Im Oktober 2017 jährt sich ein bedeutendes historisches Ereignis: Vor 500 Jahren veröffentlichte der Augustinermönch Martin Luther seine 95 Thesen über den Ablasshandel und entwickelte in der folgenden Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche eine neue Theologie. Die Reformation war darüber hinaus ein Katalysator in den Klassenkämpfen des 16. Jahrhunderts, die im Bauernkrieg und einer Reihe von Religionskriegen mündeten, die Europa die nächsten Jahrhunderte überzogen. Von Martin Zuba.
Wenn heute auf diese Epoche zurück geblickt wird, herrscht oft Unverständnis vor. Wieso konnten die Menschen damals so verblendet sein, dass sie theologische Spitzfindigkeiten wie die Abendmahlfrage zum Anlass nahmen, andere Menschen zu foltern, zu verbrennen und ganze Kriege anzuzetteln? Wie gut, dass seit der Aufklärung in der “westlichen Welt” die Rolle der Religion zurückgedrängt wurde und die Vernunft zur Richtschnur in der Politik wurde!
Wer so denkt hat aber weder die Zeit der Reformation noch die heutige Politik verstanden. Wer die Reformationskriege auf theologische Spitzfindigkeiten reduziert, könnte genauso gut behaupten, bei der Revolution in Russland sei es vordergründig um die ästhetische Frage gegangen, ob die russische Flagge zukünftig rot oder weiß-blau-rot sein solle. Zu allen Zeiten in der Menschheitsgeschichte hatten vordergründig ideologische Differenzen, die sich zu Revolutionen, Bürgerkriegen oder Kriegen aufschaukelten, ihre Grundlage in den unterschiedlichen Klasseninteressen der Konfliktparteien, die sich aus deren wirtschaftlicher Stellung ergab, und die den Rahmen für ihre Ideologie, Programm und Organisationsform setzte.
Aus dieser Sicht muss auch die Epoche der Reformation betrachtet werden. Weit davon entfernt, eine mutig entschlossene Kampfansage an die bestehende kirchliche Ordnung zu sein, hätte Luthers Einladung zur Disposition (Debatte) der 95 Thesen über den Ablasshandel (die übrigens den Ablass als grundsätzlich legitim anerkannten und lediglich die Exzesse des Ablasshandels und den Schacher mit geistlichen Ämtern anprangerten) wohl kaum breite Aufmerksamkeit erregt, wenn sich nicht unter entscheidenden Schichten der deutschen Gesellschaft ohnehin schon eine breite Opposition gegen die verschiedensten Instrumente der Kirche zur finanziellen Auspressung der Gläubigen, an dem alle Ebenen der kirchlichen Hierarchie mitschnitten, gebildet hätte. Insbesondere die Fürsten der sich als eigenständige Staaten herausbildenden Territorien des Heiligen Römischen Reichs und die auch zu dieser Zeit aufkommenden Handels- und Bankkapitalisten sahen die Früchte des deutschen Wirtschaftsaufschwungs lieber in ihren eigenen Steuertöpfen, denn als Beiträge zur Errichtung der päpstlichen Prunkbauten in Rom.
Die Gesellschaft der Neuzeit
Aber auch hinter diesem Konkurrenzkampf um die Ablassgelder standen tiefer greifende Klassengegensätze. Im 16. Jahrhundert hatte der wirtschaftliche Fortschritt die Gesellschaft des frühen Mittelalters transformiert. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Entwicklung der Warenwirtschaft, also der Produktion von Gütern zum Zweck des Verkaufs, neben der bestehenden Subsistenzwirtschaft, d.h. der Produktion zum eigenen Bedarf (oder des Bedarfs des Herren). Im frühen Mittelalter nahm die Ausbeutung der Bauern durch Adel und Klerus noch primär die Form der Frondienste (Zwangsarbeit am Hof des Herren) oder der Naturalienabgaben (ein Anteil der Ernte geht an den Herren) an. Für den ihren Leibeigenen oder Hörigen abgepressten Reichtum fanden die Herren kaum eine andere Verwendung als das Verprassen in Sauf- und Fressgelagen. Mit der Herausbildung neuer Wirtschaftszweige wie der Textilindustrie oder dem Bergbau änderte sich dieser Umstand. In den Bergbaugebieten Sachsens, Thüringens und Böhmens entstanden größere Städte, die Nahrungsmittel und insbesondere Holz, das für den Bau der Stollen und zur Schmelze der Edelmetalle aus dem Gestein gebraucht wurde, kauften. Es entstand ein Markt für den Verkauf dieser Produkte, der Handel intensivierte sich.
