb begünstigt wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist die dunkle Materie und eine mögliche Alternativtheorie, die modifizierte Gravitation (MOND), welche ohne die Annahme unbekannter Teilchen auskommt. Die Forschung zur dunklen Materie wurde mit Milliarden finanziert, da sie sich im Rahmen des Standardmodells bewegt und mit ihr somit zahlreiche Karrieren und Forschungsstätten zusammenhängen. Die MOND-Theorie erhielt nur einen Bruchteil dessen.
Mathematische Spekulationen
Verschiedene Entdeckungen bringen das klassische Urknall-Modell zunehmend unter Druck und so wird seit den 1990ern vermehrt Kritik geübt, insbesondere an der These vom Beginn der Zeit und der Unmöglichkeit, den Zustand vor dem Urknall zu ermitteln. Dem wird richtigerweise die Unendlichkeit des Universums entgegengehalten.
Der Nobelpreisträger Roger Penrose etwa vertritt die Theorie eines zyklischen Universums. Das Universum soll sich demnach in ewigen Zyklen ausdehnen, einen Urknall erleben und weiter ausdehnen. Diese Überlegungen basieren allerdings auf rein mathematischen Spekulationen, die völlig abgelöst sind von der Welt, wie wir sie vorfinden. Weitere Alternativtheorien bedienen sich der Stringtheorie, die bis zu 10 Dimensionen postuliert oder der Vorstellung eines Multiversums. Diese Ansätze treiben die idealistische Herangehensweise erst recht auf die Spitze, indem darin die Schönheit und Widerspruchsfreiheit der mathematischen Herleitungen als primär angenommen werden und nicht die Beobachtungen der Natur.
Dabei handelt es sich um einen grundlegenderen Trend, den die theoretische Physikerin Sabine Hossenfelder so beschreibt:
„In den zwanzig Jahren meiner Beschäftigung mit theoretischer Physik sah ich die meisten Wissenschaftler, die ich kenne, Karriere machen, indem sie Dinge untersuchten, die niemand je gesehen hat. Sie haben wahnwitzige Theorien ausgebrütet wie die, dass unser Universum nur eines in einer unendlichen Zahl von Universen sei, die zusammen ein “Multiversum” bilden. Sie haben Dutzende neuer Teilchen erfunden und erklärt, wir seien Projektionen eines Raums höherer Dimension, der durch Wurmlöcher hervorgebracht werde, die weit voneinander entfernte Orte miteinander verbänden.“
Unser Platz im Universum
Während das wissenschaftliche Denken in der Krise ist, schreiten die technischen Möglichkeiten trotz allem weiter voran. Das JWST wurde nur rund 30 Jahre nach Hubble (1990) ins All befördert und das 33 Jahre nach Sputnik 1 (1957), dem ersten Satelliten im All. Das verdeutlicht das gigantische Potential der Menschheit. Gleichzeitig steht dies der traurigen Realität des Kapitalismus gegenüber, der alles in der Gesellschaft, auch den Wissenschaftsbetrieb, nach Profit und Konkurrenz strukturiert.
Bertolt Brecht lässt Galilei am Vorabend einer gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Revolution sagen:
„Denn die alte Zeit ist herum, und es ist eine neue Zeit. Seit hundert Jahren ist es, als erwartete die Menschheit etwas. Die Städte sind eng, und so sind die Köpfe. Aberglaube und Pest. Aber jetzt heißt es: da es so ist, bleibt es nicht so. Denn alles bewegt sich, mein Freund.“
(Funke Nr. 206/30.8.2022)