Das führte einerseits zu einer verstärkten Ausbeutung der Bauern durch die Feudalherren, die den produzierten Überschuss verkaufen und dafür Luxusprodukte nachfragen konnten. Zweitens führte die Nachfrage nach Holz dazu, dass die Feudalherren danach trachteten, sich an immer mehr Wäldern und anderen, nach germanischer Tradition in Gemeinschaftseigentum durch die Dorfgemeinde der Bauern verwalteten, Flächen wie Wiesen oder Fischteichen zu bereichern. Der Raubbau an Holz führte ab dem 16. Jahrhundert zu Holzknappheit in Deutschland, die die Lage der Bauern in der “Kleinen Eiszeit” verschärfte. Parallel dazu transformierte sich die städtische Gesellschaft. Waren die Städte im frühen Mittelalter vom streng reglementierten, zünftisch organisierten Handwerk geprägt, das wenige Werkzeuge für die Landwirtschaft und die Kriegsführung produzierte, entstanden im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit mit der Herausbildung der Warenwirtschaft die ersten Imperien der Handel treibenden Kapitalisten, zu denen sich später auch die Bankiersfamilien gesellten.
Diese Entwicklung musste die neu entstandenen gesellschaftlichen Klassen zwangsweise in einen Konflikt mit der mittelalterlichen, feudalen Gesellschaftsordnung führen. Für den überregionalen Handel war es von entscheidender Bedeutung, nicht alle paar Kilometer an einer Territorialgrenze an den nächsten Feudalherren Zölle zahlen zu müssen und seiner Willkür in Rechtsfragen ausgesetzt zu sein. Die Warenwirtschaft verlangte also nach der Schaffung von einheitlichen Wirtschaftsräumen in Form von Territorialstaaten, zu denen sich die deutschen Fürstentümer im Spätmittelalter entwickelten – sehr zum Verdruss des Kaisers, dessen Macht dadurch beschränkt wurde.
Bemerkenswert dabei ist, dass die katholische Kirche bei dieser Entwicklung in erster Reihe beteiligt war. Der Kirchenstaat in Italien war einer der modernsten Territorialstaaten, der gegen Frankreich und das habsburgische Spanien/Österreich um die politische Vorherrschaft in Italien kämpfte. Die Renaissancepäpste entstammten allesamt einflussreichen italienischen Bankiersfamilien, die die kirchlichen Ämter ungeniert zur Vergrößerung des Familienreichtums missbrauchten. In Deutschland spielte die katholische Kirche aber eine andere parasitäre Rolle. Der Klerus verlor durch die steigende Alphabetisierung und die Gründung von Universitäten im Zeitalter der wissenschaftlichen Blüte von Renaissance und Humanismus das Monopol an Bildung und damit die unersetzliche Rolle in der Verwaltung. Die verstaubte Dogmatik der Kirche spießte sich mit dem wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt, etwa im Umstand, dass selbst nach der Aufhebung des allgemeinen Zinsverbots für Christen die Kirche noch mitredete, welcher Zinssatz nun noch mit der Bibel vereinbar sei und welcher nicht. Es versteht sich von selbst, dass nur entsprechende Ablässe (nichts anderes als Bestechungsgelder) derartige Probleme lösen konnten. Während für die Feudalherren noch akzeptabel war, dass die Klöster und geistigen Territorien ebenso wie sie selbst Bauern auspressten, war eine Beteiligung der Kirche an den Handels- und Produktionseinnahmen für die Kapitalisten aber ein nicht hinzunehmender Wettbewerbsnachteil, und das Sammeln von Ablassgeldern wurde Anfang 16. Jahrhundert – schon vor der Reformation – von einigen Territorialfürsten wie auch dem Kurfürst von Sachsen, Luthers Arbeitgeber, untersagt.
Die Wirkung der Reformation
Als der Theologieprofessor Luther 1517 also, gemäß einer der Prinzipien des Humanismus zu den antiken Quellen zurückkehrte und in der Bibel keinen Hinweis auf die Wirksamkeit des Ablasshandels fand, infolgedessen um das Seelenheil seiner ihm anvertrauten Gemeinde besorgt war und die Exzesse des Ablasshandels anprangerte, lag es nicht in erster Linie an den theologischen Überzeugungen der Zeitgenossen, dass ihn seine Thesen über Nacht zum Star machten. Die Kapitalisten, die Fürsten und die ausgebeuteten Bauern hatten alle ihre guten Gründe, den Ablass im Speziellen und die drückende Rolle der Kirche in allen gesellschaftlichen Angelegenheiten im Allgemeinen zutiefst zu verachten. Die Thesen über den Ablasshandel wurden von den Druckereien und Verlegern verbreitet, man kann davon ausgehen, dass sich auch in den heute katholischen deutschsprachigen Gebieten des damaligen Reiches, also auch Österreich, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung als Anhänger Luthers betrachteten.
Weniger begeistert von dem theologischen Streit waren der Kaiser und seine politischen Verbündeten. Seine Konzeption der feudalen Ordnung stützte sich wesentlich auf eine unumstrittene kirchliche Instanz, die seiner Herrschaft und der alltäglichen Unterdrückung der Bauern Legitimität und Stabilität verschaffen sollte. Wie zahlreiche andere Adelige hoffte er daher auf eine rasche Beilegung oder Schlichtung des Streits unter Wahrung der Interessen der Kirche. Doch wie sich in den Jahren 1517–1521 herausstellte, war eine derartige Einigung unmöglich. Erstens war die Kirche weder in der Lage, noch prinzipiell interessiert daran, die päpstliche Position wie von Luther gefordert entweder aus der Bibel selbst abzuleiten oder mit der Bibel in Einklang zu bringen. Zweitens konnte die Kirche keine Delle in ihrem Anspruch, in allen gesellschaftlichen Belangen festzulegen was genau die gottgewollte Ordnung ist, tolerieren.
Und gerade hier ging Luther, der dazu tendierte in theologischen Diskussionen Extrempositionen einzunehmen, um die Argumente zu schärfen und faule Kompromisse zu verhindern, der Kirche eindeutig zu weit. Die (erst später formulierten, aber in der Auseinandersetzung mit der Kirche entwickelten) Grundsätze der Luther’schen Theologie “sola scriptura”, “sola gratia”, “sola christus” und “sola fide” greifen mit der Idee, dass allein die Bibel die Quelle der Dogmatik sein kann, allein Christus bzw. der Glaube und die Gnade Gottes für das Seelenheil nötig ist, ganz entschieden in das Vorrecht der Kirche ein, den Menschen die Welt zu erklären und ihnen das Seelenheil wahlweise zu gewähren oder vorzuenthalten. Somit kam es, wie es kommen musste: Der theologische Konflikt spitzte sich zu, und die Spirale der Eskalation drehte sich weiter, bis die verschiedenen Klassen in offenen Auseinandersetzungen gegenüberstanden.
Formen des bäuerlichen Widerstands
Dabei ist wichtig zu betonen, dass der theologische Konflikt diese Klassenkämpfe nicht hervorgerufen, sondern den Akteuren lediglich zusätzliche Argumente gegen ihre Kontrahenten verschafft hat. Insbesondere die Bauern waren schon in den Jahrzehnten vor der Reformation in weiten Teilen Deutschlands in heftige Aufstandsbewegungen involviert. Das Besondere an diesen Bewegungen ist die Organisationsform der Bauern. Ständig unter der Aufsicht der Obrigkeiten und selten in Kontakt mit Bauern anderer Regionen greifen die Unterdrückten zur Organisationsform der Verschwörung. Sie treffen sich im Geheimen an verabredeten Orten und planen dort die weiteren Schritte der Bewegung. Die Verschworenen leisten sich darüber hinaus Beistand in der Bewältigung ihres Alltags. Von der Not geplagt und von den Herren misshandelt ähnelt die Gemeinschaft der zusammengeschlossenen Bauern auf frappierende Art und Weise den Urchristen, die Religion der römischen Sklaven, deren religiöse Praxis im gemeinsamen Abendmahl und in der Hoffnung auf den Erlöser, der das Himmelreich auf Erden bringen würde, Ausdruck fand. Daher ist es kein Wunder, dass die von den Obrigkeiten als Ketzer und Aufrührer verfolgten christlichen Sekten einen starken Bezug zum Urchristentum aufweisen.
Die bedeutendste Untergrundorganisation der Bauern war der Bundschuh, dem sich auch Angehörige der städtischen Unterschichten anschlossen. Das Symbol der Bewegung, der für Bauern typische gebundene Lederschuh, war nicht zufällig ausgewählt. Um die Distanzen zwischen den Bauerndörfern zu überbrücken bediente sich die Bewegung Gesandter, die als Wanderer getarnt von Dorf zu Dorf zogen, um die Aufständischen verschiedener Regionen miteinander zu koordinieren. Die Bewegung zielte dabei darauf ab, genug Verschwörer zu rekrutieren und einen gemeinsamen Aufstandstermin mehrerer Dörfer zu koordinieren. Ziel der Aufstände war meistens die Plünderung der den Bauern abgepressten Güter der Lehnsherren.
Allerdings wurden die vom Bundschuh vor Ausbruch des Bauernkriegs geplanten Aufstände in Südwestdeutschland allesamt vor dem Aufstandstermin verraten. Womöglich gelang es einzelnen Pfaffen, bei der Beichte an Geheimnisse der Aufständischen zu kommen, oder die Bewegung wurde durch Schergen der Obrigkeit infiltriert. Die an der Verschwörung beteiligten, denen die Herren habhaft wurden, wurden gefoltert und hingerichtet. Die Bewegung musste mühevoll wieder aufgebaut werden. Der Gedanke eines gemeinsamen Auftretens gegen die Herren konnte dadurch aber nicht aus den Köpfen der Bauern getilgt werden, und sobald sich die Gelegenheit dazu ergab, erhoben sich zahlreiche dieser sogenannten Bauernhaufen gegen die Feudalherren.
Mit der Reformation bekam die Aufstandsbewegung allerdings Aufwind durch eine theologische Untermauerung ihrer Ziele.
Während die Kämpfe gegen die Einführung neuer Abgaben oder die Aneignung von Gemeindeeigentum durch die Fürsten lokalen Charakter hatten, weil die Bauern eines Dorfes von den Maßnahmen im Nachbardorf nicht betroffen waren, gewann das Programm einer “bibelkonformen” Feudalordnung überregionalen Charakter. Bei der Organisation dieser Bewegung spielten diejenigen niederen Schichten des Klerus, die nicht von der Ausbeutung der Bauern oder den Ablassgeldern profitierten, eine wesentliche Rolle. Sie hatten das Ohr bei den Sorgen der Massen und waren ebenso wie sie von den weltlichen Exzessen des höheren Klerus, in denen sie eine Abkehr von christlichen Werten sahen, abgestoßen.
Die Schichten des niederen Klerus trugen die gesellschaftlichen Konflikte in die protestantische Theologie hinein. Inspiriert von Luthers Opposition gegen die herrschende Kirchenordnung schritten sie ans Werk und gestalteten die Kirchenorganisation sowie die Lehr- und Predigtinhalte neu. Die deutschsprachige Messe wurde beispielsweise vor Luther schon von der Gruppe der „Schwärmer von Zwickau“ eingeführt. In den Predigten wurde die soziale Ordnung Deutschlands kritisiert. Hier tritt ein junger Pastor, Thomas Müntzer, zum ersten Mal in Erscheinung. Er verband seine Interpretation der protestantischen Theologie mit einer Gesellschaftskritik und entwarf eine utopische Vorstellung einer kommunistischen Gesellschaft ohne Armut und Reichtum, in der alle Menschen als Geschwister leben sollten. Diese Utopie zu verwirklichen sah er als Ziel seiner revolutionären Theologie. Wo immer Müntzer predigte – erst in Zwickau, dann in Mühlhausen, in Schwaben und wieder in Thüringen – baute er die Untergrundorganisation auf und bereitete den Aufstand vor.
Im Jahr 1524 traten die bewaffneten Bauernmassen hervor und richteten ihre Forderungen („Artikel“) an die Feudalherren. Diese umfassten neben der freien Pfarrerwahl hauptsächlich die Einschränkung der Willkürherrschaft, die Reduktion der Zwangsabgaben und die Wiedereinführung der bäuerlichen Rechte an ehemaligem Gemeinbesitz. Untermauert wurden diese Forderungen in Anlehnung an die Reformation mit Verweis auf das Evangelium. Analog zu Luthers Verteidigung seiner Theologie am Wormser Reichstag erklären die Bauern ihre Bereitschaft, ihre Forderungen zurückzuziehen, wenn sie anhand der Heiligen Schrift widerlegt werden können.
Unter normalen Umständen hätten die Feudalherren diese Forderungen zum Anlass genommen, die Bauernbewegungen sofort niederzuschlagen und die Rädelsführer brutal zu ermorden. Die Übermacht der Bauernarmeen erlaubte das jedoch nicht, waren die Söldnerheere der Fürsten doch gerade in einem Krieg mit Frankreich in Norditalien gebunden. Somit entschlossen sich die Feudalherren zur Strategie der Verzögerung. Sie stellten Verhandlungen in Aussicht, die über die Artikel der Bauern diskutieren sollten. Vereinzelt wurden den Bauern Zugeständnisse gemacht.
Ziemlich bald stellte sich jedoch heraus, dass die Feudalherren den Bauern nicht entgegenkommen würden. Die Gerichte, die über die Forderungen verhandeln sollten, wurden ausschließlich mit Adeligen besetzt, und solange diese die Arbeit nicht aufnahmen und zu keinen Entschlüssen kamen, wurden die drückenden Abgaben weiter eingefordert. Als die Feudalherren Armeen zusammenzogen, um die Bauernhaufen zu besiegen, wurde der ursprünglich als Verhandlungstag angesetzte 2. April 1525 als allgemeiner Aufstandstermin zirkuliert. In Südwestdeutschland und später in Thüringen standen ca. 50.000 aufständische Bauern unter Waffen.
Glaubte die Aufstandsbewegung anfangs aber noch, in Luther einen politischen Verbündeten in ihrem Kampf gegen die Unterdrücker gefunden zu haben, sollte sie in den nächsten Jahren herb enttäuscht werden. Nach den Konflikten mit Papst und Kaiser widmete der Luther sein Werk der Behauptung seiner Deutungshoheit im protestantischen Lager. Dabei bekämpfte er insbesondere die Vorstellung, die unterdrückten Bauern hätten das Recht, sich gegen ihre Unterdrückung zu wehren, oder gar das Reich Gottes bereits auf Erden umzusetzen. Hatte er den Herren in den Jahren zuvor noch gedroht, dass exzessive Gewalt und Auspressung der Bauern zu ihrem eigenen qualvollen Tod führen würde, wandte sich das Blatt ab dem Zeitpunkt, ab dem die (norddeutschen) Fürsten eine wesentliche Stütze der Luther’schen Reformation gegen den Katholizismus wurden. Dementsprechend wurde die lutherische Kirche auch so organisiert, dass die den protestantischen Territorien zugehörigen Landeskirchen ihre Fürsten als Quasi-Bischöfe bekamen.
Als Luther vor Ausbruch der offenen Kämpfe die Schuld für die sozialen Unruhen sowohl bei den Bauern als auch den Fürsten sah, und beide Seiten zur Mäßigung aufrief, musste sein Appell allerdings auf taube Ohren stoßen: Beide Klassen konnten und wollten auf ihre Forderungen nicht verzichten, eine Konfrontation war unvermeidbar. Wo es den Bauernhaufen gelang, plünderten sie Gutshöfe und eroberten Städte (die sich ihnen in vielen Fällen freiwillig anschlossen). Gewiss bildete Münzers Fraktion, die für eine frühsozialistische Gesellschaftsutopie kämpfte, unter den Aufständischen eine Minderheit. Die Mehrzahl der Bauern war hauptsächlich an der Plünderung der Gutshöfe und Durchsetzung möglichst vieler die Unterdrückung einschränkender Artikel interessiert.
Mit dem bewaffneten Aufstand der Bauern gegen die herrschende Ordnung verlor die Bewegung endgültig die Sympathie Luthers. In seiner berüchtigten Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ forderte er in Bezug auf die Bauern „Drum soll hier zuschmeißen, wurgen und stechen, heimlich oder offentlich, wer da kann, und gedenken, daß nichts Giftigers, Schädlichers, Teuflischers sein kann denn ein aufruhrischer Mensch, gleich als wenn man einen tollen Hund totschlahen muß: Schlägst du nicht, so schlägt er dich und ein ganz Land mit dir.“
Langfristig konnten sich die Bauernhaufen tatsächlich nicht gegen das militärische Übergewicht der Feudalherren und Fürsten behaupten. In mehreren Schlachten wurden sie von den vereinten Heeren der protestantischen und katholischen Fürsten besiegt. Bei der Schlacht zu Frankenhausen wurde beispielsweise ein unter der Führung von Müntzer stehender Bauernhaufen vernichtend geschlagen. Die Fürsten ließen nach der Todesangst, die sie erlitten, ihrem Wüten freien Lauf: Allein nach der Schlacht von Frankenhausen wurden hunderte Aufständische hingerichtet, darunter auch Thomas Müntzer. Bis 1526 wurden die Aufstände allesamt niedergeschlagen.
Mit der Niederlage im Bauernkrieg scheiterte das zur damaligen Zeit utopische revolutionäre Programm Müntzers und der Versuch der Bauern, das Joch der Unterdrückung abzuschütteln. Im protestantischen Lager hatten das von sozialrevolutionären Vorstellungen „geläuterte“ Luthertum und der Calvinismus als einflussreiche ideologische Strömungen bestand. Das Luthertum stütze sich vordergründig auf die Territorialfürsten Nordeuropas, während der Calvinismus als Ausdruck der Ideologie des Bürgertums in den Zentren des Frühkapitalismus, also der Schweiz, den Niederlanden, der oberrheinischen Handelsstädten Fuß fasste.
Oberflächlich betrachtet theologisch bzw. religiös motivierte Konflikte suchten das Europa der nächsten Jahrhunderte etwa im 30-jährigen Krieg heim. Doch wie in den Klassenkämpfen zur Zeit der Reformation dienten hier unterschiedliche Auslegungen der Theologie verschiedenen Klassen als Ausdruck ihrer konträren politischen Programme. Insofern das Machtkalkül einzelner Staaten es erforderte, war eine Allianz zwischen Mächten unterschiedlicher Konfession stets möglich – wie auch in der gemeinsamen Niederschlagung der Bauernheere durch katholische und protestantische Fürsten. Niemals wurden „Religionskriege“ durch theologische Streitereien ausgelöst. Ihnen zugrunde liegen Konflikte zwischen den Klassen.
Die unterdrückten Bauern setzten Leib und Leben aufs Spiel, um gegen Unterdrückung und Ausbeutung der Herren zu kämpfen. Dennoch war der Traum eines Paradieses auf Erden zu Zeiten der Mangelwirtschaft letztlich eine Utopie, die unter großer Aufopferungsbereitschaft von Menschen wie Müntzer und seinen Anhängern verfolgt wurde. Karl Marx und Friedrich Engels erklärten, dass der wissenschaftliche Sozialismus sich dadurch von den sozialistischen Utopien der Vergangenheit unterscheidet, dass er die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft auf Basis der ökonomischen Analyse des Kapitalismus argumentiert. Erst mit dem Fortschritt der Produktionsmittel durch den Kapitalismus konnte die menschliche Gesellschaft genug Reichtum und damit die Möglichkeit schaffen, tatsächlich allen Menschen ein gutes Leben zu bereiten. Die ausgebeutete Klasse der Lohnabhängigen hat im Gegensatz zu denjenigen, die von der Ausbeutung im Kapitalismus profitieren, daher das revolutionäre Potenzial, eine neue Gesellschaft aufzubauen.
Literatur:
Friedrich Engels (1850): Der deutsche Bauernkrieg
Karl Kautsky (1895): Die Vorläufer des modernen Sozialismus
Franz Mehring (1910): Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters