Leo Trotzki: Wohin
geht Frankreich? (1934-36)
[alle Texte außer
den Anhängen aus Leo Trotzki „Wohin geht Frankreich?“ Antwerpen 1936, Nachdruck
Essen 1977.]
Wohin geht Frankreich? 1. Teil (9.
11. 1934)
Der Zusammenbruch der bürgerlichen
Demokratie
Der Beginn des Bonapartismus in
Frankreich
Wird der Bonapartismus von langer
Dauer sein?
Die Rolle der Radikalsozialistischen
Partei
Die «Mittelklassen», die
Radikalsozialistische Partei und der Faschismus
Ist der Übergang der Mittelklassen
ins Lager des Faschismus unvermeidlich?
Ist es wahr, dass das Kleinbürgertum
die Revolution fürchtet?
Ein Bündnis mit den
Radikalsozialisten wäre ein Bündnis gegen die Mittelklassen
Die Arbeitermiliz und ihre Gegner
Es gilt, die Arbeitermiliz
aufzubauen
Die Bewaffnung des Proletariats
Aber die Niederlagen in Österreich
und Spanien…
Die Einheitsfront und der Kampf um
die Macht
Kein Programm der Untätigkeit,
sondern ein Programm der Revolution
Anhang: Ein Aktionsprogramm für
Frankreich (veröffentlicht Juni 1934)
1. Faschismus und Krieg drohen!
2. Der Plan der französischen
Bourgeoisie
3. Aufhebung des
«Geschäftsgeheimnisses»
4. Arbeiter- und Bauernkontrolle
über Banken, Industrie und Handel
6. Nationalisierung der Banken,
Schlüsselindustrien, Versicherungs- und Transportunternehmen
8. Das Bündnis der Arbeiter und
Bauern
10. Auflösung der Polizei,
politische Rechte für Soldaten
11. Recht auf Selbstbestimmung der
Nationen bis hin zum Recht auf Abtrennung
12. Gegen den Krieg, für die
Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!
13. Für die Verteidigung der
Sowjetunion
14. Nieder mit dem bürgerlichen
«autoritären» Staat! Für die Arbeiter- und Bauernmacht
15. Der Kampf für die Arbeiter- und
Bauernkommune
16. Für eine einheitliche
Versammlung
17. Die Bourgeoisie wird niemals
freiwillig aufgeben
Wohin geht Frankreich? 2. Teil (März
1935)
Aufgabe und Zweck dieser Schrift
I. Wie bildet sich eine
revolutionäre Situation
Die wirtschaftlichen Vorbedingungen
der sozialistischen Revolution
Ist dies die letzte Krise des
Kapitalismus oder nicht?
«Letzte» Krise und «letzter» Krieg
Die Komintern ist auf die Positionen
des sozialdemokratischen Fatalismus übergegangen
Wie beurteilt die Bourgeoisie die
Lage?
Sinn der radikalsozialistischen
Kapitulation
Das Kleinbürgertum und die
vorrevolutionäre Lage
Wie kann ein faschistischer
Staatsstreich in Frankreich sich abspielen?. 44
II.Tagesforderungen und Machtkampf
Resolution des ZK der Kompartei zu
den «Tagesforderungen»
Warum befolgen die Massen die
Aufrufe der Kompartei nicht?
Wirtschaftskonjunktur und
Streikkämpfe
Reformistischer Plunder statt
revolutionärem Programm
Sicheres Mittel gegen
Arbeitslosigkeit
III. Kampf gegen Faschismus und
Generalstreik
Das Kominternprogramm und der
Faschismus
Reformistische Illusionen der
Stalinisten
Kampf um Tagesforderungen und
Faschismus
Generalstreik ist kein Versteckspiel
Vorbereitung des Generalstreiks
Generalstreik in
«nichtrevolutionärer Lage»?
Ist aber ein Generalstreik in Bälde
möglich?
Basis und Spitzen innerhalb der
Partei
«Tagesforderungen» und
Massenradikalisierung
IV.Sozialismus und bewaffneter Kampf
Die große Lehre des 6. Februar 1935
«Putschismus» und Abenteurertum
Voraussicht und Vorbereitung tut Not
V.Proletariat, Bauern, Armee,
Frauen, Jugendliche
Der Plan der CGT und die Einheitsfront
Revolutionäres Bündnis mit der
Bauernschaft
VI. Warum Vierte Internationale?. 72
Anpassung an die Stalinbürokratie
Jacques Doriot oder Das Messer ohne
Klinge
Heißt das, die Lage sei
hoffnungslos? … Oh nein! …
Die Volksfront und die
Aktionskomitees (26. 11. 1935)
Die französische Revolution hat
begonnen (9. Juni 1936)
Vor der neuen Etappe (9. Juli 1936)
Diese Broschüre besteht aus mehreren im Verlaufe der letzten zweieinhalb Jahre zu verschiedener Zeit geschriebenen Artikeln. Genauer gesagt: geschrieben seit dem Hervortreten der faschistisch-bonapartistisch-royalistischen Koalition am 6. Februar 1934 bis zum grandiosen Massenstreik Ende Mai/Anfang Juni 1936. Welch grandioser politischer Pendelschlag! Die Volksfrontführer möchten natürlich das Verdienst an dem eingetretenen Linksruck für die Umsicht und Weisheit ihrer Politik buchen. Doch dem ist nicht so. Das Dreiparteienkartell bildete im Verlauf der politischen Krise nur einen drittrangigen Faktor. Kommunisten, Sozialisten und Radikalsozialisten haben nichts vorausgesehen und nichts gelenkt: sie haben die Ereignisse nur erlitten. Der für sie unerwartete Schlag des 6. Februar 1934 bewog sie, entgegen ihren vorherigen Losungen und Doktrinen ihr Heil in einem gegenseitigen Bunde zu suchen. Der ebenso unerwartet gekommene Streik von Mai/Juni 1936 versetzt diesem parlamentarischen Verband einen nicht wieder gutzumachenden Hieb. Was oberflächlich betrachtet als der höchste Gipfel der Volksfront erscheinen mag, ist in Wirklichkeit ihre Agonie.
Angesichts dessen, dass die einzelnen Teile der Broschüre getrennt erschienen und verschiedene Etappen der französischen Krise widerspiegeln, wird der Leser auf diesen Seiten unvermeidlich auf Wiederholungen stoßen. Sie ausmerzen, hieße die Konstruktion eines jeden Teils vollständig zerstören und, was viel wichtiger ist, der ganzen Arbeit ihre Dynamik rauben, in der sich die Dynamik der Ereignisse selbst spiegelt. Der Verfasser hat es vorgezogen, es bei den Wiederholungen zu belassen. Ja, sie mögen für den Leser gar nicht so unnütz sein. Wir leben in einer Epoche der allgemeinen Liquidierung des Marxismus bei den offiziellen Spitzen der Arbeiterbewegung Vulgärste Vorurteile dienen heute den politischen und Gewerkschaftsführern der französischen Arbeiterklasse zur offiziellen Doktrin. Hingegen klingt die Stimme des revolutionären Realismus in dieser künstlichen Akustik wie die Stimme des «Sektierertums». Um so beharrlicher gilt es, die Grundwahrheiten der marxistischen Politik vor dem Auditorium der vorgeschrittenen Arbeiter immer und immer zu wiederholen.
Bei diesen oder jenen Teilbehauptungen des Verfassers wird der Leser vielleicht einzelne Widersprüche finden. Wir beseitigen auch diese nicht. Tatsächlich sollen diese scheinbaren «Widersprüche» nur Hervorhebungen verschiedener Seiten ein und derselben Erscheinung in verschiedenen Etappen des Prozesses dar. Im Allgemeinen, scheint es uns, hielt die Broschüre der Prüfung durch die Ereignisse stand und wird vielleicht deren Verständnis zu erleichtern vermögen.
Die Tage des großen Streiks werden zweifellos auch das Verdienst haben, dass sie die muffige abgestandene Atmosphäre der Arbeitsorganisationen lüften und sie von den Bazillen des Reformismus und des Patriotismus, «sozialistischer», «kommunistischer» oder gewerkschaftlicher Ausgabe, reinigen. Selbstredend geschieht das nicht mit einem Schlag und nicht von selbst. Es steht ein zäher ideologischer Kampf bevor auf der Grundlage des rauen Klassenkampfes. Doch der weitere Gang der Krise wird zeigen, dass nur der Marxismus erlaubt, sich rechtzeitig im Wirrwarr der Ereignisse zurechtzufinden und ihre weitere Entwicklung vorherzusehen.
Die Februartage 1934 bezeichneten den ersten ernsten Vorstoß der geeinten Konterrevolution. Die Mai/Junitage 1936 kennzeichnen die erste mächtige Welle der proletarischen Revolution. Diese zwei Marksteine weisen zwei mögliche Wege: den italienischen und den russischen. Die parlamentarische Demokratie, in deren Namen die Regierung Blum auftritt, wird zwischen den zwei gewaltigen Mühlsteinen zu Staub zermahlen werden Welche Teiletappen, Übergangskombinationen und -gruppierungen, Teilangriffe, taktische Episoden bevorstehen mögen, zu wählen ist nunmehr nur noch zwischen Faschismus und proletarischer Revolution. Das ist der Sinn der vorliegenden Arbeit.
L Trotzki
Auf diesen Seiten wollen wir den vorgeschrittenen Arbeitern darlegen, welches Schicksal Frankreich in den nächsten Jahren erwartet. Mit Frankreich meinen wir nicht die Börse, nicht die Banken, nicht die Trusts, nicht die Regierung nicht die Generale, nicht die Geistlichkeit — das alles sind Frankreichs Bedrücker —‚ sondern die Arbeiterklasse und die ausgebeutete Bauernschaft
Nach dem Krieg setzte eine ganze Reihe von Revolutionen ein, die glänzende Siege errangen in Russland, Deutschland, Österreich-Ungarn, später in Spanien. Doch nur in Russland hat das Proletariat die Macht ganz in die Hand genommen, seine Ausbeuter enteignet und damit einen Arbeiterstaat zu schaffen und zu erhalten verstanden. In allen anderen Ländern blieb das Proletariat trotz dem Sieg durch Verschulden seiner Führung auf halbem Wege stehen Infolgedessen entglitt die Macht seinen Händen und verschob sich immer weiter von links nach rechts, bis sie dem Faschismus zur Beute wurde. In mehreren anderen Ländern geriet sie einer Militärdiktatur in die Hände. Auch nicht in einem einzigen zeigte sich das Parlament imstande, die Klassengegensätze zu überbrücken und einen friedlichen Gang der Entwicklung zu gewährleisten. Der Streit wurde mit der Waffe in der Hand entschieden
Zwar hat man in Frankreich lange geglaubt, hier könne der Faschismus niemals Anklang finden. Ist es doch eine Republik, alle Fragen entscheidet das souveräne Volk mit dem allgemeinen Stimmrecht Aber am 6. Februar 1934 zwangen einige Tausend mit Revolvern, Gummiknüppeln und Rasiermessern ausgerüstete Faschisten und Royalisten dem Lande die reaktionäre Doumergue-Regierung auf, in deren Schutz die faschistischen Banden weiter wachsen und rüsten. Was wird uns der morgige Tag bescheren?
Zwar bestehen in Frankreich, wie in einigen anderen Ländern Europas (England, Belgien, Holland, Schweiz, skandinavische Staaten) noch Parlamente, Wahlen, demokratische Freiheiten oder deren Überreste Aber in all diesen Ländern spitzt sich der Klassenkampf in derselben Richtung zu wie früher in Italien und in Deutschland. Wer sich mit den Worten tröstet «Frankreich ist nicht Deutschland», an dem ist Hopfen und Malz verloren In allen Ländern herrschen heute die gleichen historischen Gesetze: die Gesetze des kapitalistischen Verfalls Bei fernerem Verbleib der Produktionsmittel in den Händen eines Häufleins von Kapitalisten ist für die Gesellschaft kein Heil. Sie ist verurteilt, aus einer Krise in die andere zu taumeln, aus Not ins Elend. In den verschiedenen Ländern treten Altersschwäche und Verfall des Kapitalismus in verschiedener Form und in ungleichem Tempo in Erscheinung. Doch das Wesen des Prozesses ist überall dasselbe. Die Bourgeoisie hat ihre Gesellschaft in eine vollständige Pleite hineingetrieben. Sie vermag dem Volke weder Brot noch Frieden zu sichern Eben darum kann sie die demokratische Ordnung nicht länger ertragen Sie ist gezwungen die Arbeiter mit physischer Gewalt niederzuhalten. Doch mit der Polizei allein ist der Unzufriedenheit der Arbeiter und Bauern unmöglich Herr zu werden. Das Heer gegen das Volk marschieren lassen, geht nur zu oft nicht an: es beginnt sich zu zersetzen und am Ende schlägt sich gar ein groß Teil Soldaten auf die Seite des Volks Das Großkapital ist darum genötigt, bewaffnete Banden zu schaffen, speziell gegen die Arbeiter abgerichtet, wie man gewisse Hundesorten auf Wild dressiert, Der geschichtliche Sinn des Faschismus ist, die Arbeiterklasse niederwerfen, ihre Organisationen zu zerschlagen die politische Freiheit zu erwürgen in jener Stunde wo die Kapitalisten nicht mehr imstande sind, mit Hilfe der demokratischen Mechanik zu regieren und zu herrschen.
Das Menschenmaterial finden die Faschisten zur Hauptsache im Kleinbürgertum. Das Großkapital hat dieses gründlich ruiniert. Die heutige Gesellschaftsordnung weiß ihm keine Rettung. Aber den anderen Ausweg kennt es eben nicht. Seine Unzufriedenheit, Empörung, Verzweiflung wird durch die Faschisten vorn Großkapital abgelenkt und auf die Arbeiter gerichtet Man kann sagen: Faschismus das ist der Vorgang der Gehirnverrenkung des Kleinbürgertums im Interesse seiner schlimmsten Feinde. So verliert das Großkapital die Mittelklassen zuerst, um sie dann mit Hilfe einer Söldlingsagentur faschistischer Demagogen auf das Proletariat zu hetzen. Nur mit solchen Gangstermethoden eben vermag sich das bürgerliche Regime noch zu halten. Wie lange? Solange die proletarische Revolution es nicht stürzt.
In Frankreich steht die Bewegung von der Demokratie zum Faschismus erst in ihrer ersten Phase. Das Parlament besteht noch, aber die Macht von ehedem hat es nicht mehr und wird es nie wieder bekommen. Auf den Tod erschrocken, rief nach dem 6. Februar die Parlamentsmehrheit Doumergue, den Retter, den Schiedsrichter ans Ruder. Seine Regierung wie die seines Nachfolgers Flandin steht über dem Parlament. Sie stützt sich nicht auf die «demokratisch» gewählte Mehrheit, sondern direkt und unmittelbar auf den bürokratischen Apparat, auf Polizei und Heer. Eben darum kann Doumergue irgendwelche Freiheit für die Beamten und Staatsangestellten überhaupt nicht dulden. Er braucht einen gehorsamen und disziplinierten bürokratischen Apparat an dessen Spitze er stehen kann ohne Gefahr zu stürzen. In ihrer Angst vor den Faschisten und vor dem <front commun>* ist die Parlamentsmehrheit gezwungen, sich Doumergue zu beugen. Man schreibt jetzt viel von einer bevorstehenden «Verfassungsreform» vom Recht zur Auflösung des Abgeordnetenhauses und so weiter. All diese Fragen sind nur von rechtlichem Interesse. Im politischen Sinn ist die Frage bereits entschieden. Die Reform wurde vollzogen ohne Fahrt nach Versailles. Das Erscheinen bewaffneter faschistischer Banden auf offener Bühne ermöglichte den Agenten des Großkapitals, sich über das Parlament zu erheben. Das eben macht heute das Wesen der französischen Verfassung aus. Alles übrige ist nur Illusion, Phrase oder bewusster Betrug.
Die heutige Rolle Doumergues (wie seiner möglichen Nachfolger vom Schlage Tardieus) ist nicht neu. Eine analoge Rolle spielten unter anderen Umständen Napoleon I. und Napoleon III. Das Wesen des Bonapartismus besteht in folgendem: gestützt auf den Kampf zweier Lager rettet er mit Hilfe einer bürokratisch-militärischen Diktatur die «Nation». Napoleon I verkörperte den Bonapartismus der stürmischen Jugend der bürgerlichen Gesellschaft. Der Bonapartismus Napoleons III fällt in die Zeit, wo dem Bürgertum bereits eine Glatze wuchs. In Doumergue begegneten wir dem senilen Bonapartismus des kapitalistischen Niedergangs. Die Doumergue-Regierung ist die erste Stufe des Übergangs vom Parlamentarismus zum Bonapartismus. Um sich im Gleichgewicht zu halten, braucht Doumergue zur Rechten die faschistischen und anderen Banden, die ihm zur Macht verhalfen. Von ihm verlangen, dass er — nicht auf dem Papier, sondern in Wirklichkeit die Jeunnesses Patriotes, Croix de Feu, Camelots du Roy usw. auflöse, heißt verlangen, er möge den Ast absägen, auf dem er sitzt. Zeitweilige Schwankungen nach der einen oder anderen Seite sind selbstverständlich möglich So könnte ein vorzeitiger Angriff des Faschismus bei den Regierungsspitzen so etwas wie einen linken Seitensprung hervorrufen. Doumergue hat Flandin Platz gemacht, das ist ein Betriebsunfall. Flandin wiederum kann vorübergehend nicht durch Tardieu‚ sondern durch Herriot ersetzt werden. Aber erstens ist nirgends gesagt, dass die Faschisten einen vorzeitigen Umsturzversuch machen werden. Zweitens wurde ein vorübergehender Seitensprung nach links in den Spitzen an der allgemeinen Entwicklungsrichtung nichts ändern sondern bestenfalls die Entwicklung nur ein wenig hinausschieben. Zurück, zur friedlichen Demokratie ist schon kein Weg mehr. Die Entwicklung führt unabänderlich unabwendbar zum Zusammenprall von Proletariat und Faschismus.
Wie lange wird das heutige bonapartistische Übergangsregime durchhalten können? Oder anders ausgedrückt: wie viel Zeit bleibt dem Proletariat noch zur Vorbereitung auf die Entscheidungsschlacht? Auf diese Frage kann man natürlich nicht genau antworten. Doch einige Anhaltspunkte zur Beurteilung der Geschwindigkeit des Gesamtprozesses kann man immerhin schon bestimmen. Das wichtigste Element zu dieser Beurteilung ist die Frage: was wird aus der radikalsozialistischen Partei?
Durch die Umstände seiner Entstehung ist der gegenwärtige Bonapartismus, wie bereits gesagt, mit dem beginnenden Bürgerkrieg zwischen den extremen politischen Lagern verbunden. Seine Hauptstütze findet er in Polizei und Heer. Aber er hat auch eine politische Stütze zur Linken: die Partei der Radikalsozialisten. Die Basis dieser Massenpartei bildet das Kleinbürgertum von Stadt und Land. Die Spitze der Partei setzt sich zusammen aus «demokratischen» Agenten der Großbourgeoisie, die das Volk dann und wann mit kleinen Reformen, meistens aber mit demokratischen Phrasen fütterten, es täglich (in Worten) vor der Reaktion und dem Klerikalismus retteten, in allen wichtigen Fragen aber die Politik des Großkapitals durchführten. Bedroht vom Faschismus und mehr noch vom Proletariat, sahen sich die Radikalsozialisten gezwungen, aus dem Lager der parlamentarischen Demokratie ins Lager des Bonapartismus zu schwenken. Wie das Kamel unter der Peitsche des Treibers, ging der Radikalismus auf seine vier Knie nieder, um die kapitalistische Reaktion zwischen seinen Hockern Platz nehmen zu lassen. Ohne die politische Unterstützung durch die Radikalen wäre die Doumergue-Regierung augenblicklich noch unmöglich.
Vergleicht man die politische Entwicklung Frankreichs mit der Deutschlands, so entspricht die Doumergue-Regierung (und ihre möglichen Nachfolger) den Regierungen Brüning, von Papen, Schleicher, die den Zwischenraum zwischen der Weimarer Demokratie und Hitler ausfüllten. Es ist indessen auch ein Unterschied vorhanden, der politisch sehr große Bedeutung gewinnen kann Der deutsche Bonapartismus betrat die Bildfläche, als die demokratischen Parteien dahingeschmolzen waren, und die Nazis bereits mit kolossaler Wucht wuchsen. Die drei «bonapartistischen» Regierungen in Deutschland, deren eigene politische Stütze sehr schwach war, balancierten auf einem Seil über dem Abgrund zwischen den beiden feindlichen Lagern Proletariat und Faschismus. Alle drei purzelten schnell herunter. Das proletarische Lager war damals gespalten, auf Kampf nicht vorbereitet, von den Führern betrogen und verraten. Die Nazis konnten die Macht fast kampflos ergreifen.
Der französische Faschismus stellt heute noch keine Massenkraft dar. Dagegen hat der Bonapartismus hier, wenn auch keine sehr zuverlässige und feste so doch eine Massenstütze in den Radikalen. Zwischen diesen beiden Tatsachen besteht ein innerer Zusammenhang. Dem sozialen Charakter seiner Stütze nach ist der Radikalismus eine Partei des Kleinbürgertums. Der Faschismus aber kann eine Massenkraft nur werden durch die Eroberung des Kleinbürgertums. Mit anderen Worten: in Frankreich kann die Entwicklung des Faschismus vor allein auf Kosten der Radikalen vor sich gehen. Dieser Prozess vollzieht sich auch heute schon, befindet sich aber noch im Anfangsstadium.
Die letzten Kantonalwahlen ergaben die Resultate die man erwarten konnte und musste: gewonnen haben die Flanken, d.h. die reaktionäre und der Arbeiterblock, verloren hat das Zentrum, d.h. die Radikalen. Gewinne wie Verluste sind bislang unerheblich. Wären es Parlamentswahlen gewesen, so würden dieselben Erscheinungen zweifellos beträchtlicheres Ausmaß angenommen haben. Die eingetretenen Verschiebungen besitzen für uns keinerlei Bedeutung an sich, sondern nur als Symptome des Wechsels in der Massenstimmung. Sie zeigen, dass das kleinbürgerliche Zentrum bereits zugunsten der beiden extremen Lager zu schmelzen begonnen hat. Das heißt, die Reste des parlamentarischen Regimes werden immer mehr unterhöhlt, die extremen Lager werden wachsen, ihr Zusammenprall nahe heranrücken. Es ist unschwer zu begreifen warum dieser Prozess völlig unabwendbar ist.
Die radikale Partei ist die Partei, mit deren Hilfe die Großbourgeoisie die Hoffnungen des Kleinbürgertums auf eine allmähliche und friedliche Besserung seiner Lage wach hielt. Diese Rolle der Radikalen war nur so lange möglich, wie die wirtschaftliche Lage des Kleinbürgertums leidlich tragbar blieb, solange es nicht dem Massenruin preisgegeben war, solange es die Hoffnung auf die Zukunft bewahrte. Zwar ist das Programm der Radikalen stets ein leeres Stück, Papier geblieben. Irgendwelche ernste Sozialreformen, zugunsten der Werktätigen haben die Radikalen nie durchgeführt noch durchführen können: das hätte ihnen die Großbourgeoisie nicht erlaubt, in deren Händen alle wirklichen Machtmittel sind: Banken und Börse, die große Presse, die höhere Bürokratie, Diplomaten, Generale. Aber mit einigen kleinen Almosen, die die Radikalen, vor allem in der Provinz von Zeit zu Zeit für ihre Kundschaft abhandelten, erhielten sie die Illusionen der Volksmassen aufrecht. So ging es bis zur letzten Krise.Jetzt wird es selbst dem rückständigsten Bauern klar, dass es sich nicht uns eine jener gewöhnlichen, bald vorübergehenden Krisen handelt, wie es deren vor dem Krieg häufig gab, sondern um eine Krise der gesamten Gesellschaftsordnung. Kühne und entschiedene Maßnahmen tun not. Welche? Das weiß der Bauer nicht. Niemand hat es ihm gesagt, wie es sich gehörte.
Der Kapitalismus hat die Produktionsmittel auf eine solche Höhe gebracht, dass das Elend der von demselben Kapitalismus zugrunde gerichteten Volksmassen sie lahm legt. Damit ist das gesamte System in eine Periode des Verfalls, der Zersetzung, der Fäulnis eingetreten. Der Kapitalismus kann nicht nur den Werktätigen keine neuen sozialen Reformen oder auch nur kleine Almosen mehr geben, sondern ist gezwungen, selbst die alten wieder wegzunehmen. Ganz Europa ist in eine Epoche der wirtschaftlichen und politischen Konterreformen getreten. Die Politik der Ausplünderung und Erstickung der Massen ist nicht eine böse Laune der Reaktion, sondern Folge der Zersetzung des kapitalistischen Systems. Das ist die Grundtatsache, die sich jeder Arbeiter zu eigen machen muss, wenn er nicht mit Phrasengeklingel gefoppt erden will. Eben darum zerfallen und verenden die reformistischen demokratischen Parteien eine nach der anderen in ganz Europa. Dasselbe Schicksal erwartet auch die französischen Radikalen. Nur komplette Hohlköpfe können glauben, Daladiers Kapitulation oder Herriots Dienstfertigkeit vor der extremen Reaktion seien das Ergebnis zufälliger zeitweiliger Ursachen oder des Mangels an Charakter dieser kläglichen Führer. Nein! Große politische Erscheinungen müssen stets tiefe soziale Ursachen haben. Der Verfall der demokratischen Parteien ist eine universale Erscheinung, die im Verfall des Kapitalismus selbst wurzelt. Die Großbourgeousie spricht zu den Radikalen: Jetzt Spaß vorbei! Wenn ihr nicht aufhört, mit den Sozialisten zu kokettieren, mit dem Volk zu liebäugeln und ihm Wunderdinge zu versprechen, dann rufe ich die Faschisten! Worauf das radikale Kamel sich auf alle Viere niederlässt. Etwas anderes bleibt ihm auch nicht übrig.
Aber der Radikalismus ist auf diese Weise nicht zu retten. Vor allem Volk sein Schicksal an das der Reaktion kettend, beschleunigt er unvermeidlich sein Verderben. Der Stimmen- und Mandatsverlust bei den Kantonalwahlen war nur ein Anfang. Künftighin wird sich der Prozess des Zusammenbruchs der radikalen Partei immer rascher vollziehen Die ganze Frage ist nur, wem dieser unaufhaltsame und unvermeidliche Zusammenbruch zu gute kommen wird: der proletarischen Revolution oder dem Faschismus? Wer wird eher, breiter, kühner den Mittelklassen das überzeugendere Programm bieten und das ist das wichtigste — wer wird ihr Vertrauen erwerben, indem er ihnen mit Wort und Tat seine Fähigkeit beweist, allen Widerstand auf dem Wege zur besseren Zukunft zu brechen: der revolutionäre Sozialismus oder die faschistische Reaktion? Von dieser Frage hängt das Schicksal Frankreichs auf Jahre hinaus ab. Nicht nur Frankreichs, sondern ganz Europas. Nicht nur Europas sondern der ganzen Welt.
Seit dem Siege der Nazi in Deutschland hat man in den Parteien und Gruppen der französischen «Linken» nicht wenig zusammengeredet über die Notwendigkeit, sich enger an die Mittelklassen zu halten, um dem Faschismus den Weg zu versperren Die Fraktion Renaudel & Co trennte sich von der Sozialistischen Partei mit dem speziellen Ziel, dichter bei den Radikalen zu bleiben. Aber zur selben Stunde, als Renaudel, der von den 1848er Ideen lebt, Herriot beide Hände hinstreckte, waren diesem die seinen genommen: die eine Hand hielt Tardieu, die andere Louis Marin.
Daraus jedoch folgt nicht im mindesten, dass die Arbeiterklasse dem Kleinbürgertum den Rücken kehren und es seinem Schicksal überlassen dürfe. Oh nein! Sich dem Bauern und dem kleinen Mann der Stadt nähern, sie auf unsere Seite zu ziehen, ist unerlässliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf gegen den Faschismus, von der Machteroberung gar nicht zu reden. Es ist nur nötig, die Aufgabe richtig zu stellen Dazu aber heißt es klar begreifen, welches die Natur der «Mittelklassen» ist. Nichts in der Politik ist gefährlicher, vor allem in einer kritischen Periode, als allgemeine Formeln herzusagen ohne ihren sozialen Inhalt zu untersuchen.
Die derzeitige Gesellschaft besteht aus drei Klassen: Großbourgeoisie, Proletariat und Mittelklassen oder Kleinbürgertum. Die Beziehungen zwischen diesen drei Klassen bestimmen letzten Endes auch die politische Lage des Landes. Die Grundklassen der Gesellschaft sind die Großbourgeoisie und das Proletariat. Nur diese beiden Klassen können eine klare und konsequente selbständige Politik führen. Das Kleinbürgertum zeichnet sich durch seine wirtschaftliche Unselbständigkeit und soziale Ungleichförmigkeit aus. Seine oberen Schichten gehen unmittelbar in die Großbourgeoisie über. Die unteren Schichten verschmelzen mit dem Proletariat und sinken selbst in den Zustand des Lumpenproletariats hinab. Seiner wirtschaftlichen Lage entsprechend, kann das Kleinbürgertum keine eigene Politik haben. Stets wird es zwischen den Kapitalisten und den Arbeitern hin- und herschwanken Seine eigene Oberschicht stößt es nach rechts; seine unteren, unterdrückten und ausgebeuteten Schichten vermögen unter gewissen Umständen, schroff nach links zu schwenken. Diese widerspruchsvollen Beziehungen der verschiedenen Schichten der Mittelklassen bestimmen die stets konfuse und ganz und gar haltlose Politik der Radikalen: ihr Schwanken zwischen dem Kartell mit den Sozialisten, um die Basis zu beruhigen, und dem nationalen Block mit der kapitalistischen Reaktion, um die Bourgeoisie zu retten Die endgültige Zersetzung des Radikalismus beginnt in dem Augenblick, wo die Großbourgeoisie, selber in der Sackgasse, ihm keine Schwankungen mehr gestattet. Das Kleinbürgertum in Gestalt der dem Ruin entgegengehenden Massen von Stadt und Land beginnt die Geduld zu verlieren. Seine Haltung den eigenen Oberschichten gegenüber wird immer feindseliger, es überzeugt sich in der Tat von dem Unvermögen und der Treulosigkeit seiner politischen Führerschaft Der arme Bauer, der Handwerker, der kleine Krämer überzeugen sich in der Praxis, dass ein Abgrund sie trennt von all diesen Bürgermeistern Rechtsanwälten, politischen Geschäftemachern vom Sehlage der Herriot, Daladier, Chautemps & Co, die ihrer Lebensweise und ihren Auffassungen nach Großbürger sind. Ehen dieser Enttäuschung des Kleinbürgertums, seiner Ungeduld, seiner Verzweiflung bedient sich der Faschismus. Die faschistischen Agitatoren brandmarken und verfluchen die parlamentarische Demokratie, die wohl Karrieristen und Bestechlichen hilft‚ dem kleinen Arbeitsmann aber nichts bringt. Sie, diese Demagogen, schütteln die Faust gegen die Bankiers, Großkaufleute, Kapitalisten. Solche Worte und Gebärden entsprechen ganz den Gefühlen des in eine ausweglose Lage geratenen Kleinbesitzers. Die Faschisten zeigen sich kühn, gehen auf die Straße, greifen die Polizei an, versuchen mit Gewalt das Parlament auseinanderzujagen. Das imponiert dem in Verzweiflung verfallenen Kleinbürger. Er sagt sich «Die Radikalen, bei denen sind zuviel Halunken, die haben sich endgültig den Bankiers verkauft; die Sozialisten versprechen seit langem, die Ausbeutung abzuschaffen, aber nie gehen sie vom \Wort zur Tat über; die Kommunisten kann man schon überhaupt nicht verstehen: heute so, morgen anders; man muss doch probieren, ob nicht vielleicht die Faschisten helfen».
Renaudel, Frossard und ähnliche wenden ein, das Kleinbürgertum sei am meisten der Demokratie zugetan und werde eben darum mit den Radikalen gehen. Welch ungeheurer Irrtum! Die Demokratie ist nur eine politische Form. Das Kleinbürgertum kümmert sich nicht um die Schale der Nuss, sondern um ihren Kern. Es sucht Rettung vor Elend und Verderben. Stellt sich die Demokratie als ohnmächtig heraus — zum Teufel mit der Demokratie. So denkt oder fühlt jeder Kleinbürger. Die steigende Empörung der unteren Schichten des Kleinbürgertums gegen seine eigenen oberen «gebildeten» Schichten in Gemeinde, Kanton und Parlament, das ist die soziale und politische Hauptquelle des Faschismus. Dahinzu kommt der Hass der von der Krise beiseite geschleuderten akademischen Jugend gegen die wohlsituierten Rechtsanwälte, Professoren, Abgeordneten und Minister. Auch hier lehnen sich folglich die unteren Schichten der kleinbürgerlichen Intelligenz gegen ihre Spitzen auf.
Bedeutet das, dass der Übergang des Kleinbürgertums auf den Weg des Faschismus unvermeidlich, unabwendbar ist? Nein, eine solche Schlussfolgerung wäre schmählicher Fatalismus. Was wirklich unvermeidlich, unabwendbar ist, das ist der Untergang des Radikalismus und all jener politischen Gruppierungen, die ihr Geschick an das seine heften. Unter den Bedingungen des kapitalistischen Verfalls ist für eine Partei demokratischer Reformen und des «friedlichen» Fortschritts kein Platz mehr. Welchen Weg auch immer die zukünftige Entwicklung Frankreichs gehen muss, der Radikalismus wird jedenfalls von der Bildfläche verschwinden, verworfen und bespien vom Kleinbürgertum, das er endgültig verraten hat. Dass unsere Voraussage der Wirklichkeit entspricht davon wird sich jeder bewusste Arbeiter von nun ab auf Grund der Tatsachen und der Erfahrung täglich überzeugen. Neue Wahlen werden den Radikalen Niederlagen bringen. Schicht für Schicht werden die Volksmassen unten, Gruppen erschrockener Karrieristen oben abstoßen. Austritte, Spaltungen, Verrat werden einander in ununterbrochener Reihe folgen. Keine Manöver und Blöcke werden die radikale Partei retten. In den Abgrund wird sie die «Partei» der Renaudel, Déat & Co mit sich reißen. Das Ende der radikalen Partei ist die unabwendbare Folge der Tatsache, dass die bürgerliche Gesellschaft ihrer Schwierigkeiten mit Hilfe der sogenannten demokratischen Methoden nicht mehr Herr zu werden vermag. Die Spaltung zwischen den unteren Schichten des Kleinbürgertums und den Spitzen ist unabwendbar.
Aber das bedeutet keineswegs, dass die dem Radikalismus folgenden Massen ihre Hoffnungen unfehlbar auf den Faschismus übertragen müssten. Zwar hat der verkommenste deklassierteste und gierigste Teil der Mittelklassejugend seine Wahl bereits in dieser Richtung getroffen. Vornehmlich aus diesem Reservoir formieren sich die faschistischen Banden. Aber die breiten Kleinbürgermassen von Stadt und Land stehen noch vor der Wahl. Sie schwanken vor der großen Entscheidung. Eben weil sie schwanken, fahren sie bisher noch fort, doch bereits ohne Zutrauen, für die Radikalen zu stimmen. Dieser Zustand des Schwankens, des Sich-Bedenkens wird indessen nicht Jahre sondern Monate dauern. Die politische Entwicklung wird in der kommenden Periode fieberhaftes Tempo annehmen. Das Kleinbürgertum wird die Demagogie des Faschismus nur in dem Falle von sich weisen, wenn es an die Wirklichkeit des anderen Weges glaubt. Der andere Weg aber, das ist der Weg der proletarischen Revolution.
Parlamentarische Routiniers, die sich für Kenner des Volkes halten, pflegen immer wieder zu sagen «Man darf die Mittelklassen nicht mit der Revolution schrecken, sie lieben das Extreme nicht». In solch allgemeiner Form ist diese Behauptung vollkommen falsch. Natürlich ist der Kleineigentümer für die Ordnung, solange seine Geschäfte leidlich gehen und solange er hofft, dass sie morgen besser gehen werden. Ist aber diese Hoffnung dahin, so gerät er leicht in Wut und ist bereit, auf die extremsten Maßnahmen einzugehen. Wie hätte er sonst in Italien und Deutschland den demokratischen Staat stürzen und dem Faschismus zum Siege verhelfen können? Der verzweifelnde kleine Mann sieht im Faschismus vor allem eine Kampfkraft gegen das Großkapital und glaubt, zum Unterschied von den Arbeiterparteien, die sich nur mit dem Mundwerk betätigen, werde der Faschismus die Faust in Bewegung setzen, um mehr «Gerechtigkeit» zu schaffen. Und der Bauer und der Handwerker sind auf ihre Art Realisten: sie verstehen, dass man ohne die Faust mit dem Ding nicht fertig werden wird. Es ist falsch, dreimal falsch, zu behaupten, das heutige Kleinbürgertum gehe nicht mit den Arbeiterparteien, weil es «extreme Maßnahmen» scheute. Ganz im Gegenteil. Die unteren Schichten des Kleinbürgertums, seine breiten Massen, sehen in den Arbeiterparteien nur Parlamentsmaschinen, trauen nicht der Kraft der Arbeiterparteien, ihrer Kampffähigkeit, ihrer Bereitschaft, diesmal den Kampf bis ans Ende zu führen. Ist dem aber so, lohnt es dann, den Radikalismus durch seine linken parlamentarischen Spießgesellen zu ersetzen? — so überlegt oder fühlt der ruinierte und aufgebrachte Halbeigentümer. Ohne Verständnis für diese Psychologie der Bauern, Handwerker, Angestellten, kleinen Beamten usw. — eine Psychologie, die sich aus der sozialen Krise ergibt — ist es unmöglich, die richtige Politik auszuarbeiten.
Das Kleinbürgertum ist wirtschaftlich abhängig und politisch zerstückelt Es kann darum nicht selbständig Politik machen. Es braucht einen «Führer», der ihm Vertrauen einflößt. Dieser Führer — ein individueller oder ein kollektiver, d.h. eine Person oder eine Partei — kann ihm die eine oder die andere Grundklasse liefern, d.h. entweder die Großbourgeoisie oder das Proletariat. Der Faschismus eint und bewaffnet die zerstreuten Massen: aus menschlichem Staub schafft er Kampfabteilungen. Damit gibt er dem Kleinbürgertum die Illusion, dass es eine selbständige Kraft sei. Es beginnt sich einzubilden, dass es wirklich den Staat kommandieren werde. Kein Wunder, wenn ihm die Hoffnungen und Illusionen zu Kopf steigen. Aber das Kleinbürgertum kann auch das Proletariat zum Führer nehmen. Das hat es in Russland, zum Teil in Spanien gezeigt. Es neigte dahin in Italien, Deutschland, Österreich. Doch die Parteien des Proletariats zeigten sich dort nicht auf der Höhe ihrer geschichtlichen Aufgabe. Damit das Kleinbürgertum sich ihm anschließe, muss das Proletariat sich sein Vertrauen erkämpfen. Dazu aber muss es der eigenen Kraft vertrauen. Erforderlich ist ein klares Aktionsprogramm und die Bereitschaft, mit allen verfügbaren Mitteln um die Macht zu kämpfen. Fest verbunden von der revolutionären Partei zum entscheidenden und unerbittlichen Kampfe, spricht das Proletariat zum Bauern und zum kleinen Mann der Stadt: «ich kämpfe um die Macht; hier ist mein Programm; ich bin bereit, mich mit euch über Änderungen an diesem Programm zu verständigen; Gewalt werde nur gegen das Großkapital und seine Lakaien anwenden, mit euch aber, die ihr von der eigenen Arbeit lebt, will ich ein Bündnis schließen auf Grund eines bestimmten Programms» Solch eine Sprache wird der Bauer erstehen. Not tut nur, dass er Zutrauen habe zur Fähigkeit des Proletariats, die Macht zu ergreifen. Dazu aber heißt es, die Einheitsfront von aller Zweideutigkeit, aller Unentschiedenheit, allem Phrasenglauben säubern; heißt es die Lage verstehen und ernsthaft den Weg des revolutionären Kampfes betreten.
Renaudel, Frossard und ihresgleichen bilden sich ernsthaft ein, ein Bündnis mit den Radikalen sei ein Bündnis mit den «Mittelklassen» und somit eine Sehranke gegen den Faschismus. Diese Leute sehen nichts als die parlamentarischen Schatten. Sie haben keine Ahnung von der wirklichen Entwicklung der Massen und jagen der überlebten radikalen Partei nach, die ihnen unterdessen die Rückseite zugekehrt hat. Sie glauben, in der Epoche einer großen sozialen Krise könne man das Bündnis mit den in Fluss gekommenen Massen durch einen Block mit der kompromittierten und dem Untergang geweihten parlamentarischen Clique ersetzen. Das wirkliche Bündnis des Proletariats mit den Mittelklassen ist nicht eine Frage der parlamentarischen Statik, sondern der revolutionären Dynamik. Dies Bündnis gilt es zu schaffen, im Kampf zu schmieden.
Das Wesen der heutigen politischen Lage besteht darin, dass das verzweifelte Kleinbürgertum beginnt, das Joch der parlamentarischen Disziplin abzuschütteln mitsamt der Vormundschaft der konservativen «radikalen» Clique die das Volk stets betrogen und heute endgültig verraten hat. Sich in dieser Lage mit den Radikalen einlassen, heißt sich der Verachtung der Massen preisgeben und das Kleinbürgertum dem Faschismus als dem einzigen Retter in die Arme treiben.
Die Arbeiterpartei soll sich nicht mit hoffnungslosen Versuchen abgeben, diese Partei von Bankrotteuren zu retten, sie muss im Gegenteil aus Leibeskräften den Prozess der Befreiung der Massen vom radikalen Einfluss fördern. Je eifriger und kühner sie dies Werk vollbringt, um so wahrhaftiger und schneller wird sie es zum Bündnis der Arbeiterklasse mit dem Kleinbürgertum bringen. Man muss die Klassen in ihrer Bewegung nehmen. Man muss sich nach ihrem Kopf und nicht nach ihrem Schwanz richten Die Geschichte arbeitet jetzt schnell Wehe dem, der zurückbleibt!
Wenn nun Frossard der sozialistischen Partei das Recht abstreitet, die radikale Partei zu entlarven, zu schwächen und zu zersetzen, so handelt er wie ein konservativer Radikaler, nicht aber als Sozialist. Nur die Partei hat Recht auf historisches Dasein, die an ihr Programm glaubt und danach strebt, das ganze Volk um ihr Banner zu scharen. Sonst ist sie keine historische Partei, sondern eine Parlamentssippschaft, eine Karrieristenclique. Es ist nicht nur Recht, sondern elementare Pflicht einer Partei des Proletariats, die werktätigen Massen von dem schädlichen Einfluss der Bourgeoisie zu befreien! Diese historische Aufgabe ist um so dringlicher, als die Radikalen heute mehr denn je das Werk der Reaktion zu decken trachten, das Volk einlullen, betrügen und damit den Sieg des Faschismus vorbereiten. Die linken Radikalen? Die kapitulieren doch ebenso fatal vor Herriot, wie dieser vor Tardieu.
Frossard wiegt sich in der Hoffnung, ein Bündnis der Sozialisten mit den Radikalen würde zu einer «linken» Regierung führen, die die faschistischen Organisationen entwaffnet und die Republik rettet. Schwerlich ist eine ärgere Missgeburt als dieser Bastard von demokratischen Illusionen mit einem eines Polizisten würdigen Zynismus auszudenken. Sagen wir — darüber ausführlicher weiter unten — eine Arbeitermiliz tut not, so erwidern die Frossards und seine Nachbeter: «Gegen den Faschismus soll man nicht mit physischen, sondern ideologischen Mitteln kämpfen» Sagen wir: nur eine kühne revolutionäre Massenmobilisierung, die nicht anders als im Kampf gegen den Radikalismus möglich ist, vermag dem Faschismus den Boden zu entziehen so erwidern dieselben Leute: «Nein, uns kann nur die Polizei einer Regierung Daladier-Frossard retten».
Erbärmliches Gestammel! Die Radikalen waren doch an der Macht, und wenn sie sie freiwillig Doumergue abtraten, so nicht, weil ihnen Frossards Hilfe fehlte, sondern weil sie vor dem Faschismus und der Großbourgeoisie schlotterten, die ihnen mit dem royalistischen Rasiermesser drohte und noch mehr vor dem Proletariat, das sich gegen den Faschismus zu erheben begann. Um den Skandal voll zu machen, gab Frossard, erschrocken über den Schreck der Radikalen, selber Daladier den Rat zu kapitulieren! Nimmt man eine Minute lang an — eine offensichtlich unwahrscheinliche Annahme! — die Radikalen hätten eingewilligt, das Bündnis mit Doumergue zugunsten eines Bündnisses mit Frossard zu brechen, so wären die faschistischen Banden diesmal unter unmittelbarer Beihilfe der Polizei dreimal so stark auf die Straße gezogen: die Radikalen aber zusammen mit den Frossards hätten sich sogleich unter die Tische verkrochen oder auf den Ministertoiletten versteckt.
Aber machen wir noch eine phantastische Annahme Daladier-Frossards Polizei «entwaffnet» die Faschisten. Wäre damit die Frage etwa gelöst? Wer wird denn die Polizei selbst entwaffnen, die mit der Rechten den Faschisten zurückerstatten wird, was sie ihnen mit der Linken nahm? Die Komödie der Entwaffnung durch die Polizei würde nur die Autorität der Faschisten als Kämpfer gegen den kapitalistischen Staat erhöhen. Schläge gegen die faschistischen Banden können nur in dem Masse wirksam sein, wie diese Banden gleichzeitig politisch isoliert werden. Indessen würde die hypothetische Regierung Daladier-Frossard weder den Arbeitern noch den kleinbürgerlichen Massen etwas bringen, denn die Grundlagen des Privateigentums würde sie nicht antasten können Ohne Enteignung der Banken, Großhandelsfirmen Schlüsselindustrien des Transports, ohne Außenhandelsmonopol und ohne eine Reihe anderer einschneidender Maßnahmen ist den Bauern Handwerkern, Krämern ganz unmöglich zu helfen. Durch ihre Passivität Ohnmacht, Verlogenheit wurde die Regierung Daladier-Frossard Stürme der Entrüstung im Kleinbürgertum entfesselt und es endgültig auf den Weg des Faschismus stoßen, wenn, ja wenn diese Regierung möglich wäre.
Man muss jedoch zugeben, dass Frossard nicht allein dasteht. Am selben Tag (dem 24 Oktober), wo der gemäßigte Zyromsky im Populaire gegen Frossards Versuch der Wiederbelebung des Kartells Stellung nahm, trat Cachin in der Humanité für den Gedanken eines Blockes mit den Radikalsozialisten ein. Er, Cachin, begrüßte entzückt die Tatsache, dass die Radikalen sich für die «Entwaffnung» der Faschisten ausgesprochen hatten. Zwar sprachen die Radikalen von der Entwaffnung aller, einschließlich der Arbeiterorganisationen. Zwar würde sich in den Händen des bonapartistischen Staates eine solche Maßnahme hauptsächlich gegen die Arbeiter richten. Zwar würden die «entwaffneten» Faschisten schon am nächsten Tage das doppelte Quantum Waffen erhalten, nicht ohne Mithilfe der Polizei. Aber wozu sich mit so finsteren Grübeleien abquälen? Jeder Mensch braucht Hoffnung. Und da tritt Cachin eben in die Fußstapfen von Wels und Otto Bauer, die ihrerzeit auch alles Heil von der Entwaffnung erwarteten zu bewerkstelligen durch Brünings und Dolfussens Polizei. Mit einer Kehrtwendung von 180° setzt Cachin Radikalsozialisten und Mittelklassen gleich. Die unterdrückten Bauern sieht er nur durch das Prisma des Radikalismus. Das Bündnis mit den arbeitenden Kleineigentümern stellt er sich nicht anders als in Form eines Blockes mit jenen parlamentarischen Schiebern vor, die — endlich — bei dem Kleineigentümer an Vertrauen einzubüßen beginnen. Statt die beginnende Empörung des Bauern und Handwerkers gegen die «demokratischen» Ausbeuter zu nähren und zu schüren und diese Empörung in die Bahn eines Bündnisses mit dem Proletariat zu lenken, macht Cachin Anstalten, die radikalen Bankrotteure mit der Autorität des «front commun» zu stützen und so die Empörung der unteren Schichten des Kleinbürgertums auf den Weg des Faschismus zu treiben.
Theoretische Verwahrlosung rächt sich in der revolutionären Politik stets bitter. Antifaschismus wie Faschismus sind für die Stalinisten nicht konkrete Begriffe sondern zwei große Säcke, wohinein sie alles stopfen, was ihnen zwischen die Finger gerät. Doumergue ist für sie ein Faschist, ebenso wie früher Daladier. In Wirklichkeit ist Doumergue der kapitalistische Ausbeuter des faschistischen Flügels des Kleinbürgertums, so wie Herriot der Ausbeuter des radikalen Kleinbürgertums ist. Augenblicklich haben sich diese beiden Systeme zum bonapartistischen Regime zusammengetan. Doumergue ist auf seine Art auch ein «Antifaschist» denn er zieht eine «friedliche Militär - und Polizeidiktatur des Großkapitals dem Bürgerkrieg mit seinem ungewissen Ausgang vor. Aus Furcht vor dem Faschismus und mehr noch vor dem Proletariat schoß sich der «Antifaschist» Daladier Doumergue an. Doch ohne Existenz der faschistischen Banden wäre das Doumergue-Regime undenkbar. Die elementare marxistische Analyse beweist so die völlige Unhaltbarkeit des Gedankens eines Bündnisses mit den Radikalen gegen den Faschismus! Die Radikalen selbst ‚ sorgen für den Beweis, wie phantastisch und reaktionär die politischen Schwärmereien Frossards und Cachins tatsächlich sind
Um zu kämpfen heißt es, die Kampfwerkzeuge und -mittel erhalten und verstärken: Organisationen, Presse, Versammlungen usw. All das bedroht der Faschismus ganz unmittelbar. Noch ist er zu schwach, um den direkten Kampf um die Macht anzutreten: aber er ist stark genug, um zu versuchen, die Arbeiterorganisationen stückweise zu zerschlagen, bei diesen Angriffen seine Banden zu stählen, in den Arbeiterreihen Niedergeschlagenheit zu säen: und ihnen das Vertrauen in die eigene Kraft zu nehmen. Dabei findet der Faschismus unfreiwillige Helfershelfer in all jenen, die den «physischen» Kampf für unzulässig und aussichtslos erklären und von Doumergue die Entwaffnung seiner faschistischen Garde fordern. Nichts ist für das Proletariat gefährlicher — vor allem unter den heutigen Umständen — als das süße Gift falscher Hoffnungen. Nichts steigert die Frechheit der Faschisten mehr als der schlappe «Pazifismus» der Arbeiterorganisationen. Nichts untergräbt so sehr das Vertrauen der Mittelklassen zum Proletariat wie abwartende Untätigkeit, fehlender Kampfwille.
Der Populaire und besonders die Humanité schreiben täglich: «Die Einheitsfront gebietet dem Faschismus halt». «die Einheitsfront wird es nicht zulassen», «die Faschisten werden es nicht wagen», und so weiter ohne Ende. Das sind Phrasen. Man muss den Arbeitern. Sozialisten wie Kommunisten, rund heraus sagen: Erlaubt den leichtsinnigen und verantwortungslosen Journalisten und Rednern nicht, euch in Phrasen zu wiegen. Es geht um unseren Kopf und um die Zukunft des Sozialismus. Wir sind die letzten, die Bedeutung der Einheitsfront zu leugnen. Wir predigten sie, als die Führer beider Parteien noch dagegen waren. Die Einheitsfront eröffnet gewaltige Möglichkeiten. Aber auch nicht mehr. Die Einheitsfront allein entscheidet nichts. Entscheiden wird nur der Massenkampf. Die Einheitsfront ist etwas herrliches, wenn bei einem Angriff faschistischer Banden auf den Populaire oder die Humanité kommunistische Abteilungen den sozialistischen zur Hilfe eilen, und umgekehrt. Aber dazu müssen die proletarischen Kampfabteilungen vorhanden sein, sich schulen, üben, sich bewaffnen. Ist aber keine Verteidigungsorganisation. d.h. keine Arbeitermiliz vorhanden, dann werden der Populaire und die Humanité, und mögen sie noch so viel Artikel schreiben über die Allmacht der Einheitsfront, beim erstbesten gut vorbereiteten Überfall der Faschisten ohne Schutz sein. Versuchen wir, kritisch die «Argumente» und «Theorien» der Gegner der Arbeitermiliz abzuwägen, die in beiden Arbeiterparteien recht zahl- und einflussreich sind.
Wir brauchen einen Massenselbstschutz, und keine Miliz, wird oft gesagt. Aber was ist dieser «Massenselbstschutz»? Ohne Kampforganisation, ohne Spezialkader, ohne Waffen? Den unorganisierten, unvorbereiteten, sich selbst überlassenen Massen die Verteidigung gegen den Faschismus auftragen, hieße eine ungleich niedrigere Rolle spielen als die des Pontius Pilatus. Die Rolle der Miliz leugnen, heißt die Rolle der Avantgarde leugnen. Wozu dann eine Partei? Ohne Unterstützung der Massen ist die Miliz nichts. Aber ohne organisierte Kampfabteilungen wird die heldenmütigste Masse stückweise von den faschistischen Banden zerbrochen werden. Die Miliz dem Selbstschutz entgegenstellen ist Unsinn. Die Miliz ist das Organ des Selbstschutzes
— Zur Organisation einer Miliz aufrufen — sagen einige, allerdings wenig ernste und aufrichtige Gegner —. das ist «Provokation». Das ist kein Argument, sondern eine Beschimpfung. Entspringt die Notwendigkeit, die Arbeiterorganisationen zu verteidigen, der gesamten Läge, wie kann man dann nicht zur Schaffung der Miliz aufrufen? Vielleicht will man uns sagen, die Schaffung der Miliz «provoziere» die Faschisten zu Angriffen, und die Regierung zu Unterdrückungsmaßregeln? Dann ist das ein durch und durch reaktionäres Argument. Der Liberalismus redete. den Arbeitern immer ein, ihr Klassenkampf «provoziere» die Reaktion. Die Reformisten wiederholten diese Anschuldigung gegen die Marxisten. Die Menschewiki gegen die Bolschewiki. Letzten Endes geht diese Beschuldigung zurück auf den tiefen Gedanken, dass, wenn die Unterdrückten nicht mucken, die Unterdrücker auch nicht gezwungen sind zuzuschlagen. Das ist die Philosophie Tolstojs und Gandhis. aber beileibe nicht die Marxens oder Lenins. Wenn die Humanité künftig auch die Lehre des «Widerstehe dem Bösen nicht mit Gewalt» entwickeln will, so möge sie folgerichtigerweise zum Symbol nicht Hammer und Sichel nehmen, das Emblem der Oktoberrevolution, sondern die fromme Ziege, die Gandhi mir ihrer Milch ernährt.
— Aber die Bewaffnung der Arbeiter ist nur in einer revolutionären Situation angebracht, die doch noch nicht besteht! — Dies tiefsinnige Argument besagt, die Arbeiter sollen solange auf sich einschlagen lassen, bis die Situation revolutionär geworden ist. Die gestern die «dritte Periode» predigten, wollen nicht sehen, was vor ihren Augen sich abspielt. Die Frage der Bewaffnung stellte sich ja praktisch überhaupt nur, weil die «friedliche», «normale», «demokratische> Situation einer stürmischen, kritischen und instabilen Platz machte, die ebenso in eine revolutionäre wie in eine konterrevolutionäre übergehen kann. Diese Alternative hängt vor allein davon ab, ob die vorgeschrittenen Arbeiter dulden, dass man sie ungestraft stückweise zerschmettert, oder ob sie jeden Hieb mit zwei Hieben beantworten, den Mut der Unterdrückten heben und sie um sich vereinigen werden. Die revolutionäre Situation fällt nicht vom Himmel. Sie gewinnt Gestalt unter aktiver Beteiligung der revolutionären Klasse und ihrer Partei.
Die französischen Stalinisten berufen sich jetzt darauf, dass die Miliz das deutsche Proletariat vor der Niederlage auch nicht bewahrt habe. Gestern noch bestritten sie überhaupt die Niederlage in Deutschland und behaupteten, die Politik der deutschen Stalinisten sei von Anfang bis Ende richtig gewesen. Heute sehen sie alles Übel in der deutschen Arbeitermiliz (Rote Front). So fallen sie aus einem Fehler in den entgegengesetzten, nicht minder ungeheuerlichen. Die Miliz an sich löst die Frage nicht. Notwendig ist eine richtige Politik. Indessen führte die Politik des Stalinismus in Deutschland (Hauptfeind ist der Sozialfaschismus‚ Gewerkschaftsspaltung, Liebäugeln mit dein Nationalismus, Putschismus) fatal zur Isolierung der proletarischen Vorhut und zu ihrem Zusammenbruch. Taugt die Strategie nichts, so kann keine Miliz die Lage retten.
Dummes Zeug ist es, dass die Milizorganisation als solche auf den Weg des Abenteuers führe, den Feind provoziere, den politischen Kampf durch physischen ersetze und so fort. Hinter all diesen Phrasen steckt nichts weiter als politische Feigheit. Die Miliz als starke Organisation der Vorhut ist in Wirklichkeit das zuverlässigste Mittel gegen Abenteuer, gegen individuellen Terror, gegen blutige Elementarausbrüche. Zugleich ist die Miliz das einzige ernsthafte Mittel, den Bürgerkrieg, den der Faschismus dem Proletariat aufzwingt, auf ein Mindestmaß herabzudrücken. Wenn erst die Arbeiter, ungeachtet des Fehlens einer «revolutionären Situation»‚ die patriotischen Muttersöhnchen einige Male auf ihre Art zurechtweisen, so wird die Anwerbung neuer faschistischer Banden mit einem Schlage unendlich schwieriger werden.
Aber hier werfen die in Verwirrung geratenen Strategen uns noch niederschmetterndere Argumente entgegen. Zitieren wir wörtlich: «Wenn wir die Revolverschüsse der faschistischen Banden mit anderen Revolverschüssen beantworten»‚ schreibt die Humanité vom 23. Oktober l934, «so verlieren wir aus dem Auge, dass der Faschismus das Produkt des kapitalistischen Regimes ist, und dass, kämpfen wir gegen den Faschismus. wir es auf das ganze System absehen». Schwerlich kann man in so wenig Zeilen mehr Konfusion und Fehler anhäufen. Man darf sich gegen die Faschisten nicht verteidigen, weil sie … ein Produkt des kapitalistischen Regimes sind. Das bedeutet, dass man auf Kampf überhaupt verzichten soll, denn alle sozialen Übel unserer Zeit sind «Produkte des kapitalistischen Regimes». Wenn die Faschisten einen Revolutionär töten oder das Gebäude einer proletarischen Zeitung in Brand stecken, müssen die Arbeiter philosophisch konstatieren: «Ach! Mord und Brand, das sind die Produkte des kapitalistischen Systems> und ruhigen Gewissens nach Hause geben. Die Kampftheorie Marxens ist ersetzt durch fatalistische Schlappheit, die nur dem Klassenfeind nutzt. Der Ruin des Kleinbürgertums ist selbstverständlich ein Produkt des Kapitalismus. Das Wachsen der Faschisten ist seinerseits ein Produkt des Ruins des Kleinbürgertums. Andererseits aber ist das Wachsen des Elends und der Erbitterung im Proletariat ebenfalls Produkt des Kapitalismus, die Miliz aber ihrerseits ein Produkt der Verschärfung des Klassenkampfes. Warum jedoch sind für die «Marxisten» von der Humanité die faschistischen Banden legitimes Produkt des Kapitalismus, die Miliz aber ein illegitimes Produkt der … Trotzkisten? Verstehe wer kann!
Man muss, wird uns gesagt, es auf das gesamte «System» absehen. Auf welche Weise? Über den Kopf der Menschen hinweg? Allein, in verschiedenen Ländern hatten die Faschisten mit Revolverschüssen begonnen und mit der Zertrümmerung des gesamten «Systems» der Arbeiterorganisationen aufgehört. Wie denn sonst den bewaffneten Angriff des Feindes zum Stehen bringen, wenn nicht durch eine bewaffnete Verteidigung, um dann seinerseits zum Angriff überzugehen?
Gewiss, die Humanité anerkennt jetzt in Worten die Verteidigung, aber nur als «Massenselbstschutz»: die Miliz ist schädlich, weil sie — nicht wahr? — die Kampfabteilungen von den Massen abschneidet. Aber warum gibt es denn bei den Faschisten eigene bewaffnete Abteilungen, die sich von der reaktionären Masse nicht abschneiden, sondern im Gegenteil mit ihren wohlorganisierten Schlägen die Stimmung der Massen heben und ihre Entschlossenheit erhöhen? Oder ist vielleicht die proletarische Masse ihren Kampfeigenschaften nach dem deklassierten Kleinbürgertum unterlegen?
Aufs gründlichste verwirrt, beginnt die Humanité zu schwanken: nun stellt sich heraus, dass der Massenselbstschutz die Schaffung von «Selbstschutzgruppen» erfordere. An die Stelle der verfemten Miliz setzt man besondere Gruppen oder Abteilungen. Anfangs scheint der Unterschied nur im Namen zu liegen. Allerdings taugt auch die von der Humanité vorgeschlagene Bezeichnung nichts. Kann man wohl von «Massenselbstschutz» reden, so doch unmöglich von «Selbstschutzgruppen», denn die Bestimmung der Gruppen ist nicht, sich selbst, sondern die Arbeiterorganisationen zu schützen. Allein, es handelt sich selbstverständlich nicht um die Benennung. Die «Selbstschutzgruppen sollen», nach Ansicht der Humanité, auf den Gebrauch von Waffen verzichten, um nicht in «Putschismus» zu verfallen. Diese Weisen behandeln die Arbeiterklasse wie ein Kind, dem man kein Rasiermesser in die Finger geben darf. Außerdem bilden die Rasiermesser ja bekanntlich das Monopol der Camelots du Roy. die, als legitimes «Produkt des Kapitalismus», mit Hilfe von Rasiermessern das «System» der Demokratie stürzten. Wie jedoch werden sich denn die «Selbstschutzgruppen» gegen die faschistischen Revolver verteidigen? Offenbar «ideologisch». Anders: Es bleibt ihnen nichts anderes übrig als sich zu verstecken. Ohne passenden Gegenstand in den Händen, müssen sie den «Selbstschutz» in den Füßen suchen. Die Faschisten aber werden unterdessen ungestraft die Arbeiterorganisationen verwüsten. Mag das Proletariat dabei auch eine furchtbare Niederlage erleiden, so wird es sich dafür des «Putschismus» nicht schuldig gemacht haben. Ekel und Verachtung, das ist alles, was dieses feige Getratsch unter der Flagge des «Bolschewismus» hervorruft!
Schon während der «dritten Periode» seligen Angedenkens, als die Strategen der Humanité von Barrikaden phantasierten, jeden Tag die Straße «eroberten>. und als «Sozialfaschisten> alles bezeichneten, was ihren Irrsinn nicht mitmachte, sagten wir voraus: Sowie diese Leute sich die Finger verbrannt haben, werden sie die schlimmsten Opportunisten werden. Die Voraussage hat sich nunmehr vollauf bestätigt. Während in der sozialistischen Partei die Bewegung für die Miliz erstarkt und wächst, eilen die Führer der sogenannten Kompartei mit der Feuerspritze herbei, um das Verlangen der vorgeschrittenen Arbeiter, in Kampfkolonnen anzutreten, abzukühlen. Kann man sich ein verheerenderes und demoralisierenderes Unternehmen vorstellen?
In den Reihen der Sozialistischen Partei hört man zuweilen folgendes Argument: — die Miliz, soll man sie machen, aber es ist nicht nötig, laut davon zu reden. Man kann es nur begrüßen, wenn die Genossen aufrichtig besorgt sind, die praktische Seite der Sache unberufenen Augen und Ohren vorzuenthalten. Aber zu naiv ist der Gedanke, man könne die Miliz unbemerkt, heimlich. zwischen vier Wänden schaffen. Wir brauchen Zehn- und später Hunderttausende von Kämpfern. Sie werden nur in dem Fall kommen, wenn Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen und in ihrem Gefolge auch die Bauern die Notwendigkeit der Miliz begreifen und um die Freiwilligen eine Atmosphäre heißer Sympathie und aktiver Unterstützung schaffen. Konspiration kann und darf lediglich die technische Seite der Sache verhüllen. Was aber die politische Kampagne betrifft, so muss sie offen, auf den Versammlungen, in den Fabriken, auf Straßen und Plätzen geführt werden.
Kerntruppe der Miliz müssen die Industriearbeiter sein, die durch die Arbeitsstätte verbunden sind, einander kennen und ihre Kampfabteilungen gegen das Eindringen feindlicher Agenten viel besser und wirksamer zu schützen vermögen als noch so hoch stehende Bürokraten. Konspirative Stäbe ohne offene Massenmobilisierung werden im Augenblick der Gefahr ohnmächtig in der Luft hängen. Nötig ist, dass alle Arbeiterorganisationen sich ans Werk machen. In dieser Frage kann es keine Trennungslinie zwischen Arbeiterparteien und Gewerkschaften geben. Hand in Hand müssen sie die Massen mobilisieren. Dann wird der Arbeitermiliz voller Erfolg beschieden sein.
— Aber woher sollen die Arbeiter denn die Waffen hernehmen?, entgegnen die nüchternen «Realisten», will sagen ängstlichen Philister. Hat doch der Klassenfeind Gewehre, Kanonen, Tanks, Gase, Flugzeuge. Die Arbeiter aber: ein paar hundert Revolver und Taschenmesser.
In diesem Einwand kommt alles zuhauf, die Arbeiter zu schrecken. Einerseits setzen unsere Weisen die Bewaffnung der Faschisten mit der des Staates gleich, andererseits wenden sie sich an den Staat mit dem Ersuchen, er möge die Faschisten entwaffnen. Eine bemerkenswerte Logik! In Wirklichkeit ist ihre Einstellung in beiden Fällen falsch. In Frankreich haben die Faschisten den Staat noch nicht erobert. Am 6. Februar befanden sie sich in bewaffnetem Konflikt mit der Staatspolizei. Unrichtig ist es darum, von Kanonen und Tanks zu reden. wo es sich unmittelbar um bewaffneten Kampf mit den Faschisten handelt. Die Faschisten sind selbstredend reicher als wir, es fällt ihnen viel leichter, Waffen zu kaufen. Aber die Arbeiter sind zahlreicher, entschlossener, selbstaufopfernder, zumindest, wenn sie eine feste revolutionäre Führung verspüren. Neben anderen Quellen können sich die Arbeiter auf Kosten der Faschisten bewaffnen, indem, sie sie systematisch entwaffnen. Das ist heute eine der sichersten Formen des Kampfes gegen den Faschismus. Wenn die Arbeiterarsenale sich auf Kosten der faschistischen Depots zu füllen beginnen, dann werden die Banken und Trusts mit Spenden für die Ausrüstung ihrer Mordbanden vorsichtiger sein. Man kann sogar annehmen, dass in diesem Falle — doch nur in diesem Falle — die unruhig werdenden Machthaber wirklich daran gehen werden, die Bewaffnung der Faschisten zu unterbinden, um den Arbeitern keine zusätzliche Waffenquelle zu liefern. Längst ist bekannt: nur eine revolutionäre Taktik erzeugt als Nebenprodukt «Reformen» oder Zugeständnisse seitens der Regierung.
Wie aber die Faschisten entwaffnen? Natürlich ist das mit ein paar Leitartikeln allein nicht zu machen. Kampfstaffeln müssen geschaffen werden. Stäbe der Miliz müssen gebildet werden. Ein guter Erkundungsdienst muss eingerichtet werden. Tausende freiwilliger Informatoren und Mithelfer werden von allen Seiten kommen. wenn sie merken, dass wir mit Ernst an die Sache herangehen. Not tut der Wille zur revolutionären Tat.*
Aber die faschistischen Waffen sind selbstverständlich nicht die einzige Quelle. In Frankreich gibt es mehr als eine Million organisierter Arbeiter. Allgemein gesehen ist das sehr wenig. Aber es reicht voll aus, um den Grundstein zur Arbeitermiliz zu legen. Bewaffnen die Parteien und Gewerkschaften auch nur ein Zehntel ihrer Mitglieder, so ergäbe das bereits eine Miliz von 100.000 Mann. Man kann nicht daran zweifeln, dass die Zahl der Freiwilligen am Tage nach dem Aufruf der <Einheitsfront> diese Ziffer weit überschreiten würde. Beisteuerungen der Parteien und Gewerkschaften, freiwillige Sammlungen und Spenden würden es ermöglichen, im Laufe von ein, zwei Monaten 100 bis 200.000 Arbeiterkämpfern Waffen zu verschaffen. Das faschistische Gesindel würde schnell den Schwanz einklemmen. Die ganze Perspektive der Entwicklung würde sich unendlich günstiger gestalten.
Auf das Fehlen der Waffen oder andere objektive Gründe hinweisen zur Erklärung dessen, weshalb man bislang nicht an die Bildung der Miliz herangegangen ist, heißt sich und die anderen täuschen. Das Haupt-, ja man kann sagen einzige Hindernis wurzelt in dem konservativen und passiven Charakter der führenden Arbeiterorganisationen. Die skeptischen Führer glauben nicht an die Kraft des Proletariats. Sie erhoffen sich alle möglichen Wunder von oben, statt der revolutionären Energie von unten einen revolutionären Ausweg zu verschaffen. Die bewussten Arbeiter müssen ihre Führer zwingen, entweder unmittelbar an die Schaffung der Arbeitermiliz zu schreiten, oder jüngeren und frischeren Kräften Platz zu machen.
Ein Streik ist unvorstellbar ohne Propaganda und ohne Agitation. aber auch ohne Streikposten, die, wo sie können, durch Überzeugung wirken, aber, wenn sie dazu gezwungen sind, physische Gewalt zu Hilfe nehmen. Der Streik ist die einfachste Form des Klassenkampfes, der in verschiedener Proportion stets «ideologische« mit physischen Maßnahmen vereinigt. Der Kampf gegen den Faschismus ist im Grunde ein politischer, braucht jedoch die Miliz, wie der Streik den Streikposten. Eigentlich ist der Streikposten ja der Keim der Arbeitermiliz. Wer den physischen Kampf ablehnen zu müssen meint, sollte auf allen Kampf verzichten, denn der Geist lebt nicht ohne den Leib.
Nach dem großartigen Ausspruch des Kriegstheoretikers Clausewitz ist der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Diese Definition trifft vollauf auch für den Bürgerkrieg zu. Der physische Kampf ist nur ein «anderes Mittel» des politischen Kampfes. Man kann sie nicht einander gegenüberstellen, denn man kann nicht willkürlich den politischen Kampf abstoppen, wenn er sich kraft innerer Notwendigkeit in physischen Kampf verwandelt. Pflicht der revolutionären Partei ist es, von vornherein die Unvermeidlichkeit der Umwandlung der Politik in offenen militärischen Zusammenstoß vorauszusehen und sich mit aller Kraft auf diesen Augenblick ebenso vorzubereiten, wie es die herrschenden Klassen tun.
Milizabteilungen zur Abwehr des Faschismus sind das Erste auf dem Wege zur Bewaffnung des Proletariats, doch nicht das Letzte. Unsere Losung lautet: Bewaffnung des Proletariats und der Revolutionären Bauern. Die Volksmiliz muss letzten Endes alle Werktätigen erfassen. Dies Programm ist restlos zu verwirklichen erst im Arbeiterstaat, in dessen Hände alle Produktionsmittel und infolgedessen auch Zerstörungsmittel übergehen werden, d.h. sämtliche Waffen und Waffenfabriken.
Allein, zum Arbeiterstaat wird man mit leeren Händen nicht gelangen. Vom friedlichen. verfassungsmäßigen Wege zum Sozialismus können heute nur politische Invaliden vom Schlage Renaudels reden. Der verfassungsmäßige Weg ist abgeschnitten durch mit Faschisten besetzte Schützengräben. Solcher Gräben liegen noch manche vor uns. Die Bourgeoisie wird mit Hilfe von Polizei und Heer auch vor einem Dutzend Staatsumwälzungen nicht zurückschrecken, nur um das Proletariat nicht an die Macht zu lassen Der sozialistische Arbeiterstaat kann nicht anders geschaffen werden als durch die siegreiche Revolution. Jede Revolution bereitet sich durch den Gang der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung vor, aber entschieden wird sie stets durch den offenen bewaffneten Zusammenstoß der feindlichen Klassen. Der revolutionäre Sieg wird möglich nur dank langer politischer Agitation, Erziehungsarbeit, Massenorganisierung. Aber auch der bewaffnete Zusammenstoß muss von langer Hand vorbereitet sein. Die Arbeiter müssen wissen, dass sie sich auf Tod und Leben zu schlagen haben werden. Sie müssen nach Waffen trachten als nach dem Unterpfand ihrer Befreiung. In einer so kritischen Epoche wie der gegenwärtigen muss die Partei der Revolution unermüdlich den Arbeitern die Notwendigkeit der Bewaffnung predigen und alles tun, um zumindest der proletarischen Vorhut Waffen zu sichern. Ohne das ist ein Sieg undenkbar.
Die kürzlichen großen Wahlsiege der britischen Labour Party tun dem Gesagten in keiner Weise Abbruch. Nimmt man sogar an, die nächsten Parlamentswahlen brächten der Arbeiterpartei die absolute Mehrheit — was noch gar nicht feststeht; nimmt man ferner an, die Partei beschritte dann wirklich den Weg sozialistischer Umgestaltungen — was wenig wahrscheinlich ist —‚ so wird sie auf ihrem Wege sofort auf solch einen wütenden Widerstand seitens des Oberhauses, des Königs, der Banken. der Börse, der Bürokratie und der großen Presse stoßen, dass die Spaltung in Fraktionen unvermeidlich und der radikalere linke Flügel sich in der parlamentarischen Minderheit befinden wird. Gleichzeitig damit wird die faschistische Bewegung unerhörten Aufschwung nehmen. Die über die Gemeindewahlen erschrockene britische Bourgeoisie bereitet sich auch heute schon zweifellos tatkräftig auf den außerparlamentarischen Kampf vor, während die Spitzen der Arbeiterpartei das Proletariat mit den Wahlerfolgen einlullen und zum Unglück gezwungen sind, die britischen Ereignisse durch die rosarote Brille Jean Longuets zu betrachten. In Wirklichkeit drängt die britische Bourgeoisie dem Proletariat einen um so erbitterteren Bürgerkrieg auf, je weniger die Führer der Labour Party sich darauf vorbereiten.
— Aber woher wollt ihr denn Waffen für das gesamte Proletariat hernehmen? — wenden von neuem die Skeptiker ein, die ihre innere Haltlosigkeit für eine objektive Unmöglichkeit halten. Sie vergessen, dass von jeher in der Geschichte jede Revolution vor derselben Frage stand. Und nichtsdestoweniger sind siegreiche Revolutionen die Marksteine der wichtigsten Etappen in der Entwicklung der Menschheit.
Das Proletariat erzeugt die Waffen, transportiert sie, baut die Gebäude, wo sie aufbewahrt werden, schützt diese Gebäude gegen sich selbst, dient in der Armee und stellt dessen ganze Ausrüstung her. Nicht Riegel und Mauern trennen die Waffen vom Proletariat, sondern die Gewohnheit des Gehorsams, die Hypnose der Klassenherrschaft, das Gift des Nationalismus. Es genügt, diese psychologischen Mauern niederzureißen und keine steinerne Mauer wird standhalten. Es genügt, dass das Proletariat die Waffen wolle — und es wird sie finden. Aufgabe der revolutionären Partei ist es, diesen Willen zu wecken und seine Umsetzung in die Tat zu erleichtern.
Aber da rücken die Frossard und Hunderte anderer angsterfüllter Parlamentarier, Journalisten und Gewerkschaftsfunktionäre mit ihrem letzten, gewichtigsten Argument heraus: kann denn nach der tragischen Erfahrung in Österreich und Spanien ein ernster Mensch sich von physischem Kampf überhaupt Erfolg versprechen? Bedenkt doch die heutige Technik: Tanks! Gase!! Flugzeuge!!! Dies Argument beweist nur, dass einige «ernste Menschen» nicht nur nichts lernen wollen, sondern vor Angst selbst das bisschen vergessen, was sie einst lernten. Die Geschichte der letzten zwanzig Jahre ist ein besonders grelles Zeugnis dafür, dass die Grundfragen in den Beziehungen zwischen den Klassen wie zwischen den Nationen durch physische Gewalt ausgetragen werden. Die Pazifisten hofften lange, das Anwachsen der Militärtechnik werde den Krieg unmöglich machen. Die Philister plappern seit mehreren -zig Jahren, das Anwachsen der Militärtechnik mache die Revolution unmöglich. Indessen, Kriege und Revolutionen gehen ihren Gang. Niemals gab es soviel Revolutionen, darunter siegreiche, wie seit dem letzten Krieg, der die Kriegstechnik mit aller Macht spielen ließ.
In Form neuester Offenbarungen bieten Frossard & Co uralte Ladenhüter an, wobei sie einfach den Hinweis auf die Selbstlader und Maschinengewehre ersetzen durch den Hinweis auf Tanks und Bombenflugzeuge. Wir antworten: an jeder Maschine stehen Menschen, die nicht nur durch technische, sondern auch soziale und politische Bande gebunden sind. Wenn die geschichtliche Entwicklung die Gesellschaft vor eine unaufschiebbare revolutionäre Aufgabe stellt, wo Sein oder Nichtsein auf dem Spiele steht, wenn eine fortschrittliche Klasse da ist, an deren Sieg das Heil der Gesellschaft hängt — dann tut der bloße Gang des politischen Kampfes für die revolutionäre Klasse die mannigfaltigsten Möglichkeiten auf: sei es, die Kriegsmacht des Feindes lahm zu legen, sei es, sie direkt zu erobern, zumindest teilweise. Für das Philisterbewusstsein stellen diese Möglichkeiten immer «glückliche Zufälle» dar, die sich nie wiederholen werden. In Wirklichkeit eröffnen sich in unerwartetsten Fügungen, im Wesen aber durchaus gesetzmäßig, derlei Möglichkeiten in jeder großen, d. h. echten Volksrevolution. Aber der Sieg kommt dennoch nicht von selbst. Die günstigen Möglichkeiten zu nutzen, bedarf es des revolutionären Willens, eiserner Entschlossenheit zum Sieg, kühner und weitblickender Führung.
Die Humanité erkennt in Worten die Losung der «Arbeiterbewaffnung» an, aber nur, um in der Praxis darauf zu verzichten. Heute, in der augenblicklichen Periode, sei es — nach Behauptung dieser Zeitung — unstatthaft, eine Losung herzugeben. die nur «in voller revolutionärer Krise» gelte. Es ist gefährlich, die Flinte zu laden, sagt der allzu «vorsichtige» Jäger, solange das Wild sich noch nicht gezeigt hat. Doch wenn das Wild sich zeigt, wird es zum Laden zu spät sein. Glauben die Strategen von der Humanité denn, dass sie «in voller revolutionärer Krise», ohne Vorbereitung, das Proletariat mobilisieren und bewaffnen können werden? Um viel Waffen zu beschaffen, bedarf es deren schon einer gewissen Menge. Bedarf es militärischer Kaders. Bedarf es des unerschütterlichen Willens der Massen, die Waffen an sich zu reißen. Bedarf es einer unaufhörlichen Vorbereitungsarbeit, nicht bloß in Turnsälen, sondern in unlöslicher Verbindung mit dem Tageskampf der Massen. Das bedeutet: es gilt unverzüglich, die Miliz aufzubauen und gleichzeitig Propaganda zu machen für die allgemeine Bewaffnung der Arbeiter und revolutionären Bauern.
Die Ohnmacht des Parlamentarismus in den Verhältnissen der Krise des gesamten sozialen Systems des Kapitalismus ist so augenfällig, dass die Vulgärdemokraten im Arbeiterlager (Renaudel, Frossard und ihresgleichen) kein einziges Argument finden, um ihre verknöcherten Vorurteile zu verteidigen. Um so bereitwilliger haschen sie nach allen Misserfolgen und Niederlagen auf dem revolutionären Wege. Ihr Gedankengang ist folgender: zeigt der reine Parlamentarismus keinen Ausweg, so steht es mit dem bewaffneten Kampf auch nicht besser. Die Niederlagen der proletarischen Aufstände in Österreich und Spanien sind für sie jetzt selbstredend ein beliebtes Argument. In Wahrheit tritt bei der Kritik an der revolutionären Methode die theoretische und politische Bestandlosigkeit der Vulgärdemokraten noch greller zu Tage als bei ihrer Verteidigung der Methoden der faulenden bürgerlichen Demokratie.
Niemand sagt, dass die revolutionäre Methode automatisch den Sieg garantiere. Was entscheidet, ist nicht die nackte Methode, sondern ihre richtige Anwendung. eine marxistische Orientierung in den Ereignissen, eine starke Organisation, in langer Erfahrung gewonnenes Vertrauen der Massen, scharfblickende und kühne Leitung. Der Ausgang jeder einzelnen Schlacht hängt ab von dem Augenblick und den Bedingungen des Zusammentreffens. vom Kräfteverhältnis. Der Marxismus ist weit von dem Gedanken entfernt, wonach der bewaffnete Zusammenstoß die einzige revolutionäre Methode oder ein in allen und jeden Umständen gutes Allheilmittel sei. Der Marxismus kennt überhaupt keinen Fetisch, weder einen Parlaments-, noch einen Aufstandsfetisch. Alles ist gut an seinem Ort und zu seiner Zeit. Eins aber kann man von Anfang an sagen: auf parlamentarischem Wege hat das sozialistische Proletariat noch nie und nirgends die Macht erobert, oder sich ihr auch nur genähert. Die Regierungen Scheidemann, Hermann Müller, MacDonald hatten mit Sozialismus nichts gemein. Die Bourgeoisie ließ die Sozialdemokraten und Labourparteiler an die Macht nur unter der Bedingung, dass sie den Kapitalismus gegen seine Feinde verteidigen. Und sie haben diese Bedingungen pflichtbewusst erfüllt. Der rein parlamentarische, antirevolutionäre Sozialismus hat nie und nirgends zu einem sozialistischen Ministerium geführt, dafür aber mit Erfolg elende Renegaten großgezogen, die sich der Arbeiterpartei zwecks einer Ministerkarriere bedienten: die Millerand, Briand, Viviani, Laval, Paul-Boncour, Marquet.
Andererseits ist durch die geschichtliche Erfahrung erwiesen, dass die revolutionäre Methode zur Eroberung der Macht durch das Proletariat zu führen vermag: Russland 1917, Deutschland und Österreich 1918, Spanien 1930. In Russland war es die starke bolschewistische Partei, die lange Jahre hindurch die Revolution vorbereitete und die Macht fest an sich zu reißen verstand. Die reformistischen Parteien in Deutschland, Österreich und Spanien haben die Revolution weder vorbereitet noch geleitet, sondern erlitten. Voll Angst vor der Macht, die ihnen wider Willen in den Schoß gefallen war, traten sie sie freiwillig an die Bourgeoisie ab. Auf diese Weise untergruben sie das Vertrauen des Proletariats in sich selbst und mehr noch das des Kleinbürgertums in das Proletariat. Nachdem sie so der faschistischen Reaktion die Voraussetzungen ihres Wachstums geschaffen hatten, fielen sie ihr zum Opfer.
Der Bürgerkrieg, sagten wir Clausewitz folgend, ist die Fortsetzung der Politik, nur mit anderen Mitteln, Das heißt: Das Ergebnis des Bürgerkriegs hängt nur zu einem Viertel, wenn nicht Zehntel, ab vom Verlauf des Bürgerkrieges selbst, von seinen technischen Mitteln, der rein militärischen Leitung; zu drei Vierteln, wenn nicht neun Zehnteln, von der politischen Vorbereitung. Worin besteht aber die politische Verbereitung? Im revolutionären Zusammenschweißen der Massen, in ihrer Befreiung von der Sklavenhoffnung auf die Gnade, Großmut, Loyalität der «demokratischen Sklavenhalter, in der Aufzucht revolutionärer Kader, imstande, die offizielle öffentliche Meinung gering zu achten und der Bourgeoisie gegenüber auch nur den zehnten Teil jener Unerbittlichkeit aufzubringen, die die Bourgeoisie den Werktätigen gegenüber an den Tag legt. Ohne solche Stählung wird der Bürgerkrieg, wenn die Verhältnisse ihn aufzwingen — und sie werden ihn auf jeden Fall aufzwingen — unter den für das Proletariat ungünstigsten Bedingungen verlaufen, von vielen Zufälligkeiten abhängen. wobei sogar im Falle eines militärischen Sieges die Macht den Händen des Proletariats wieder entgleiten kann. Wer nicht vorhersieht, dass der Klassenkampf unvermeidlich zum bewaffneten Zusammenstoß führen muss, der ist blind. Aber nicht weniger blind ist auch der, der hinter dem bewaffneten Zusammenstoß und seinem Ausgang nicht die ganze vorangehende Politik der kämpfenden Klassen sieht,
In Österreich erlitt eine Niederlage nicht die Methode des Aufstandes, sondern der Austromarxismus, in Spanien der prinzipienlose parlamentarische Reformismus. 1918 lieferte die österreichische Sozialdemokratie hinter dem Rücken des Proletariats die von ihm errungene Macht der Bourgeoisie aus. 1927 sagte sie sich nicht nur feig vom proletarischen Aufstand, der alle Chancen hatte zu siegen, los, sondern ließ den Arbeiterschutzbund gegen die aufständischen Massen marschieren. Damit hat sie Dollfuß den Sieg errmöglicht. Bauer & Co sagten: «wir wollen eine friedliche Entwicklung. wenn aber die Feinde den Kopf verlieren und uns angreifen. dann… Diese Formel sieht sehr gescheit und «realistisch» aus. Bedauerlicherweise baut auch Marceau Pivert seine Erwägungen auf dieser austromarxistischen Schablone auf: «Wenn … dann». In Wahrheit ist diese Formel eine Falle für das Proletariat: sie beruhigt es, lullt es ein und betrügt es. «Wenn», das bedeutet: die Formen des Kampfes hängen von dem guten Willen der Bourgeoisie ab, und nicht von der absoluten Unversöhnlichkeit der Klasseninteressen. «Wenn», das bedeutet: wenn wir gescheit, vorsichtig, nachgiebig sind, dann wird auch die Bourgeoisie loyal sein, und alles wird friedlich abgehen. Während sie dem Trugbild «wenn» nachjagten, wichen Otto Bauer und die anderen Führer der österreichischen Sozialdemokratie untätig vor der Reaktion zurück, gaben sie ihr eine Position nach der anderen preis, demoralisierten sie die Massen, wichen sie noch und noch ein Stück zurück, bis sie endgültig in der Sackgasse saßen; hier, auf der allerletzten Schanze, nahmen sie den Kampf auf und … verloren ihn.
In Spanien nahmen die Dinge einen anderen Lauf, doch die Ursachen der Niederlage sind im Grunde dieselben. Die sozialistische Partei teilte ähnlich wie die russischen Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Macht mit der republikanischen Bourgeoisie, um die Arbeiter und Bauern zu hindern, die Revolution zu Ende zu führen. Zwei Jahre lang an der Macht, waren die Sozialisten der Bourgeoisie behilflich, sich die Massen mit Hilfe einiger Brocken von Agrar-, Sozial- und Nationalreformen vom Halse zu halten. Gegen die revolutionärsten Schichten des Volkes setzten die Sozialisten die Unterdrückungsgewalt ein. Das Resultat war ein doppeltes. Der Anarchosyndikalismus, der bei richtiger Politik der Arbeiterpartei im Feuer der Revolution zerschmolzen wäre wie Wachs, erstarkte vielmehr und sammelte die kampfbereitesten Schichten des Proletariats um sich. Am anderen Ende nutzte die sozial-katholische Demagogie die Unzufriedenheit der Massen mit der bürgerlich-sozialistischen Regierung geschickt aus. Als die sozialistische Partei genug kompromittiert war, stieß die Bourgeoisie sie von ihrer Machtstellung herunter und ging zum Angriff auf der ganzen Linie über. Die sozialistische Partei hatte nunmehr die Verteidigung unter den allerungünstigsten von ihr selbst mit ihrer vorhergehenden Politik. geschaffenen Umständen aufzunehmen, Die Bourgeoisie besaß bereits eine Massenstütze zur Rechten. Die anarchosyndikalistischen Führer, die während der Revolution alle Fehler begangen, die in diesen berufsmäßigen Wirrschädeln nur irgend Platz fanden, lehnten es ab, einen von den verräterischen «Politikern» geführten Aufstand zu unterstützen. Die Bewegung bekam keinen allgemeinen, sondern nur sporadischen Charakter. Die Regierung richtete ihre Schläge auf die einzelnen Felder des Schachbrettes. So endete der von der Reaktion aufgezwungene Bürgerkrieg mit der Niederlage des Proletariats.
Aus der spanischen Erfahrung ist unschwer eine Schlussfolgerung gegen die sozialistische Beteiligung an einer bürgerlichen Regierung zu ziehen. Dieser Schluss ist an und für sich unanfechtbar, aber ganz ungenügend. Der austromarxistische Schein«radikalismus» ist keineswegs besser als der spanische Ministerialismus. Der Unterschied zwischen ihnen ist nur ein technischer, kein politischer. Beide hofften, die Bourgeoisie werde ihnen «Loyalität» mit «Loyalität» entgelten. Und beide führten das Proletariat in die Katastrophe. In Spanien wie in Österreich erlitten eine Niederlage nicht die Methoden der Revolution, sondern die opportunistischen Methoden bei einer revolutionären Lage. Das ist nicht ein und dasselbe!
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Wir wollen uns hier nicht bei der Politik der Komintern in Österreich und Spanien aufhalten, verweisen vielmehr die Leser auf die Sammlung der «Vérité» der vergangenen Jahre und auf eine Reihe von uns herausgegebener Broschüren. In einer ungemein günstigen politischen Lage erwiesen sich die österreichische und die spanische Kompartei — bebürdet mit Theorien wie der der «dritten Periode», des «Sozialfaschismus» usw. — zu völliger Isolierung verdammt. Sie kompromittierten die Methoden der Revolution durch «Moskaus» Autorität und versperrten gleichzeitig den Weg der wahrhaft marxistischen, wahrhaft bolschewistischen Politik. Eine Grundeigenschaft der Revolution ist die, dass sie alle Doktrinen und Methoden einer schnellen und erbarmungslosen Nachprüfung unterzieht. Die Strafe folgt der Missetat fast auf dem Fuße. Die Verantwortung der Komintern für die Niederlagen des Proletariats in Deutschland, Österreich, Spanien ist unermesslich. Es ist nicht genug, (in Worten) «revolutionäre» Politik zu machen. Nötig ist eine richtige Politik. Ein anderes Geheimnis des Sieges hat noch niemand entdeckt.
Wir sagten bereits: Die Einheitsfront der sozialistischen und kommunistischen Partei birgt grandiose Möglichkeiten. Wenn sie nur ernstlich will, ist sie morgen Herr über Frankreich. Sie muss es aber eben wollen.
Der Umstand, dass Jouhaux und überhaupt die CGT-Bürokratie außerhalb der Einheitsfront stehen und «Selbständigkeit» bewahren, scheint unseren Worten zu widersprechen. Doch nur auf den ersten Blick. In Epochen großer Aufgaben und großer Gefahren, wo die Massen aufgerüttelt werden, fallen die Scheidewände zwischen den politischen und den Gewerkschaftsorganisationen des Proletariats. Die Arbeiter wollen wissen, wie sich vor Arbeitslosigkeit und Faschismus retten, und scheren sich herzlich wenig um Jouhaux‘ «Unabhängigkeit» von der proletarischen Politik (von der bürgerlichen Politik ist Jouhaux — ach — nur allzu abhängig). Wenn die proletarische Vorhut, verkörpert in der Einheitsfront, den rechten Weg des Kampfes vorzeichnet, dann werden die von der Gewerkschaftsbürokratie aufgerichteten Grenzpfähle von dem reißenden proletarischen Strom davongeschwemmt werden. Den Schlüssel zur Lage hält jetzt die Einheitsfront, Macht sie von diesem Schlüssel keinen Gebrauch, so wird sie eine ebenso erbärmliche Rolle spielen wie es in der russischen Revolution die Einheitsfront der Menschewiki mit den Sozialrevolutionären getan haben würde, wenn … ja wenn die Bolschewiki sie dabei nicht gestört hätten.
Wir gehen auf die sozialistische und die kommunistische Partei einzeln nicht ein, weil sie beide politisch auf ihre Selbständigkeit zugunsten der Einheitsfront verzichtet haben. In dem Augenblick, wo die beiden Arbeiterparteien, die in der Vergangenheit in heftigem Konkurrenzkampf miteinander lagen, darauf verzichteten, sich gegenseitig zu kritisieren und einander die Anhänger abspenstig zu machen, haben sie als besondere Parteien zu existieren aufgehört. Der Vorbehalt in Bezug auf die noch bestehen bleibenden «prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten» ändert daran nichts. Treten die prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten in einem so verantwortungsvollen Moment wie dem jetzigen nicht offen und aktiv in Erscheinung, so hören sie damit auf, politisch zu existieren; sie gleichen einem Schatz auf dem Grunde des Ozeans. Ob die Zusammenarbeit mit der Verschmelzung enden wird oder nicht, wollen wir nicht im voraus erraten. In der gegenwärtigen Periode aber, die für Frankreichs Schicksal von ausschlaggebender Bedeutung ist, handelt die Einheitsfront wie eine unvollendete, auf föderativem Prinzip aufgebaute Partei.
Was will die Einheitsfront? Bis jetzt hat sie es den Massen noch nicht gesagt. Kampf gegen den Faschismus? Aber noch hat die Einheitsfront nicht einmal verlauten lassen, wie sie den Faschismus zu bekämpfen gedenkt. Ein bloßer Verteidigungsblock gegen den Faschismus wäre dafür vielleicht ausreichend, falIs in allem übrigen beide Parteien volle Selbständigkeit wahrten. Aber nein, wir haben mit einer Einheitsfront zu tun, die beinahe die gesamte öffentliche Tätigkeit der beiden Parteien umfasst und ihren Kampf untereinander um die Mehrheit des Proletariats ausschließt. Aus dieser Lage heißt es alle Konsequenzen ziehen. Die erste und wichtigste ist: der Kampf um die Macht. Das Ziel der Einheitsfront kann nur eine Einheitsfrontregierung sein, d.h. eine Regierung aus Sozialisten und Kommunisten, ein Ministerium Blum-Cachin. Das muss offen gesagt werden. Wenn die Einheitsfront sich selbst ernst nimmt — und nur unter dieser Bedingung werden sie die Volksmassen ernst nehmen —, so kommt sie um die Losung der Machtergreifung nicht herum. Mit welchen Mitteln? Mit allen Mitteln, die zum Ziele führen. Die Einheitsfront verzichtet nicht auf den parlamentarischen Kampf. Aber sie benutzt das Parlament vor allem dazu, seine Ohnmacht zu enthüllen und dem Volke klar zu machen, dass die Basis der heutigen Regierung außerhalb des Parlaments liegt, und sie daher nur durch eine mächtige Massenbewegung gestürzt werden kann. Kampf um die Macht, das heißt: alle Möglichkeiten wahrnehmen, die das halbparlamentarisch-bonapartistische Regime bietet, um es im revolutionären Sturmangriff zu stürzen und den bürgerlichen Staat durch den Arbeiterstaat zu ersetzen.
Die letzten Kantonalwahlen brachten einen Zuwachs der sozialistischen und besonders der kommunistischen Stimmen. Als solche entscheidet diese Tatsache gar nichts. Die deutsche Kompartei hatte am Vorabend ihres Zusammenbruchs einen noch ungleich stürmischeren Stimmenzuwachs zu verzeichnen. Neue breite Schichten Unterdrückter werden durch die ganze Lage nach links getrieben, sogar unabhängig von der Politik der extremen Parteien. Der Stimmenzuwachs der französischen kommunistischen Partei ist der größere, weil diese trotz ihrer heutigen konservativen Politik die «extreme Linke» bleibt. Die Massen tun damit ihren Willen kund, die Arbeiterparteien weiter nach links zu schieben, denn die Massen sind unermesslich linker als ihre Parteien. Davon zeugt auch die revolutionäre Stimmung der sozialistischen Jugend. Man vergesse nicht, dass die Jugend ein empfindliches Barometer ihrer Klasse und ihrer Vorhut ist! Tritt die Einheitsfront nicht aus ihrer Untätigkeit heraus, oder noch schlimmer, beginnt sie einen unwürdigen Roman mit den Radikalen, so werden «links» von der Einheitsfront Anarchisten, Anarchosyndikalisten und andere derartige Gruppierungen des politischen Zerfalls zu erstarken beginnen. Gleichzeitig wird die Indifferenz, die Vorläuferin der Katastrophe. zunehmen. Wenn hingegen die Einheitsfront, sich Rücken und Flanken gegen die faschistischen Banditen deckend, einen breiten politischen Angriff unter der Losung der Machteroberung eröffnet, so wird sie einen solchen machtvollen Widerhall finden, dass die optimistischsten Erwartungen übertroffen werden. Das nicht verstehen können nur hirnlose Schwätzer, für die die großen Massenbewegungen ewig ein Buch mit sieben Siegeln bleiben werden.
Der Kampf um die Macht muss von dem Grundgedanken ausgehen, dass, ist ein Widerstand gegen weitere Verschlechterung in der Lage der Massen auf dem Boden des Kapitalismus noch möglich, so doch irgendeine wirkliche Besserung ihrer Lage ohne revolutionären Eingriff in das kapitalistische Eigentumsrecht ausgeschlossen ist. Die politische Kampagne der Einheitsfront muss auf einem gutausgearbeiteten Übergangsprogramm fußen, d.h. einem System von Maßnahmen, die — unter einer Arbeiter- und Bauernregierung — den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus sichern sollen.*
Aber das Programm ist nicht zur Beruhigung des Gewissens da, sondern zur revolutionären Tat. Welcher Wert käme einem Programm zu, wenn es toter Buchstabe bleibt? Die belgische Arbeiterpartei nahm beispielsweise den großsprecherischen Plan De Man an, mit allen erdenklichen «Sozialisierungen»; aber was für einen Sinn hat es, wenn sie zu seiner Verwirklichung nicht den kleinen Finger rühren will? Die Programme des Faschismus sind phantastisch, verlogen, demagogisch. Aber der Faschismus führt einen zähen Kampf um die Macht. Der Sozialismus kann das wissenschaftlichste Programm aufstellen, sein Wert wird aber gleich null sein, wenn die Vorhut des Proletariats nicht einen verwegenen Kampf um die Eroberung des Staates führt. Die soziale Krise ist in ihrem politischen Ausdruck die Krise der Macht. Der alte Herr der Gesellschaft ist pleite. Ein neuer Herr muss kommen. Wenn nicht das revolutionäre Proletariat die Macht ergreift, so tut es unweigerlich der Faschismus!
Ein Programm mit Übergangsforderungen für die «Mittelklassen» kann natürlich große Bedeutung erlangen, wenn es einerseits den wirklichen Nöten der Mittelklassen gerecht wird und andererseits den Erfordernissen der Bewegung zum Sozialismus entspricht** Aber, noch einmal, der Schwerpunkt liegt jetzt nicht in einem speziellen Programm. Programme haben die «Mittelklassen» viele gesehen. Sie brauchen die Gewissheit, dass mit dem Programm auch Ernst gemacht wird. In dem Augenblick, wo. sich der Bauer sagen wird; «diesmal gibt, scheint‘s, die Arbeiterpartei nicht nach», wird die Sache des Sozialismus gewonnen sein. Dazu aber ist notwendig, mit der Tat die unerschütterliche Bereitschaft zu zeigen, alle Hindernisse aus unserem Wege zu räumen.
Kampfmittel zu erfinden, ist kein Bedarf; die gesamte Geschichte der Weltarbeiterklasse liefert sie. Konzentrierte, auf einen Punkt hämmernde Kampagne der Arbeiterpresse: wahrhaft sozialistische Reden von der Parlamentstribüne herab, nicht als zahme Abgeordnete, sondern als Führer des Volkes; Ausnützung aller Wahlkampagnen zu revolutionären Zwecken; ununterbrochene Massenversammlungen, wohin die Massen nicht bloß kommen. um Redner anzuhören, sondern sich Tageslosungen und -anweisungen zu holen; Schaffung und Ausbau der Arbeitermiliz; wohlorganisierte Demonstrationen, welche die Straßen von den reaktionären Banden säubern: Proteststreiks: öffentliche Kampagne für die Vereinigung und Erweiterung des Rahmens der Gewerkschaften im Zeichen des entschiedenen Klassenkampfes; hartnäckige und gut berechnete Aktionen zur Gewinnung der Armee für die Sache des Volkes: immer größere Streiks; immer machtvollere Manifestationen, Generalstreik aller Werktätigen von Stadt und Land, Generalangriff auf die bonapartistische Staatsgewalt im Namen der Arbeiter- und Bauerngewalt.
Noch ist Zeit zur Vorbereitung des Sieges. Der Faschismus ist noch keine Massenbewegung. Der unabwendbare Verfall des Radikalismus bedeutet jedoch Unterhöhlung der Basis des Bonapartismus, Wachsen der extremen Lager und Herannahen der Lösung. Es handelt sich nicht um Jahre, sondern um Monate. Diese Frist steht natürlich nirgends geschrieben. Sie hängt ab vom Kampf der lebendigen Kräfte, in erster Linie von der Politik des Proletariats und seiner Einheitsfront. Die potenziellen Kräfte der Revolution übersteigen die des Faschismus und überhaupt der vereinigten Reaktion um das Vielfache. Die Skeptiker, die die Sache für verloren halten, heißt es unbarmherzig aus den Arbeiterreihen jagen. Die unteren Schichten erwidern leidenschaftlich jedes kühne Wort, jede wirklich revolutionäre Losung. Die unteren Schichten wollen den Kampf.
Nicht das Geklügel der Parlamentarier und Journalisten, sondern der rechtmäßige und schöpferische Hass der Bedrückten gegen die Bedrücker ist heute der einzige fortschrittliche Faktor der Geschichte. Es heißt, das Antlitz den Massen, ihren tiefsten Schichten zuzukehren. Es heißt, an ihre Leidenschaften und an ihren Verstand zu appellieren. Jene heuchlerische «Vorsicht», die nur ein anderer Name ist für Feigheit, und die in großen geschichtlichen Umwälzungen mit Verrat gleichbedeutend ist, heißt es über Bord werfen. Die Einheitsfront muss Dantons Ausspruch zu ihrem Leitsatz machen: «Kühnheit, Kühnheit. und nochmals Kühnheit».
Richtig die Lage verstehen und aus ihr alle praktischen Konsequenzen ziehen —kühn, furchtlos, bis zu Ende — das heißt, den Sieg des Sozialismus sichern.
[aus: Leo Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale: Übergangsprogramm, Schriften zum Programm, zur Geschichte der Vierten Internationale. Essen o.J.]
An alle Arbeiter Frankreichs!
Angeführt von der Großbourgeoisie geht Frankreich im Zerfallsprozess der kapitalistischen Welt unter. In den herrschenden Kreisen der Gesellschaft, in allen Institutionen des Regimes häufen sich Skandale, breitet sich der korrumpierende Einfluss der Reichen aus.
Wachsende Arbeitslosigkeit bei den Arbeitern; Ruin bei den kleinen Bauern; für alle Ausgebeuteten wächst das Elend.
Der sterbende Kapitalismus ist bankrott. Und die herrschende Klasse hat nur einen einzigen Plan, um zu versuchen, aus dem historischen Bankrott herauszukommen: noch mehr Elend für die arbeitenden Massen! Unterdrückung aller Reformen, sogar der läppischsten! Unterdrückung des demokratischen Regimes!
In der ganzen Welt wird die eiserne Ferse des Faschismus die letzte Zuflucht des verzweifelten Kapitalismus.
Der Imperialismus, dem durch die Russische Oktoberrevolution 1917 eine Todesstoß versetzt worden war, konnte seine Herrschaft über die Gesellschaft aufgrund der Niederlage der proletarischen Parteien in den zwei Perioden der Nachkriegsepoche: dem allgemeinen Verrat der Sozialdemokratie und der diesen Niederlagen folgenden Entartung der Kommunistischen Internationale aufrechterhalten. Die Niederlage der Deutschen Revolution 1923, der chinesischen Revolution 1927 und des deutschen und österreichischen Proletariats 1933 und ‘34 kennzeichnen die entscheidenden Momente, in denen es dem Kapitalismus gelang, sich zu stabilisieren.
Jedoch dienten diese widerruflichen vorläufigen Siege, (die erreicht wurden, ohne dass sich die frühere herrschende Klasse in Sowjetrussland wieder etablieren konnte) nur dazu, die allgemeine Krise zu verschärfen. Gewaltiger und anarchischer als zuvor stößt der Druck der Monopole auf dem Weltmarkt an die nationalen Grenze und das Prinzip des Privateigentums.
Indem sie aus den Niederlagen des Proletariats auf seinem revolutionären Marsch zum Sozialismus Nutzen zieht, gebraucht die Weltbourgeoisie ihre letzte Zuflucht, den Faschismus, mit dem sie verzweifelte Anstrengungen macht, die organisierte Arbeiterklasse von ihrem Weg zum Sozialismus abzubringen.
Das ist die internationale Situation, die Frankreichs Bourgeoisie zum Faschismus drängt.
Aber Faschismus allein ist noch nicht das letzte Wort des zerfallenden Kapitalismus. Wenn er seinen inneren Feind bekämpft hat, muss jeder Imperialismus nach außen expandieren. Das ist die Quelle eines neuen Weltkriegs. 50 Millionen Menschen kamen im grausamen Leid des letzten Krieges und seiner Folgen um. Im nächsten Krieg werden Arbeiter in der ganzen Welt zu Hunderten von Millionen massakriert werden. Frankreich, dessen Bevölkerung stagniert, wird dem weniger als jedes andere Land entgehen.
Die Arbeiter müssen sich diesen kriminellen Plänen der Bourgeoisie mit aller Macht widersetzen!
Bei dem Versuch, sich aus dem Chaos zu erheben, in das sie das Land gestürzt hat, muss die französische Bourgeoisie zuerst das Geldproblem lösen. Eine Fraktion will das durch Inflation, d.h. Ausgabe von Papiergeld, Entwertung der Löhne, Anhebung der Lebenshaltungskosten, Verarmung der Kleinbourgeoisie, erreichen; eine andere durch Deflation, d.h. Einschränkung auf dem Rücken der Arbeiter (Senkung der Gehälter und Löhne), Ausdehnung der Arbeitslosigkeit, Ruin der kleinen bäuerlichen Produzenten und der Kleinbourgeoisie in den Städten.
Beide alternativen Mittel würden das Elend für die Ausgebeuteten vermehren. Zwischen diesen beiden kapitalistischen Methoden zu wählen, hieße, zwischen zwei Instrumenten zu wählen, mit denen die Ausbeuter sich darauf vorbereiten, die Kehle der Arbeiter durchzuschneiden.
Brutale Deflation ist der erste Schritt im Plan der französischen Bourgeoisie. Die Arbeiter werden der Arbeitslosenunterstützung beraubt; die Sozialversicherung wird in Frage gestellt; die Löhne werden herabgesetzt. Regierungsangestellte sind bereits davon betroffen, die Kleinbauern sind die nächsten.
Dies wird die Bourgeoisie nicht daran hindern, morgen zur anderen Methode der Inflation überzugehen, wenn es ratsam ist. Hitler-Deutschland ist ein Beispiel dafür. Die Ausgebeuteten müssen diesem Plan der Bourgeoisie mit aller Kraft entgegentreten!
Dem Programm der Deflation, dem Abbau ihrer Existenzbedingungen, müssen die Arbeiter ihr eigenes Programm der grundlegenden Umwandlung der sozialen Verhältnisse entgegensetzen durch vollständige «Deflation» aller Privilegien und Profite der Banden der Oustrics und Stawiskys, die das Land ausbeuten! Das ist der einzige Weg zur Rettung!
Um eine für die arbeitenden Massen günstige Lösung zu finden, müssen wir unverzüglich und erbarmungslos die Bilanz des kapitalistischen Bankrotts ziehen, eine Inventur der Einnahmen und Ausgaben aller Klassen, aller sozialen Gruppen, durchführen.
Für die Proletarier, die Ausgebeuteten aller Kategorien, ist das nicht schwierig.
Die Löhne der Arbeiter sind in den kapitalistischen Rechnungsbüchern eingetragen.
Was Ausgaben angeht, so registrieren kleine Geschäftsleute sie Woche für Woche.
Die Einnahmen und Ausgaben der Bauern, Handwerker, kleinen Geschäftsleute, Kleinfunktionäre sind für niemanden eine Geheimnis. Die raubgierigen Banken schätzen die Wachstumsrate des Ruins der Bauern durch Hypotheken ganz präzise! Aber die Kapitalisten, die großen Ausbeuter, hüten eifersüchtig ihre Geheimnisse. Die Trusts, die Monopole, die großen Gesellschaften, die die ganze Produktion des Landes durch direkten Besitz von 9/10 des Landes beherrschen, legen niemals Rechenschaft über ihren Diebstahl ab.
Diese ausbeutende Mafia umgibt sich mit dem heiligen Schleier des Geschäftsgeheimnisses.
Geschäftsgeheimnisse sind nur eine Vorrichtung, um das Leben der Armen zu kontrollieren, indem sie alle Bank-, Industrie- und Handelsgeschäfte der Reichen, der Stawiskys und de Wendels, verschleiern, die sich unter dem Mantel der «allgemeinen Wohlfahrt» und «nationalen Ökonomie» verstecken.
Nieder mit den Geschäftsgeheimnissen: Diejenigen, die heute Opfer verlangen, sollen erst mal ihre Rechnungsbücher vorzeigen. So wird ihre Unehrlichkeit enthüllt werden!
Die bürgerliche Demokratie gewährte den arbeitenden Massen mit der Wahlurne einen Schein politischer Kontrolle über ihre Führer. So lange ihr das keinen Schaden zufügte, ließ die Bourgeoisie eine solche Demokratie zu. Aber sie erlaubte niemals auch nur den Schatten einer Kontrolle über ihre Wirtschaftsführung, über die Grundlage ihrer Ausbeutung, die in Anarchie, Bankrott und Armut der Massen endet.
Der parasitäre Aktionär hat das Recht zu wissen, wie das Geschäft funktioniert, das ihn bereichert. Der Arbeiter, der ausgebeutete Produzent, hat nur zu gehorchen und seinen Mund zu halten; er ist nichts als ein Teil der Maschinerie.
Aber die Arbeiter wollen alle Teile der Maschine kennen. Sie allein können ihr Funktionieren beurteilen. Errichten wir über das kapitalistische beherrschte Management die unerbittliche Kontrolle des arbeitenden Volkes!
Fabrikkomitees, Bauernkomitees, Komitees der kleinen Beamten und der Angestellten könnten sehr leicht, mit der Hilfe aufrichtiger Techniker, Ingenieure und Buchhalter — die gegenüber dem arbeitenden Volk loyal sind —‚ das Geschäftsgeheimnis der Ausbeuter beseitigen. So müssen wir die öffentliche Kontrolle über Banken, Industrie und Handel errichten.
In dieser allgemeinen Perspektive kämpft die Kommunistische Liga für folgende Maßnahmen zu Gunsten der Arbeiter:
1) 40-Stunden-Woche, Lohnerhöhungen.
Die Arbeiterkontrolle wird beweisen, dass der Stand der Produktivkräfte die Verkürzung des Arbeitstages ermöglicht. Lohnerhöhungen auf Kosten der Magnaten des «Comité des Forges», des «Comité des Houilleres», der Finalys, der Schneiders und Stawiskys und zum materiellen und moralischen Vorteil des arbeitenden Volkes.
2) Wahre soziale Sicherheit und als erstes Arbeitslosenversicherung. Mindestens einen Monat Urlaub jährlich.
Rente ab dem 50. Lebensjahr, von der man leben kann.
3) Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Abschaffung der Über-Ausbeutung der Frauen, jungen Leute, Ausländer und Arbeiter aus den Kolonien.
4) Gleicher Lohn und gleiche Rechte für die arbeitenden Frauen wie für die arbeitenden Männer. Mutterschutz mit zusätzlicher Freistellung von der Arbeit.
5) Die gleichen Löhne für die Jugendlichen wie für die Erwachsenen. Ausdehnung von Studium und Lehre auf Kosten der Allgemeinheit. Besondere hygienische Maßnahmen.
6) Verhinderung jeder Sondergesetzgebung für ausländische und koloniale Arbeiter.
Gegenwärtig sind es die Banken, die die ganze Wirtschaft des Landes leiten und tatsächlich kontrollieren. Aber wenn sich das arbeitende Volk der Banken bemächtigt und mit diesem Mittel anfängt, Industrie, Transport und Handel zu führen, könnte der allgemeine Lebensstandard sofort angehoben werden.
Die Nationalisierung der Banken, großen Industrie, Transport- und Versicherungsgesellschaften ist die unabdingbare Voraussetzung für eine Wirtschaft, die auf das Wohlergehen der großen arbeitenden Massen, des ganzen Volkes gerichtet ist.
Diese Nationalisierung darf keine Entschädigung für die großen Kapitalisten zulassen, die sich selbst durch Ausbluten der Proletarier Jahr für Jahr bereichert haben und die nur Elend und wirtschaftliche Anarchie anbieten konnten.
Die Nationalisierung der großen Produktions- und Austauschmittel bedeutet auf keinen Fall die Vernichtung der kleinen Bauern, Handels- und Handwerksunternehmen. Im Gegenteil, es sind die großen privilegierten Monopole, die die kleinen Unternehmer erdrosseln.
Den kleinen Unternehmern muss die Freiheit gelassen werden, und dann könnten die Arbeiter, nachdem sie die großen Unternehmen nationalisiert haben, ihnen zur Hilfe kommen. Eine geplante Wirtschaft, die auf dem ungeheuren Reichtum, den die Banken, Trusts, Aktiengesellschaften usw. angesammelt haben, fußt, würde die Erstellung eines Plans der Produktion und Verteilung erlauben, der den Kleinproduzenten direkte Aufträge des Staates, Rohmaterial und Kredite unter ganz günstigen Bedingungen anbietet. So würden die Bauern landwirtschaftliche Maschinen und Dünger zu niedrigen Preisen erhalten.
Nationalisierung durch die Arbeiter bedeutet Zerstörung der großen Privatmonopole, Unterstützung der Kleinunternehmen, Neuverteilung von Produkten zum Wohl der großen Masse der Produzenten.
Der gesamte Außenhandel muss durch die Hände des Staates gehen. So würde der Handel nicht länger von Privatmonopolen kontrolliert, die Importe und Exporte ohne Rücksicht auf die Interessen der Verbraucher regeln. Den großen Massen entstünden durch diese Einmischung zwischen nationaler Produktion und Weltmarkt unschätzbare Vorteile. So würde der Staat, unter der Herrschaft der Arbeiter, den gesamten Außenhandel zum Wohle der Gemeinschaft wirklich kontrollieren.
Die Bauernschaft macht fast die Hälfte der französischen Bevölkerung aus. Der proletarische Staat muss in gleicher Weise von den ausgebeuteten Bauern getragen werden wie von den Arbeitern in Stadt und Land. Unser Programm beantwortet die Bedürfnisse der großen ländlichen Massen genauso wie jene der Arbeiterklasse.
Wir bestätigen, dass die Kollektivierung der Landwirtschaft wie der Industrie, als höhere Form des Fortschritts, unser Endziel ist. Aber das Proletariat kann den Bauern dieses Ziel nicht aufzwingen. Es kann nur die Entwicklung auf dieses Ziel hin erleichtern. Das Proletariat kann nur Vorschläge in dieser Richtung machen, die dann durch die gemeinsame Erfahrung der beiden in gleicher Weise von den kapitalistischen Ausbeutern unterdrückten Klassen vervollständigt, berichtigt, und verbreitert werden. Als erstes müssen wir den Bauern eine reale Chance geben, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen, über den Gebrauch ihrer Kräfte und ihres Besitzes zu entscheiden, ihre bevorzugten Methoden der Landwirtschaft zum Ausdruck zu bringen, aufgrund ihres eigenen Urteils den Augenblick zu wählen, in dem sie von der privaten zur kollektiven Wirtschaft übergehen.
Die ländliche Bevölkerung ist bei weitem nicht homogen. Die herrschende Klasse und die ihr unterwürfigen Professoren verheimlichen sorgfältig die Tatsache, dass eine kleine Minderheit einen großen Teil des Landbesitzes monopolisiert hat und in ihren Händen die besten landwirtschaftlichen Produktionsmittel (Maschinen, Traktoren, Vieh usw.), ganz abgesehen von den Kreditquellen, konzentriert hat.
Wir schlagen einen Kampf für die Verwirklichung folgender Maßnahmen vor:
1) Gleiche Rechte für die Landarbeiter wie für jene in den Städten. Allgemeine Gesetze in Bezug auf die Arbeitsverträge, den Arbeitstag und den wöchentlichen Ruhetag, soziale Sicherheit (einschließlich Arbeitslosenversicherung). Die Arbeitsgesetzgebung muss in ihrer Gesamtheit auf die Landarbeiter angewandt werden.
2) Enteignung der großen Besitztümer, Güter und Modellfarmen zu Gunsten kollektiver und kooperativer Formen und Kleinbauernlandwirtschaft.
3) Abschaffung der Landpächter-Sklaverei. Überprüfung der laufenden Pachten durch Komitees bäuerlicher Arbeiter, gewählt von den Bezirken.
4) Revision der Pfandgüter. Moratorium. Stoppt alle Prozesse und Verfallsdaten.
Die großen Einrichtungen des Staates (Postämter, Zoll, Erziehungswesen usw.), die mehrere Millionen Arbeiter ausbeuten, arbeiten zum Wohle des Kapitalismus. Die jüngsten Skandale haben die Korruption gezeigt, die unter den höheren Funktionären herrscht.
Die kleinen Regierungsangestellten werden von den korrupten und käuflichen Beamten ausgebeutet, die ihr Amt dazu benutzen, dass die besitzende Klasse die Arbeiter noch mehr ausquetschen kann.
Wir müssen reinen Tisch machen. In Zusammenarbeit mit allen Ausgebeuteten werden die Komitees und Zusammenschlüsse der kleinen Regierungsangestellten die notwendigen Veränderungen vornehmen, um wahre soziale Dienstleistungen einzurichten, die durch und für die arbeitenden Massen funktionieren.
Die Regierung nötigt den Armen, den Ausgebeuteten, dem Volk aller Stände, Billionen Francs ab, um ihre Polizei, ihre Mobilgarden und ihre Armee auszubauen und zu bewaffnen — mit einem Wort, nicht nur zur Vorbereitung des Bürgerkrieges, sondern auch eines imperialistischen Kriegs. Junge Arbeiter, die zu Hunderten und Tausenden für die bewaffnete Streitkräfte zu Land und See mobilisiert sind, sind aller Rechte beraubt.
Wir fordern die Entlassung aller reaktionären und faschistischen Offiziere und Unteroffiziere, Instrumente des Staatsstreichs. Auf der anderen Seite müssen die Arbeiter unter Waffen all ihre politischen Rechte zurückerhalten und sollten in Soldatenkomitees vertreten sein, die in besonderen Versammlungen gewählt werden. So werden sie mit der großen Masse der Arbeiter eng verbunden bleiben und werden ihre Kräfte mit dem gegen Reaktion und Faschismus organisierten und bewaffneten Volk vereinen.
Alle Polizei-Vollstrecker des kapitalistischen Willens, des bürgerlichen Staates und ihre Cliquen korrupter Politiker müssen entlassen werden. Ausübung polizeilicher Pflichten durch die Arbeitermiliz. Abschaffung der Klassengerichtshöfe, Wahl der Richter, Ausdehnung der Schwurgerichte auf alle Verbrechen und Vergehen; das Volk selbst wird Recht sprechen.
Der räuberische Vertrag von Versailles ist nicht nur für die Arbeiter ganz Europas eine Quelle grausamer Übel, sondern auch für jene des «siegreichen» Landes Frankreich. Er ermöglichte es der Bourgeoisie, Elsass-Lothringen auch nur ohne eine Volksabstimmung, wie sie es für das Saargebiet forderte, zu annektieren. Die Verteidigung der internationalen Beziehungen, wie sie aus diesem Vertrag hervorgehen, führt heute zum Krieg.
Die französische Bourgeoisie unterdrückt nicht nur indirekt einen ganzen Teil Europas, sondern verwüstet und vernichtet riesige Kolonien. Für alle Völker, die von den großen französischen Kapitalisten — von den de Wendels und Michelins, den Pariser Banken und anderen — unterdrückt werden, für das Volk von Elsass- Lothringen genauso wie für das Volk von Indochina, Marokko und Madagaskar, fordern wir das Recht auf Selbstbestimmung bis hin und einschließlich des Rechts auf Abtrennung, sofern sie darauf bestehen.
Die arbeitenden Massen in diesem Land haben kein Interesse daran, die französischen Banken bei der Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft über andere Völker zu unterstützen. Im Gegenteil, indem sie Verbündete und Helfer für ihren eigenen Kampf gewinnen, unterstützen die Arbeiter den Befreiungskampf der Völker.
Um die Gesellschaft zu verändern und aus dem Chaos herauszuholen, müssen wir sie als erstes vor dem Krieg retten, in den sie die Bourgeoisie erneut stürzen würde.
Gegen die Bewegungen des deutschen Faschismus haben die französischen Kapitalisten eine Blockpolitik angefangen. Diese bezieht sich auf Staaten, die dem verbrecherischen Vertrag von Versailles treu ergeben sind. Frankreich benutzt den Völkerbund, die Versammlung der raubgierigen Bourgeoisie. um seine Handlungen mit dem Schleier des Pazifismus zu bedecken, während es die Last der vernichtenden Kosten des Rüstungswettlaufs auf das arbeitende Volk ablädt.
Und die «Defensiv»-Lüge von der «Sicherheit» ermöglicht es chauvinistischem Wahnsinn, sein Werk zu verrichten und das Land in die ungeheuren Massaker von morgen zu treiben.
Die Proletarier, Bauern, Händler, Handwerker und Regierungsangestellten können diese Zukunft nur dadurch abwenden, dass sie überall ihre Kontrollorgane errichten, die Geheimdiplomatie demaskieren, sich mit allen Mitteln den Kriegsvorbereitungen widersetzen, dass sie die Herrschaft den Imperialisten aus den Händen reißen.
Nur der Sieg der revolutionären Arbeiter Frankreichs kann jede Möglichkeit eines imperialistischen Krieges ausmerzen und die versklavten Völker Europas und der Kolonien aufwecken. Abkommen und Verträge würden dann zu Staub; die einzig mögliche Lösung, die bereits 1919 gesehen wurde, lautete dann: Die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.
Gegen die imperialistischen Blockpolitik, gegen die pazifistische Lüge des Völkerbundes, gegen die Geheimdiplomatie des Krieges und den Irrsinn der Aufrüstung! Überall auf dem alten europäischen Kontinent — geteilt. militarisiert, blutbefleckt, bedroht von der totalen Zerstörung durch einen neuen Krieg erheben wir das einzige Banner der Befreiung, das Banner der Arbeiter- und Bauernregierung der Vereinigten Staaten von Europa, des brüderlichen Bundes der Sowjetstaaten!
Für jeden Proletarier ist der erste Schritt in diese Richtung die bedingungslose Verteidigung der Sowjetunion, wo die Oktoberrevolution von 1917 das große Fundament für die erste Erfahrung der proletarischen Diktatur auf der Basis der Abschaffung des Privateigentums der großen Kapitalisten legte.
Der Kampf gegen die Sowjetunion bleibt weiter das grundlegende Ziel der imperialistischen Weltreaktion.
Die Arbeiter Frankreichs werden für die Verteidigung der Sowjetunion kämpfen, indem sie die .«pazifistischen» Pläne der Bourgeoisie entlarven. Abkommen und Verträge werden das sowjetische Proletariat nicht wirksam verteidigen, sondern nur der revolutionäre Kampf für den Sturz der Bourgeoisie in den anderen Ländern wird es können.
Die Vereinigung der Sozialistischen Republiken Frankreichs und Russlands wird die internationale proletarische Solidarität verbreitern. Kompromisse mit Barthou, Tardieu, Herriot und ihren imperialistischen Banden werden es nicht.
Nur diese großen Maßnahmen können die Massen vor Elend retten und sie zum Sozialismus führen. Von heute an müssen alle Arbeiter mit aller Kraft für ihre Durchsetzung kämpfen.
Überdies können diese Maßnahmen nicht durch eine einzelne Aktion, nicht durch die Aktivität der einen oder anderen Gruppe voll umgesetzt werden. Das kann nur durch die Staatsmacht geschehen, die Wirtschaft, Politik und Kultur des ganzen Landes steuert. In wessen Händen ist das Steuer? Das ist die ganze Frage!
Die Bourgeoisie beginnt gegenwärtig, ihren Plan zur Umwandlung der Staatsgewalt durchzuführen, mit dem sie den Widerstand der Arbeiter ein für allemal brechen will: Abbau der Rechte der gewählten demokratischen Institutionen (Parlament und Gemeinden) und sogar völlige Unterdrückung dieser Rechte, wo sich der proletarische Druck wenn auch vermittelt niederschlägt.
Die Bourgeoisie versucht, die Vollstreckungsgewalt in den Händen weniger Männer zu konzentrieren, die ihre Entscheidungen mit den Mitteln des Verwaltungs-, Militär- und Polizeiapparates durchdrücken, was brutal, unkontrolliert und teuer ist.
Der bürgerliche Plan eines «autoritären» Staates, der gegen die Ausgebeuteten gerichtet ist, muss von den arbeitenden Massen unbarmherzig angegriffen werden.
Nur wenn die arbeitenden Massen ihre Zukunft in ihre eigenen Hände nehmen, können und werden sie — vereint in einer mächtigen revolutionären Zuversicht — energisch und eisern die notwendige starke Macht schaffen, um die Gesellschaft von der kapitalistischen Oligarchie zu retten, die sie korrumpiert und in Ruin führt.
Die Aufgabe besteht darin, den kapitalistischen Staat, der für den Profit der großen Ausbeuter funktioniert, durch den proletarischen Staat der Arbeiter und Bauern zu ersetzen. Die Aufgabe besteht darin, in diesem Lande die Herrschaft des arbeitenden Volkes zu errichten. Wir erklären allen Leuten gegenüber, dass es sich nicht um zweitrangige «Veränderungen» handelt, sondern dass die Herrschaft einer kleinen Minderheit der Bourgeoisklasse durch die Führung und Macht der riesigen Mehrheit des arbeitenden Volkes ersetzt werden muss.
Hierfür ist das Bündnis der Bauern und Arbeiter notwendig. Die Reaktion versucht, die Bauern mit dem Gespenst einer proletarischen Diktatur zu erschrecken, wo die Arbeiter die Bauern unterjochen. In Wahrheit kann der proletarische Staat solange nicht geschaffen werden, wie das Proletariat von der Bauernschaft isoliert ist.
Das Beispiel der Oktoberrevolution, Sowjetrusslands, hilft uns. Dennoch haben wir es in Frankreich einfacher als unsere russischen Brüder und können einige ihrer Fehler vermeiden. Frankreichs Wirtschaft ist höher entwickelt, und wir beabsichtigen den aktuellen Bedingungen unseres Landes entsprechend zu handeln. Auf der Grundlage eines klaren und präzisen Programms und einer guten Verständigung zwischen dem Proletariat und den ausgebeuteten Bauern kann die Diktatur des Proletariats errichtet werden.
Die Bauernschaft ist zerstreut. Das ist einer der Gründe für ihre politische Ohnmacht, trotz ihrer großen Zahl und Bedeutung in der Produktion. Die Bauern können nur zur Macht gelangen, wenn sie mit den Arbeitern gegen die Bourgeoisie gemeinsame Sache machen.
Das Bündnis der Bauernschaft mit den Arbeitern wird nur dann zustande kommen, wenn die arbeitende Klasse ihre Stärke, ihre entschiedene Initiative und ihre Fähigkeit zeigt, dieses Programm zu verwirklichen. Dies ist der Grund, weshalb wir vorrangig Bedingungen für die Einheit in der Aktion schaffen müssen.
Die Arbeitereinheitsfront der Parteien und Gewerkschaften, die ohne Ausnahme alle Kräfte des arbeitenden Volkes vereint, muss organisiert werden.
Ein nationales Komitee der Arbeitereinheitsfront, regionale und lokale Komitees sollten organisiert werden. Schaffung von Betriebskomitees gewählt von den Arbeitern.
Der Impuls, der von diesen vereinigten Arbeiterkomitees ausgeht, ihre Autorität unter den Massen, wird das arbeitende Volk auf dem Lande anregen, sich selbst in Bauernkomitees zu organisieren.
Im Kampf gegen Faschismus, Reaktion und Krieg akzeptiert das Proletariat die Hilfe kleinbürgerlicher Gruppen (Pazifisten, Liga für die Menschenrechte, die gemeinsame Front usw.), aber solche Bündnisse können nur von zweitrangiger Bedeutung sein. Als erstes besteht die Aufgabe darin, in den Fabriken und in der Umgebung der industriellen Zentren die Aktionseinheit der Arbeiterklasse selbst sicherzustellen. Das Bündnis der bedeutenden Arbeiterorganisationen (Kommunistische Partei, Sozialistische Partei, CGT, CGTU, Kommunistische Liga) wird aber keinen revolutionären Wert haben, solange es nicht auf die Schaffung von
1. Kampfkomitees, die die Massen repräsentieren (Vorformen von Sowjets);
2. Arbeitermiliz in ständiger Aktionseinheit, wenn auch von den verschiedenen Organisationen und Parteien organisiert, gerichtet ist.
Um den Kampf sowohl der Arbeiter als auch der Bauern zu stärken, sollten die Arbeiterkomitees eine enge Zusammenarbeit mit den Bauernkomitees einrichten. Als Organe der Volksverteidigung gegen den Faschismus errichtet müssen diese verbündeten Arbeiter- und Bauernkomitees im Verlauf des Kampfes direkt von den Massen gewählte Organismen werden, zu Machtorganen der Arbeiter und Bauern. Auf dieser Grundlage wird die proletarische Macht im Gegensatz zur kapitalistischen Macht errichtet, und die Arbeiter- und Bauernkommune wird triumphieren.
Wir sind feste Partisanen eines Arbeiter- und Bauernstaates, der den Ausbeutern die Macht wegnehmen wird. Es ist unser erstes Ziel, die Mehrheit der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten für dieses Programm zu gewinnen.
Solange die Mehrheit der Arbeiterklasse auf der Grundlage der bürgerlichen Demokratie verbleibt, sind wir bereit, diese mit all unseren Mitteln gegen die heftigen Angriffe der bonapartistischen und faschistischen Bourgeoisie zu verteidigen.
Dennoch verlangen wir von unseren Klassenbrüdern, die dem «demokratischen» Sozialismus anhängen, dass sie ihren Ideen treu bleiben, dass sie ihre Eingebung nicht aus den Ideen und Methoden der Dritten Republik ziehen, sondern aus der Verfassung von 1793.
Nieder mit dem Senat, der durch beschränktes Wahlrecht zustande kam und der die Macht des allgemeinen Wahlrechts zu einer bloßen Illusion macht! Nieder mit der Präsidentenschaft der Republik, die als Versteck für die konzentrierten Kräfte von Militarismus und Reaktion dient! Eine einzige Versammlung muss die legislative und die exekutive Gewalt verbinden. Die Mitglieder sollen für zwei Jahre durch allgemeines Stimmrecht ab 18 Jahren, ohne Diskriminierung von Geschlecht oder Nationalität, gewählt werden. Die Abgeordneten sollen auf der Basis örtlicher Versammlungen gewählt werden, jederzeit durch ihre Wähler abberufbar sein und das Gehalt eines Facharbeiters erhalten.
Dies ist die einzige Maßnahme, die die Massen voranbringen würde anstatt sie zurückzuwerfen. Eine freigiebigere Demokratie würde den Kampf für die Arbeitermacht erleichtern.
Falls die Partei des «demokratischen» Sozialismus, von der wir durch unversöhnliche Differenzen in Lehre und Methode getrennt sind, im Laufe des unausweichlichen Kampfes gegen den Feind das Vertrauen der Mehrheit gewinnen sollte, sind wir und werden wir immer bereit sind, eine SFIO-Regierung gegen die Bourgeoisie zu verteidigen.
Wir wollen unser Ziel nicht durch bewaffnete Konflikte zwischen den verschiedenen Arbeitergruppen erreichen, sondern durch wahre Arbeiterdemokratie, durch Propaganda und loyale Kritik, durch freiwillige Umgruppierung der großen Mehrheit des Proletariats unter die Fahne des wahren Kommunismus.
Arbeiter, die dem demokratischen Sozialismus anhängen, müssen weiterhin verstehen, dass die Verteidigung der Demokratie nicht genügt; die Demokratie muss wiedergewonnen werden. Die Verschiebung des Schwerpunkts der politischen Entscheidung aus dem Parlament ins Kabinett, aus dem Kabinett in die Oligarchie des Finanzkapitals, der Generale und Polizei ist eine anerkannte Tatsache. Weder das gegenwärtige Parlament noch die neuen Wahlen können das ändern. Wir können die erbärmlichen Überreste der Demokratie nur dann verteidigen und insbesondere können wir die demokratische Arena für die Aktivität der Massen nur erweitern, wenn wir die bewaffneten faschistischen Kräfte vernichten, die am 6. Februar 1934 damit anfingen, die Achse des Staates zu verschieben und es weiterhin tun.
Die Bourgeoisie wird niemals aus eigenem Willen Maßnahmen zustimmen, die die Gesellschaft aus dem Chaos ziehen können. Sie will all ihre Privilegien beibehalten, und zu ihrem Schutz fängt sie an, faschistische Banden einzusetzen.
Unsere Losung lautet nicht: Entwaffnung der faschistischen Banden des Finanzkapitals durch die Polizei eben desselben Finanzkapitals. Wir weigern uns, die kriminelle Illusion zu verbreiten, dass eine kapitalistische Regierung tatsächlich zur Entwaffnung kapitalistischer Banden schreiten kann. Die Ausgebeuteten müssen sich selbst gegen die Kapitalisten verteidigen.
Bewaffnung des Proletariats, Bewaffnung der armen Bauern!
Antifaschistische Volksmiliz!
Die Ausbeuter, die nichts als eine winzige Minderheit sind, werden vor der Entfesselung eines Bürgerkriegs zurückprallen; die faschistischen und reaktionären Banden werden ihre Kühnheit nur dann verlieren, wenn die Arbeiter bewaffnet sind und die Massen führen.
Nur wenn die Arbeiter auf diese Art und Weise verfahren, wird der größere Teil der Soldaten und Matrosen — Kinder des arbeitenden Volkes, denen unsere Propaganda unaufhörlich ihre Herkunft und ihre Klassenpflichten ins Gedächtnis rufen muss — für die Sache der Arbeiter gewonnen werden können und sich gegen die reaktionären und faschistischen Offiziere, die sie gegen ihre eigene Klasse benutzen würden, auf die Seite der arbeitenden Massen schlagen.
Die Aufgabe ist ungeheuer, aber es ist der einzige Weg zur Rettung! Die Kommunistische Liga zeigt den Weg.
Die Gesellschaft, die nur durch eure Arbeit existieren kann, verrottet, weil die herrschende Bourgeoisie kein einziges ihrer abscheulichen Privilegien aufgeben will. Um sie zu behalten, rüstet die Bourgeoisie faschistische Banden, die eure Existenz bedrohen.
Am 12.
Februar zeigtet ihr eure Macht und euren Entschluss, euch nicht dieser Gewalt
zu unterwerfen. Aber an jenem Tag betrogen Euch eure Führer; sie gaben keine
konkrete Parole aus, keine ernsthafte Perspektive für euren Kampf. Um Eure
Stärke zu gewinnen, um Euer Lebensrecht zu verteidigen, um nicht mehr für die
Bereicherung einer Minderheit schamloser Ausbeuter zu arbeiten — bereitet eure
Revolution vor, schließt Euch den Aktionen der Kommunistischen Liga an!
In dem Augenblick. als Flandin auf Doumergue folgte, erhoben wir vor der proletarischen Avantgarde die Frage: Wohin treibt Frankreich? (La Vérité Nr. 226, 9. November 1934). Die seitdem verflossenen viereinhalb Monate haben keine wesentliche Änderung gebracht und weder unsere Analyse noch unsere Prognose abgeschwächt. Das französische Volk steht am Scheidewege: ein Weg führt zur sozialistischen Revolution, der andere zur faschistischen Katastrophe. Die Wahl des Weges hängt vom Proletariat ab. An seiner Spitze befindet sich seine organisierte Avantgarde. Aufs neue stellen wir die Frage: wohin wird die proletarische Avantgarde Frankreich führen
Die Diagnose der Komintern ist verheerend falsch
Der sozialistische Parteivorstand trat im Januar mit einem Programm hervor für den Kampf um die Macht, für die Vernichtung des bürgerlichen Staatsapparates, für die Errichtung der Arbeiter- und Bauerndemokratie, für die Enteignung der Banken und der konzentrierten Industriezweige. Allein, bis jetzt hat die Partei keinen Finger gerührt. dieses Programm vor die Massen zu bringen. Die kommunistische Partei ihrerseits weigert sich rundweg, den Weg des Kampfes um die Macht zu betreten. Aus welchem Grund? «Die Situation ist nicht revolutionär».
Miliz? Bewaffnung der Arbeiter? Arbeiterkontrolle? Nationalisierungsplan?
Unmöglich. «Die Situation ist nicht revolutionär». Was soll man tun? Mit den Klerikalen große Petitionen vom Stapel lassen, mit den Radikalsozialisten hohle Phrasen dreschen, und abwarten. Wie lange? Solange die Situation nicht von selbst revolutionär wird. Die gelehrten Ärzte der Kommunistischen Internationale haben ein Thermometer, das stecken sie der alten Dame Geschichte unter die Achsel, um auf diese Weise unfehlbar die revolutionäre Temperatur zu bestimmen. Doch ihr Thermometer zeigen sie niemandem.
Wir behaupten: die Diagnose der kommunistischen Internationale ist grundfalsch. Die Situation ist so revolutionär, wie sie bei einer nichtrevolutionären Politik der Arbeiterparteien nur sein kann. Genauer: die Situation ist vorrevolutionär. Damit diese Situation reif werde, ist sofortige, kühne und unermüdliche Mobilisierung der Massen unter den Losungen der Machteroberung im Namen des Sozialismus notwendig. Unter dieser Bedingung allein wird die vorrevolutionäre Situation zu einer revolutionären werden. Im entgegengesetzten Fall, d. h. wenn man weiter auf der Stelle tritt, wird sich die vorrevolutionäre Situation unabwendbar in eine konterrevolutionäre verwandeln und den Sieg des Faschismus herbeiführen.
Die rituelle Phrase von der «nichtrevolutionären Situation» dient heute einzig und allein dazu, die Arbeiter zu verdummen, ihre Willenskraft zu brechen und dem Klassenfeind die Hände zu lösen. Unter der Hülle solcher Phrasen sammelt sich bei den Spitzen des Proletariats Konservatismus, Schlappheit Stumpfsinn, Feigheit, und die Katastrophe bereitet sich vor wie in Deutschland.
In den folgenden Zeilen unterwerfen wir Diagnose und Prognose der Komintern einer ausführlichen marxistischen Kritik. Bei entsprechender Gelegenheit werden wir auch auf die Ansichten verschiedener sozialistischer Führer eingehen, insofern es unser wesentliches Ziel erfordert, nämlich zu zeigen, wie grundverkehrt die Politik des Zentralkomitees der französischen Kompartei ist. Dem Geschrei und den Beschimpfungen der Stalinisten werden wir Tatsachen und Argumente entgegenhalten.
Wir wollen uns selbstverständlich nicht auf bloße Kritik beschränken. Den falschen Ansichten und Losungen werden wir die schöpferischen Ideen und Methoden Marx‘ und Lenins gegenüberstellen.
Wir bitten den Leser um angestrengte Aufmerksamkeit. Es geht im unmittelbarsten Sinne um den Kopf des französischen Proletariats. Nicht ein bewusster Arbeiter hat das Recht, diesen Fragen, von deren Lösung das Schicksal seiner Klasse abhängt, teilnahmslos gegenüberzustehen.
Erste und wichtigste Voraussetzung einer revolutionären Situation ist eine unerträgliche Verschärfung der Widersprüche zwischen den Produktivkräften und den Eigentumsformen. Die Nation hört auf, vorwärtszugehen. Der Stillstand, und darüber hinaus der Rückgang in der Entwicklung der Wirtschaftskräfte bedeuten, dass die kapitalistische Produktionsweise endgültig erschöpft ist und der sozialistischen weichen muss.
Die gegenwärtige Krise, die alle Länder erfasst und die Wirtschaft jahrzehnteweit zurückwirft, hat die bürgerliche Ordnung ein für allemal ad absurdum geführt. Zerschlugen in der Frühzeit des Kapitalismus ausgehungerte und unwissende Arbeiter die Maschinen, so sind es heute die Kapitalisten selber, die Maschinen und Fabriken zerstören. Bei weiterem Bestand des Privateigentums an den Produktionsmitteln droht der Menschheit Barbarei und Degeneration.
Grundlage der Gesellschaft ist ihre Wirtschaft Diese Grundlage ist reif für den Sozialismus in doppeltem Sinn: die moderne Technik hat einen solchen Grad erreicht, dass sie dem Volk und der ganzen Menschheit hohen Wohlstand gewährleisten könnte, aber das überlebte kapitalistische Eigentum verdammt das Volk zu immer größerer Armut und Not.
Die ökonomische Grundvoraussetzung ist schon lange vorhanden. Aber der Kapitalismus wird nicht von selbst abtreten. Nur die Arbeiterklasse vermag die Produktivkräfte den Händen der Ausbeuter und Würger zu entreißen. Die Geschichte stellt uns diese Aufgabe mit aller Schärfe. Ist das Proletariat aus dem einen oder anderen Grunde außerstande, die Bourgeoisie zu stürzen und die Macht zu ergreifen, wird es z.B. von seinen eigenen Parteien und Gewerkschaften gelähmt, dann wird der Verfall von Wirtschaft und Zivilisation fortschreiten, die Missstände werden wachsen, Verzweiflung und Ermattung werden sich der Massen bemächtigen, der abgelebte. verfaulende, morsche Kapitalismus wird das Volk stets mehr würgen, es in den Abgrund neuer Kriege reißen. Außer der sozialistischen Revolution ist keine Rettung.
Der Vorstand der Komintern hatte zunächst versucht, die 1929 einsetzende Krise für die letzte des Kapitalismus zu erklären. Zwei Jahre später erklärte Stalin, die gegenwärtige Krise sei «wahrscheinlich» noch nicht die letzte. Auch im sozialistischen Lager begegnen wir dem gleichen Prophezeiungsversuch: ist es die letzte Krise oder nicht?
«Es wäre unklug zu behaupten», schreibt Blum im Populaire vom 23. Februar, «dass die gegenwärtige Krise eine letzte Verkrampfung des Kapitalismus sei, ein letztes Zucken vor Agonie und Verwesung» Dieselbe Ansicht teilt Grumbach, der am 26. Februar in Mühlhausen sagte: «Einige behaupten, diese Krise sei vorübergehend, andere sehen darin die Endkrise des kapitalistischen Systems. Wir wagen es noch nicht, uns definitiv zu äußern».
In dieser Art der Fragestellung stecken zwei Kardinalfehler: erstens wird dabei Konjunkturkrise und historische Krise des gesamten kapitalistischen Systems durcheinandergeworfen, zweitens wird angenommen, unabhängig von der bewussten Aktivität der Klassen könne eine Krise von selber die «letzte» sein.
Unter der Herrschaft des Industriekapitals zur Zeit der freien Konkurrenz überwogen die Konjunkturaufstiege bei weitem die Krisen, die ersten waren die «Regel». die zweiten die «Ausnahme» der Kapitalismus in seiner Gesamtheit war im Aufstieg begriffen. Seit dem Krieg, mit der Herrschaft des Monopol- und Finanzkapitals. überwiegen die Konjunkturkrisen bei weitem die Belebungen: man kann sagen, die Krisen sind zur Regel geworden und Aufschwünge die Ausnahme; die Wirtschaftsentwicklung als Ganzes geht bergab und nicht bergauf.
Nichtsdestoweniger sind Konjunkturschwankungen unvermeidlich, und unter dem kranken Kapitalismus werden sie fortbestehen, solange der Kapitalismus besteht. Und der Kapitalismus wird fortbestehen, solange die proletarische Revolution ihm nicht den Garaus macht. Das ist die einzig richtige Antwort.
Der proletarische Revolutionär muss vor allem begreifen. dass der Marxismus‚ die einzige wissenschaftliche Theorie von der proletarischen Revolution, nichts gemein hat mit fatalistischem Warten auf die «letzte» Krise. Der Marxismus ist seinem Wesen nach eine Anleitung zu revolutionärem Handeln Der Marxismus ignoriert nicht Willen und Mut, sondern hilft ihnen auf den richtigen Weg.
Es gibt keine Krise, die von selber für den Kapitalismus «tödlich» werden könnte. Die Konjunkturschwankungen schaffen Iediglich Situationen, in denen es dem Proletariat leichter oder schwerer fällt, den Kapitalismus zu stürzen. Der Übergang von der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft hat zur Voraussetzung das Handeln lebender Menschen, die ihre eigene Geschichte gestalten. Dabei gehorchen sie nicht dem Zufall oder ihrer Lust, sondern dem Einfluss bestimmter objektiver Ursachen. Ihre eigenen Handlungen aber — ihre Initiative, Kühnheit, Aufopferung, oder umgekehrt Dummheit und Feigheit — bilden notwendige Glieder in der Kette der historischen Entwicklung.
Niemand hat die Krisen des Kapitalismus numeriert und im voraus angemerkt, welche die «letzte» sein soll. Aber unsere ganze Epoche und vor allein die gegenwärtige Krise gebieten dem Proletariat: nimm die Macht! Zeigt sich jedoch die Arbeiterpartei trotz günstigen Umständen unfähig, das Proletariat zur Machteroberung zu führen, dann wird die Gesellschaft notwendigerweise auf kapitalistischer Grundlage fortleben — bis zu einer neuen Krise oder einem neuen Krieg, vielleicht bis zum vollständigen Zusammenbruch der europäischen Zivilisation.
Der imperialistische Krieg von 1914-18 stellte auch eine «Krise» im Leben des Kapitalismus dar und wohl die fürchterlichste aller möglichen Krisen. In keinem Buche steht geschrieben, ob dieser Krieg der letzte blutige Wahnsinn des Kapitalismus war oder nicht. Die Erfahrung Russlands hat gezeigt, dass der Krieg dem Kapitalismus ein Ende setzen konnte. In Deutschland und Österreich war das Schicksal der bürgerlichen Gesellschaft 1918 vollkommen abhängig von der Sozialdemokratie, aber diese Partei erwies sich als ein Knecht des Kapitals. In Italien und Frankreich hätte das Proletariat am Ende des Krieges die Macht erobern können, aber an seiner Spitze fehlte eine revolutionäre Partei. Kurz, hätte die Zweite Internationale nicht im Augenblick des Krieges die Sache des Sozialismus zugunsten des bürgerlichen Patriotismus verraten, dann würde die ganze Geschichte Europas und der Menschheit heute ganz anders aussehen. Die Vergangenheit ist allerdings nicht wiedergutzumachen. Doch kann und muss man die Lehren der Vergangenheit beherzigen.
Die Entwicklung des Faschismus ist an sich der unwiderlegbare Beweis für die Tatsache, dass die Arbeiterklasse in der Erfüllung der Aufgabe, die ihr der Niedergang des Kapitalismus seit langem gestellt hat, schrecklich weit zurück ist.
Die Worte: diese Krise ist noch nicht die «letzte», können allein diesen Sinn haben: trotz den Lehren des Krieges und der Nachkriegswirren haben die Arbeiterparteien es noch nicht verstanden, weder sich noch das Proletariat auf die Machtergreifung vorzubereiten: schlimmer, die Führer dieser Parteien sehen bis heute noch nicht einmal die Aufgabe selbst, sondern überlassen diese ihre eigene Aufgabe, die Aufgabe ihrer Partei und der Klasse, der «historischen Entwicklung». Fatalismus, das Ist theoretischer Verrat am Marxismus und Rechtfertigung des politischen Verrats am Proletariat, d. h. Vorbereitung erneuter Kapitulation vor einem neuen «letzten» Kriege.
Der Fatalismus der Sozialdemokratie ist ein Erbe aus der Vorkriegszeit, als der Kapitalismus fast unaufhörlich wuchs, die Zahl der Arbeiter stieg, die Zahlen der Parteimitglieder, die Stimmen bei den Wahlen und die Mandate zunahmen. Dieser automatische Aufstieg erzeugte allmählich die reformistische Illusion, man brauche nur auf dem alten Wege (Propaganda, Wahlen, Organisation) fortzugehen, und der Sieg werde sich von selber einstellen.
Zwar hat der Krieg den Automatismus der Entwicklung zerstört. Aber der Krieg ist ja eine «Ausnahmeerscheinung». Mit Genfs Hilfe wird es keine neuen Kriege mehr geben, alles wird seinen normalen Lauf nehmen und der Automatismus der Entwicklung wird wiederhergestellt sein.
Im Lichte dieser Perspektive müssen die Worte: «Es ist dies die letzte Krise noch nicht» bedeuten: «In 5, 10, 20 Jahren werden wir mehr Stimmen und Sitze haben, dann werden wir hoffentlich die Macht übernehmen». (Siehe Artikel und Reden von Paul Faure). Dieser fatalistische Optimismus, der vor einem Vierteljahrhundert überzeugend schien, klingt heute wie eine Stimme aus dem Jenseits. Grundfalsch ist die Vorstellung, das Proletariat werde, der künftigen Krise entgegengehend, unfehlbar mächtiger werden als es heute ist. Bei der unvermeidlich fortschreitenden Verfaulung des Kapitalismus wird das Proletariat nicht wachsen und stärker werden, sondern sich zersetzen, und das Heer der Arbeitslosen und Lumpenproletarier wird stets größer werden, das Kleinbürgertum wird unterdessen der Deklassiererung und Verzweiflung anheimfallen. Der Zeitverlust eröffnet dem Faschismus eine Perspektive. und nicht der proletarischen Revolution.
Es ist bemerkenswert. dass auch die durch und durch bürokratisierte Komintern die Theorie der revolutionären Aktion durch die Religion des Fatalismus ersetzt hat. Kampf ist unmöglich, denn es ist ja «keine revolutionäre Situation» da. Aber die revolutionäre Situation fällt nicht vom Himmel, sie entsteht im Klassenkampf. Die Partei des Proletariats ist der wichtigste politische Faktor bei der Entstehung einer revolutionären Situation. Wenn diese Partei den revolutionären Aufgaben den Rücken kehrt, wenn sie die Arbeiter einlullt und betrügt, um mit Petitionen zu spielen und sich mit den Radikalen zu verbrüdern, dann wird notwendig nicht eine revolutionäre, sondern eine konterrevolutionäre Situation entstehen.
Der Verfall des Kapitalismus bei einer außerordentlich hohen Entwicklungsstufe der Produktivkräfte ist die ökonomische Voraussetzung für die sozialistische Revolution. Auf dieser Grundlage spielt sich der Klassenkampf ab. im heißen Klassenkampf entsteht und reift die revolutionäre Situation.
Wie beurteilt die Großbourgeoisie, Herrscherin über die Gesellschaft unserer Tage, die gegenwärtige Situation, und wie handelt sie? Der 6. Februar 1934 kam unerwartet nur für die Arbeiterorganisationen und für das Kleinbürgertum. Die Großkapitalszentren waren schon längst an der Verschwörung beteiligt, deren Ziel war, den Parlamentarismus mit Gewalt durch den Bonapartismus («persönliches» Regime) zu ersetzen. Das heißt. Banken. Trusts, Generalstab und Presse hielten die Gefahr der Revolution für so nah und unmittelbar, dass sie sich längst durch einen «kleinen» Staatsstreich darauf vorbereiteten.
Aus dieser Tatsache ergeben sich zwei wichtige Schlussfolgerungen: 1. die Kapitalisten hielten die Situation schon vor 1934 für revolutionär, 2. sie warteten nicht untätig die Entwicklung der Ereignisse ab, um in letzter Minute zur «legalen» Verteidigung zu greifen, sondern ergriffen selber, die Initiative und schickten ihre Banden auf die Straße. Die Großbourgeoisie erteilte so den Arbeitern eine unschätzbare Lektion in Klassenstrategie.
Die Humanité sagt in einem fort, die «Einheitsfront» habe Doumergue davongejagt. Das ist gelinde gesagt hohle Prahlerei. Im Gegenteil, wenn das Groß- kapital es möglich und vernünftig fand, Doumergue durch Flandin zu ersetzen, so nur darum, weil die Einheitsfront, wie sich die Bourgeoisie aus eigener Erfahrung überzeugte, noch keine unmittelbar revolutionäre Gefahr darstellt. «Da die schrecklichen Führer der kommunistischen Internationale der Lage im Lande zum Trotz sich nicht auf den Kampf vorbereiten, sondern vor Furcht zittern, so bedeutet das, dass man mit dem Übergang zum Faschismus warten kann. Warum unnütz die Ereignisse forcieren und vorzeitig die Radikalsozialisten kompromittieren. die man noch nötig haben kann», das sagen sich die wahren Meister der Lage. Sie erhalten die Nationale Union und deren bonapartistische Verordnungen aufrecht, setzen das Parlament unter Terror, aber Doumergue lassen sie ausruhen. Die Herren des Kapitals haben so an ihrem anfänglichen Urteil eine gewisse Korrektur vorgenommen, da sie erkannten, dass die Situation nicht eine unmittelbar revolutionäre, sondern eine vorrevolutionäre ist.
Zweite hervorragende Lektion in Klassenstrategie! Sie zeigt. dass selbst das Großkapital, das über alle Kommandohebel verfügt, nicht auf einen Schlag, a priori und unfehlbar die politische Lage in ihrer ganzen Realität einzuschätzen vermag: es nimmt den Kampf auf, und im Prozess des Kampfes auf Grund der Kampferfahrungen korrigiert und präzisiert es sein Urteil. Das ist überhaupt das einzig mögliche Verfahren, sich in der Politik genau und gleichzeitig aktiv zu orientieren.
Aber die Führer der Komintern? In Moskau, abseits von der französischen Arbeiterbewegung, geben einige mittelmäßige, schlecht unterrichtete und meist des Französischen unkundige Bürokraten mit Hilfe ihres Thermometers die unfehlbare Diagnose: «Die Situation ist nicht revolutionär». Und das Zentralkomitee der französischen Kompartei hat Augen und Ohren zu schließen und diese hohle Phrase nachzuplappern. Der Weg der kommunistischen Internationale ist der kürzeste Weg in den Abgrund!
Die radikal - sozialistische Partei ist das politische Werkzeug der Großbourgeoisie, das den Traditionen und Vorurteilen des Kleinbürgertums am besten angepasst ist. Trotzdem haben die verantwortlichsten Führer des Radikalsozialismus unter der Peitsche des Finanzkapitals sich demütig in den Staatsstreich vom 6. Februar. der unmittelbar gegen sie gerichtet war, gefügt. Sie haben somit anerkannt, dass der Gang des Klassenkampfes die Grundinteressen der «Nation», d.h. der Bourgeoisie. bedroht, und sahen sich gezwungen, die Wahlinteressen ihrer Partei zu opfern. Die Kapitulation der mächtigsten parlamentarischen Partei vor den faschistischen Revolvern und Rasiermessern ist der äußere Ausdruck für den vollständigen Zusammenbruch des politischen Gleichgewichts im Lande Wer aber diese Worte ausspricht, sagt eben damit: die Situation ist revolutionär, oder genauer, vorrevolutionär.*
Die Prozesse, die sich in den kleinbürgerlichen Massen abspielen, sind von außerordentlicher Bedeutung für die Beurteilung der politischen Situation. Die politische Krise des Landes ist vor allem eine Krise des Vertrauens der kleinbürgerlichen Massen in ihre traditionellen Parteien und Führer. Unzufriedenheit, Nervosität, Unstetigkeit und leichte Erregbarkeit des Kleinbürgertums sind äußerst wichtige Züge einer vorrevolutionären Situation. Wie ein Fieberkranker sich von der rechten Seite auf die linke wälzt, kann sich das fiebernde Kleinbürgertum nach rechte oder nach links wenden. Je nachdem, welcher Seite sich in der kommenden Periode die Millionen französischer Bauern, Handwerker, Kleinhändler und kleinen Beamten zuwenden werden, kann die augenblickliche vorrevolutionäre Situation ebenso wohl in eine revolutionäre wie in eine konterrevolutionäre umschlagen.
Eine ökonomische Konjunkturbesserung könnte — nicht für lange Zeit — die Differenzierung des Kleinbürgertums nach rechts oder links wohl verlangsamen, doch nicht aufhalten. Umgekehrt, wird die Krise sich verschärfen, so wird der Zusammenbruch des Radikalsozialismus und aller ihm nahestehenden parlamentarischen Gruppierungen doppelt geschwind vor sich gehen.
Man soll jedoch nicht meinen, dass der Faschismus notwendigerweise eine mächtige parlamentarische Partei sein muss, bevor er die Macht ergreift. Das war in Deutschland der Fall, aber in Italien war es anders. Damit der Faschismus siege, ist keineswegs erforderlich, dass das Kleinbürgertum zuvor mit den alten «demokratischen» Parteien bricht: es genügt, dass es das Vertrauen, das es zu ihnen hatte, verliert und unruhig nach neuen Wegen Ausschau hält.
Bei den bevorstehenden Gemeindewahlen kann das Kleinbürgertum noch eine recht ansehnliche Anzahl Stimmen für die Radikalsozialisten oder benachbarte Gruppen abgehen. infolge Fehlens einer neuen politischen Partei, der es gelänge. das Vertrauen der Bauern und des kleinen Mannes der Stadt zu erobern. Und gleichzeitig kann mit Hilfe der Großbourgeoisie einige Monate nach den Wahlen ein militärischer Gewaltstreich des Faschismus stattfinden und durch seinen Druck die Sympathien der verzweifeltsten Schichten des Kleinbürgertums gewinnen.
Darum wäre es eine grobe Illusion, sich damit zu vertrösten, dass die Fahne des Faschismus in der Provinz und auf dem Lande noch nicht populär geworden ist. Die antiparlamentarischen Tendenzen beim Kleinbürgertum können, wenn sie aus dem Bett der offiziellen parlamentarischen Politik der Parteien hinaustreten, direkt und unmittelbar einen militärischen Gewaltstreich unterstützen, wenn dieser für das Heil des Großkapitals notwendig werden wird. Eine derartige Handlungsweise entspricht weit mehr sowohl den französischen Traditionen wie dem französischen Temperament.*
Die Wahlziffern haben selbstverständlich eine symptomatische Bedeutung. Aber sich allein auf dieses Anzeichen stützen, hieße sich des parlamentarischen Kretinismus schuldig machen. Es handelt sich um viel tiefere Prozesse, die eines schönen Tages die Herren Parlamentarier unversehens überraschen können. Hier wie auf anderen Gebieten entscheidet nicht die Arithmetik, sondern die Dynamik des Kampfes. Die Großbourgeoisie nimmt nicht passiv die Entwicklung der Mittelklassen zur Kenntnis, sondern schmiedet eiserne Zangen, mit deren Hilfe sie im geeigneten Moment die von ihr gequälten und verzweifelten Massen packen kann.
Das marxistische Denken ist dialektisch: es betrachtet alle Erscheinungen in ihrer Entwicklung, bei ihrem Übergang von einem Zustand in den anderen. Das Denken des konservativen Kleinbürgers ist metaphysisch: seine Vorstellungen sind unbeweglich und unwandelbar, zwischen den Erscheinungen befinden sich bei ihm undurchdringbare Scheidewände. Die absolute Gegenüberstellung einer revolutionären und einer nichtrevolutionären Situation stellt ein klassisches Beispiel metaphysischen Denkens dar, nach der Formel: ja, ja, — nein, nein, — alles Andere ist vom Übel.
Im Prozess der Geschichte begegnet man stabilen, vollständig unrevolutionären Situationen. Man begegnet auch ausgesprochen revolutionären Situationen. Es gibt auch konterrevolutionäre Situationen (das soll man nicht vergessen!). Was aber in unserer Epoche, der Epoche des faulenden Kapitalismus ganz besonders vorherrscht, das sind mittlere und Übergangssituationen: zwischen nichtrevolutionären und vorrevolutionären, zwischen vorrevolutionären und revolutionären oder … konterrevolutionären Situationen. Gerade diese Übergangszustände sind von ausschlaggebender Bedeutung vom Standpunkt der politischen Strategie.
Was würden wir von einem Maler sagen, der nur die beiden extremen Farben des Spektrums zu unterscheiden vermöchte? Dass er farbenblind oder halbblind ist und auf den Pinsel verzichten soll. Was von einem Politiker sagen, der nur imstande wäre, zwei Zustände zu unterscheiden: «revolutionär» und «nicht-revolutionär»? Dass er kein Marxist ist, sondern ein Stalinist, der wohl einen guten Beamten abgeben mag, aber auf keinen Fall einen proletarischen Führer.
Eine revolutionäre Situation bildet sich durch die Wechselwirkung objektiver und subjektiver Faktoren. Zeigt sich die Partei des Proletariats unfähig, rechtzeitig die Tendenzen der vorrevolutionären Situation zu analysieren und aktiv in deren Entwicklung einzugreifen, dann wird anstelle einer revolutionären unvermeidlich eine konterrevolutionäre Situation entstehen. Eben diese Gefahr droht gegenwärtig dem französischen Proletariat. Die kurzsichtige, passive, opportunistische Politik der Einheitsfront und vor allem der Stalinisten, die deren rechter Flügel geworden sind, das ist das Haupthindernis auf dem Wege zur proletarischen Revolution in Frankreich.
Das Zentralkomitee der Kompartei lehnt den Kampf für die Nationalisierung der Produktionsmittel als eine mit dem bürgerlichen Staat unverträgliche Forderung ab. Aber den Kampf um die Macht, den Kampf für die Schaffung eines Arbeiterstaates lehnt das Zentralkomitee gleichfalls ab. Diesen Aufgaben hält es ein Programm der «Tagesforderungen» entgegen.
Die Einheitsfront ist zur Zeit jeglichen Programmes bar. Gleichzeitig sieht die eigene Erfahrung der Kompartei auf dem Gebiet des Kampfes für die «Tagesforderungen» äußerst kläglich aus. Alle Reden, Artikel und Resolutionen über die Notwendigkeit, dem Kapital mit Streiks zu antworten, haben bisher zu nichts, oder zu beinahe nichts geführt. Trotz einer immer gespannteren Lage im Lande herrscht in der Arbeiterklasse gefährliche Stagnation.
Schuld an dieser Stagnation gibt das Zentralkomitee der Kompartei allen außer sich selbst. Wir gedenken niemanden rein zu waschen. Unser Standpunkt ist bekannt. Doch wir glauben, das Haupthindernis auf dem Wege der Entwicklung des revolutionären Kampfes ist heute dieses einseitige, der gesamten Lage widersprechende, beinahe wahnsinnige Programm der «Tagesforderungen». Wir wollen hier in aller notwendigen Breite die Beweggründe und Argumente des Zentralkomitees der Kompartei beleuchten. Nicht dass diese Argumente ernst und tief wären, im Gegenteil, sie sind miserabel. Aber es handelt sich um eine Frage, von der das Schicksal des französischen Proletariats abhängt
Das berufenste Dokument zur Frage der «Tagesforderungen» ist die programmatische Resolution des Zentralkomitees der Kompartei (Siehe L‘Humanité vom 24. Februar 1935). Verweilen wir bei diesem Dokument.
Die Aufzählung der Tagesforderungen ist sehr allgemein gehalten: Verteidigung der Löhne, Verbesserung der Sozialversicherungen, Kollektivverträge. «Gegen das teure Leben», usw. Kein Wort davon, wie unter den Bedingungen der gegenwärtigen sozialen Krise der Kampf für diese Forderungen aussehen kann und soll. Indessen begreift jeder Arbeiter, dass bei zwei Millionen Vollerwerbslosen und Kurzarbeitern der gewöhnliche gewerkschaftliche Kampf für Kollektivverträge eine Utopie ist. Um unter den gegenwärtigen Bedingungen den Kapitalisten ernste Zugeständnisse abzutrotzen, heißt es ihren Willen brechen; das ist nur durch revolutionäre Offensive zu erreichen. Eine revolutionäre Offensive aber, die Klasse gegen Klasse stellt, kann nicht einzig und allein unter ökonomischen Teillosungen entfaltet werden. Man gerät in eine Teufelsmühle. Da liegt die Hauptursache für die Stagnation der Einheitsfront.
Die Bedeutung des allgemeinen marxistischen Satzes: soziale Reformen sind weiter nichts als Nebenprodukte des revolutionären Kampfes, wird in der Epoche des kapitalistischen Niedergangs am unmittelbarsten und brennendsten. Die Kapitalisten können den Arbeitern in etwas nachgeben nur auf die Gefahr hin, alles zu verlieren.
Aber
selbst die größten «Zugeständnisse», deren der heutige, selber in die
Enge getriebene Kapitalismus fähig ist, bleiben absolut bedeutungslos, gemessen
an dem Elend der Massen und an der Tiefe der sozialen Krise. Darum muss
die dringendste aller Tagesforderungen lauten: Enteignung der Kapitalisten
und Nationalisierung (Sozialisierung) der Produktionsmittel. Diese Forderung
lässt sich unter der Herrschaft der Bourgeoisie nicht verwirklichen? Allerdings!
Eben darum gilt es die Macht zu erobern.
Die Resolution des Zentralkomitees gibt beiläufig zu, dass «es der Partei noch nicht gelungen ist, den Widerstand gegen die Offensive des Kapitals zu organisieren und zu entwickeln». Aber die Resolution übergeht gänzlich die Frage, warum denn eigentlich trotz den Anstrengungen der KP und der CGTU die Erfolge auf dem Gebiet des ökonomischen Abwehrkampfes so absolut bedeutungslos sind. Am Generalstreik vom 12. Februar, bei dem es absolut nicht um eine «Tagesforderung» ging, nahmen Millionen Arbeiter und Angestellte teil. Doch an der Abwehr der Kapitalsoffensive beteiligte sich bisher nur ein winziger Bruchteil davon. Veranlasst denn diese verblüffend deutliche Tatsache die «Führer» der Kompartei zu gar keiner Schlussfolgerung? Warum wagen Millionen Arbeiter an einem Generalstreik, an stürmischen Straßenkundgebungen, an Auseinandersetzungen mit den faschistischen Banden teilzunehmen, und lehnen es ab. sich an vereinzelten ökonomischen Streiks zu beteiligen?
«Es gilt», sagt die Resolution, «die Gefühle zu verstehen, welche die Arbeiter bewegen, die zur Aktion übergehen möchten». Es gilt zu verstehen … Zum Unglück aber verstehen die Schreiber der Resolution selber nichts. Wer Arbeiterversammlungen besucht, weiß, dass allgemeine Reden über «Tagesforderungen» die Zuhörer meistens in einem Zustand kalter Indifferenz lassen, hingegen lösen klare und präzise revolutionäre Losungen eine Welle von Sympathie aus. Dieser Unterschied im Reagieren der Massen charakterisiert aufs klarste die politische Lage im Lande.
«In der gegenwärtigen Periode», bemerkt unerwarteterweise die Resolution, «erfordert der ökonomische Kampf seitens der Arbeiter schwere Opfer». Man müsste noch hinzufügen: und nur ausnahmsweise verspricht er positive Resultate. Dabei hat doch der Kampf für die Tagesforderungen zur Aufgabe, die Lage der Arbeiter zu bessern. ‘Wenn die Stalinisten diesen Kampf in den Vordergrund schieben und dafür auf die revolutionären Losungen verzichten, dann meinen sie ohne Zweifel, dass gerade der ökonomische Teilkampf am geeignetsten sei, die breiten Massen in Bewegung zu bringen. Das genaue Gegenteil zeigt sich: auf Appelle zu ökonomischen Streiks reagieren die Massen fast überhaupt nicht. Wie kann man nur in der Politik nicht den Tatsachen Rechnung tragen?
Die Massen begreifen oder fühlen, dass unter den Bedingungen der Krise und der Arbeitslosigkeit ökonomische Teilkonflikte unerhörte Opfer erfordern, die in keinem Falle durch die erreichten Resultate gerechtfertigt werden. Die Massen erwarten und fordern andere, wirksamere Methoden. Ihr Herren Strategen, lernt bei den Massen: sie leitet ein sicherer revolutionärer Instinkt.
Gestützt auf schlecht verdaute Leninzitate, wiederholen die Stalinisten in einem fort: «Streikkämpfe sind auch in Krisenzeiten möglich». Sie verstehen nicht, dass es Krise und Krise gibt. In der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus war der Blick der Fabrikanten wie der Arbeiter, selbst während einer scharfen Krise, vorwärts gerichtet, auf die neu bevorstehende Belebung. Die gegenwärtige Krise aber ist die Regel und nicht die Ausnahme. Auf rein wirtschaftlichem Gebiet ist das Proletariat durch furchtbaren Druck der Wirtschaftskatastrophe zu ungeordnetem Rückzug getrieben. Andererseits stößt der Niedergang des Kapitalismus mit aller Wucht das Proletariat auf den Weg des revolutionären politischen Massenkampfes. Doch die Führung der Kompartei versucht, diesen Weg aus allen Kräften zu versperren. So wird das Programm der «Tagesforderungen» in den Händen der Stalinisten ein Werkzeug zur Desorientierung und Desorganisierung des Proletariats. Indessen würde eine politische Offensive (Kampf um die Macht), verbunden mit aktiver bewaffneter Verteidigung (Miliz), mit einem Schlage das Kräfteverhältnis der Klassen umkehren, und dabei nebenher auch den rückständigsten Arbeiterschichten Gelegenheit zu siegreichem wirtschaftlichen Kampf geben.
Der sterbende Kapitalismus hat, wie wir wissen, auch seine Zyklen, aber absteigende kranke. Der Krise des kapitalistischen Systems kann nur die proletarische Revolution ein Ende bereiten. Die Konjunkturkrise wird unvermeidlich einer neuen kurzen Wiederbelebung Platz machen, wenn nicht inzwischen Krieg oder Revolution eintritt.
Im Falle einer wirtschaftlichen Konjunkturbelebung werden Streikkämpfe ohne Zweifel weit größeren Umfang annehmen können. Darum heißt es aufmerksam den Gang von Handel und Industrie, insbesondere die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt verfolgen, ohne sich auf die Meteorologen der Jouhauxschule zu verlassen, und den Arbeitern in der Praxis zu: helfen, im nötigen Augenblick auf die Kapitalisten Druck auszuüben. Aber selbst im Falle eines ausgedehnten Streikkampfes wäre es ein Verbrechen, sich auf ökonomische Teilforderungen zu beschränken. Die Konjunkturbelebung kann weder lang noch tief sein, denn wir haben ja mit den Zyklen eines unheilbar kranken Kapitalismus zu tun. Die neue Krise — nach der kurzen Wiederbelebung kann noch furchtbarer sein als die gegenwärtige. Alle Grundprobleme werden mit verdoppelter Kraft und Schärfe wieder auftauchen. Wenn man Zeit verliert, kann das Wachstum des Faschismus unaufhaltsam werden.
Aber heute ist die wirtschaftliche Wiederbelebung nur eine Hypothese. Realität sind: Verschärfung der Krise, zweijähriger Militärdienst, Deutschlands Aufrüstung. Kriegsgefahr.
Von dieser Realität heißt es ausgehen.
Die Endidee der programmatischen Resolution des Zentralkomitees krönt würdig das ganze Gebäude. Zitieren wir sie wörtlich:
«Während sie täglich kämpfen für die Linderung des Elends der arbeitenden Massen, zu dem diese durch das kapitalistische Regime verdammt sind, unterstreichen die Kommunisten. dass die endgültige Befreiung nur erreicht werden kann durch die Abschaffung des kapitalistischen Regimes und die Errichtung der Diktatur des Proletariats».
Diese Formel klang nicht schlecht in der Frühzeit der Sozialdemokratie, vor mehr als einem halben Jahrhundert. Die Sozialdemokratie führte damals nicht ohne Erfolg den Kampf der Arbeiter für einzelne Forderungen und Reformen, für das, was man «Minimalprogramm» nannte, und sie «unterstrich» dabei, dass die endgültige Befreiung des Proletariats nur durch die Revolution zu verwirklichen sei. Das «Endziel» des Sozialismus stellte man sich in nebelhafter Ferne der Jahre vor. Diese Vorstellung, die sich schon am Vorabend des Krieges vollständig überlebt hatte, hat das Zentralkomitee der Kompartei unversehens in unsere Epoche verpflanzt, sie Wort für Wort bis zum letzten Komma wiederholend. Und diese Leute berufen sich auf Marx und Lenin!
Wenn sie «unterstreichen», dass die «endgültige Befreiung» nur durch die Abschaffung des kapitalistischen Regimes zu erreichen sei, so haben sie nichts anderes im Sinn, als mit Hilfe dieser Elementarwahrheit die Arbeiter zu betrügen. Denn sie erwecken bei ihnen die Vorstellung. als sei eine gewisse, wenn auch unbedeutende Besserung im Rahmen des gegenwärtigen Regimes möglich. Sie schildern den faulenden. niedergehenden Kapitalismus so, wie ihre Väter und Großväter den robusten, aufsteigenden. Die Tatsache ist unbestreitbar: die Stalinisten schmücken sich mit dem Plunder des Reformismus.
Die marxistische politische Formel aber muss lauten:
«Indem die Kommunisten (oder Sozialisten) täglich den Massen erklären, dass der faulende Kapitalismus nicht nur keine Besserung ihrer Lage, sondern nicht einmal die Aufrechterhaltung des bisherigen Elendsniveaus gestattet, indem sie offen vor den Massen die Aufgabe der sozialistischen Revolution als die unmittelbare Aufgabe unserer Tage stellen, indem sie die Arbeiter für die Machtergreifung mobilisieren, indem sie die Arbeiterorganisationen mittels der Miliz verteidigen, lassen sie gleichwohl keine Gelegenheit fahren, nebenbei dem Feinde die eine oder andere Teilkonzession abzuringen oder zumindest ihn daran zu hindern, das Lebensniveau der Arbeiter noch weiter zu senken».
Man vergleiche aufmerksam diese Formel mit den oben zitierten Zeilen der Resolution des Zentralkomitees. Wir hoffen, der Unterschied ist klar: dort Stalinismus, hie Leninismus. Dazwischen ein Abgrund.
Lohnerhöhung, Kollektivverträge, Senkung der Lebenskosten… Aber was mit der Arbeitslosigkeit? Die Resolution des Zentralkomitees weiß auch dafür Abhilfe. Zitieren wir: «Sie (die Kommunisten) fordern die Inangriffnahme öffentlicher Arbeiten. Zu diesem Zweck arbeiten sie konkrete, der jeweiligen Lage am Ort oder im Bezirk angepasste Vorschläge aus, geben sie die Mittel zur Finanzierung dieser. Arbeiten an (Projekt einer Kapitalszwangsabgabe, Anleihen mit Staatsgarantie, usw.)».
Ist das nicht erstaunlich? Dieses Schwindelrezept ist beinahe Wort für Wort bei Jouhaux abgeschrieben: die Stalinisten verwerfen die fortschrittlichen Forderungen des «Plans»: der CGT und akzeptieren dessen phantastischsten und utopischsten Teil.
Die Hauptproduktivkräfte der Gesellschaft sind von der Krise ganz oder halb lahmgelegt. Die Arbeiter stehen ratlos vor den Maschinen, die sie schufen. Das rettende Zentralkomitee schlägt vor, außerhalb und neben der realen kapitalistischen Wirtschaft eine andere kapitalistische Wirtschaft zu gründen, auf der Grundlage «öffentlicher Arbeiten».
Man sage uns nicht, es handle sich um episodische Unternehmen: die heutige Arbeitslosigkeit ist keine episodische, keine bloß konjunkturelle, sondern eine strukturelle, bösartigste Äußerung des kapitalistischen Niedergangs. Damit sie verschwinde, schlägt das Zentralkomitee vor, ein System großzügiger öffentlicher Arbeiten zu schaffen, der jeweiligen Gegend angepasst, mittels eines besonderen Finanzierungssystems neben den in Unordnung geratenen Finanzen des Kapitalismus. Mit einem Wort, das Zentralkomitee der Kompartei schlägt dem Kapitalismus weiter nichts vor, als sein Domizil zu wechseln. Und diesen «Plan» stellt man dem Kampf um die Macht und dem Nationalisierungsprogramm gegenüber! Es gibt keine schlimmeren Opportunisten als erschrockene Abenteurer.
Wie man zur Realisierung der öffentlichen Arbeiten, zur Kapitalszwangsabgabe, zu den garantierten Anleihen usw. gelangen soll, davon wird kein Wort gesagt. Ohne Zweifel mit Hilfe von … Petitionen. Das ist die geeignetste und wirksamste Art des Handelns. Den Petitionen halten weder Krisen, noch Faschismus, noch Militarismus stand. Darüber hinaus beleben die Petitionen die Papierindustrie und lindern die Arbeitslosigkeit. Merken wir uns also: Organisierung von Petitionen als der wesentlichste Teil des Arbeitsbeschaffungssystems nach dem Plan von Thorez & Co.
Über wen machen sich diese Herrschaften lustig? Über sich selbst oder über das Proletariat?
«Man muss staunen, wie passiv das Proletariat nach mehr als hundert Jahren Klassenkampf solche Entbehrungen und Vergewaltigungen erträgt». Diesen so herablassenden Satz bekommt man auf Schritt und Tritt von Sozialisten oder Schreibtischkommunisten zu hören. Der Widerstand ist nicht stark genug? Diesen Mangel kreidet man dann den Arbeitermassen an. Als stünden die Parteien und Gewerkschaften abseits vom Proletariat, als wären sie nicht seine Kampforgane! Eben weil das Proletariat als das Resultat der mehr als hundertjährigen Geschichte seiner Kämpfe sich politische und gewerkschaftliche Organisationen geschaffen hat, ist es ihm nun schwer und beinahe unmöglich, den Kampf gegen das Kapital ohne und gegen sie zu führen. Allein, was als Triebfeder der Aktion aufgebaut wurde, ist Ballast oder Bremse geworden.
Die gesamte Lage leitet die Arbeiter zu dem Gedanken hin, dass, um ihre Existenzbedingungen zu ändern, es revolutionärer Taten bedarf. Aber gerade weil es sich um den Entscheidungskampf handelt, der Millionen von Menschen mitreißen muss, gehört die Initiative natürlicherweise den leitenden 0rganisationen‚ den Arbeiterparteien. der Einheitsfront. Von diesen muss ein klares Programm, müssen die Losungen und die Mobilisierung zum Kampfe ausgehen. Damit die Massen sich erheben, müssen die Parteien selber mit kühner revolutionärer Kampagne im Lande den Anfang machen. Aber den führenden Organisationen, einschließlich der Kompartei, fehlt dazu der Mut. Die Kompartei wälzt ihre Aufgaben und Verpflichtungen auf die Massen ab. Sie verlangt, die durch ihre Schuld einer revolutionären Führung baren Millionen von Menschen mögen erst einmal zersplitterte Kämpfe für Teilforderungen unternehmen und den skeptischen Bürokraten ihre Kampfbereitschaft beweisen. Vielleicht werden sich dann die großen Führer bequemen, das Kommando zum Angriff zu geben. Anstatt die Massen zu lenken‚ unterzieht das bürokratische Zentralkomitee die Massen einem Examen‚ gibt ihnen eine schlechte Note und rechtfertigt so seinen Opportunismus und seine Feigheit.
Zur Zeit des relativen wirtschaftlichen und politischen Gleichgewichts in Frankreich (1929-1933) rief das Zentralkomitee der Kompartei die .«Dritte Periode» aus und tat es nicht mehr unter der Eroberung der Straße nebst Barrikaden. Heute, während der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise, begnügt es sich mit einem bescheidenen Programm von «Tagesforderungen». Dieser absurde Widerspruch ist das komplexe Produkt mehrerer Faktoren: des Zurückschreckens vor seinen letzten Fehlern, der Unfähigkeit, den Massen Gehör zu schenken, der bürokratischen Gewohnheit, dem Proletariat eine fertige Marschroute vorzuschreiben, schließlich der ideologischen Anarchie, Ergebnis der unzähligen Zickzacks, Fälschungen, Lügen und Repressalien.
Unmittelbarer Verfasser des neuen Programms ist ohne Zweifel Bela Kun, der augenblickliche «Führer» der Komintern, der in einem fort zwischen Abenteurertum und Opportunismus wechselt. Bei Lenin las er, dass die Bolschewiki unter gewissen Umständen für Streiks und die Menschewiki dagegen waren, und im Handumdrehen hat er auf diesen Fund seine «realistische» Politik gegründet. Doch zu seinem Unglück hat Bela Kun Lenin … auf der unrechten Seite aufgeschlagen.
In gewissen Perioden der revolutionären Bewegung des russischen Proletariats haben wirtschaftliche Streiks wirklich eine gewaltige Rolle gespielt. Nur war der russische Kapitalismus damals nicht morsch, sondern wuchs und stieg rasch empor. Das russische Proletariat war ein unbeschriebenes Blatt und Streiks waren seine erste Form des Erwachens und der Betätigung. Und im Übrigen fielen die breiten Überschwemmungen der Streiks jedes mal mit einem Konjunkturaufschwung der Industrie zusammen.
Keine dieser Voraussetzungen ist in Frankreich vorhanden. Das französische Proletariat ist durch eine grandiose Schule der Revolution, des gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampfes gegangen und ist Träger all des positiven und negativen Erbes dieser reichen Vergangenheit. Schwerlich ist in Frankreich ein spontanes Anschwellen der Streikbewegungen zu erwarten, sogar in einer Periode wirtschaftlichen Aufschwungs, geschweige denn zu einer Zeit, wo eine Konjunkturkrise die offenen Wunden des: kapitalistischen Niedergangs noch vertieft.
Nicht weniger wichtig ist die andere Seite der Frage. Während der ersten stürmischen Streikbewegung in Russland gab es eine Fraktion in der russischen Sozialdemokratie, die sich auf ökonomische Teilforderungen zu beschränken suchte: die sogenannten «Ökonomisten». Ihrer Meinung nach sollte man die Losung «Nieder mit dem Selbstherrschertum!» zurückstellen bis zum Anbruch einer «revolutionären Situation». Lenin hielt die «Ökonomisten» für elende Opportunisten. Er zeigte, dass es gilt, die revolutionäre Situation selbst während der Periode der Streikbewegung aktiv vorzubereiten.
Ist es schon überhaupt absurd, die verschiedenen Etappen und Episoden der russischen revolutionären Bewegung mechanisch auf Frankreich zu übertragen, so ist ganz und gar unmöglich, es zu tun auf die Art Bela Kuns, der weder von Russland, noch von Frankreich, noch vom Marxismus eine Ahnung hat. Man soll in Lenins Schule die Methode des Handelns lernen, und nicht den Leninismus zu Zitaten und Rezepten verzapfen, die für alle Lebenslagen gleich passen.
Nach der Meinung der Stalinisten ist die Lage in Frankreich also nicht revolutionär, revolutionäre Losungen sind darum nicht angebracht, die ganze Aufmerksamkeit heißt es auf ökonomische Streiks und Teilforderungen richten. So das Programm. Ein opportunistisches und lebloses Programm, aber ein Programm.
Daneben gibt es aber noch ein anderes. Tag für Tag wiederholt die Humanité die dreifache Losung: «Friede, Brot, Freiheit!» Unter dieser Fahne, sagt die Humanité, haben 1917 die Bolschewiki gesiegt. Im Kielwasser der Stalinisten wiederholt der Sozialist Just denselben Gedanken. Sehr richtig. 1917 aber war in Russland die Lage ausgesprochen revolutionär. Wieso denn taugen Losungen, die den Sieg einer proletarischen Revolution sicherten, als «Tagesforderungen» einer nichtrevolutionären Situation? Mögen die Weisen der Humanité uns einfachen Sterblichen dies Geheimnis erklären.
Was uns betrifft, erinnern wir daran, welche «Tagesforderungen» die dreifache Losung der Bolschewiki umschloss.
«Frieden!» bedeutete 1917, im Kriege: Kampf gegen alle patriotischen Parteien von den Monarchisten bis zu den Menschewiki, Forderung der Veröffentlichung aller Geheimverträge, revolutionäre Mobilisierung der Soldaten gegen die Vorgesetzten und Organisierung der Verbrüderung an der Front. «Frieden!» bedeutete dem österreichischen und deutschen Militarismus einerseits, dem der Entente andererseits den Kampf anzusagen. Die Losung der Bolschewiki bezeichnete also die kühnste und revolutionärste Politik, die die Geschichte der Menschheit je gekannt hat.
1935, im Bunde mit Herriot und den bürgerlichen «Pazifisten» d.h. mit heuchlerischen Imperialisten, für den Frieden «kämpfen» bedeutet weiter nichts, als für den Status quo einzutreten, der der französischen Bourgeoisie im Augenblick dienlich ist. Bedeutet Einlullen und Demoralisierung der Arbeiter mit Illusionen über «Abrüstung» und «Nichtangriffspakte», mit der Völkerbundslüge, bedeutet Vorbereitung erneuter Kapitulation der Arbeiterparteien in dem Augenblick, wo es der französischen Bourgeoisie oder ihren Rivalen gut erscheinen wird, den Status quo umzustoßen.
«Brot!» Das bedeutete für die Bolschewiki 19l7: Enteignung der Großgrundbesitzer und Spekulanten vom Boden und von den Getreidevorräten, und Getreidehandelsmonopol in den Händen der Arbeiter- und Bauernregierung. Was bedeutet die Losung «Brot!» bei den französischen Stalinisten von 1935? Bloßes Nachplappern des Wortes!
«Freiheit» Die Bolschewiki zeigten den Massen, dass die Freiheit nur Schein ist, solange Schule, Presse und Versammlungsräume in den Händen der Bourgeoisie verbleiben. «Freiheit!» hieß: Übernahme der Macht durch die Sowjets, Enteignung der Großgrundbesitzer, Arbeiterkontrolle der Produktion.
«Freiheit!» im Bunde mit Herriot und den ehrbaren Damen beiderlei Geschlechts von der Liga für Menschenrechte bedeutet: Unterstützung der halb bonapartistischen, halb parlamentarischen Regierungen, und weiter nichts. Die Bourgeoisie braucht gegenwärtig nicht nur die Banden La Rocques, sondern auch das «linke» Ansehen Herriots. Das Finanzkapital bewaffnet die Faschisten. Die Stalinisten stellen das linke Ansehen Herriots mittels der Maskeraden der «Volksfront» wieder her. Dazu dienen im Jahre 1935 die Losungen der Oktoberrevolution!
Als einziges Beispiel für die neue «realistische» Politik erzählt die Resolution des Zentralkomitees, wie die Arbeitslosen von Villejuif in die Volksküche der Croix de Feu Suppe essen gehen und dabei rufen: «La Rocque an den Galgen!» Wie viele die Suppe essen und wie viele rufen, wird uns nicht gesagt: Zahlen können die Stalinisten nun einmal nicht vertragen. Aber nicht darum handelt es sich … Wie tief muss eine «revolutionäre» Partei gesunken sein, um in einer programmatischen Resolution für die proletarische Politik kein anderes Beispiel zu finden als die ohnmächtigen Rufe bedrückter und ausgehungerter Arbeiter, die gezwungen sind, sich von den Brosamen der faschistischen Wohltätigkeit zu nähren. Und diese Führer empfinden nicht ihre Niedrigkeit und ihre Schande!
Marx zitierte einmal, als er von gewissen seiner Schüler sprach, Heines Worte: «Ich habe Drachen gesät und Flöhe geerntet». Wir fürchten, die Gründer der Dritten Internationale müssen dieselben Worte wiederholen … Indessen, unsere Epoche verlangt nicht nach Flöhen, sondern nach Drachen!
Das 1928 in der Periode ihres theoretischen Verfalls verfasste Programm der kommunistischen Internationale sagt: «Die Epoche des Imperialismus ist die Epoche des sterbenden Kapitalismus». An sich ist diese lange vorher von Lenin formulierte Feststellung ganz unbestreitbar und für die Politik des Proletariats in unserer Epoche von entscheidender Bedeutung. Aber die Verfasser des Kominternprogramms haben die mechanisch übernommene These vom sterbenden oder faulenden Kapitalismus keineswegs begriffen. Dies Unverständnis kam besonders deutlich in der für uns brennendsten Frage zum Vorschein: beim Faschismus.
Das Kominternprogramm sagt in dieser Beziehung: «Neben der Sozialdemokratie, die der Bourgeoisie hilft, das Proletariat zu erdrosseln und dessen Wachsamkeit einzuschläfern, trat der Faschismus auf». Die Komintern hat nicht begriffen, dass die Mission des Faschismus nicht ist, neben der Sozialdemokratie zu wirken, sondern alle alten Arbeiterorganisationen. einschließlich der reformistischen, zu zerschlagen. Aufgabe des Faschismus sei, wie das Programm sich ausdrückt, «die Vernichtung der kommunistischen Schichten des Proletariats und ihrer leitenden Kader». Der Faschismus bedrohe keineswegs die Sozialdemokratie und die reformistischen Gewerkschaften, im Gegenteil, die Sozialdemokratie selbst spiele immer mehr eine «faschistische Rolle». Der Faschismus ergänze nur das Werk des Reformismus, indem er «neben der Sozialdemokratie» auftritt.
Wir zitieren nicht etwa den Artikel irgendeines Thorez‘ oder Duclos‘, die sich auf Schritt und Tritt widersprechen, sondern das grundlegende Dokument der Komintern. ihr Programm (siehe Kap. II, Absatz 3: «Die Krise des Kapitalismus und der Faschismus»). Dort finden wir alle Grundelemente der Theorie vom Sozialfaschismus. Die Kominternführer haben nicht begriffen, dass mit dem faulenden Kapitalismus auch die gemäßigtste und unterwürfigste Sozialdemokratie unverträglich ist, sowohl als Regierungspartei wie in der Opposition. Der Faschismus ist berufen, nicht «neben der Sozialdemokratie», sondern auf ihren Gebeinen Platz zu nehmen. Gerade daraus ergaben sich Möglichkeit, Notwendigkeit und Dringlichkeit der Einheitsfront, Aber die unglückselige Kominternführung hat die Einheitsfrontpolitik nur in der Periode anzuwenden versucht, als die Sozialdemokratie sie nicht nötig hatte. Seitdem die Lage des Reformismus wacklig wurde und die Sozialdemokratie Schlägen ausgesetzt war, lehnte die Komintern die Einheitsfront ab. Diese Leute haben die ärgerliche Neigung, im Sommer einer Überzieher zu tragen und im Winter splitternackt zu gehen!
Trotz der lehrreichen Erfahrung Italiens schrieb die Komintern Stalins genialen Aphorismus auf ihre Fahne: «Sozialdemokratie und Faschismus sind nicht Antipoden, sondern Zwillinge». Das ist die Hauptursache der Niederlage des deutschen Proletariats. Gewiss machte die Komintern in der Einheitsfrontfrage eine jähe Wendung: die Tatsachen erwiesen sich mächtiger als das Programm. Doch das Kominternprogramm wurde weder beseitigt noch geändert. Seine Grundfehler wurden den Arbeitern nicht erklärt. Die Kominternführer, die ihr Selbstvertrauen verloren haben, lassen für alle Fälle die Türe offen für ein Zurück auf die Positionen des «Sozialfaschismus». Dadurch bekommt die Einheitsfrontpolitik einen prinzipienlosen, diplomatischen und unsicheren Charakter.
Das Unverständnis für den Sinn der leninschen These vom «Kapitalismus in der Agonie» gibt der ganzen gegenwärtigen Politik der französischen Kompartei das Gepräge kreischender Ohnmacht, vermehrt um reformistische Illusionen. Während doch der Faschismus das organische Erzeugnis des kapitalistischen Niedergangs ist, sind die Stalinisten plötzlich überzeugt, dass es möglich sei. mit dem Faschismus fertig zu werden, ohne an die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft zu rühren.
Am 6. März 1935 schrieb Thorez zum hundertundersten Mal in der Humanité:
«Um dem Faschismus die endgültige Niederlage zu bereiten, schlagen wir aufs neue der sozialistische Partei gemeinsame Aktion zwecks Verteidigung der Tagesforderungen vor…»
Jeder bewusste Arbeiter sollte über diesen programmatischen Satz gut nachdenken. Der Faschismus erwächst, wie wir wissen, aus der Paarung der Verzweiflung der Mittelklassen mit der terroristischen Politik des Großkapitals. «Tagesforderungen» sind Förderungen, die den Rahmen des Kapitalismus nicht überschreiten. Wieso kann man denn, ohne den Boden des faulenden Kapitalismus zu verlassen, «dem Faschismus die endgültige (!) Niederlage bereiten»?
Wenn Jouhaux sagt: indem wir der Krise ein Ende bereiten (so einfach ist das nicht!), werden wir damit auch den Faschismus besiegt haben, dann bleibt er sich wenigstens selbst treu: noch und noch setzt er seine Hoffnung auf die Erneuerung und Verjüngung des Kapitalismus. Die Stalinisten aber anerkennen in Worten die Unausweichlichkeit des baldigen Zerfalls des Kapitalismus. Wie können sie versprechen, den politischen Überbau zu gesunden durch endgültige Besiegung des Faschismus, und gleichzeitig die faulende wirtschaftliche Basis der Gesellschaft unangetastet zu lassen.
Meinen sie, das Großkapital könne nach Belieben das Rad der Geschichte rückwärts drehen und wieder den Weg der Zugeständnisse und «Reformen» beschreiten? Glauben sie, das Kleinbürgertum könne mit «Tagesforderungen» vor wachsendem Ruin, vor Deklassierung und Verzweiflung bewahrt werden? Ja, wie soll man dann die tradeunionistischen und reformistischen Illusionen mit der These vom Kapitalismus in der Agonie in Einklang bringen?
Theoretisch betrachtet ist die Einstellung der Kompartei, wie wir sehen, reinster Unsinn. Schauen wir zu, wie diese Einstellung im Lichte des praktischen Kampfes aussieht.
Am 28. Februar drückte Thorez in folgenden Worten den gleichen durch und durch falschen Grundgedanken der gegenwärtigen Politik der Kompartei aus:
«Um den Faschismus endgültig zu schlagen, heißt es, das ist sonnenklar, der wirtschaftlichen Offensive des Kapitals gegen das Lebensniveau der werktätigen Massen Einhalt gebieten».
Wozu die Arbeitermiliz? Wozu direkten Kampf gegen den Faschismus? Es heißt, das Lebensniveau der Massen zu heben suchen, und der Faschismus wird wie durch Zauberschlag verschwinden.
Leider, ach, ist in diesen Zeilen die ganze Perspektive des kommenden Kampfes völlig verzerrt, sind die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Die Kapitalisten kommen zum Faschismus nicht, weil es ihnen so gefällt, sondern weil sie müssen: sie können das Privateigentum an den Produktionsmitteln nur aufrechterhalten durch eine Offensive gegen die Arbeiter, durch verschärfte Unterdrückung, durch Verbreitung von Elend und Verzweiflung. Gleichzeitig in Furcht vor dem unvermeidlichen Widerstand der Arbeiter, hetzen die Kapitalisten durch ihre Mittelsmänner das Kleinbürgertums gegen das Proletariat, welches sie beschuldigen, die Krise zu verlängern und zu vertiefen, und finanzieren die faschistischen Banden, um die Arbeiter zu zertreten.
Wenn morgen der Widerstand der Arbeiter auf die Offensive des Kapitals sich verstärkt, wenn Streiks häufiger und bedeutender werden, dann wird der Faschismus, entgegen Thorez‘ Worten, nicht verschwinden, sondern im Gegenteil doppelt so stark werden. Das Anwachsen der Streikbewegung wird die Mobilisierung von Streikbrechern hervorrufen. Alle «patriotischen» Banditen werden in die Bewegung eintreten. Tägliche Angriffe auf die Arbeiter werden an der Tagesordnung sein. Davor die Augen schließen, heißt dem sicheren Untergang entgegengehen.
Das heißt wohl, werden Thorez und Konsorten erwidern, dass man keinen Widerstand leisten soll? (Folgen die üblichen Beschimpfungen gegen uns, über die wir wie über eine dreckige Pfütze hinwegschreiten werden). Nein, Widerstand ist notwendig. Wir gehören keineswegs zu der Schule, die meint, Schweigen, Ausweichen, Kapitulieren sei das beste Schutzmittel. «Provoziert den Feind nicht!», «Verteidigt euch nicht!», «Bewaffnet euch nicht», «Legt euch auf den Rücken und streckt alle Viere gen Himmel!». Die Theoretiker dieser strategischen Schule sind nicht bei uns, sondern in der Redaktion der Humanité zu suchen! Es ist notwendig, dass das Proletariat Widerstand leistet, will es nicht vernichtet werden. Aber dann ist keine reformistische und pazifistische Illusion zulässig. Der Kampf wird erbittert sein. Es gilt im Voraus die unvermeidlichen Folgen des Widerstands zu sehen und sich darauf vorzubereiten.
Durch ihre gegenwärtige Offensive gibt die Bourgeoisie dem Verhältnis zwischen der wirtschaftlichen und der sozialen Lage des faulenden Kapitalismus einen neuen‚ unvergleichlich schärferen Charakter. Genau ebenso müssen auch die Arbeiter ihrer Abwehr einen neuen, den Methoden des Klassenfeindes entsprechenden Charakter geben. Gleichzeitig mit der Verteidigung gegen die ökonomischen Hiebe des Kapitals gilt es zu verstehen, die eigenen Organisationen gegen die Söldnerbanden des Kapitals zu verteidigen. Anders als durch die Arbeitermiliz ist das unmöglich. Keine leeren Behauptungen, kein Geschrei und keine Beschimpfung der Humanité können diesen Schluss entkräften.
Besonders zu den Gewerkschaften muss man sagen: Genossen, eure Lokale und eure Zeitungen werden gebrandschatzt, eure Organisationen zu Staub verwandelt werden, wenn ihr nicht unmittelbar dazu übergeht, gewerkschaftliche Abwehrstaffeln («Gewerkschaftsmiliz») zu bilden, wenn ihr nicht in der Tat beweist, dass ihr kampflos keinen Fingerbreit vor dem Faschismus zurückweichen werdet.
In demselben Artikel (vom 28. Februar) beklagt sich Thorez:
«Die sozialistische Partei hat unsere Vorschläge für eine umfassende Aktion einschließlich Streik‚ gegen die noch immer in Kraft befindlichen Notverordnungen nicht angenommen».
Einschließlich Streik? Was für ein Streik? Da es sich um die Aufhebung der Notverordnungen handelt, so hat Thorez anscheinend nicht wirtschaftliche Teilstreiks, sondern den Generalstreik, d.h. einen politischen Streik im Auge. Er spricht das Wort «Generalstreik» nicht aus, damit man nicht merke, dass er ja nur unseren alten Vorschlag wiederholt. Zu welch erbärmlichen Schlichen müssen die Armen greifen, um ihr Schwanken und ihre Selbstwidersprechungen zu verschleiern!
Dies Verfahren ist anscheinend Methode geworden. In seinem offenen Brief vom 12. März schlägt das Zentralkomitee der Kompartei der sozialistischen Partei vor, gegen den zweijährigen Militärdienst eine entschiedene Kampagne zu eröffnen «mit allen Mitteln, einschließlich Streik». Wiederum dieselbe geheimnisvolle Formel! Das Zentralkomitee meint offenbar den Streik als Mittel des politischen, d.h. revolutionären Kampfes. Aber warum fürchtet es dann, das Wort Generalstreik laut auszusprechen und redet bloß von Streik schlechthin? Mit wem spielt das Zentralkomitee Versteck? Wohl mit dem Proletariat?
Lässt man aber diese unangebrachten Methoden zur Rettung des «Prestige» beiseite, dann bleibt die Tatsache, dass das Zentralkomitee der Kompartei zum Kampf gegen das bonapartistische Gesetzeswerk der Doumergue-Flandin den Generalstreik vorschlägt. Wir sind damit vollkommen einverstanden. Doch verlangen wir, dass die Führer der Arbeiterorganisationen selbst begreifen und den Massen auseinandersetzen, was unter den gegenwärtigen Umständen der Generalstreik bedeutet und wie man sich darauf vorbereiten soll.
Schon ein einfacher wirtschaftlicher Streik erfordert in der Regel eine Kampforganisation, insbesondere Streikposten. Unter den heutigen Umständen — Erbittertheit des Klassenkampfes, faschistische Provokation und faschistischer Terror — ist eine sorgfältige Organisierung der Streikposten eine Lebensfrage für jeden bedeutenden wirtschaftlichen Konflikt. Man stelle sich doch einen Gewerkschaftsführer vor, der erklärte: «Nein, keine Streikposten, das ist Provokation, die Selbstverteidigung der Streikenden genügt!» Ist nicht klar, dass die Arbeiter einem derartigen «Führer freundschaftlich raten müssten, ins Hospital, wenn nicht sogleich ins Irrenhaus zu gehen? Sind doch Streikposten gerade das wichtigste Organ der Selbstverteidigung der Streikenden!
Dehnen wir diesen Gedankengang auf den Generalstreik aus. Wir meinen keine bloße Kundgebung. keinen symbolischen Einstunden- oder sogar 24-Stunden-Streik, sondern eine Schlachtoperation mit dem Ziel, den Gegner zum Nachgeben zu zwingen. Unschwer ist zu begreifen, welch furchtbare Verbitterung des Klassenkampfes ein Generalstreik unter den augenblicklichen Umständen bedeuten würde! Die faschistischen Banden würden überall wie Pilze aus dein Boden schießen und mit all ihren Kräften versuchen, Verwirrung, Provokation und Zersetzung in die Reihen der Streikenden zu tragen. Wie den Generalstreik anders vor überflüssigen Opfern und sogar seinem vollständigen Zusammenbruch bewahren als durch straff disziplinierte Arbeiterkampfstaffeln? Generalstreik ist verallgemeinerter Teilstreik. Die Arbeitermiliz ist der verallgemeinerte Streikposten. Nur elende Schwätzer und Prahler können heutzutage mit dem Gedanken des Generalstreiks spielen und gleichzeitig das zähe Arbeiten an der Schaffung der Arbeitermiliz verweigern!
Doch damit ist das Maß des Missgeschicks des Zentralkomitees der Kompartei noch nicht voll.
Der Generalstreik ist, wie jeder Marxist weiß, eins der revolutionärsten Kampfmittel. Der Generalstreik wird nur möglich, wenn der Klassenkampf über alle korporativen Sonderinteressen hinausgeht, allen Berufs- und Wohngebietsscheidungen zum Trotz sich ausdehnt, die Grenzen zwischen Parteien und Gewerkschaften, zwischen dem Gesetzlichen und dem Ungesetzlichen verwischt, die Mehrheit des Proletariats mobilisiert und es aktiv der Bourgeoisie und dem Staat gegenüberstellt. Nach dem Generalstreik kann nur noch der bewaffnete Aufstand kommen. Die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung bezeugt. dass der Generalstreik, mit welchen Losungen er auch auftritt, stets die innere Tendenz hat, in ausgesprochen revolutionären Konflikt, in direkten Machtkampf überzugehen. Mit anderen Worten: der Generalstreik ist möglich nur in Verhältnissen äußerster politischer Spannung und darum stets ein unverkennbarer Ausdruck des revolutionären Charakters der Situation. Wieso kann in diesem Fall das Zentralkomitee den Generalstreik vorschlagen? «Die Situation ist nicht revolutionär»!
Vielleicht wird uns Thorez entgegnen, dass er nicht den eigentlichen General- streik meint, sondern einen kleinen harmlosen Streik, gerade gut für den Hausgebrauch der Humanitéredaktion? Oder fügt er wohl diskret hinzu, dass er ja gar nichts riskiert, wenn er den SFIO-Führern den Generalstreik vorschlägt, da sie voraussichtlich doch ablehnen? Nun, am wahrscheinlichsten ist, dass Thorez statt einer Erwiderung uns einfach anklagen wird, mit Chiappe, Ex-Alfons XIII und dem Papst ein Komplott zu schmieden: solche Antworten gelingen Thorez am besten!
Aber jeder kommunistische Arbeiter, der einen Schädel auf den Schultern hat, soll über die schreienden Widersprüche seiner unseligen Führer nachdenken: seht, die Bildung einer Arbeitermiliz ist unmöglich, wo die Situation doch nicht revolutionär ist; ja, es ist sogar unmöglich, für die Bewaffnung des Proletariats Propaganda zu machen, d.h. die Arbeiter auf die zukünftige revolutionäre Situation vorzubereiten; aber wie es scheint, ist es schon heute möglich, die Arbeiter zum Generalstreik aufzufordern, trotz Fehlen der revolutionären Situation. Wahrlich, hier sind alle Grenzen der Dummheit und des Unsinns überschritten!
Auf allen Versammlungen hört man die Kommunisten die Losung skandieren. die ihnen als Erbschaft aus der «dritten Periode» geblieben ist: «Überall Sowjets». Es ist absolut klar, dass diese Losung, nimmt man sie ernst, zutiefst revolutionär ist: unmöglich ist das Sowjetregime anders zu errichten als durch bewaffneten Aufstand gegen die Bourgeoisie. Aber der bewaffnete Aufstand setzt Waffen in den Händen des Proletariats voraus. Somit sind die Losungen «Überall Sowjets!» und «Arbeiterbewaffnung» eng und untrennbar miteinander verknüpft. Warum wird aber die erste Losung von den Stalinisten unaufhörlich wiederholt und die zweite zu «trotzkistischer Provokation» gestempelt?
Wir sind mit um so mehr Recht verdutzt, als die Losung der Arbeiterbewaffnung der augenblicklichen politischen Lage und der Geistesverfassung des Proletariats weit mehr entspricht. Die Losung der «Sowjets» ist ihrem Wesen nach offensiv und setzt eine siegreiche Revolution voraus. Indes, heute befindet sich das Proletariat in der Defensive. Der Faschismus bedroht es unmittelbar mit physischer Vernichtung. Die Notwendigkeit der Verteidigung, selbst mit der Waffe in der Hand, leuchtet heute viel breiteren Schichten ein als der Gedanke einer revolutionären Offensive. Die Losung der Bewaffnung darf daher in der gegenwärtigen Etappe mit einem weit größeren und weit aktiveren Echo rechnen als die Losung der Sowjets. Wie kann nur eine Arbeiterpartei, wenn sie nicht tatsächlich die Interessen der Revolution verraten hat, eine so außergewöhnliche Lage fahren lassen und niederträchtig den Gedanken der Bewaffnung kompromittieren, statt ihn eifrig zu popularisieren?
Wir wollen gern zugeben, dass wir diese Frage stellen, weil sie uns so von unserer «konterrevolutionären» Natur und im Besonderen durch den Wunsch diktiert ist, die Militärintervention auszulösen: bekanntlich werden der Mikado und Hitler, sobald sie durch unsere Fragestellung sich davon überzeugt haben werden, welcher Wind in Bela Kuns und Thorez Köpfen weht, der UdSSR den Krieg erklären.
All das ist von Duclos unwiderlegbar festgestellt und bedarf keiner Beweise. Aber immerhin habt die Güte zu antworten: wie soll man zu den Sowjets gelangen ohne bewaffneten Aufstand? Wie soll man zum Aufstand gelangen ohne Bewaffnung der Arbeiter? Wie sich gegen den Faschismus verteidigen ohne Waffen? Wie auch nur zu einer teilweisen Bewaffnung kommen ohne Propaganda für diese Losung?
Auf eine derartige Frage kann man keine Antwort a priori, d. h. keine im voraus fertige Antwort geben. Um eine Antwort zu bekommen, muss man zu fragen wissen. Wen? Die Masse. Wie fragen? Mittels der Agitation.
Die Agitation ist nicht nur ein Mittel, den Massen diese oder jene Losungen mitzuteilen, die Massen zur Aktion aufzurufen usw. Die Agitation ist für die Partei auch ein Mittel, den Massen zu lauschen, ihre Stimmungen und Gedanken zu ergründen und je nach den Resultaten diesen oder jenen praktischen Entschluss zu fassen. Nur die Stalinisten machten die Agitation zu einem kreischenden Monolog: Für die Marxisten, Leninisten ist die Agitation stets ein Zwiegespräch mit der Masse.
Damit aber diese Zwiesprache die notwendigen Resultate ergebe, muss die Partei die allgemeine Lage im Lande richtig beurteilen und den allgemeinen Weg des kommenden Kampfes vorzeichnen. Mittels der Agitation und der Ergründung der Massen muss die Partei an ihrer Einstellung die notwendigen Verbesserungen und Vergenauerungen anbringen im Besonderen hinsichtlich des Bewegungstempos und der Daten der großen Aktionen.
Die Lage im Land ist weiter oben definiert worden: sie ist vorrevolutionär bei nichtrevolutionärer Führung des Proletariats. Und da die Politik des Proletariats der Hauptfaktor in der Entwicklung einer revolutionären Situation ist, hemmt der nichtrevolutionäre Charakter der proletarischen Führung die Umwandlung der vorrevolutionären Lage in eine ausgesprochen revolutionäre und trägt eben dadurch dazu bei. dass sie in eine konterrevolutionäre umschlägt.
In der objektiven Wirklichkeit gibt es selbstverständlich keine strengen Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Stadien des politischen Prozesses. Eine Etappe schiebt sich in die andere, und die Lage weist infolgedessen verschiedene Widersprüche auf. Diese Widersprüche erschweren gewiss die Diagnose und die Prognose, machen sie aber keineswegs unmöglich.
Die Kräfte des französischen Proletariats sind nicht nur nicht verbraucht, sondern sogar unangetastet. Der Faschismus ist als politischer Faktor in den kleinbürgerlichen Massen noch verhältnismäßig schwach (wenn auch viel mächtiger, als die Parlamentarier glauben). Diese beiden sehr wichtigen politischen Tatsachen gestatten mit voller Überzeugung zu sagen: noch ist nichts verloren, die Möglichkeit. die vorrevolutionäre Lage in eine revolutionäre zu verwandeln, ist noch voll und ganz gegeben.
Indes, in einem kapitalistischen Land wie Frankreich kann es keinen revolutionären Kampf geben ohne Generalstreik: wenn die Arbeiter und Arbeiterinnen während der entscheidenden Tage in den Fabriken bleiben, wer soll dann kämpfen? Somit stellt sich der Generalstreik auf die Tagesordnung.
Allein, der Zeitpunkt des Generalstreiks ist eine Frage der Bereitschaft der Massen zum Kampf und der Bereitschaft der Arbeiterorganisationen, sie in den Kampf zu führen
Doch ist es wahr, dass nur die revolutionare Führung fehlt? Ist nicht in den Massen selbst, im Proletariat eine große konservative Kraft zu beobachten? Solche Stimmen sind von allen Seiten zu hören. Und kein Wunder! Sobald eine revolutionäre Krise naht, verbergen sich zahlreiche Führer, denen vor der Verantwortung bange ist, hinter dem angeblichen Konservatismus der Massen. Die Geschichte lehrt uns, dass einige Wochen, ja Tage vor dem Oktoberaufstand hervorragende Bolschewiki wie Sinowjew, Kamenjew, Rykow (von den Losowski, Manuilski usw. ganz zu schweigen) behaupteten, die Massen seien müde und wollten nicht kämpfen. Und dabei standen Sinowjew, Kamenjew und Rykow als Revolutionäre turmhoch über den Cachin, Thorez und Monmousseau.
Wer sagt, das französische Proletariat sei nicht gewillt oder nicht imstande, den revolutionären Kampf zu führen, der verleumdet es und dichtet den werktätigen Massen seine eigene Schlappheit und Feigheit an. Bisher hat es noch keinen Fall gegeben, weder in Paris noch in der Provinz, wo die Massen einem Aufruf von oben nicht Folge geleistet hätten.
Das größte Beispiel ist der Generalstreik vom 12. Februar 1934. Trotz vollständiger Spaltung in der Leitung, trotz Fehlen jeglicher ernsten Vorbereitung, trotz hartnäckigen Anstrengungen der CGT-Führer, die Bewegung auf ein Minimum zurückzuführen, da sie sie ja nicht ganz verhindern konnten, hatte der Generalstreik den größten Erfolg, den er unter den gegebenen Umständen haben konnte. Es ist klar: die Massen, wollten kämpfen. Jeder bewusste Arbeiter muss sich sagen: der Druck von unten muss doch wohl mächtig gewesen sein, wenn sogar Jouhaux einen Moment lang aus seiner Unbeweglichkeit heraustrat. Gewiss handelte es sich nicht um einen Generalstreik im eigentlichen Sinne, sondern bloß um eine Kundgebung von 24 Stunden. Doch diese Beschränkung stammte nicht von den Massen‚ sondern war von oben diktiert.
Die Demonstration auf dem Platz der Republik vom 10. Februar d.J. bestätigt gleichfalls diese Schlussfolgerung. Das einzige Instrument, dass die führenden Kreise zur Vorbereitung gebraucht hatten, war die Feuerspritze. Die einzige Losung, die die Massen zu hören bekamen, war: Psst! Psst! Nichtsdestoweniger übertraf die Zahl der Manifestanten alle Erwartungen. In der Provinz stand es im letzten Jahr und steht es genau so. Es ist unmöglich, auch nur eine einzige ernst zu nehmende Tatsache zu nennen, die bezeugte. dass die Führer kämpfen wollten und die Massen ihnen die Gefolgschaft verweigert hätten. Immer und überall war ein glatt umgekehrtes Verhältnis zu beobachten. Das gilt auch heute noch in vollem Umfang. Die Basis will kämpfen, die Spitzen bremsen. Das ist die Hauptgefahr, sie kann zu einer wahren Katastrophe führen.
Dasselbe Verhältnis ist nicht nur zwischen den Parteien (oder Gewerkschaften) und dem Proletariat, sondern auch innerhalb jeder Partei anzutreffen. So hat Frossard an der Basis der SFIO nicht die mindeste Stütze: einzig und allein die Abgeordneten und Bürgermeister halten zu ihm, die wollen, dass alles beim Alten bleibe. Marceau Pivert hingegen wird dank seinem immer klareren und entschlosseneren Auftreten eine der beliebtesten Figuren bei der Basis. Wir geben das um so bereitwilliger zu, als wir in der Vergangenheit nie darauf verzichteten und in Zukunft auch nicht darauf verzichten werden, offen zu sagen, wann wir mit Pivert nicht einer Meinung sind.
Als politisches Symptom überragt diese Tatsache jedoch an Bedeutung weit die Frage der Personen Frossards und Piverts: sie zeigt die allgemeine Entwicklungstendenz. Die Basis der sozialistischen Partei, wie auch der kommunistischen, ist linker, revolutionärer, kühner als die Spitzen: eben deswegen will sie nur den linken Führern Vertrauen schenken. Mehr noch: sie drängt die aufrichtigen Sozialisten immer weiter nach links. Warum indessen radikalisiert sich die Basis? Weil sie mit den Volksmassen, mit ihrem Elend, ihrer Empörung, ihrem Hass unmittelbar in Berührung steht. Dies ist ein untrügliches Symptom, auf das man sich verlassen kann.
Die Führer der Kompartei können sich zwar darauf berufen, dass die Massen ihren Appellen nicht Folge leisten. Allein, diese Tatsache entkräftigt nicht, sondern bekräftigt unsere Analyse. Die Arbeitermassen begreifen was die «Führer» nicht begreifen, nämlich dass bei schwerer sozialer Krise der wirtschaftliche Teilkampf allein, der gewaltige Anstrengungen und gewaltige Opfer erfordert, keine ernsten Resultate bringen kann. Schlimmer: er kann das Proletariat schwächen und erschöpfen. Die Arbeiter sind wohl bereit, an Kampfkundgebungen und am Generalstreik teilzunehmen, nicht aber an kleinen, ermüdenden und aussichtslosen Streiks. Trotz allen Aufrufen, Manifesten und Artikeln der Humanité treten die kommunistischen Agitatoren fast nirgends vor die Massen, um Streiks namens «unmittelbarer Teilforderungen» zu predigen. Sie fühlen, die bürokratischen Pläne der Führer entsprechen absolut nicht der objektiven Lage und der Massenstimmung. Ohne eine große Perspektive können und werden die Massen nicht in den Kampf treten. Die Politik der Humanité ist eine Politik des künstlichen und falschen Schein«realismus». Der Misserfolg der CGTU beim Ansagen von Teilstreiks ist eine mittelbare, aber sehr reale Bestätigung für die Tiefe der Krise und die geistige Spannung in den Arbeitervierteln.
Man darf jedoch auch nicht glauben, dass die Radikalisierung der Massen von selbst und automatisch zunehmen werde. Die Arbeiterklasse erwartet von ihren Organisationen eine Initiative. Wenn sie merken wird, dass sie in ihren Erwartungen enttäuscht wurde — und diese Stunde ist vielleicht nicht so fern — dann wird der Radikalisierungsprozess abbrechen, in Mutlosigkeit und Erschlaffung und vereinzelte Verzweiflungsausbrüche umschlagen. Am Rande des Proletariats werden sich zu den anarchistischen faschistische Tendenzen gesellen. Der Wein wird zu Essig geworden sein.
Die Veränderungen in der politischen Stimmung der Massen erfordern größte Aufmerksamkeit. Diese lebendige Dialektik in jeder Etappe zu ergründen, das ist die Aufgabe der Agitation. Augenblicklich bleibt die Einheitsfront frevelhafterweise sowohl hinter der Entwicklung der sozialen Krise, wie hinter der Massenstimmung zurück. Noch ist es möglich, die verlorene Zeit aufzuholen. Aber noch weiter Zeit verlieren darf man nicht. Die Geschichte zählt jetzt nicht nach Jahren, sondern nach Monaten und Wochen.
Um festzustellen, in welchem Maße die Massen zum Generalstreik bereit sind, und um gleichzeitig die Kampfstimmung der Massen zu erhöhen, gilt es ihnen ein revolutionäres Aktionsprogramm vorzulegen. Teillosungen wie Aufhebung der bonapartistischen Notverordnungen und des zweijährigen Militärdienstes werden natürlich in diesem Programm einen hervorragenden Platz einnehmen. Aber diese beiden episodischen Losungen sind gänzlich unzureichend.
Über allen Teilaufgaben und -forderungen unserer Epoche steht die Machtfrage. Seit dem 6. Februar steht die Machtfrage als eine Frage der Kraft. Die Gemeinde- und Parlamentswahlen mögen ihre Bedeutung haben für die Kräftebeurteilung, aber nicht mehr. Entschieden wird die Frage durch den offenen Konflikt der beiden Lager. Regierungen wie Doumergue, Flandin werden den Vordergrund nur bis zum Tage der endgültigen Auseinandersetzung behaupten. Morgen wird entweder der Faschismus oder das Proletariat Frankreich regieren.
Ehen weil das gegenwärtige staatliche Interegnum ungemein unsicher ist, kann der Generalstreik große Teilerfolge zeitigen, nämlich der Regierung Zugeständnisse in der Frage der bonapartistischen Notverordnungen, des zweijährigen Militärdienstes usw. abringen. Doch ein derartiger an sich äußerst kostbarer und bedeutender Erfolg wird das Gleichgewicht der «Demokratie» nicht wiederherstellen: das Finanzkapital wird die Subsidien für den Faschismus verdoppeln, und die Machtfrage wird sich, vielleicht nach einer kurzen Pause, mit doppelter Gewalt stellen.
Die wesentliche Bedeutung des Generalstreiks, unabhängig von den Teilerfolgen, die er haben, aber auch nicht haben kann, liegt darin, dass er revolutionär die Machtfrage stellt. Indem das Proletariat die Fabriken, den Transport, alle Verkehrsmittel überhaupt, die Elektrizitätswerke usw. stillegt, lähmt es damit nicht nur die Produktion, sondern auch die Regierung. Die Staatsgewalt hängt in der Luft. Sie muss entweder das Proletariat durch Hunger und Gewalt zähmen, es so zwingen. den bürgerlichen Staatsapparat wieder in Gang zu setzen, oder aber dem Proletariat Platz machen.
Für welche Losungen und aus welchem Anlass der Generalstreik auch ausbricht, stellt er, wenn er die eigentlichen Massen ergreift und diese Massen wirklich kampfentschlossen sind, unvermeidlich alle Klassen der Nation vor die Frage: wer soll Herr im Hause sein?
Die Führer des Proletariats müssen diese innere Logik des Generalstreiks verstehen, sonst sind sie keine Führer, sondern Dilettanten und Abenteurer. Politisch bedeutet das: den Führern liegt es ob, schon jetzt vor dem Proletariat das Problem der revolutionären Machteroberung aufzurollen. Andernfalls sollen sie sich nicht unterstehen, von Generalstreik zu reden. Aber verzichten sie auf den Generalstreik, so verzichten sie damit auf revolutionären Kampf überhaupt, d. h. liefern das Proletariat dem Faschismus aus.
Entweder vollständige Kapitulation oder revolutionären Kampf um die Macht, das ist die Alternative, die sich aus den gesamten Umständen der heutigen Krise ergibt. Wer diese Alternative nicht begriffen hat, der hat im Lager des Proletariats nichts zu suchen
Die Frage des Generalstreiks verwickelt sich dadurch, dass die CGT das Monopol beansprucht, den Generalstreik auszurufen und zu führen. Demnach ginge diese Frage die Arbeiterparteien gar nichts an. Und was einen auf den ersten Blick am meisten überrascht, ist, dass es sozialistische Abgeordnete gibt, die diesen Anspruch ganz in der Ordnung finden: in Wahrheit wollen sie sich bloß dieser Verantwortung entledigen.
Ziel des Generalstreiks ist, wie schon sein Name sagt, möglichst das gesamte Proletariat zu erfassen. Die CGT vereinigt in ihren Reihen vermutlich nicht mehr als 5-8% des Proletariats. Der eigne Einfluss der CGT jenseits der Gewerkschaftsgrenzen ist absolut unbedeutend, soweit er nicht in dieser oder jener Frage mit dem Einfluss der Arbeiterparteien zusammenfällt. Kann man zum Beispiel den Einfluss der CGT-Zeitung Le Peuple mit dem des Populaire oder der Humanité vergleichen?
Die Leitung der CGT steht ihren Auffassungen und Methoden nach den Aufgaben der heutigen Epoche noch weit ferner als die der Arbeiterparteien. Je weiter man von den Apparatspitzen zur Basis der Gewerkschaftsmitglieder hin- absteigt, um so geringer das Vertrauen in Jouhaux und seine Gruppe. Der Mangel an Vertrauen schlägt immer mehr in aktives Misstrauen um. Der heutige konservative Apparat der CGT wird unvermeidlich durch die fernere Entwicklung der revolutionären Krise hinweggefegt werden.
Der Generalstreik ist seinem Wesen nach ein politisches Unternehmen. Er stellt die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit dem bürgerlichen Staat entgegen. Er versammelt gewerkschaftlich Organisierte und Unorganisierte, sozialistische, kommunistische und parteilose Arbeiter. Er braucht einen Presse- und Agitatorenapparat, wie ihn die CGT allein keineswegs besitzt.
Der Generalstreik stellt geradeheraus die Frage der Machteroberung durch das Proletariat. Die CGT kehrte und kehrt dieser Aufgabe den Rücken (der Blick der CGT-Führer ist auf den bürgerlichen Staat gerichtet). Die CGT-Führer selbst fühlen allerdings, dass die Führung des Generalstreiks ihre Kräfte übersteigt. Wenn sie dennoch das Monopol seiner Führung beanspruchen. so einzig und allein weil sie auf diese Weise den Generalstreik im Keim zu ersticken hoffen.
Und der Generalstreik vom 12. Februar 1934? Das war nur eine kurze und friedfertige Demonstration, der CGT von den sozialistischen und kommunistischen Arbeitern aufgezwungen. Jouhaux und Konsorten übernahmen die formelle Führung des Widerstandes, eben um zu verhindern, dass er zum revolutionären Generalstreik werde.
In den Instruktionen für ihre Propagandisten teilte die CGT mit: «Sogleich nach dem 6. Februar haben die arbeitende Bevölkerung sowie alle Demokraten auf den Aufruf der CGT hin ihren festen Willen bekundet. den Aufwieglern den Weg zu versperren». Außer sich selbst vermerkt die CGT also weder die Sozialisten noch die Kommunisten, sondern nur die «Demokraten». In diesem einzigen Satz steckt der ganze Jouhaux. Darum eben wäre es ein Verbrechen, Jouhaux die Entscheidung der Frage zu überlassen, ob und wann der revolutionäre Kampf erforderlich ist.
Selbstverständlich werden die Gewerkschaften bei der Vorbereitung und Durchführung des Generalstreiks eine beachtliche Rolle spielen, jedoch nicht kraft eines Monopols. sondern Seite an Seite mit den Arbeiterparteien. Vom revolutionären Standpunkt aus gesehen ist besonders wichtig, eng mit den lokalen Gewerkschaftsorganisationen zusammenzuarbeiten, ohne dabei selbstverständlich im mindesten ihre Autonomie zu verletzen.
Was die CGT betrifft, so wird sie entweder sich in die gemeinsame proletarische Front einreihen und den «Demokraten» Abschied sagen, oder abseits stehen bleiben müssen. Loyale Zusammenarbeit mit gleichen Rechten? Ja. Gemeinsame Untersuchung des Zeitpunktes und der Mittel zur Durchführung des Generalstreiks? Ja! Anerkennung von Jouhaux‘ Monopol. die revolutionäre Bewegung zu erdrosseln? Niemals!
An jenem Tage des 6. Februar 1935 planten die faschistischen Verbände auf dem Concordeplatz zu demonstrieren. Was tut also die Einheitsfront und im Besonderen das Zentralkomitee der Kompartei? Es ruft die Pariser Arbeiter auf, zur gleichen Stunde wie die Faschisten auf dem Concordeplatz zu demonstrieren. Die Faschisten kommen wohl ohne Waffen? Nein, seit einem Jahr bewaffnen sie sich mit doppeltem Eifer. Vielleicht würde das Zentralkomitee der Kompartei die Abwehrstaffeln ausreichend bewaffnen? Oh nein! das Zentralkomitee ist gegen «Putschismus» und «physischen Kampf». Aber wie ist es dann möglich, Zehntausende von Arbeitern unbewaffnet, unvorbereitet, schutzlos den bewundernswert organisierten und bewaffneten, das revolutionäre Proletariat mit blutigem Hass verfolgenden faschistischen Banden entgegenzutreiben?
Mögen Schlauköpfe uns nur nicht sagen, das Zentralkomitee der Kompartei hätte gar nicht die Absicht gehabt, die Arbeiter vor die faschistischen Revolver zu treiben, sondern Flandin nur einen passenden Vorwand geben wollen, die faschistische Demonstration zu verbieten. Das ist ja noch schlimmer. Das Zentralkomitee der Kompartei hatte demnach mit den Köpfen der Arbeiter gespielt, und der Ausgang dieses Spiels hing einzig und allein von Flandin, oder genauer von den Polizeichefs aus Chiappes Schule ab. Und was wäre geschehen, wenn man auf der Polizeipräfektur beschlossen hätte, die Gelegenheit wahrzunehmen und den revolutionären Arbeitern vermittelst der Faschisten eine Lektion zu erteilen, zumal die Verantwortung für das Blutbad auf die Führer der Einheitsfront zurückgefallen wäre? Die Folgen kann man sich unschwer vorstellen! Wurde diesmal das Blutbad auch vermieden, im Falle der Fortsetzung derselben Politik wird es bei der ersten ähnlichen Gelegenheit unvermeidlich und bestimmt eintreten.
Das Benehmen des Zentralkomitees war bürokratisches Abenteurertum reinsten Wassers. Die Marxisten haben stets gelehrt, Opportunismus und Abenteurertum sind nur zwei Seiten derselben Medaille. Der 6. Februar 1935 zeigt mit bemerkenswerter Deutlichkeit, wie leicht sich die Medaille dreht.
«Wir sind gegen den Putschismus, gegen die Aufstandsmethoden!», so redete jahrelang Otto Bauer, der den Schutzbund (Arbeitermiliz), Erbschaft der Revolution von 1918, nicht loszuwerden vermochte. Die mächtige österreichische Sozialdemokratie wich feig zurück, passte sich der Bourgeoisie an, wich wieder zurück, veranstaltete alberne «Petitionen». gab sich den falschen Anschein zu kämpfen, setzte Hoffnungen auf ihren Flandin (mit Namen Dollfuß), gab eine Position nach der anderen preis, und als sie ganz in der Sackgasse stak, begann sie hysterisch zu schreien: «Arbeiter, zu Hilfe!» Die besten Kämpfer stürzten sich ohne Verbindung mit den desorientierten, niedergeschlagenen und betrogenen Massen in den Kampf und erlitten die unvermeidliche Niederlage. Wonach Otto Bauer und Julius Deutsch erklärten: «Wir haben als Revolutionäre gehandelt, aber das Proletariat hat uns nicht unterstützt!»
Die spanischen Ereignisse verliefen nach demselben Schema. Die sozialdemokratischen Führer riefen die Arbeiter erst dann zum Aufstand. als sie der Bourgeoisie alle eroberten revolutionären Positionen abgetreten und die Volksmassen durch ihre Rückzugspolitik ermattet hatten. Die berufsmäßigen «Antiputschisten» sahen sich gezwungen, zur bewaffneten Verteidigung aufzurufen, und zwar unter Bedingungen, wo diese Verteidigung großenteils den Charakter eines «Putsches» bekam.
Der 6. Februar 1935 war in Frankreich eine Wiederholung der österreichischen und spanischen Ereignisse im Kleinen. Monatelang haben die Stalinisten die Arbeiter eingeschläfert und demoralisiert. die Losung der Miliz lächerlich gemacht und den physischen Kampf «abgelehnt», um dann plötzlich ohne die mindeste Vorbereitung dem Proletariat zu befehlen:
«Vorwärts marsch, zur Concorde!». Diesmal hat der liebe Langeron sie gerettet. Morgen aber, wenn die Atmosphäre noch erhitzter sein wird, wenn die faschistischen Halunken die Arbeiterführer zu Dutzenden ermorden oder die Humanité in Brand stecken — wer sagt, das sei unwahrscheinlich? — dann wird das weise Zentralkomitee bestimmt rufen: «Arbeiter, zu den Waffen!» Und später im Konzentrationslager oder, wenn sie es soweit bringen, in den Straßen von London, werden dieselben Führer mit Stolz verkünden: «Wir haben zum Aufstand gerufen, aber die Arbeiter sind uns nicht gefolgt!»
Das Geheimnis des Erfolges liegt natürlich nicht im «physischen Kampf» selbst, sondern in der richtigen Politik. Richtig aber nennen wir eine Politik, die den Verhältnissen von Zeit und Raum entspricht. An sich löst die Arbeitermiliz das Problem nicht. Doch die Arbeitermiliz Ist notwendiger Bestandteil der Zeit und Raum entsprechenden Politik. Unsinnig wäre es, mit Revolvern auf die Wahlurne zu feuern. Aber noch unsinniger wäre es, sich gegen die faschistischen Banden mit dem Stimmzettel verteidigen zu wollen.
Die ersten Kerngruppen der Arbeitermiliz sind unvermeidlich schwach, vereinzelt und unerfahren. Routiniers und Skeptiker werden verächtlich den Kopf schütteln. Es gibt Zyniker, die sich nicht schämen, im Gespräch mit Journalisten des Comité des Forges über den Gedanken der Arbeitermiliz zu spotten. Wenn sie sich so gegen das Konzentrationslager sichern zu können glauben, da irren sie sich. Der Imperialismus schert sich nicht um die Kriecherei dieses oder jenes Führers, für ihn gilt es die Klasse zu zertreten.
Als Guesde und Lafargue in ihren jungen Jahren sich an die Propaganda des Marxismus machten, galten sie in den Augen der gescheiten Philister für machtlose Einzelgänger und naive Utopisten. Dennoch sind sie es gewesen. die dieser Bewegung, die soviel geriebene Parlamentarier mit sich schleppt, das Bett gruben. Auf literarischem, gewerkschaftlichem und genossenschaftlichem. Gebiet waren die ersten Schritte der Arbeiterbewegung schwach, schwankend und unsicher. Trotz seiner Armut hat das Proletariat dank seiner Zahl und seinem Opfergeist mächtige Organisationen geschaffen.
Die bewaffnete Organisation des Proletariats‚ die in diesem Augenblick beinahe vollständig mit der Abwehr des Faschismus zusammenfällt, ist ein neuer Zweig des Klassenkampfes. Auch hier sind die ersten Schritte ungeübt und unbeholfen. Man muss auf Fehler gefasst sein. Ja, es ist unmöglich, die Provokation ganz zu vermeiden. Die Kaderauslese wird nach und nach um so zuverlässiger, um so solider ausfallen, je näher die Miliz der Fabrik stehen wird, wo die Arbeiter einander gut kennen.
Doch die Initiative muss notwendigerweise von oben ausgehen. Die Partei kann und soll die ersten Kader liefern. Denselben Weg müssen auch die Gewerkschaften beschreiten, und sie werden es unvermeidlich tun. Diese Kader werden um so rascher an Zusammenhalt und Kraft gewinnen, je mehr Sympathie und Hilfe ihnen seitens der Arbeiterorganisationen und darüber hinaus seitens der werktätigen Massen zuteil wird.
Was von diesen Herren sagen, die anstelle Sympathie und Unterstützung, nur Tadel und Spott übrig haben, oder schlimmer, vor dem Klassenfeind die Arbeiterselbstschutzstaffeln als «Aufstands»- und «Putsch»garden hinstellen? Man sehe sich unter anderen das sozialistische Blatt Combat Marxiste («Marxistischer (!) Kampf (?)») an. Gelehrte und halbgelehrte Pedanten, Jouhaux’ theoretische Adjutanten, geleitet von russischen Menschewiki, höhnen boshaft über die ersten Schritte der Arbeitermiliz. Diese Herren sind unmöglich anders denn als erklärte Feinde der proletarischen Revolution zu bezeichnen.
Hier aber rücken die konservativen Routiniers mit ihrem letzten Argument heraus. «Glaubt ihr denn, das Proletariat könne mit schlecht bewaffneten Miliz- gruppen die Macht erobern, d. h. das heutige Heer mit seiner modernen Technik (Tanks! Flugzeuge!! Gase!!!) besiegen?…» Schwerlich ist ein platteres und trivialeres, obendrein hundertfach durch Theorie und Geschichte widerlegtes Argument auszudenken. Und doch muss es jedesmal als das letzte Wort des «realistisches» Denkens herhalten.
Selbst wenn man einen Augenblick annimmt, die Milizstaffeln würden sich morgen im Kampf um die Macht als unzulänglich herausstellen, so sind sie darum heute zur Verteidigung nicht weniger notwendig. Die CGT-Führer lehnen bekanntlich jeden Kampf um die Macht ab. Das wird die Faschisten nicht im mindesten davon abhalten, die CGT zu zertrümmern. Gewerkschaftsführer, die nicht rechtzeitig Verteidigungsmaßnahmen ergreifen. begehen ein Verbrechen an den Gewerkschaften, ganz unabhängig von ihrem politischen Kurs.
Schauen wir uns indessen das gewichtigste Argument der Pazifisten näher an. «Bewaffnete Arbeiterabteilungen sind gegenüber dem Heer unserer Tage ohnmächtig». Dies «Argument» richtet sich ha Grunde nicht gegen die Miliz, sondern gegen die Idee der proletarischen Revolution selbst. Nimmt man einen Augenblick lang an, das bis an die Zähne bewaffnete Heer werde unter allen Umständen auf der Seite des Großkapitals stehen, dann soll man nicht nur auf die Arbeitermiliz verzichten, sondern auf den Sozialismus überhaupt. Dann wäre der Kapitalismus ewig.
Zum Glück ist das nicht der Fall. Die proletarische Revolution bedingt äußerste Verschärfung des Klassenkampfes, in der Stadt und auf dem Lande, und folglich auch im Heer. Die Revolution wird nur dann siegen, wenn sie den Hauptteil des Heeres für sich gewonnen oder mindestens neutralisiert hat. Das lässt sich allerdings nicht improvisieren, das muss systematisch vorbereitet werden.
Hier unterbricht uns der pazifistische Doktrinär, um — in Worten — sich mit uns einverstanden zu erklären. «Natürlich», wird er sagen, «muss man das Heer mit unablässiger Propaganda gewinnen». Das tun wir ja. Der Kampf gegen die hohe Sterblichkeit in den Kasernen, gegen die zwei Jahre, gegen den Krieg — der Erfolg in diesem Kampf macht die Arbeiterbewaffnung überflüssig.
Stimmt das? Nein, das ist grundfalsch. Friedliche und ungetrübte Gewinnung des Heeres ist noch weniger möglich als friedliche Gewinnung einer Parlamentsmehrheit. Schon die sehr gemäßigten Kampagnen gegen die Sterblichkeit in den Kasernen und gegen die zwei Jahre haben ohne Zweifel eine Annäherung und geradezu ein Komplott der patriotischen Verbände mit den reaktionären Offizieren zur Folge, sowie die Verdoppelung der Subsidien des Finanzkapitals an die Faschisten. Je größer der Erfolg der anti-militaristischen Agitation, desto schneller wächst die faschistische Gefahr. Das ist die reale und nicht erfundene Dialektik des Kampfes. Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass es schon im Prozess der Propaganda und der Vorbereitung sich mit der Waffe in der Hand, und von Mal zu Mal besser zu verteidigen gilt.
Die Revolution wird unvermeidlich Schwanken und Kampf innerhalb der Armee mit sich bringen. Selbst die am meisten fortgeschrittenen Teile werden erst dann offen und aktiv auf die Seite des Proletariats übergehen. wenn sie mit eigenen Augen sehen, dass die Arbeiter sich schlagen wollen und imstande sind zu siegen. Aufgabe der faschistischen Banden wird es sein, die Annäherung zwischen dem revolutionären Proletariat und der Armee nicht zu erlauben. Die Faschisten werden den Arbeiteraufstand schon im Keime zu ersticken suchen, um dem besten Teil des Heeres die Möglichkeit zu nehmen, die Aufständischen zu unterstützen. Gleichzeitig werden die Faschisten den reaktionären Armeeteilen helfen, die revolutionärsten und unzuverlässigsten Regimenter zu entwaffnen.
Welches wird in diesem Fall unsere Aufgabe sein?
Es ist ausgeschlossen, im voraus anzugeben, wie die Revolution in einem bestimmten Lande verlaufen wird. Aber auf Grund der gesamten historischen Erfahrung kann man mit Bestimmtheit behaupten, dass der Aufstand in keinem Fall und in keinem Land den Charakter eines bloßen Zweikampfes zwischen der Arbeitermiliz und dem Heer annehmen wird. Das Kräfteverhältnis wird viel komplizierter und für das Proletariat weitaus günstiger sein. Die Arbeitermiliz wird — nicht durch ihre Bewaffnung, sondern durch ihr Bewusstsein und ihren Heroismus — Vorhut der Revolution sein. Der Faschismus aber die Vorhut der Konterrevolution. Die Arbeitermiliz muss mit Unterstützung der ganzen Klasse, mit Sympathie aller Arbeiter die Verbrecherbanden der Reaktion schlagen, entwaffnen und terrorisieren, um so den Arbeitern den Weg zur revolutionären Verbrüderung mit der Armee freizumachen. Im Bunde werden Arbeiter und Soldaten den konterrevolutionären Teilen den Garaus machen. So wird der Sieg sicher sein.
Skeptiker werden verächtlich mit den Schultern zucken. Das tun Skeptiker vor jeder siegreichen Revolution. Das Proletariat täte gut daran, die Skeptiker aufzufordern, sich aus dem Staube zu machen. Die Zeit ist zu kostbar, um den Tauben auseinanderzusetzen, was Musik, den Blinden, was Farben, und den Skeptikern, was sozialistische Revolution Ist.
Jouhaux hat die Planidee bei de Man entlehnt. Bei allen beiden ist das Ziel das gleiche: den letzten Zusammenbruch des Reformismus zu verschleiern und dem Proletariat neue Hoffnungen einzuflößen, um es von der Revolution abzubringen.
Weder de Man noch Jouhaux haben ihre «Pläne» erfunden. Sie nahmen ganz einfach die grundlegenden Forderungen des marxistischen Übergangsprogramms, die Nationalisierung der Banken und Schlüsselindustrien, warfen den Klassenkampf über Bord und setzten an die Stelle der revolutionären Enteignung die Finanzoperation «Enteignung» gegen Entschädigung.
Die Staatsgewalt geht nach wie vor vom «Volke» aus, d. h. von der Bourgeoisie. Aber der Staat kauft die wichtigsten Industriezweige (man sagt uns nicht genau welche) ihren heutigen Besitzern ab, die für zwei, drei Generationen schmarotzende Rentner werden: an die Stelle der privatkapitalistischen Ausbeutung schlechthin tritt die indirekte Ausbeutung auf dem Umwege über einen Staatskapitalismus.
Da Jouhaux weiß, dass selbst dies kastrierte Nationalisierungsprogramm absolut undurchführbar ist, erklärt er sich von vornherein bereit, seinen «Plan» gegen das Kleingeld parlamentarischer Formen im modischen Planwirtschaftsstil einzuwechseln. Jouhaux Ideal wäre es, durch Schieben hinter den Kulissen die ganze Operation darauf zu reduzieren, dass in verschiedenen Wirtschafts- und Industrieräten die Gewerkschaftsbürokraten Sitz bekommen, ohne Vollmacht und Autorität, aber mit Diäten.
Nicht von ungefähr fand Jouhaux’ Plan — der wirkliche, der sich hinter dem papierenen «Plan» verbirgt — die Unterstützung der Neo und sogar die Zustimmung Herriots!
Das fromme Ideal der «freien» Gewerkschaftsbewegung wäre jedoch nur dann zu verwirklichen, wenn der Kapitalismus sich wieder verjüngt und die Arbeitermassen sich wieder unters Joch beugen. Wenn aber der kapitalistische Niedergang weitergeht? Dann kann der Plan, der die Arbeiter von «bösen Gedanken» abhalten sollte, die Fahne der revolutionären Bewegung werden.
Natürlich hat Jouhaux, vom belgischen Beispiel erschreckt, eiligst zum Rückzug geblasen. Der wichtigste Tagesordnungspunkt der Nationalratssitzung der CGT von Mitte März — die Propaganda für den Plan — verschwand unversehens. Wenn dies Manöver mehr oder weniger gelang, so ist daran einzig und allein die Leitung der Einheitsfront schuld.
Die CGT-Führer hatten ihren «Plan» aufgebracht, um mit den Parteien der Revolution konkurrieren zu können. Damit zeigte Jouhaux, dass er im Gefolge seiner bürgerlichen Inspiratoren die Situation als (im weitesten Sinne des Wortes) revolutionär einschätzt. Aber der revolutionäre Gegner ließ sich auf dem Kampfschauplatz nicht blicken. Da beschloss Jouhaux, auf diesem so gefahrvollen Weg nicht weiterzugehen. Er zog sich zurück und wartet nun ab.
Im Januar schlug der Vorstand der Sozialistischen Partei der Kompartei den gemeinsamen Kampf um die Macht vor namens der Sozialisierung der Banken und konzentrierten Industriezweige. Säßen im Zentralkomitee der Kompartei Revolutionäre, sie hätten diesen Vorschlag mit offenen Armen aufnehmen müssen. Durch eine breite Kampagne um die Macht, hätten sie die revolutionäre Mobilisierung innerhalb der SFIO beschleunigt und gleichzeitig Jouhaux genötigt, seinen «Plan» zu agitieren. Auf diese Weise hätte man die CGT zwingen können, der Einheitsfront beizutreten. Das spezifische Gewicht des französischen Proletariats wäre um ein mehrfaches gestiegen.
Aber im Zentralkomitee der Kompartei sitzen keine Revolutionäre, sondern Götzendiener. «Die Situation ist nicht revolutionär», erwiderten sie, ihren Nabel beschauend. Die Reformisten der SFIO atmeten erleichtert auf: die Gefahr ist vorüber. Jouhaux strich geschwind die Frage der Planpropaganda von der Tagesordnung. Und das Proletariat ist in der großen sozialen Krise somit ohne jedes Programm. Die Komintern hat wieder einmal eine reaktionäre Rolle gespielt.
Die Agrarkrise bildet heute das Hauptreservoir der bonapartistischen und faschistischen Tendenzen. Wenn die Not den Bauer bei der Kehle packt, ist er zu den unerwartetsten Sprüngen fähig. Die Demokratie betrachtet er mit wachsendem Misstrauen.
«Die Losung der Verteidigung der demokratischen Freiheiten». schrieb Monmousseau (Cahier du Bolchévisme, 1. September 1934, S. 1017) «entspricht ausgezeichnet der Stimmung der Bauernschaft». Dieser bemerkenswerte Satz beweist, dass Monmousseau von der Bauernfrage genau so wenig Ahnung hat wie von der Gewerkschaftsfrage. Die Bauern beginnen den «Links»parteien den Rücken zu kehren, gerade weil diese unfähig sind, ihnen etwas anderes zu bieten als leere Worte über die «Verteidigung der Demokratie».
Kein Programm von «Tagesforderungen» vermag dem Dorf etwas von irgendwelcher Bedeutung zu bringen. Das Proletariat muss mit den Bauern die Sprache der Revolution reden: es wird keine andere gemeinsame Sprache finden. Die Arbeiter müssen zusammen mit den Bauern ein Programm revolutionärer Maßnahmen zur Rettung der Landwirtschaft ausarbeiten.
Vor allem fürchten die Bauern den Krieg. Sollen wir sie vielleicht mit Laval und Litwinow durch falsche Hoffnungen auf den Völkerbund und die «Abrüstung» ködern? Das einzige Mittel zur Verhinderung des Krieges ist. die eigene Bourgeoisie zu stürzen und das Signal zur Umwandlung Europas in die Vereinigten Staaten der Arbeiter- und Bauernrepubliken zu geben. Ohne Revolution keine Rettung vor dem Krieg.
Die werktätigen Bauern stöhnen unter den Wucherbedingungen des Kredits. Um diese zu ändern, gibt es nur einen Weg: Enteignung der Banken und ihre Konzentrierung in der Hand des Arbeiterstaats: auf Kosten der Finanzhaie Schaffung eines Vorzugskredits für die Kleinbauern, insbesondere für die bäuerlichen Genossenschaften. Die Landwirtschaftskreditbanken müssen der Bauernkontrolle unterliegen.
Die Bauern erleiden die Ausbeutung seitens der Dünger- und Mühlentrusts. Kein anderer Weg als die Nationalisierung der Dünger- und Großmühlentrusts und ihre völlige Unterordnung unter die Interessen der Bauern und Verbraucher.
Verschiedene Kategorien von Bauern (Meier, Pächter) unterliegen der Ausbeutung der Großgrundbesitzer. Kein anderes Mittel gegen den Bodenwucher als die Enteignung der Bodenwucherer durch Bauernkomitees unter Kontrolle des Arbeiter- und Bauernstaats.
Keine dieser Maßnahmen ist denkbar unter der Herrschaft der Bourgeoisie. Kleine Almosen werden dem Bauern nicht helfen, mit Pflästerchen ist ihm nicht gedient. Es bedarf kühner revolutionärer Maßnahmen. Der Bauer wird sie begreifen, billigen und unterstützen, wenn der Arbeiter ihm im Ernst zum gemeinsamen Kampf um die Macht die Hand reicht.
Nicht warten, bis das Kleinbürgertum sich von selbst entscheide, sondern dessen Denken formen, dessen Willen stärken‚ das ist die Aufgabe der Arbeiterpartei. Nur so wird der Bund zwischen Arbeitern und Bauern zustande kommen.
Der Geist der meisten Offiziere ist ein Abbild des reaktionären Geistes der herrschenden Klassen des Landes, jedoch in noch kondensierterer Form. Der Geist der Soldatenmasse ist ein Abbild des Geistes der Arbeiter und Bauern, doch in abgeschwächterer Form: die Bourgeoisie versteht die Verbindung mit den Offizieren weit besser aufrechtzuerhalten, als das Proletariat die mit den Soldaten.
Der Faschismus imponiert den Offizieren gewaltig wegen seiner entschlossenen Losungen und seiner Bereitschaft, die schwierigen Fragen durch Revolver und Maschinengewehr zu lösen. Wir besitzen nicht wenig Nachrichten von dem Zusammenhang zwischen den faschistischen Verbänden und der Armee durch Vermittlung von Reserve- wie von aktiven Offizieren. Indessen erfahren wir nur einen geringen Teil dessen, was tatsächlich vor sich geht. Jetzt müssen in der Armee die freiwillig Langdienenden eine steigende Rolle spielen. Unter ihnen wird die Reaktion nicht wenig zusätzliche Agenten finden. Die faschistische Durchsetzung der Armee unter dem Schutz des hohen Generalstabs ist voll im Gange.
Die jungen bewussten Arbeiter in den Kasernen könnten der faschistischen Zersetzung erfolgreich Widerstand leisten. Doch zum großen Unglück sind sie selbst politisch entwaffnet: sie haben kein Programm. Der junge Erwerbslose, der Sohn des Kleinbauern, des Krämers oder kleinen Beamten, sie alle bringen in die Armee die Missstimmung des sozialen Milieus mit, aus dem sie stammen. Was wird ihnen der Kommunist anderes sagen als: «Die Situation ist nicht revolutionär»? Die Faschisten plündern das marxistische Programm und machen aus gewissen Teilen mit Erfolg ein Werkzeug sozialer Demagogie. Die «Kommunisten» (?) verleugnen faktisch ihr Programm und ersetzen es durch die verfaulten Abfälle des Reformismus. Kann man sich einen schnöderen Bankerott vorstellen?
Die Humanité konzentriert sich auf die «Tagesforderungen» der Soldaten: das ist notwendig, aber nur der hundertste Teil des Programms. Das Leben des Heers ist heute mehr denn je politisch. Jede soziale Krise ist notwendigerweise eine Heereskrise. Der französische Soldat erwartet und sucht klare Antworten. Auf die Fragen der sozialen Krise und der faschistischen Demagogie gibt es und kann es keine bessere Antwort geben als das Programm des Sozialismus. Dies Programm gilt es kühn im Lande entrollen, und durch tausend Kanäle wird es in das Heer eindringen!
Die soziale Krise mit ihrem Gefolge von Beschwerden lastet am drückendsten auf den werktätigen Frauen. Sie sind doppelt unterjocht: durch die besitzende Klasse und durch die eigene Familie.
Es gibt «Sozialisten», die das Frauenstimmrecht fürchten in Anbetracht des Einflusses der Kirche auf die Frau. Als ob das Schicksal des Volkes von einer mehr oder weniger großen Zahl «linker» Gemeindeverwaltungen im Jahre 1935 ahhinge, und nicht von der moralischen, sozialen und politischen Lage von Millionen Arbeiterinnen und Bäuerinnen in der kommenden Epoche!
Jede revolutionäre Krise ist kenntlich an dem Erwachen der besten Eigenschaften der Frau aus den werktätigen Klassen: Leidenschaft, Heldenmut und Hingabe. Der kirchliche Einfluss wird nicht vom ohnmächtigen Rationalismus der «Freidenker», noch von dem abgeschmackten Muckertum der Freimaurer zerstört werden, sondern durch den revolutionären Kampf um die Befreiung der Menschheit, und folglich an erster Stelle der Arbeiterin.
Das Programm der sozialistischen Revolution muss heutzutage ertönen als Sturmglocke für die Frauen der Arbeiterklasse!
Das grausamste Urteil über die Leitung der politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterorganisationen spricht die Schwäche der Jugendorganisationen. Auf dem Gebiet der menschenfreundlichen Werke, der Vergnügungen und des Sports sind uns Bourgeoisie und Kirche weitaus überlegen. Die Arbeiterjugend kann man ihnen nur durch das sozialistische Programm und durch die revolutionäre Aktion entreißen.
Die junge Generation des Proletariats braucht eine politische Führung und keine aufdringliche Vormundschaft. Konservativer Bürokratismus erstickt die Jugend und schreckt sie ab. Hätte es das Regime der kommunistischen Jugend schon 1848 gegeben, so hätten wir einen Gavroche nicht erlebt. Die Politik der Passivität und Anpassung wirkt besonders unheilvoll auf die Kader der Jugend. Die jungen Bürokraten werden vorzeitig alt: sie kennen sich wohl in sämtlichen Manövern hinter den Kulissen aus, nicht aber im ABC des Marxismus. Ihre «Überzeugung» bilden sie sich von Fall zu Fall, je nach den Erfordernissen des Manövers. Die Teilnehmer am letzten Kongress des Seinedistrikts der sozialistischen Jugend (Paris und Umgebung) konnten diesen Typ aus der Nähe betrachten.
Vor der Arbeiterjugend heißt es das Problem der Revolution in seiner ganzen Größe stellen. Der jungen Generation zugewandt, gilt es an ihre Kühnheit und ihren Mut zu appellieren, ohne die in der Geschichte nichts Großes geschieht. Die Revolution wird der Jugend weit die Tore öffnen. Wie könnte die Jugend nicht für die Revolution sein!
In seinem Brief an den Nationalrat der sozialistischen Partei bezeichnete das Zentralkomitee der Kompartei als Grundlage zur Vereinigung «das Programm der kommunistischen Internationale, das zum Sieg des Sozialismus in der UdSSR führte, während das Programm der 2. Internationale der tragischen Prüfung des Krieges nicht standhielt und mit der schmerzlichen Bilanz Deutschlands und Österreichs endete». Dass die Zweite Internationale Bankrott gemacht hat. das haben die revolutionären Marxisten bereits August 1914 erklärt. Alle weiteren Ereignisse haben dieses Urteil nur bestätigt. Allein, bei dem Hinweis auf den unbestreitbaren Bankrott der Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich vergessen die Stalinisten eine Frage zu beantworten: und was war mit der deutschen und der österreichischen Kominternsektion? Die deutsche Kompartei brach bei der geschichtlichen Prüfung ebenso schmählich zusammen wie die deutsche Sozialdemokratie. Warum? Die deutschen Arbeiter wollten kämpfen und glaubten, «Moskau» werde sie zum Kampf führen, sie strebten unaufhörlich nach links. Die deutsche Kompartei wuchs rapid, in Berlin war sie zahlenmäßig der Sozialdemokratie überlegen. Doch innerlich war sie verwüstet noch bevor die Stunde der Prüfung kam. Erstickung des inneren Lebens der Partei. Kommandos statt Überzeugen. Zickzackpolitik, Ernennung der Führer von oben, Lug und Trug gegenüber der Masse als System — all das demoralisierte die Partei bis ins Mark hinein. Als die Gefahr nahte, erwies sich die Partei als ein Leichnam. Diese Tatsache kann aus der Geschichte nicht mehr ausgelöscht werden.
Nach der schändlichen Kapitulation der Komintern in Deutschland verkündeten die Bolschewiki-Leninisten: die Dritte Internationale ist tot! Unnötig. an die Beschimpfungen zu erinnern, welche die Stalinisten aller Länder uns an den Kopf warfen. Die Humanité behauptete bereits nach Hitlers endgültigem Machtantritt von Nummer zu Nummer: «In Deutschland gab es keine Niederlage», «Nur Renegaten können von einer Niederlage sprechen». «Die deutsche kommunistische Partei wächst von Stunde zu Stunde», «Die Partei Thälmanns bereitet sich auf die Machtergreifung vor». Kein Wunder, wenn diese verbrecherischen Prahlereien nach der größten aller historischen Katastrophen die übrigen Sektionen der Komintern noch weiter demoralisierten: eine Organisation. die die Fähigkeit verloren hat, aus ihrer eigenen Niederlage zu lernen, ist unwiderruflich verurteilt
Der Beweis blieb nicht lange aus. Das Saarplebiszit war wie geschaffen zu zeigen, wieviel Vertrauen das deutsche Proletariat noch in die Zweite und Dritte Internationale setzte. Die Resultate sind da: genötigt zu wählen zwischen der triumphierenden Gewalt Hitlers und der morschen Kraftlosigkeit der bankrotten Arbeiterparteien, gaben die Massen 90% der Stimmen Hitler, dagegen der Front der Zweiten und Dritten Internationale (die jüdische Bourgeoisie. die geschäftlich interessierten Kreise, die Pazifisten usw. abgerechnet) vermutlich nicht mehr als 7%. Das ist die gemeinsame Bilanz des Reformismus und des Stalinismus. Wehe dem, der diese Lehre nicht begriffen hat.
Die werktätigen Massen stimmten für Hitler, weil sie einen anderen Ausweg nicht sahen. Die Parteien, die sie jahrzehntelang zum Kampf für den Sozialismus weckten und sammelten, haben sie betrogen und verraten. Das ist die Schlussfolgerung, die die Arbeiter zogen! Wäre in Frankreich das Banner der sozialistischen Resolution hoch aufgerichtet worden, so hätte das Saarproletariat seinen Blick nach Westen gewandt und die Klassensolidarität über die nationale Solidarität gestellt. Aber ach, der gallische Hahn kündigte dem Saarvolk kein revolutionäres Morgenrot an. In Frankreich wird, wenn auch unter der Hülle der Einheitsfront, dieselbe Politik der Ohnmacht, der Unentschlossenheit, des Auf-der-Stelle-Tretens, des mangelnden Vertrauens in die eigene Kraft betrieben, an der die Sache des deutschen Proletariats scheiterte. Darum ist das Saarplebiszit nicht nur ein Beweis der Auswirkungen der deutschen Katastrophe, sondern auch eine furchtbare Warnung für das französische Proletariat. Wehe den Parteien, die an der Oberfläche der Ereignisse treiben, sich in Worten wiegen, auf Wunder hoffen, dem Todfeind gestatten, sich ungestraft zu organisieren, zu bewaffnen, vorteilhafte Stellungen zu beziehen und den günstigsten Augenblick für den entscheidenden Schlag zu wählen!
Das lehrt uns die Saar.
Viele Reformisten und Zentristen (d.h. zwischen Reformismus und Revolution Schwankende), die heute nach links wenden, streben zur Komintern hin: einige, vornehmlich Arbeiter, weil sie im Moskauer Programm aufrichtig den Widerschein der Oktoberrevolution zu finden hoffen, andere, vorwiegend Funktionäre, einfach weil sie mit der mächtigen Sowjetbürokratie Freundschaft schließen möchten. Lassen wir die Karrieristen. Aber den Sozialisten, die aufrichtig in der Komintern eine revolutionäre Führung zu finden hoffen, rufen wir zu: ihr irrt euch grausam! Ihr kennt zu schlecht die Geschichte der Komintern der letzten zehn Jahre, eine Geschichte von Fehlern, Katastrophen, Kapitulationen und bürokratischer Entartung.
Das heutige Kominternprogramm wurde 1928 auf dem 6. Weltkongress angenommen, nach der Zertrümmerung der leninistischen Leitung. Zwischen dem heutigen Programm und jenem, mit dem der Bolschewismus 1917 siegte, klafft ein Abgrund. Das Programm des Bolschewismus ging davon aus, dass das Schicksal der Oktoberrevolution untrennbar mit dem Schicksal der internationalen Revolution verkettet ist. Das Programm von l928 geht trotz allen «internationalistischen» Phrasen aus von der Perspektive des selbständigen Aufbaus des Sozialismus in der Sowjetunion. Lenins Programm sagte: «Ohne Revolution im Westen und im Osten sind wir verloren». Dies Programm schloss wesensgemäß die Möglichkeit aus, die Interessen der Weltarbeiterbewegung den Interessen der UdSSR zu opfern. Das. Kominternprogramm bedeutet in der Praxis: im Interesse der UdSSR (in Wirklichkeit im Interesse der diplomatischen Kombinationen der Sowjetbürokratie) könne und solle man die Interessen der proletarischen Revolution in Frankreich opfern. Lenins Programm lehrte: der Sowjetbürokratismus ist der schlimmste Feind des Sozialismus; als Ausdruck des Druckes bürgerlicher Kräfte und Tendenzen auf das Proletariat kann der Bürokratismus zur Wiederauferstehung der Bourgeoisie führen: ein Erfolg des Kampfes gegen die Plage des Bürokratismus ist nur durch den Sieg des europäischen und des Weltproletariats zu gewährleisten. Im Gegensatz dazu sagt das heutige Kominternprogramm: der Sozialismus kann unabhängig von den Erfolgen und Niederlagen des Weltproletariats unter der Leitung der unfehlbaren und allmächtigen Bürokratie aufgebaut werden; alles was gegen ihre Unfehlbarkeit gerichtet ist, ist konterrevolutionär und verdient ausgerottet zu werden.
Im heutigen Kominternprogramm gibt es selbstverständlich viele dem leninschen Programm entlehnte Ausdrücke, Formeln, Sätze (auch die konservative Bürokratie des Thermidor und des Konsulats in Frankreich gebrauchte die Ausdrucksweise der Jakobiner), aber im Grunde schließt ein Programm das andere aus. In der Praxis hat die Stalinbürokratie ja schon längst das Programm der internationalen proletarischen Revolution durch ein Programm nationaler Sowjetreformen ersetzt. Die Komintern zersetzt und schwächt mit ihrer aus Opportunismus und Abenteurertum gemischten Politik das Weltproletariat und untergräbt damit die fundamentalen Interessen der UdSSR Wir sind für die UdSSR, aber gegen die usurpatorische Bürokratie und ihr blindes Werkzeug, die kommunistische Internationale.
Zugegeben, dass die Kompartei heute sogar wächst. Nicht dank, sondern trotz ihrer Politik. Die Ereignisse drängen die Arbeiter nach links und die Kompartei bleibt trotz ihrer opportunistischen Wendung für die Massen die «extreme Linke». Das zahlenmäßige Wachsen der Kompartei bietet jedoch nicht die geringste Gewähr für die Zukunft: die deutsche Kompartei wuchs wie gesagt ständig bis zum Augenblick der Kapitulation, und noch viel rascher.
Jedenfalls ist die Tatsache des Vorhandenseins zweier Arbeiterparteien, die angesichts der gemeinsamen Gefahr die Einheitsfrontpolitik zur absoluten Notwendigkeit macht, auch eine hinreichende Erklärung für das Streben der Arbeiter nach ihrer organischen Vereinigung. Gäbe es in Frankreich eine konsequent revolutionäre Partei. dann wären wir entschieden Gegner der Verschmelzung mit der opportunistischen Partei. Bei der Verschärfung der sozialen Krise würde die revolutionäre Partei im Kampfe gegen den Reformismus bestimmt die überwiegende Mehrheit der Arbeiter um ihr Banner scharen. Das historische Problem besteht nicht darin, mechanisch alle Organisationen, die aus verschiedenen Etappen des Klassenkampfes überkommen sind, zu vereinigen, sondern das Proletariat im Kampf und für den Kampf zu sammeln. Das sind zwei grundverschiedene, bisweilen sogar entgegengesetzte Probleme.
Aber tatsächlich gibt es in Frankreich keine revolutionäre Partei. Die Behendigkeit, mit der die Kompartei — ohne die geringste Diskussion — von der Theorie und Praxis des «Sozialfaschismus» überging zum Block mit den Radikalsozialisten und zur Ablehnung der revolutionären Aufgaben im Namen der «Tagesforderungen», ist ein Zeugnis dafür, dass der Parteiapparat vom Zynismus völlig zerfressen und die Basis desorientiert und des Denkens entwöhnt ist. Es ist eine kranke Partei.
Die Bolschewiki-Leninisten haben die Einstellung der SFIO offen genug kritisiert, als dass hier bereits mehrfach Gesagtes noch einmal wiederholt werden müsste. Ohne Zweifel aber wird trotz allem der linke, revolutionäre Flügel der SFIO allmählich zum Laboratorium, wo Losungen und Methoden des proletarischen Kampfes Gestalt annehmen. Wenn dieser Flügel sich festigt und stählt, kann er zum entscheidenden Faktor für die Beeinflussung der kommunistischen Arbeiter werden. In diesem Weg allein liegt das Heil. Die Lage würde hingegen ein für allemal verloren sein, wenn der revolutionäre Flügel der sozialistischen Partei in das Räderwerk des Kominternapparats geriete, das dazu dient, Wirbelsäulen und Charaktere zu brechen, einem das Denken auszutreiben und blinden Gehorsam zu lehren — eine offen gesagt verheerende Art zur Heranbildung von Revolutionären.
«Was, ihr seid also gegen die organische Einheit?», werden uns nicht ohne Entrüstung manche Genossen fragen.
Nein, wir sind nicht gegen die Einheit. Aber wir sind gegen Fetischismus, Aberglauben und Verblendung. Einheit an sich löst noch nichts. Die österreichische Sozialdemokratie erfasste beinahe das gesamte Proletariat, aber nur um es ins Verderben zu stürzen. Die Belgische Arbeiterpartei kann von sich mit Recht sagen, die einzige Arbeiterpartei zu sein. Das hindert sie aber nicht daran, von einer Kapitulation zur anderen zu schreiten. Nur hoffnungslos Naive können erwarten, dass die Labour Party, die das englische Proletariat vollständig beherrscht, imstande sein wird dessen Sieg zu garantieren. Nicht Einheit an sich entscheidet, sondern ihr realer politischer Gehalt.
Wenn sich die SFIO jetzt auf der Stelle mit der Kompartei vereinigte, so würde das den Sieg noch ebensowenig garantieren wie die Einheitsfront: nur richtige revolutionäre Politik kann den Sieg erbringen. Aber wir sind bereit, zuzugeben, dass die Vereinigung unter den gegenwärtigen Umständen die Umgruppierung und Sammlung der in den beiden Parteien verstreuten revolutionären Elemente erleichtern würde. In diesem — und nur in diesem — Sinne könnte die Vereinigung ein Schritt nach vorwärts sein.
Aber die Vereinigung — das sei hier sogleich gesagt — wäre ein Schritt zurück, schlimmer, ein Schritt in den Abgrund, wenn der Kampf gegen den Opportunismus in der vereinigten Partei im Flussbett der Komintern verliefe. Der stalinistische Apparat ist wohl imstande, eine siegreiche Revolution auszunutzen. doch organisch unfähig, einer neuen Revolution zum Sieg zu verhelfen. Er ist konservativ bis ins Mark. Wiederholen wir nochmals: die Sowjetbürokratie verhält sich zur alten bolschewistischen Partei, wie die Bürokratie des Direktoriums und des Konsulats zum Jakobinertum.
Die Vereinigung der beiden Parteien würde uns vorwärts bringen nur, wenn sie von Illusionen, Verblendung und glattem Betrug gereinigt ist. Um von der Krankheit der Komintern nicht angesteckt zu werden, brauchen die linken Sozialisten eine tüchtige Impfung mit Leninismus. Darum eben verfolgen wir unter anderem so aufmerksam und so kritisch die Entwicklung der linken Gruppen. Einige fühlen sich durch uns gekränkt. Aber wir meinen, dass auf revolutionärem Gebiet die Regeln der Verantwortung unvergleichlich wichtiger sind als die Regeln der Höflichkeit. Auch wir werten die gegen uns gerichtete Kritik nicht vom sentimentalen, sondern vom revolutionären Standpunkt.
Zyromsky hat in einer Artikelserie die Grundprinzipien der zukünftigen vereinigten Partei niederzulegen versucht. Das ist jedenfalls viel ernster, als nach Lebas‘ Manier allgemeine Phrasen über die Einheit zu dreschen. Leider aber macht Zyromsky In seinen Artikeln einen Schritt nicht etwa zum Leninismus, sondern zum bürokratischen Zentrismus (Stalinismus). Das tritt, wie wir zeigen werden, in der Frage der Diktatur des Proletariats besonders klar hervor.
Aus irgendeinem Grunde wiederholt Zyromsky mit besonderer Eindringlichkeit in der Artikelserie den Gedanken — als Ursprungsquelle beruft er sich dabei übrigens auf Stalin! — dass «die Diktatur des Proletariats nie als ein Ziel betrachtet werden kann». Als ob es irgendwo auf der Welt so verrückte Theoretiker gäbe, die die Diktatur des Proletariats für ein «Ziel an sich» halten! Doch hinter dieser sonderbaren Eindringlichkeit steckt ein Gedanke: Zyromsky entschuldigt sich sozusagen im Voraus bei den Rechten, die Diktatur zu wollen. Leider ist die Diktatur schwer zu errichten, wenn man mit Entschuldigungen beginnt.
Weit schlimmer, indes, ist folgender Gedanke: «Die Diktatur des Proletariats … muss sich im Maße, wie der sozialistische Aufbau sich entwickelt, lockern und fortschreitend in proletarische Demokratie umwandeln». In diesen wenigen Zeilen stecken zwei fundamentale prinzipielle Fehler. Die Diktatur des Proletariats wird der proletarischen Demokratie gegenübergestellt. Indes, die Diktatur des Proletariats kann und muss ihrem Wesen gemäß höchste Entfaltung der proletarischen Demokratie sein. Zur Durchführung einer grandiosen sozialen Revolution bedarf das Proletariat der höchsten Offenbarung all seiner Kräfte und Fähigkeiten: es organisiert sich demokratisch, gerade um seine Feinde zu bezwingen. Die Diktatur soll, nach Lenin, «jede Köchin lehren, den Staat zu lenken». Das Schwert der Diktatur ist gegen die Klassenfeinde gerichtet. Grundlage der Diktatur bildet die proletarische Demokratie.
Bei Zyromsky ersetzt die proletarische Demokratie die Diktatur «in dem Maße, wie sich der sozialistische Aufbau entwickelt». Das ist eine ganz falsche Perspektive. In dem Maße, wie die bürgerliche Gesellschaft in die sozialistische übergeht, stirbt die proletarische Demokratie zusammen mit der Diktatur ab, denn der Staat selbst stirbt ab. In der sozialistischen Gesellschaft wird für «proletarische Demokratie» kein Platz sein, erstens wegen Nichtvorhandenseins eines Proletariats, zweitens wegen fehlender Notwendigkeit einer Staatsgewalt. Darum wird die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft nicht die Umwandlung der Diktatur in Demokratie mit sich bringen, sondern deren gemeinsames Aufgehen in der wirtschaftlichen und kulturellen Organisation der sozialistischen Gesellschaft.
Wir hätten uns bei diesem Fehler nicht aufgehalten, wäre er rein theoretisch gewesen. Tatsächlich aber verbirgt sich dahinter ein ganzer politischer Plan. Die Theorie von der Diktatur des Proletariats, die Zyromsky, wie er selbst zugibt, bei Dan entlehnt hat, versucht er auf das heutige Regime der Sowjetbürokratie zuzupassen. Er verschließt übrigens bewusst die Augen vor der Frage: warum entwickelt sich trotz den enormen Wirtschaftserfolgen der UdSSR die proletarische Diktatur nicht zur Demokratie hin, sondern zu einem ungeheuerlichen, im persönlichen Regime gipfelnden Bürokratismus? Warum werden, «im Maße wie sich der sozialistische Aufbau entwickelt», Partei, Sowjets und Gewerkschaften erstickt? Unmöglich ist diese Frage ohne gründliche Kritik am Stalinismus zu beantworten. Aber deshalb will sie Zyromsky ja gerade um jeden Preis vermeiden.
Indessen bezeugt die Tatsache, dass eine unabhängige und unkontrollierte Bürokratie die Verteidigung der sozialen Errungenschaften der proletarischen Revolution an sich gerissen hat, dass wir mit einer kranken, entartenden Diktatur zu tun haben, die sich selbst überlassen nicht bei der «proletarischen Demokratie», sondern beim vollständigen Zusammenbruch des Sowjetregimes enden wird.
Nur die Revolution im Westen kann die Oktoberrevolution vor dem Untergang bewahren. Die Theorie vom «Sozialismus in einem Lande» ist in allen ihren Grundlagen falsch. Das Kominternprogramm taugt auch nicht mehr. Die Annahme dieses Programms hieße, den Zug der internationalen Revolution den Damm hinunter kippen. Erste Voraussetzung des Erfolges für das französische Proletariat ist vollständige Unabhängigkeit seiner Avantgarde gegenüber der national-konservativen Sowjetbürokratie. Es ist natürlich das Recht der Kompartei, als Basis für die Vereinigung das Kominternprogramm vorzuschlagen: etwas anderes könnte sie gar nicht anbieten. Doch die revolutionären Marxisten, die sich ihrer Verantwortung für das Schicksal des Proletariats bewusst sind, müssen Bucharin-Stalins Programm einer unerbittlichen Kritik unterziehen. Einheit ist etwas Herrliches, doch nicht auf fauliger Grundlage. Die fortschrittliche Aufgabe besteht darin, die sozialistischen und kommunistischen Arbeiter auf der Grundlage des internationalen Programms von Marx und Lenin zu sammeln. Die Interessen des Weltproletariats wie die Interessen der UdSSR (sie unterscheiden sich nicht) fordern den gleichen Kampf sowohl gegen den Reformismus wie gegen den Stalinismus.
Die beiden Internationalen, nicht nur die Zweite, sondern auch die Dritte, sind bis ins Mark erkrankt. Es gibt historische Prüfungen, die untrüglich sind. Große Ereignisse (China, England, Deutschland, Österreich, Spanien) haben ihr Urteil gefällt. Gegen dies an der Saar bekräftigte Urteil ist keine Berufung möglich. Die Vorbereitung einer neuen Internationale, fußend auf der tragischen Erfahrung der letzten zehn Jahre, steht auf der Tagesordnung. Diese grandiose Aufgabe ist selbstverständlich aufs engste mit dem gesamten Gang des proletarischen Klassenkampf es verknüpft, vor allem mit dem Kampf gegen den Faschismus in Frankreich. Um den Feind zu besiegen, muss die Avantgarde des Proletariats sich die mit Opportunismus und Stalinismus unvereinbaren revolutionären marxistischen Methoden zu eigen machen. Wird es uns gelingen, diese Aufgabe zu erfüllen? Engels schrieb einst: «Die Franzosen verbessern sich stets beim Herannahen der Kämpfe». Hoffen wir, dass sich auch diesmal die Einschätzung unseres großen Meisters bestätigen wird. Aber der Sieg des französischen Proletariats ist denkbar nur, wenn es im Feuer des Kampfes eine wahrhaft revolutionäre Partei gebiert, Eckstein der kommenden neuen Internationale. Das wäre der kürzeste, vorteilhafteste, günstigste Weg zur internationalen Revolution.
Sehr dumm wäre es zu behaupten, sie sei bereits gesichert. Ist ein Sieg möglich, so eine Niederlage leider nicht minder. Die gegenwärtige Politik der Einheitsfront und der beiden Gewerkschaften erleichtert nicht, sondern erschwert den Sieg. Es ist ganz klar, dass im Falle der Zerschlagung des französischen Proletariats seine beiden Parteien ein für allemal von der Bildfläche verschwinden werden.[2] Die Notwendigkeit einer neuen Internationale, auf neuen Grundlagen, würde dann jedem Arbeiter einleuchten. Doch ist es ebenfalls klar, dass die Errichtung der Vierten Internationale im Falle des Sieges des Faschismus in Frankreich auf tausend Hindernisse stoßen, äußerst langsam vonstatten gehen, und der Brennpunkt der ganzen revolutionären Arbeit sich dann höchstwahrscheinlich nach Amerika verlagern würde.
So führen beide historischen Varianten — Sieg und Niederlage des französischen Proletariats — gleicherweise, wenn auch verschieden schnell, auf den Weg der Vierten internationale. Ausdruck eben dieser geschichtlichen Tendenz sind die Bolschewiki-Leninisten. Abenteurertum in allen seinen Formen ist ihnen fremd. Es handelt sich nicht darum, die Vierte Internationale künstlich zu «proklamiereren», sondern sie systematisch vorzubereiten. An Hand der Erfahrung aus den Ereignissen gilt es den vorgeschrittenen Arbeitern zu zeigen und zu beweisen, dass die Programme und Methoden der beiden Internationalen in unüberbrückbarem Widerspruch stehen zu den Anforderungen der proletarischen Revolution, und dass dieser Widerspruch nicht ab-, sondern im Gegenteil unaufhörlich zunimmt. Aus dieser Analyse ergibt sich die einzig mögliche Generallinie: theoretische und praktische Vorbereitung der Vierten Internationale.
Im Februar 1935 fand eine internationale Konferenz mehrerer, weder der Zweiten noch der Dritten Internationale angehörenden Organisationen statt (zwei holländische Parteien, die deutsche SAP, die englische ILP usw.). Mit Ausnahme der Holländer, die auf dem Boden des revolutionären Marxismus stehen, vertraten alle anderen Teilnehmer verschiedene, meist sehr konservative Abarten des Zentrismus. 1. Doriot, der an dieser Konferenz teilnahm, schrieb in seinem Bericht: «In einer Zeit, wo die Krise des Kapitalismus die Thesen des Marxismus schlagend bewahrheitet … sind die zu diesem Zweck sei es von der Zweiten oder von der Dritten Internationale geschaffenen Parteien sämtlich ihrer Mission untreu geworden». Halten wir uns nicht dabei auf, dass Doriot im Laufe des zehnjährigen Kampfes gegen die Linke Opposition selber mitgeholfen hat, die Komintern zu zersetzen. Erinnern wir im Besonderen nicht an die traurige Rolle Doriots in Bezug auf die chinesische Revolution. Buchen wir einfach, dass Doriot 1935 den Bankrott der Zweiten und der Dritten Internationale begriffen und erkannt hat. Folgerte für ihn daraus die Notwendigkeit der Vorbereitung der neuen Internationale? Das annehmen heißt den Zentrismus schlecht kennen. Zur Idee der neuen Internationale schreibt Doriot: «Diese Idee des Trotzkismus ist von der Konferenz ausdrücklich verurteilt worden». Doriot geht zu weit, wenn er von «ausdrücklicher Verurteilung» spricht, doch ist es wahr, dass die Konferenz gegen die beiden holländischen Delegierten die Idee der Vierten Internationale ablehnte. Welches ist nun aber eigentlich das Programm der Konferenz? Das, kein Programm zu haben. Bei ihrer alltäglichen Arbeit bleiben die Konferenzteilnehmer abseits von den internationalen Aufgaben der proletarischen Revolution und denken kaum daran. Aber alle anderthalb Jahr halten sie einen Kongress ab, um ihr Herz zu erleichtern und zu erklären: «Die Zweite und die Dritte Internationale haben Bankrott gemacht». Dann schütteln sie betrübt die Köpfe und gehen wieder auseinander. Diese «Organisation» sollte eher heißen: Büro zur Veranstaltung einer alljährlichen Totenfeier für die Zweite und Dritte Internationale. Diese ehrenwerten Leute bilden sich ein, «Realisten», «Taktiker», ja «Marxisten» zu sein. In einem fort sagen sie Sprüchlein her wie: «Man darf nicht ergreifen». «Die Massen haben noch nicht begriffen», usw. Aber warum greift ihr denn selber vor, indem ihr den Bankrott der beiden Internationalen feststellt: die «Massen» haben es doch noch nicht begriffen? Und die Massen, die es begriffen haben — ohne euer Zutun — sie … stimmen für Hitler (Saar). Ihr ordnet die Vorbereitung der Vierten Internationale dem «historischen Prozess» unter. Aber seid ihr nicht selber ein Teil dieses Prozesses? Die Marxisten waren immer bestrebt, an der Spitze des historischen Prozesses zu sein. Welchen Teil eigentlich bildet ihr?
«Die Massen haben noch nicht begriffen». Aber die Massen sind nicht gleichartig. Neue Ideen werden zuerst von den vorgeschrittenen Elementen aufgenommen. und durch ihre Vermittlung dringen sie in die Massen. Wenn ihr, hehre Weisen, die Notwendigkeit und Unabweisbarkeit der Vierten Internationale begriffen habt, wie könnt ihr nur diese Schlussfolgerung den Massen vorenthalten? Schlimmer noch: nachdem er den Bankrott der bestehenden Internationalen erkannt hat, «verurteilt« (!!!) Doriot gar die Idee der neuen Internationale:
Welche praktische Perspektive gibt er also der revolutionären Avantgarde? Gar keine. Doch das heißt Verwirrung, Unruhe und Demoralisierung säen.
Das ist die Natur des Zentrismus. Diese Natur gilt es restlos zu begreifen:
Unter dem Druck der Umstände kann dieser oder jener Zentrist in Analyse, Urteil und Kritik sehr weit gehen: in dieser Hinsicht wiederholen die SAP-Führer, die die genannte Konferenz leiteten, haargenau vieles von dem, was die Bolschewiki-Leninisten seit zwei, drei oder zehn Jahren sagten. Aber vor den revolutionären Schlussfolgerungen macht der Zentrist stets ängstlich halt. Im Familienkreise eine Totenfeier für die Komintern veranstalten? Warum nicht! Aber die Vorbereitung der neuen Internationale in Angriff nehmen? Nein, lieber … den Trotzkismus «verurteilen».
Doriot hat keinerlei Position. Und er will auch gar keine haben. Nach dem Bruch mit der Kominternbürokratie hätte er eine ernste, fortschrittliche Rolle spielen können. Aber bis jetzt hat er nicht einmal versucht es zu tun. Er geht den revolutionären Aufgaben aus dem Wege. Er hat sich die SAP-Führer zum Lehrmeister genommen. Will er sich endgültig dem Verein der Zentristen anschließen? Möge er wissen: ein Zentrist ist ein Messer ohne Klinge!
«Abwarten», «Gewähren lassen». «Zeit gewinnen», das sind die Losungen der Reformisten, Pazifisten, Gewerkschaftler und Stalinisten. Diese Politik zehrt von dem Gedanken, die Zeit arbeite für uns. Stimmt das? Nein, grundverkehrt ist es! Wenn wir in einer vorrevolutionären Situation keine revolutionäre Politik führen, dann arbeitet die Zeit gegen uns.
Trotz des Lobgehudels zu Ehren der Einheitsfront hat sich das Kräfteverhältnis im letzten Jahr zuungunsten des Proletariats geändert. Warum? Marceau Pivert hat darauf in seinem Artikel «Eins hält das andere» (Populaire vom 18. März 1935) eine richtige Antwort gegeben. Hinter den Kulissen vom Finanzkapital gelenkt, betreiben alle Kräfte und Teile der Reaktion eine nicht nachlassende Offensivpolitik, erobern eine Position nach der anderen, bauen sie aus und rücken weiter vor (Industrie, Landwirtschaft. Unterricht, Presse, Justiz, Armee). Auf Seiten des Proletariats nichts als Phrasen über die 0ffensive, tatsächlich aber nicht einmal eine Defensive. Die Positionen werden nicht ausgebaut, sondern sie sind kampflos abgetreten oder werden bald abgetreten.
Das politische Kräfteverhältnis wird nicht allein durch objektive Faktoren bestimmt (Rolle in der Produktion, Zahl usw.). sondern auch durch subjektive: Bewusstsein der Kraft ist der wichtigste Bestandteil wirklicher Kraft. Während der Faschismus von Tag zu Tag das Selbstvertrauen der deklassierten Kleinbürger hebt, schwächen die leitenden Gruppen der Einheitsfront den Willen des Proletariats. Die Pazifisten, Schüler Buddhas und Gandhis, und nicht Marx‘ und Lenins, ergehen sich in Predigten gegen Gewalt, Bewaffnung, physischen Kampf. Die Stalinisten predigen im Grunde dasselbe, nur dass sie sich auf die «nichtrevolutionäre Situation» berufen. Zwischen Faschisten und Pazifisten aller Schattierungen herrscht Arbeitsteilung: die einen verstärken das Lager der Reaktion. die anderen schwächen das Lager der Revolution. Das ist die unverhüllte Wahrheit!
Zwei Faktoren wirken gegen die Reformisten und Stalinisten. Erstens: die Beispiele Deutschlands, Österreichs und Spaniens sind noch frisch vor aller Augen, die Arbeitermassen sind auf der Hut, die Reformisten und Stalinisten aus der Fassung. Zweitens: die Marxisten haben rechtzeitig verstanden, vor der proletarischen Avantgarde die Probleme der Revolution aufzurollen.
Die Bolschewiki-Leninisten sind weit davon entfernt, ihre zahlenmäßige Stärke zu übertreiben. Doch die Kraft ihrer Losungen kommt daher, dass sie die Entwicklungslogik der gegenwärtigen vorrevolutionären Lage ausdrücken. Die Ereignisse jeder Etappe bestätigen ihre Analyse und Kritik. Der linke Flügel der sozialistischen Partei wächst. In der Kompartei ist die Kritik wie bisher erstickt. Aber das Wachsen des revolutionären Flügels in der SFIO wird unweigerlich eine Bresche in die mörderische bürokratische Disziplin der Stalinisten schlagen: die Revolutionäre beider Parteien werden einander die Hand reichen zu gemeinsamer Arbeit.
Unser Wahlspruch bleibt wie immer: aussprechen was ist. Das ist der größte Dienst, den man heute der Sache der Revolution erweisen kann. Die Kraft des Proletariats ist noch unverausgabt. Das Kleinbürgertum hat eine Wahl noch nicht getroffen. Viel Zeit ist verloren, aber die letzten Fristen sind noch nicht abgelaufen.
Der Sieg ist möglich! Mehr: der Sieg ist gewiss — soweit ein Sieg im Voraus überhaupt gewiss sein kann — unter einer einzigen Bedingung: es gilt den Sieg zu wollen, zu erstreben, es gilt alle Hindernisse niederzureißen, es gilt den Feind niederzuwerfen und ihm das Knie auf die Brust zu setzen
Genossen, Freunde, Brüder und Schwestern! Die Bolschewiki-Leninisten rufen euch zum Kampf und zum Sieg!
Dies Buch ist der Erläuterung der Methoden der revolutionären Politik des Proletariats in unserer Epoche gewidmet. Die Darstellung ist eine polemische, wie es die revolutionäre Politik selbst ist. Sobald die Polemik gegen die herrschende Klasse die unterdrückten Massen ergreift, schlägt sie, in einer bestimmten Etappe, in die Revolution um.
Die theoretische Grundlage der revolutionären Politik ist das klare Verständnis für die Klassennatur der gegenwärtigen Gesellschaft, ihres Staats, ihres Rechts, ihrer Ideologie. Die Bourgeoisie operiert mit Abstraktionen («Nation», «Vaterland», «Demokratie»), um damit den Ausbeutercharakter ihrer Herrschaft zu verschleiern. «Le Temps», eines der ehrlosesten Blätter des Erdballs, lehrt die Volksmassen Frankreichs jeden Tag Patriotismus und Uneigennutz. Indessen ist es für niemanden ein Geheimnis, dass sich der Uneigennutz des «Temps» selber nach einem bestimmten internationalen Preiskurant taxiert.
Das Erste in der revolutionären Politik ist die Entlarvung der bürgerlichen Fiktionen, die das Bewusstsein der Volksmassen vergiften. Diese Fiktionen werden besonders bösartig, wenn sie mit den Ideen des «Sozialismus» und der «Revolution» verquickt werden. Heute mehr denn je geben die Fabrikanten solcher Amalgame in den Arbeiterorganisationen Frankreichs den Ton an.
Die erste Ausgabe dieses Buches spielte eine gewisse Rolle bei Beginn der Formierung der französischen kommunistischen Partei: der Autor vernahm davon seinerzeit nicht wenig Zeugnisse, deren Spuren übrigens unschwer in der Humanité von vor 1924 zu finden sind. In den danach verflossenen 12 Jahren hat in der Kommunistischen Internationale — nach einer Reihe fieberhafter Zickzacks — eine radikale Umwertung der Werte stattgefunden: es genügt zu sagen, dass heute diese Publikation auf dem Index der verbotenen Bücher steht. Ihren Ideen und Methoden nach unterscheiden sich die jetzigen Führer der französischen Kommunistischen Partei (wir sind gezwungen diesen Namen beizubehalten, der sich in absolutem Widerspruch zur Realität befindet) prinzipiell in nichts von Kautsky, gegen den diese Arbeit gerichtet ist: sie sind nur ungleich ungebildeter und zynischer. Der seitens Cachin & Co erlebte Rückfall in Reformismus und Patriotismus wäre an sich schon ein hinreichender Grund für eine Neuausgabe dieses Buches. Es gibt jedoch auch ernstere Beweggründe: sie Wurzeln in der tiefen vorrevoIutionären Krise, welche das Regime der Dritten Republik schüttelt.
Nach achtzehnjähriger Unterbrechung hatte der Autor dieses Buches Gelegenheit, zwei Jahre lang (1933-1935) in Frankreich zu weilen, obgleich nur als provinzieller Beobachter, der obendrein selber unter geheimer Beobachtung stand. Während dieser Zeit spielte sich im Departement lsère, wo der Autor lebte, eine kleine, ganz gewöhnliche und alltägliche Episode ab, die jedoch den Schlüssel zur gesamten französischen Politik liefert. In einem Sanatorium, das dem Comité des Forges gehört, erlaubte sich ein junger Arbeiter, dem eine schwere Operation bevorstand, die revolutionäre Presse zu lesen (richtiger die Presse, die er in seiner Naivität für revolutionär hielt: die Humanité). Die Administration stellte dem unvorsichtigen Kranken, und nach ihm vier anderen, die seine Sympathien teilten, das Ultimatum: entweder auf den Bezug der unerwünschten Publikationen zu verzichten oder sofort auf die Straße geworfen zu werden. Die Berufung der Kranken darauf, dass im Sanatorium ja ganz offen klerikal-reaktionäre Propaganda betrieben werde, half natürlich nicht. Da es sich um einfache Arbeiter handelte, die weder Abgeordnetenmandate noch Ministerportefeuilles riskierten, sondern bloß Gesundheit und Leben, so hatte das Ultimatum keinem Erfolg: die fünf Kranken, der eine am Vorabend der Operation, wurden aus dem Sanatorium hinausgeworfen. Grenoble hatte damals eine sozialistische Gemeindeverwaltung, an deren Spitze Dr. Martin stand, einer jener konservativen Bourgeois, die im Allgemeinen in der sozialistischen Partei den Ton angeben und deren vollendetster Vertreter Léon Blum ist. Die davongejagten Arbeiter machten den Versuch, beim Maire Schutz zu suchen. Vergebens: trotz allen Bemühungen, Briefen, Fürsprachen wurden sie nicht einmal vorgelassen. Sie wandten sich an das linke Lokalblatt La Dépéche, in dem die Radikalen und die Sozialisten ein unzertrennliches Kartell bilden. Als der Direktor der Zeitung erfuhr, dass es sich um ein Sanatorium des Comité des Forges handelte, lehnte er es rundweg ab sich einzumischen: alles was Sie wollen, nur nicht das. Wegen einer solchen Unvorsichtigkeit gegenüber dieser mächtigen Organisation waren der Dépéche schon einmal die Anzeigen entzogen worden und ihr ein Einnahmeverlust von 20.000 Fr. entstanden. Zum Unterschied von den Proletariern hatten der Direktor der «linken» Zeitung wie der Maire etwas zu verlieren: sie verzichteten daher auf den ungleichen Kampf und überließen die Arbeiter mit ihren kranken Därmen und Nieren dem eigenen Schicksal.
Alle ein, zwei Wochen hält der sozialistische Maire, geplagt von trüben Jugenderinnerungen, eine Rede über die Vorzüge des Sozialismus vor dem Kapitalismus. Während der Wahlen unterstützt die Dépéche den Maire und seine Partei. Alles ist in Ordnung. Das Comité des Forges verhält sich zu dieser Art Sozialismus, der den materiellen Interessen des Kapitals nicht im geringsten schadet, mit liberaler Toleranz. Vermittelst Anzeigen für 20.000 Franken im Jahr (so billig sind diese Herren zu haben!) halten sich die Feudalen der Schwerindustrie und der Banken eine große Kartellzeitung faktisch unterworfen! Und nicht nur sie: das Comité des Forges hat offensichtlich genug mittelbare und unmittelbare Argumente für die Herren Maires, Senatoren, Abgeordneten, darunter auch die sozialistischen. Das ganze offizielle Frankreich steht unter der Diktatur des Finanzkapitals. Im Larousse‘schen Lexikon heißt dieses System «Demokratische Republik».
Den Herren linken Abgeordneten und Redakteuren, nicht nur in der Isère. sondern in allen Departements Frankreichs schien es, als werde ihr friedliches Zusammenleben mit der kapitalistischen Reaktion kein Ende haben. Sie haben sich geirrt. Die längst vom Wurmstich zerfressene Demokratie fühlte plötzlich einen Revolverlauf an ihrer Schläfe. So wie Hitlers Aufrüstung eine rauhe materielle Tatsache —- die gegenwärtige Umwälzung in den Beziehungen zwischen den Staaten verursachte, indem sie offenbarte, wie eitel und trügerisch das sogenannte «internationale Recht» ist, so brachten die bewaffneten Banden des Oberst de La Rocque die inneren Verhältnisse Frankreichs in eine Wallung, die alle Parteien ohne Ausnahme zwang, sich umzustellen, umzufärben und umzugruppieren.
Friedrich Engels schrieb einmal, der Staat, somit auch die demokratische Republik, das sind Abteilungen bewaffneter Menschen zum Schutz des Eigentums: alles übrige beschönigt oder maskiert nur diese Tatsache. Die beredten Verteidiger des «Rechts», vom Schlage Herriots oder Blums, haben sich stets über solchen Zynismus empört. Doch Hitler und de La Rocque, jeder auf seinem Gebiet, haben erneut bewiesen, dass Engels Recht hat.
Daladier war Anfang 1934 Ministerpräsident kraft des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts. In seiner Tasche, neben dem Schnupftuch, trug er die nationale Souveränität. Sobald aber die Banden de La Rocques, Maurras & Co zeigten, dass sie zu schießen und Polizeipferden die Sehnen zu zerschneiden wagen, trat der souveräne Daladier seinen Platz einem politischen lnvaliden ab, auf den die Führer der bewaffneten Banden gesetzt hatten. Das ist eine Tatsache, die weitaus bedeutender ist als alle Wahlstatistik, und die aus der jüngsten Geschichte Frankreichs nicht auszulöschen ist, denn sie ist ein Vorzeichen der Zukunft.
Natürlich ist nicht jede mit Revolvern ausgerüstete Gruppe imstande, zu beliebiger Zeit die Richtung des politischen Lebens eines Landes zu ändern. Nur die bewaffneten Abteilungen, die Organe bestimmter Klassen sind, können unter gewissen Umständen eine entscheidende Rolle spielen. Oberst de La Rocque und seine Anhänger wollen die «Ordnung» vor Erschütterungen bewahren. Da aber die Ordnung in Frankreich gleichbedeutend ist mit Herrschaft des Finanzkapitals über die mittlere und kleine Bourgeoisie, und Herrschaft der Bourgeoisie als Ganzes über das Proletariat und die ihm nahestehenden Schichten, so sind de La Rocques Abteilungen nichts weiter als bewaffnete Stoßtrupps des Finanzkapitals.
Dieser Gedanke ist nicht neu. Ihm kann man sogar auf den Seiten des Populaire und der Humanité häufig begegnen, wenn er von diesen selbstverständlich auch nicht zuerst formuliert wurde. Allein, diese Blätter sprechen nur die halbe Wahrheit aus. Die andere, nicht weniger wichtige Hälfte besagt, dass Herriot und Daladier mit ihren Anhängern ihrerseits ebenfalls eine Agentur des Finanzkapitals sind: anders hätten die Radikalen nicht jahrzehntelang die Regierungspartei Frankreichs sein können. Will man nicht Versteck spielen, so muss gesagt werden, dass de La Rocque und Daladier ein und demselben Herren dienen. Das bedeutet natürlich nicht, dass sie oder ihre Methoden identisch seien. Im Gegenteil. Sie hassen einander wütend wie zwei spezialisierte Agenturen, von denen jede ein besonderes Heilsgeheimnis besitzt. Daladier verspricht, die Ordnung mit Hilfe der hergebrachten trikoloren Demokratie aufrechtzuerhalten. De La Rocque ist der Meinung, der überlebte Parlamentarismus verdiene hinweggefegt zu werden zugunsten einer offenen Militär- und Polizeidiktatur. Die politischen Methoden sind entgegengesetzt. aber die sozialen Interessen sind dieselben.
Die geschichtliche Ursache des Antagonismus zwischen de La Rocque und Daladier — wir bedienen uns dieser Namen nur der Einfachheit der Darstellung halber — ist der Verfall des kapitalistischen Systems, seine unheilbare Krise, seine Fäulnis. Trotz ununterbrochenen Errungenschaften der Technik und umwälzenden Fortschritten einzelner Industriezweige hemmt der Kapitalismus als Ganzes die Entwicklung der Produktivkräfte, wodurch er äußerste Unsicherheit der sozialen und internationalen Beziehungen erzeugt. Die parlamentarische Demokratie ist unlösbar an die Epoche der freien Konkurrenz und des internationalen Freihandels geknüpft. Die Bourgeoisie konnte Streik-. Versammlungs-, Pressefreiheit so lange dulden, wie. die Produktivkräfte sich aufwärts bewegten, die Absatzmärkte sich erweiterten, der Wohlstand der Massen sich, wenigstens teilweise, hob, und die kapitalistischen Nationen leben und leben lassen konnten. Nicht so heute. Die Sowjetunion ausgenommen, ist die imperialistische Epoche charakterisiert durch Stillstand oder Rückgang des Nationaleinkommens, chronische Agrarkrise und organische Arbeitslosigkeit. Diese Erscheinungen sind der heutigen Phase des Kapitalismus so innerlich eigen, wie Podagra und Aderverkalkung einem bestimmten Alter des Menschen. Das Weltwirtschaftschaos als eine Folge des letzten Krieges erklären, heißt hoffnungslose Oberflächlichkeit im Geiste des Herrn Caillaux, des Grafen Sforza usw. an den Tag legen. Der Krieg war selbst nichts anderes als ein Versuch der kapitalistischen Länder, den bereits hereinbrechenden Krach auf des Gegners Buckel zu wälzen. Der Versuch ist nicht gelungen. Der Krieg hat die Verfallserscheinungen nur noch vertieft; in seiner weiteren Entwicklung bereitet dieser Verfall einen neuen Krieg vor.
So schlecht die französische Wirtschaftsstatistik, die absichtlich die Probleme der Klassengegensätze umgeht, auch ist, die Erscheinungen des eigentlichen sozialen Verfalls kann sie doch nicht verbergen. Bei allgemeiner Senkung des Nationaleinkommens, bei wahrhaft erschreckendem Sturz des Einkommens der Bauern, bei Ruin der kleinen Leute aus der Stadt, bei wachsender Arbeitslosigkeit machen die Riesenunternehmungen mit jährlichen Umsätzen von über 100 bis 200 Millionen glänzende Geschäfte. Das Finanzkapital saugt im vollen Sinne des Wortes dem französischen Volk das Blut aus den Adern. Das ist die soziale Grundlage der Ideologie und der Politik der «nationalen Union».
Linderungen und Lichtdurchbrüche im Verfallsprozess sind möglich, sogar unvermeidlich, sie bleiben jedoch rein konjunkturell. Die allgemeine Tendenz unserer Epoche aber stellt Frankreich, nach einer Reihe anderer Länder, unabweislich vor die Alternative: entweder muss das Proletariat die durch und durch verfaulte bürgerliche Ordnung stürzen, oder das Kapital muss im Interesse seiner Selbsterhaltung die Demokratie mit dem Faschismus vertauschen. Für wie lange? Auf diese Frage gibt Mussolinis und Hitlers Schicksal die Antwort.
Die Faschisten schossen am 6. Februar l934 auf direkten Auftrag der Börse, der Banken und Truste. Von denselben Kommandohöhen erhielt Daladier Befehl. Doumergue die Macht abzugeben. Und wenn der radikale Premierminister kapitulierte — mit jenem Kleinmut, der die Radikalen überhaupt auszeichnet — so gerade deswegen. weil er in de La Rocques Banden die Stoßgarden seines eigenen Herrn erkannte. Mit anderen Worten; der souveräne Daladier trat Doumergue die Macht aus demselben Grunde ab, aus dem der Direktor der Dépéche und der Bürgermeister von Grenoble es ablehnten, die scheußliche Grausamkeit der Agenten des Comité des Forges an den Pranger zu stellen.
Der Übergang von der Demokratie zum Faschismus ist jedoch schwanger mit der Gefahr sozialer Erschütterungen. Daher das taktische Schwanken und die Meinungsverschiedenheiten bei den Spitzen der Bourgeoisie. Alle Magnaten des Kapitals sind für weitere Verstärkung der bewaffneten Abteilungen, die in der Stunde der Gefahr eine rettende Reserve sein können. Doch welchen Platz ihnen schon heute anweisen, ob man ihnen erlauben soll, zur Attacke überzugehen, oder sie einstweilen nur als Drohung wirken lassen, diese Fragen sind noch ungelöst. Das Finanzkapital glaubt nicht, dass es den Radikalen noch möglich sei, die kleinbürgerlichen Massen hinter sich her zu führen und mit deren Druck das Proletariat im Rahmen der «demokratischen» Disziplin zu halten. Aber es ist auch nicht davon überzeugt, dass die faschistischen Organisationen, denen bis jetzt noch eine wirkliche Massenbasis fehlt, die Macht erobern und eine starke Ordnung schaffen könnten.
Nicht die parlamentarische Rhetorik, sondern die Empörung der Arbeiter, der allerdings von Jouhaux Bürokratie im Keime erstickte Generalstreikversuch, schließlich die lokalen Aufstände (Toulon, Brest …)[3] überzeugten die Lenker in den Kulissen von der Notwendigkeit zur Vorsicht. Die Faschisten wurden sanft verwarnt, die Radikalen atmeten ein ganz klein wenig freier. Le Temps, der schon so weit gewesen war, in einer Reihe von Artikeln der «jungen Generation» Hand und Herz anzutragen, entdeckte von neuem die Vorzüge des dem französischen Genie angemessenen liberalen Regimes. So kam ein unstetiges, Übergangs- und Bastardregime zustande, angemessen nicht dem französischen Genius, sondern dem Untergang der Dritten Republik. An diesem Regime fallen am deutlichsten seine bonapartistischen Züge auf: Unabhängigkeit der Macht von Parteien und Programmen, Liquidierung der parlamentarischen Gesetzgebung vermittelst außerordentlicher Vollmachten, eine Regierung, die sich über die kämpfenden Lager, d. h. faktisch über die Nation erhebt, als ihr «Schiedsrichter». Die Kabinette Doumergue, Flandin, Laval, alle drei mit unveränderter Teilnahme der kompromittierten und gedemütigten Radikalen, stellen nur leichte Variationen über ein und dasselbe Thema dar.
Bei der Entstehung des Kabinetts Sarraut verkündete Léon Blum, dessen Scharfsinn nur zwei, statt drei Dimensionen besitzt: «Die letzten Auswirkungen des 6. Februar sind auf der parlamentarischen Ebene zerstört». (Populaire vom 2. Februar 1936). Das heißt man den Schatten der Kutsche mit dem Schatten der Bürste waschen! Als sei überhaupt «auf parlamentarischer Ebene» der Druck bewaffneter Abteilungen des Finanzkapitals aufzuheben! Als sei es möglich, dass Sarraut diesem Druck nicht unterliegt und nicht vor ihm zittert! In Wirklichkeit stellt die Regierung Sarraut-Flandin eine Abart desselben halbparlamentarischen »Bonapartismus» dar, nur mit leichter Neigung nach links. Sarraut selbst hat auf Anklagen wegen der von ihm ergriffenen Maßnahmen im Parlament vortrefflich geantwortet: «Sind meine Maßnahmen willkürlich (arbitraires), so weil ich Schiedsrichter (arbitre) sein will». Dieser Aphorismus hätte sogar im Munde Napoleon III. nicht schlecht geklungen. Sarraut fühlt sich nicht als Bevollmächtigter einer bestimmten Partei oder eines Parteienblocks an der Macht, wie es sich nach den Gesetzen des Parlamentarismus gehört, sondern als Schiedsrichter über Klassen und Parteien, wie es den Gesetzen des Bonapartismus entspricht.
Die Verschärfung des Klassenkampfes und besonders das offene Auftreten der bewaffneten Banden der Reaktion brachten auch die Arbeiterorganisationen in nicht geringen Aufruhr. Die sozialistische Partei, die friedlich die Rolle des fünften Rades am Wagen der Dritten Republik spielte, sah sich gezwungen ihrer kartellistischen Tradition halb zu entsagen und sogar mit ihrem rechten Flügel (den «Neo») zu brechen Zu eben dieser Zeit machten die Kommunisten die umgekehrte Entwicklung, aber weitaus großzügiger. Mehrere Jahre lang hatten diese Herren von Barrikaden, von der Eroberung der Straße und ähnlichem geschwätzt (das Geschwätz hatte allerdings vorwiegend literarischen Charakter). Jetzt nach dem 6. Februar, als sie begriffen, dass es Ernst wird, stürzten die Barrikadenmeister nach rechts. Dieser natürliche Reflex der erschrockenen Phrasendrescher fiel vortrefflich mit der neuen internationalen Orientierung der Sowjetdiplomatie zusammen.
Unter dein Druck der Gefahr seitens Hitlerdeutschland wandte sich die Kremlpolitik Frankreich zu. Status quo in den internationalen Beziehungen! Status quo in den inneren Verhältnissen Frankreich! Hoffnungen auf die sozialistische Revolution? Hirngespinste! In den führenden Kreisen des Kreml wird vom französischen Kommunismus anders als mit Verachtung gar nicht gesprochen. Man behalte, was man hat, damit es nicht noch schlimmer kommt. Die parlamentarische Demokratie in Frankreich ist ohne die Radikalen nicht vorstellbar: sollen die Sozialisten sie also unterstützen; den Kommunisten wird man befehlen, den Block Blum-Herriot nicht zu stören; wenn möglich sollen sie sich selbst dem Block anschließen. Nur keine Erschütterungen. nur keine Drohung! Das ist der Kurs des Kreml.
Wenn Stalin auf die Weltrevolution verzichtet, wollen die bürgerlichen Parteien Frankreichs das nicht glauben. Wie falsch! Blinde Vertrauensseligkeit ist in der Politik natürlich keine hohe Tugend. Aber auch blindes Misstrauen ist nicht besser. Man muss verstehen, die Worte mit den Taten zu vergleichen und die allgemeine Entwicklungstendenz über einen Zeitraum mehrerer Jahre zu erkennen. Stalins von den Interessen der privilegierten Sowjetbürokratie bestimmte Politik ist ganz und gar konservativ geworden. Die französische Bourgeoisie hat allen Grund, Stalin zu trauen. Um so weniger Grund zum Vertrauen hat das französische Proletariat.
Auf dem Vereinigungskongress der Gewerkschaften [CGT und CGTU] in Toulouse fand der «Kommunist» Racamond für die Politik der Volksfront eine wahrhaft unsterbliche Umschreibung: «Wie die Schüchternheit der Radikalen Partei besiegen?» Wie die Angst der Bourgeoisie vor dem Proletariat besiegen? Ganz einfach: die schrecklichen Revolutionäre müssen das Messer, das sie zwischen den Zähnen hatten, wegwerfen, Pomade ins Haar tun und der reizendsten aller Odalisken ein Lächeln entlocken: das wird einen Vaillant-Couturier letzter Ausgabe ergeben. Unter dem Druck der geschniegelten «Kommunisten», die aus allen Kräften die nach links strebenden Sozialisten nach rechts drängten, musste Blum wiederum die Orientierung wechseln, zum Glück in die altgewohnte Richtung. So entstand die Volksfront, eine Versicherungsgesellschaft gegen den Bankrott der Radikalen auf Kosten des Kapitals der Arbeiterorganisationen.
Der Radikalismus ist untrennbar von der Freimaurerei, und damit ist schon alles gesagt. Während der Debatten im Abgeordnetenhaus über die faschistischen Verbände bemerkte Herr Xavier Vallat, Trotzki habe seinerzeit den französischen Kommunisten «verboten», den Freimaurerlogen anzugehören. Herr Jammy Schmidt. eine anscheinend hohe Autorität auf diesem Gebiet, erklärte ebendort das Verbot aus der Unvereinbarkeit des despotischen Bolschewismus mit dem «Freigeist». Über dies Thema mit den radikalen Abgeordneten zu streiten, besteht für uns kein Grund. Aber wir halten auch heute für des geringsten Vertrauens unwürdig jenen Arbeitervertreter, der in der süßlichen Freimaurerreligion der Klassengemeinschaft Anregung oder Trost sucht. Das Kartell war nicht zufällig begleitet von breiter Teilnahme der Sozialisten an der Maskerade der Logen. Jetzt ist die Reihe an den reumütigen Kommunisten, Schürzchen anzulegen! Mit den Schürzchen wird es übrigens den neubekehrten Lehrlingen leichter fallen, den Meistern des Kartells zu dienen.
Aber die Volksfront — erwidert man uns nicht ohne Entrüstung — ist absolut kein Kartell, sondern eine Massenbewegung. Mangel an schwülstigen Definitionen herrscht natürlich nicht, aber an der Sache ändern sie nichts. Bestimmung des Kartells war stets, die Massenbewegung zu bremsen durch Ablenkung ins Bett der Klassengemeinschaft. Das eben ist auch genau die Bestimmung der Volksfront. Der Unterschied zwischen ihnen — und er ist nicht von geringer Bedeutung — ist der, dass das traditionelle Kartell sich in einer verhältnismäßig ruhigen und stabilen Epoche des parlamentarischen Regimes abspielte. Jetzt aber, wo die Massen ungeduldiger und aufbrausender geworden sind, bedarf es einer wirksameren Bremse, mit Beteiligung der «Kommunisten». Gemeinsame Versammlungen. Paradeumzüge, Schwüre, Verquickung der Kommunardenfahne mit der der Versailler, Lärm, Geschrei, Demagogie — alles dient einem einzigen Zweck: die Massenbewegung zum Stehen zu bringen und zu demoralisieren.
Als Sarraut in der Kammer sich vor der Rechten rechtfertigte, erklärte er, seine harmlosen Zugeständnisse an die Volksfront seien nichts anderes als ein Sicherheitsventil des Regimes. Diese Offenheit mag unvorsichtig scheinen. Sie wurde aber von der äußersten Linken mit stürmischem Applaus belohnt. Wahrlich, Sarraut hatte keine Ursache, sich Zwang anzutun. Auf jeden Fall gelang es ihm, vielleicht nicht ganz bewusst, eine klassische Definition der Volksfront zu geben: Sicherheitsventil gegen die Massenbewegung. Herr Sarraut liebt überhaupt die Aphorismen!
Außenpolitik ist Fortsetzung der Innenpolitik. Gänzlich Verzicht leistend auf den Standpunkt des Proletariats, machen sich Blum, Cachin & Co. unter der Maske der «kollektiven Sicherheit» und des «internationalen Rechts» den Standpunkt des nationalen Imperialismus zu eigen. Sie bereiten genau dieselbe Politik der Kriecherei vor, die sie 1911-18 betrieben, nur mit dem Zusatz: «für die Verteidigung der UdSSR». Indessen, während der Jahre 1918-1923, als die Sowjetdiplomatie ebenfalls nicht wenig zu lavieren und Abkommen zu schließen hatte, konnte nicht eine der Kominternsektionen an einen Block mit der eigenen Bourgeoisie auch nur denken! Ist nicht dies allein schon ein hinreichender Beweis für die Aufrichtigkeit des Stalinschen Verzichts auf die Weltrevolution?
Mit denselben Erwägungen, mit denen die Kominternführer sich an die Brüste der Demokratie hängen in der Periode ihrer Agonie, entdeckten sie das lichte Antlitz des Völkerbundes, als diesen bereits Todeskrämpfe zu schütteln begannen. So entstand, gemeinsam mit den Radikalen und der Sowjetunion die außenpolitische Plattform. Das innenpolitische Programm der Volksfront ist gebraut aus Gemeinplätzen, die nicht weniger freie Deutungen zulassen als der Genfer Covenant. Der allgemeine Sinn des Programms ist: alles bleibt beim Alten. Indessen, die Massen wollen das Alte nicht mehr: darin besteht ja eben das Wesen der politischen Krise.
Das Proletariat politisch entwaffnend, sind die Blum, Paul Faure, Cachin, Thorez vor allem darum besorgt, dass es sich nicht physisch bewaffne. Die Agitation dieser Herren unterscheidet sich in nichts von Pfaffenpredigten über die Vorzüge der Moralgrundsätze. Engels. der lehrte, dass das Problem der Staatsmacht ein Problem von bewaffneten Abteilungen ist, Marx. der den Aufstand als eine Kunst betrachtete, sind für die heutigen Deputierten, Senatoren und Bürgermeister der Volksfront so etwas wie mittelalterliche Barbaren. Der Populaire bildet zum hundertsten Mal die Gestalt eines hungrigen Arbeiters ab mit der Unterschrift: «Ihr werdet schon noch begreifen, dass unsere nackten Fäuste solider sind als alle Eure Gummiknüppel». Welch erhabene Verachtung für die Militärtechnik! Sogar der abessinische Negus hat in dieser Hinsicht fortschrittlichere Ansichten. Die Umstürze in Italien, Deutschland, Österreich haben für diese Leute anscheinend nicht existiert. Werden sie aufhören, die «nackten Fäuste» zu besingen, wenn de La Rocque ihnen selbst Handschellen anlegen wird? Mit. unter bedauert man es fast, dass die Herren Führer diese Erfahrung nicht einzeln machen können, ohne dass die Massen betroffen würden.
Vom Standpunkt des bürgerlichen Regimes in seiner Gesamtheit bildet die Volksfront eine Episode im Konkurrenzkampf zwischen Radikalismus und Faschismus um Aufmerksamkeit und Gunst des Großkapitals. Durch ihre theatralischen Verbrüderungen mit Sozialisten und Kommunisten wollen die Radikalen dem Herrn beweisen, dass es um die Sache des Regimes durchaus nicht so schlecht steht, wie rechts behauptet wird, dass die Gefahr der Revolution durchaus nicht so groß ist, dass sogar Vaillant-Couturier das Messer mit der Hundeleine vertauschte, dass man durch die zahmen «Revolutionäre». die Arbeitermassen disziplinieren und folglich das parlamentarische System vor dem Zusammenbruch retten kann.
Nicht alle Radikalen glauben in gleicher Weise an dieses Manöver: die solideren und einflussreicheren mit Herriot an der Spitze, ziehen es vor, eine abwartende Haltung einzunehmen. Aber auch sie können letzten Endes nichts anderes vorschlagen. Die Krise des Parlamentarismus ist vor allem eine Krise des Vertrauens der Wähler zum Radikalismus. Solange das Mittel zur Verjüngung des Kapitalismus nicht gefunden ist, wird und kann es kein Rezept für die Rettung der radikalen Partei geben. Ihr steht nur frei, zwischen verschiedenen Varianten des politischen Untergangs zu wählen. Selbst ein relativer Erfolg bei den bevorstehenden Wahlen wird ihren Zusammenbruch nicht abwenden und nicht einmal lange aufschieben.
Die Führer der sozialistischen Partei, die leichtfertigsten Politiker von ganz Frankreich, beschweren sich nicht mit der Soziologie der Volksfront: aus Léon Blums endlosen Monologen kann niemand etwas lernen. Was die Kommunisten betrifft, die außerordentlich stolz sind auf ihre Initiative hinsichtlich der Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie, so stellen sie die Volksfront dar als ein Bündnis des Proletariats mit den Mittelklassen. Welche Parodie auf den Marxismus! Die radikale Partei ist durchaus keine Partei des Kleinbürgertums. Sie ist nicht einmal ein «Block der mittleren und der kleinen Bourgeoisie», nach einer unsinnigen Definition der Moskauer Prawda. Die mittlere Bourgeoisie beutet nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch das Kleinbürgertum aus und ist selber eine Agentur des Finanzkapitals. Ein hierarchisches, auf Ausbeutung begründetes, politisches Verhältnis mit dem neutralen Namen «Block» belegen, heißt der Wirklichkeit spotten. Ein Kavallerist ist nicht ein Block von Mensch und Pferd. Wenn die Partei der Herriot-Daladier den kleinbürgerlichen, zum Teil sogar den Arbeitermassen rittlings aufsitzt, so nur, um sie im Interesse der kapitalistischen Ordnung einzulullen und zu betrügen. Die Radikalen sind die demokratische Partei des französischen Imperialismus, jede andere Definition ist Lüge.
Die Krise des kapitalistischen Systems entwaffnet die Radikalen, indem sie ihnen die traditionellen Mittel zur Einschläferung des Kleinbürgertums fortnimmt. Die «Mittelklassen» beginnen zu fühlen, wenn nicht gar zu verstehen, dass die Lage mit schäbigen Reformen nicht zu retten ist, dass ein kühner Bruch mit der herrschenden Ordnung vonnöten ist. Allein, Radikalismus und Kühnheit, sind wie Wasser und Feuer. Der Faschismus nährt sich vor allem von dem wachsenden Misstrauen des Kleinbürgertums zum Radikalismus. Man kann ohne Übertreibung sagen, Frankreichs politisches Schicksal wird sich in erheblichem Masse danach gestalten, wie der Radikalismus liquidiert wird, und wer seine Nachfolge antreten, d. h. über den Einfluss auf die kleinbürgerlichen Massen verfügen wird: der Faschismus oder die Partei des Proletariats.
Eine elementare Wahrheit der marxistischen Strategie lautet, dass das Bündnis des Proletariats mit den kleinen Leuten von Stadt und Land nur im unversöhnlichen Kampf gegen die traditionellen parlamentarischen Vertreter des Kleinbürgertums zu verwirklichen ist. Um die Bauernschaft auf die Seite des Proletariats zu ziehen, heißt es den Bauer dem radikalen Berufspolitiker entreißen, der den Bauer dem Finanzkapital untertänig macht. Im Gegensatz hierzu ist die Volksfront, das Komplott der Arbeiterbürokratie mit den schlimmsten politischen Ausbeutern der Mittelklassen nur imstande, in den Massen den Glauben an den revolutionären Weg zu töten und sie der faschistischen Konterrevolution in die Arme zu treiben.
Es ist kaum zu glauben, doch einige Zyniker versuchen tatsächlich die Volksfrontpolitik mit Hinweisen auf Lenin zu rechtfertigen, welcher nämlich bewies, dass man «ohne Kompromisse» nicht wegkommt und im Besonderen nicht ohne Abkommen mit anderen Parteien. Der Hohn der heutigen Kominternführer auf Lenin ist zur Regel geworden; sie treten die gesamte Lehre des Erbauers der bolschewistischen Partei mit Füßen, hernach aber wallfahren sie nach Moskau, ihn im Mausoleum zu verehren.
Lenin begann sein Wirken im zaristischen Russland, wo nicht nur das Proletariat und die Bauernschaft, nicht nur die Intelligenz. sondern auch breite Kreise der Bourgeoisie in Opposition zum alten Regime standen. Wenn die Volksfrontpolitik überhaupt irgendwo zu Recht bestehen konnte, scheint es vor allem in einem Lande, das seine bürgerliche Revolution noch nicht vollzogen hat. Die Herren Fälscher täten jedoch gut zu zeigen, auf welcher Etappe, wann und unter welchen Umständen die bolschewistische Partei in Russland so etwas wie eine Volksfront gebildet hätte. Mögen sie nur ihre Einbildungskraft anstrengen und in den historischen Dokumenten herumwühlen.
Der Bolschewismus schloss mit den revolutionären kleinbürgerlichen Organisationen praktische Abkommen, zum Beispiel für gemeinsamen illegalen Transport der revolutionären Literatur, bisweilen zwecks gemeinsamer Organisierung einer Straßendemonstration, mitunter zum Widerstand gegen die Schwarzhundert. Während der Wahlen in die Staatsduma gingen sie unter gewissen Umständen Wahlblocks ein mit den Menschewiki, oder mit den Sozialrevolutionären in zweiter Linie. Das ist auch alles! Weder gemeinsame «Programme», noch gemeinsame ständige Einrichtungen, noch Verzicht auf Kritik am zeitweiligen Verbündeten. Derartige episodische, begrenzte, streng konkrete Zwecke, Abkommen und Kompromisse — davon und nur davon sprach Lenin! — haben nichts gemein mit einer Volksfront, die ein Konglomerat verschiedenartiger Organisationen darstellt, ein dauerndes Bündnis verschiedener Klassen, verbunden für eine ganze Periode — und was für eine Periode! .-—‚ gemeinsames Programm und gemeinsame Politik — eine Politik der Paraden, Deklamationen und des Sand-in-die-Augen-Streuens. Bei der ersten ernsten Prüfung wird die Volksfront in Stücke zerbrechen, und alle ihre Bestandteile werden tiefe Risse aufweisen. Die Volksfrontpolitik ist eine Politik des Verrats.
Die Regel des Bolschewismus in der Frage der Blocks lautete :getrennt marschieren, vereint schlagen! Die Regel der heutigen Kominternführer ist :vereint marschieren, um getrennt geschlagen zu werden. Mögen sich diese Herren an Stalin und Dimitroff halten, aber sollen sie gefälligst Lenin in Ruhe lassen!
Man kann nicht ohne Entrüstung die Erklärungen der prahlsüchtigen Führer lesen, wonach die Volksfront Frankreich vor dem Faschismus «bewahrt hat» :in Wirklichkeit bedeutet dies bloß, dass die gegenseitigen Ermunterungen die schreckhaften Helden vor übertriebener Angst «bewahrten». Für lange Zeit? Zwischen Hitlers erstem Aufstand und seiner Machtübernahme vergingen zehn Jahre, gekennzeichnet durch häufige Ebbe und Flut. Die deutschen Blum und Cachin haben damals ebenfalls nicht nur einmal ihren «Sieg» über den Nationalsozialismus ausgeschrien. Wir haben ihnen nicht geglaubt und irrten uns nicht. Diese Erfahrung hat jedoch die französischen Vettern der Wels und Thälmann nichts gelehrt. Zwar beteiligten sich in Deutschland die Kommunisten nicht an der Volksfront, welche die Sozialdemokratie, die bürgerliche Linke und das katholische Zentrum umfasste («ein Bündnis des Proletariats mit den Mittelklassen»!). In jener Periode lehnte die Komintern sogar Kampfabkommen der Arbeiterorganisationen gegen den Faschismus ab. Die Resultate sind bekannt. Das heißeste Mitgefühl mit Thälmann als Gefangenen der Henker kann uns nicht hindern auszusprechen, dass seine, d. h. Stalins Politik zu Hitlers Sieg mehr beitrug als Hitlers Politik selbst. Nach ihrer Kehrtwendung macht die Komintern jetzt in Frankreich die zur Genüge bekannte Politik der deutschen Sozialdemokratie. Ist es da so schwer, die Resultate vorherzusehen?
Die bevorstehenden Parlamentswahlen, wie sie auch ausfallen mögen, werden an sich ernstliche Änderungen in der Lage nicht erbringen: den Wählern bleibt letzten Endes die Wahl zwischen einem Schiedsrichter vom Typ Laval und einem Schiedsrichter vom Typ Herriot-Daladier. Da aber Herriot friedlich mit Laval zusammenarbeitete, und Daladier beide unterstützte, so ist der Unterschied zwischen ihnen, gemessen an den ihnen von der Geschichte gestellten Aufgaben. ganz winzig.
Zu meinen, Herriot-Daladier seien imstande, den «zweihundert Familien», die Frankreich regieren, den Kampf anzusagen, heißt frech das Volk zum Narren halten. Die zweihundert Familien schweben nicht in der Luft, sondern sind die organische Krönung des Systems des Finanzkapitals. Um mit den zweihundert Familien fertig zu werden, muss man das wirtschaftliche und politische Regime stürzen, an dessen Erhaltung Herriot und Daladier nicht weniger interessiert sind als Flandin und de La Rocque. Es handelt sich nicht um den Kampf der «Nation» gegen einige wenige Magnaten, wie die Humanité es darstellt, sondern um .den Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie, um Klassenkampf, der nur durch die Revolution entschieden werden kann. Zum Haupthindernis auf diesem Wege wurde das Streikbrecherkomplott der Führer der Volksfront.
Wie lange noch in Frankreich halb parlamentarische, halb bonapartistische Kabinette einander ablösen werden, und durch welche konkreten Etappen überhaupt das Land in der nächsten Periode gehen wird, lässt sich nicht im voraus sagen. Das hängt ab von der internationalen und der nationalen Wirtschaftskonjunktur, von der Weltlage, von der Situation in der UdSSR, von dem Haltbarkeitsgrad des italienischen und deutschen Faschismus, vom Gang der Ereignisse in Spanien, schließlich — und das ist der Bedeutung nach nicht der letzte Faktor — von der Scharfsichtigkeit und Aktivität der vorgeschrittensten Elemente des französischen Proletariats. Zuckungen des Francs können das Ende beschleunigen. Engere Zusammenarbeit Frankreichs mit England ist fähig es hinauszurücken. Die Agonie der «Demokratie» kann in Frankreich jedenfalls sich weit länger hinziehen, als in Deutschland die vorfaschistische Periode Brüning-Papen-Schleicher dauerte: aber sie hört deswegen nicht auf, Agonie zu sein. Die Demokratie wird hinweggefegt werden. Die Frage ist nur: von wem?
Der Kampf gegen die «200 Familien», gegen Faschismus und Krieg — für Frieden, Brot, Freiheit und ähnliche schöne Dinge — ist entweder Lüge oder Kampf um den Sturz des Kapitalismus. Das Problem der revolutionären Machteroberung steht vor den Werktätigen Frankreichs nicht als fernes Ziel, sondern als Aufgabe der einsetzenden Periode. Indes, die sozialistischen und kommunistischen Führer verzichten nicht nur auf die revolutionäre Mobilisierung des Proletariats. sondern arbeiten ihr auch aus Leibeskräften entgegen. Brüderschaft mit der Bourgeoisie schließend, jagen und hetzen sie die Bolschewiki. So stark ist ihr Hass gegen die Revolution und ihre Angst vor ihr! Die übelste Rolle spielen unter diesen Bedingungen die Pseudorevolutionäre von der Art Marceau Piverts, die die Bourgeoisie zu stürzen versprechen — aber nicht anders als mit Einwilligung Léon Blums. Der ganze Verlauf der französischen Arbeiterbewegung in den letzten zwölf Jahren hat eine Aufgabe auf die Tagesordnung gestellt: die Schaffung einer neuen, revolutionären Partei.
Raten, ob die Ereignisse für deren Formierung «genügend» Zeit lassen werden, ist die fruchtloseste aller Beschäftigungen. Der Quell der Geschichte ist schier unerschöpflich an verschiedenen Varianten, Übergangsformen, Etappen, Beschleunigungen und Verzögerungen. Der Faschismus kann unter dem Einfluss wirtschaftlicher Schwierigkeiten vorzeitig losschlagen und eine Niederlage erleiden. Das käme einem langen Fristenaufschub gleich. Umgekehrt kann er aus Vorsicht zu lange in abwartender Position bleiben und dadurch den revolutionären Organisationen neue Chancen geben. Die Volksfront kann an ihren Widersprüchen eher zerbrechen, als der Faschismus imstande ist, den Generalangriff zu eröffnen: das würde eine Periode der Umgruppierungen und Spaltungen in den Arbeiterparteien und der raschen Zusammenschweißung der revolutionären Avantgarde bedeuten. Spontane Massenbewegungen wie Toulon und Brest können breiten Aufschwung erleben und dem revolutionären Hebel starken Nachdruck verleihen. Schließlich muss sogar der Sieg des Faschismus in Frankreich; der theoretisch nicht ausgeschlossen ist, durchaus nicht sein tausendjähriges Reich bedeuten, wie es Hitler weissagt, ja braucht ihm nicht einmal die Frist zu garantieren, über die Mussolini verfügte. Beginnend mit Italien oder Deutschland, würde der Abend des Faschismus bald auch über Frankreich hereinbrechen. In diesem, dem allerungünstigsten Fall, bedeutet die Schaffung der revolutionären Partei die Stunde der Revanche näher rücken. Die gescheiten Leute, die die unaufschiebbare Aufgabe mit den Worten abtun: «die Bedingungen sind nicht reif», zeigen nur, dass sie selber für die Bedingungen nicht reif sind.
Die Marxisten Frankreichs wie der ganzen Welt haben in gewissem Sinne wieder von vorne anzufangen, aber auf ungleich höherer geschichtlicher Stufe als ihre Vorgänger. Der Fall der Kommunistischen Internationale, schamloser als der Fall der Sozialdemokratie im Jahre 1914, wird in der ersten Zeit die Vorwärtsbewegung ungemein erschweren. Die Gewinnung der neuen Kader wird langsam erfolgen, in erbittertem Kampf gegen die Einheitsfront der reaktionären und patriotischen Bürokratie innerhalb der Arbeiterklasse. Andererseits stellen gerade diese Schwierigkeiten, die nicht zufällig auf das Proletariat einbrechen, eine wichtige Voraussetzung dafür eine richtige Auslese und harte Stählung der ersten Vortrupps der neuen Partei und der neuen Internationale.
Nur ein ganz unbedeutender Teil der Kominternkader begann seine revolutionäre Schulung bei Kriegsanfang, vor dem Oktoberumsturz. Alle diese Elemente befinden sich heute beinahe ohne jede Ausnahme außerhalb der Komintern. Die folgende Schicht schloss sich bereits der siegreichen Oktoberrevolution an, das war leichter. Aber auch von dieser zweiten Auslese ist nur ein winziger Teil erhalten geblieben. Die überwältigende Mehrheit der heutigen Kominternkader hat sich nicht dem bolschewistischen Programm. nicht dem revolutionären Banner, sondern der Sowjetbürokratie angeschlossen. Das sind nicht Kämpfer. sondern folgsame Beamte, Adjutanten, Laufjungen. Darum verfault die Dritte Internationale so ruhmlos in dieser an grandiosen revolutionären Möglichkeiten reichen geschichtlichen Situation.
Die Vierte Internationale erhebt sich auf den Schultern ihrer drei Vorgängerinnen. Die Schläge sausen auf sie ein von vorn, von der Seite und von hinten. Karrieristen, Feiglinge, Philister haben in ihren Reihen nichts zu suchen. Der zu Beginn unvermeidliche Einschlag von Sektierern und Abenteuern siebt sich mit dem Wachsen der Bewegung heraus. Mögen Pedanten und Skeptiker mit den Schultern zucken über die «kleinen» Organisationen, die so «kleine» Zeitungen herausgeben und der ganzen Welt den Fehdehandschuh hinwerfen. Ernste Revolutionäre gehen mit Verachtung an den Pedanten und Skeptikern vorüber. Die Oktoberrevolution ging auch einmal in Kinderschuhen…
Die mächtigen russischen Parteien der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki, die mit den Kadetten eine «Volksfront» gebildet hatten, wälzten sich nach einigen Monaten im Staube unter den Schlägen des «Häufchens Fanatiker» des Bolschewismus. Eines ruhmlosen Todes starben später unter den Schlagen des Faschismus die deutsche Sozialdemokratie, die deutsche Kompartei und die österreichische Sozialdemokratie. Die Epoche. die unaufhaltsam über die europäische Menschheit heraufgezogen ist, wird aus der Arbeiterbewegung restlos alles Zweideutige und Faule ausmerzen. All diese Jouhaux, Citrine, Blum, Cachin, Vandervelde, Caballero sind nur Gespenster. Die Sektionen der Zweiten und der Dritten Internationale werden eine nach der anderen ruhmlos von der Bildfläche verschwinden. Eine große Umgruppierung in den Arbeiterreihen ist unvermeidlich. Die jungen revolutionären Kader werden Fleisch und Blut bekommen. Der Sieg ist nur auf Grund der Methoden des Bolschewismus, deren Verteidigung dieses Buch gewidmet ist.
Die «Volksfront» ist eine Koalition des Proletariats mit der imperialistischen Bourgeoisie in der Person der Radikalen Partei und anderem faulen Unrat, nicht ganz so hoch aber von gleicher Sorte. Die Koalition erstreckt sich sowohl auf das parlamentarische wie das außerparlamentarische Gebiet. Auf beiden begrenzt die Radikale Partei, während sie selbst volle Handlungsfreiheit behält, brutal die des Proletariats.
Die Radikale Partei selber befindet sich im Verfallsprozess. Jede neue Wahl weist eine Flucht der Wähler nach rechts und nach links auf. Hingegen gewinnen die Sozialistische und die Kommunistische Partei, wegen Fehlens einer wahrhaft revolutionären Partei. Die allgemeine Tendenz der werktätigen Massen, darunter auch der kleinbürgerlichen, geht ganz eindeutig nach links. Die Orientierung der Führer der Arbeiterparteien ist nicht weniger deutlich:
nach rechts. Während die Massen mit dem Stimmzettel und durch ihren Kampf die Partei der Radikalen stürzen wollen, sind die Führer der Einheitsfront im Gegenteil bestrebt, sie zu retten. Nachdem die Führer der Arbeiterparteien auf Grund eines «sozialistischen» Programms das Vertrauen der Arbeitermassen gewonnen haben, treten sie danach freiwillig den Löwenanteil dieses Vertrauens an die Radikalen ab, zu denen die Arbeitermassen selber überhaupt kein Vertrauen haben.
Die «Volksfront» in ihrer jetzigen Gestalt ist eine schreiende Vergewaltigung nicht nur der Arbeiter-, sondern auch der formalen, d. h. bürgerlichen Demokratie. Die Mehrheit der radikalen Wähler nimmt am Kampf der Werktätigen, und folglich auch an der Volksfront nicht teil. Indes, die Radikale Partei hat in dieser Front nicht nur einen gleichberechtigten, sondern privilegierten Platz inne; die Arbeiterparteien sind gezwungen, ihre Aktivität auf das Programm der Radikalen Partei zu beschränken. Mit der größten Ungeniertheit wird diese Idee von den Zynikern der «Humanité» angewandt. Bei den letzten Senatswahlen ist die privilegierte Stellung der Radikalen in der Volksfront besonders krass in Erscheinung getreten. Die Führer der Kompartei rühmten sich offen, dass sie zugunsten der nichtproletarischen Parteien auf einige Posten, die von Rechte wegen den Arbeitern gehören, verzichteten. Das bedeutet einfach, dass die Einheitsfront den Vermögenswahlzensus zugunsten der Bourgeoisie zum Teil wieder einführt.
Unter «Front» versteht man die Organisation des direkten und unmittelbaren Kampfes. Wo es den Kampf gilt, wiegt jeder Arbeiter zehn Bourgeois auf, und seien sie auch der Einheitsfront angeschlossen. Vom Standpunkt der revolutionären Kampffähigkeit der Front müssten die Wahlprivilegien nicht den radikalen Bourgeois, sondern den Arbeitern zufallen. Doch Privilegien sind eigentlich gar nicht nötig. Die Volksfront verteidigt die «Demokratie»? Möge sie nur mit deren Anwendung auf die eigenen Reihen beginnen! Das heißt: die Führung der Volksfront muss direkt und unmittelbar den Willen der kämpfenden Massen widerspiegeln.
Wie? Sehr einfach: durch Wahlen. Das Proletariat verbietet niemandem, an seiner Seite gegen den Faschismus, die bonapartistische Lavalregierung, die Militärverschwörung der Imperialisten und alle anderen Formen der Unterdrückung und Niedertracht zu kämpfen. Das Einzige, was die bewussten Arbeiter von ihren tatsächlichen oder eventuellen Verbündeten verlangen, ist, dass sie wirklich kämpfen. Jede Bevölkerungsgruppe, die sich wirklich am Kampf in der augenblicklichen Etappe beteiligt und bereit ist, sich der gemeinsamen Disziplin zu unterwerfen, soll gleichberechtigt auf die Führung der Volksfront einwirken können.
Je zweihundert, fünfhundert oder tausend Bürger, die sich in einer bestimmten Stadt, einem Stadtteil. einer Fabrik, einer Kaserne, in einem bestimmten Dorf der Volksfront anschließen, müssen während der Kampfhandlungen ihren Vertreter in ein lokales Aktionskomitee wählen. Alle Teilnehmer des Kampfes verpflichten sich, die Disziplin dieses Komitees anzuerkennen.
Der letzte Kominternkongress sprach sich in der Resolution zu Dimitroffs Bericht für die Bildung gewählter Aktionskomitees aus als der Massenstütze der Volksfront. Das ist wohl der einzige fortschrittliche Gedanke in der ganzen Resolution. Aber gerade darum rühren die Stalinisten zu seiner Verwirklichung nicht den kleinen Finger. Sie können sich dazu nicht entschließen, ohne die Klassengemeinschaft mit der Bourgeoisie zu sprengen.
Allerdings können an den Wahlen zu den Aktionskomitees nicht nur Arbeiter, sondern auch Angestellte, Beamte, Kriegsteilnehmer, Handwerker, Kleinhändler und Kleinbauern teilnehmen. Auf diese Weise entsprechen die Aktionskomitees vortrefflich den Aufgaben des Kampfes des Proletariats um den Einfluss auf das Kleinbürgertum. Dafür aber erschweren sie ungemein die Zusammenarbeit der Arbeiterbürokratie mit der Bourgeoisie. Allein, die Volksfront in ihrer heutigen Gestalt ist nichts anderes als die organisierte Klassengemeinschaft der politischen Ausbeuter des Proletariats (Reformisten und Stalinisten) mit den politischen Ausbeutern des Kleinbürgertums (Radikale). Wirkliche Massenwahlen zu den Aktionskomitees werden automatisch die bürgerlichen Schieber (Radikale) aus den Reihen der Volksfront verdrängen und damit die verbrecherische von Moskau diktierte Politik in die Luft sprengen.
Es wäre jedoch falsch, zu meinen, man könne einfach an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Stunde die proletarischen und kleinbürgerlichen Massen zur Wahl von Aktionskomitees auf Grund eines bestimmten Statuts aufrufen. Solch ein Vorgehen Wäre rein bürokratisch und darum fruchtlos. Aktionskomitees können die Arbeiter nur dann wählen, wenn sie selbst an irgendeiner Aktion teilnehmen und das Bedürfnis nach einer revolutionären Führung empfinden. Es handelt sich nicht um die formell-demokratische Vertretung aller und jeder Massen, sondern um die revolutionäre Vertretung der kämpfenden Massen. Das Aktionskomitee ist der Apparat des Kampfes. Es ist nicht nötig, im voraus zu erraten, welche Schichten der Werktätigen nun gerade an der Schaffung der Aktionskomitees beteiligt sein werden: die Grenzen der kämpfenden Massen werden sich im Kampf von selbst ergehen.
Die größte Gefahr in Frankreich ist, dass die revolutionäre Energie der Massen sich stückweise in Einzelausbrüchen wie Toulon, Brest. Limoges verausgabt und der Apathie Platz macht. Nur bewusste Verräter oder hoffnungslose Esel sind imstande zu denken, dass man bei der heutigen Lage die Massen bereden könne, solange still zu halten, bis ihnen von oben die Volksfrontregierung beschert wird. Streiks, Protestkundgebungen. Straßenkämpfe, direkte Aufstände sind in der heutigen Lage ganz unvermeidlich. Aufgabe der proletarischen Partei ist es nicht, diese Bewegungen zu bremsen und lahmzulegen, sondern sie zusammenzufassen und ihnen die größtmögliche Kraft zu verleihen.
Die Reformisten und Stalinisten fürchten vor allem, die Radikalen zu erschrecken. Der Apparat der Einheitsfront spielt ganz bewusst die Rolle des Desorganisators gegenüber‘ den spontanen Massenbewegungen. Die Linken vom Schlage Marceau Piverts aber decken nur diesen Apparat gegen die Empörung der Massen. Die Lage ist nur in dem Fall zu retten, wenn man den kämpfenden Massen hilft, im Prozess des Kampfes selbst einen neuen Apparat zu schaffen, der den Erfordernissen des Augenblicks entspricht. Dazu eben sind die Aktionskomitees berufen. Während der Kämpfe in Toulon und Brest würden die Arbeiter ohne zu zögern eine lokale Kampforganisation geschaffen haben, hätte man sie nur dazu aufgerufen. Am Tage nach den blutigen Ereignissen in Limoges wären die Arbeiter und ein beträchtlicher Teil des Kleinbürgertums ohne Zweifel bereit gewesen, zur Untersuchung der blutigen Geschehnisse und zu ihrer Verhinderung in Zukunft ein gewähltes Komitee zu bilden. Während der Bewegung in den Kasernen im Sommer dieses Jahres gegen den «rabiot» (Verlängerung der Dienstpflicht) würden die Soldaten ohne zu zögern Kompanie-, Regiments- und Garnisonsaktionskomitees gewählt haben, wenn man ihnen nur diesen Weg gewiesen hätte. Solche Gelegenheiten bieten sich auf Schritt und Tritt, jetzt und in Zukunft. Meistens im lokalen, doch oft auch im nationalen Maßstab. Die Aufgabe besteht darin, keine einzige solche Gelegenheit zu verpassen. Erste Vorbedingung dafür ist: klar selber die Bedeutung der Aktionskomitees begreifen als das einzige Mittel, den antirevolutionären Widerstand der Partei- und Gewerkschaftsapparate zu brechen.
Heißt das, dass die Aktionskomitees die Partei- und Gewerkschaftsorganisationen ersetzen? Es wäre ein Unsinn, die Frage so zu stellen. Die Massen treten in den Kampf mit all ihren Ideen, Gruppierungen, Traditionen und Organisationen. Die Parteien leben und kämpfen weiter. Bei den Wahlen zu den Aktionskomitees wird jede Partei natürlich danach trachten, ihre Anhänger durchzusetzen. Beschließen werden die Aktionskomitees nach Stimmenmehrheit (bei Vorhandensein völliger Freiheit der Parteien- und Fraktionsgruppierungen). Im Hinblick auf die Parteien kann man die Aktionskomitees ein revolutionäres Parlament nennen: die Parteien sind nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil notwendig vorausgesetzt: gleichzeitig werden sie in der Aktion geprüft, und die Massen lernen sich von dem Einfluss der verrotteten Parteien zu befreien.
Bedeutet das, dass die Aktionskomitees einfach dasselbe sind wie Sowjets? Unter gewissen Umständen können die Aktionskomitees Sowjets werden. Es wäre jedoch falsch, die Aktionskomitees mit diesem Namen zu belegen. Heute, im Jahre 1935, sind die Massen gewohnt, mit dem Wert Sowjet die Vorstellung der bereits eroberten Macht zu verbinden, doch so weit ist es in Frankreich noch nicht. Die russischen Sowjets waren zu Beginn durchaus nicht das, was sie später wurden, und trugen damals sogar oft den bescheidenen Namen Arbeiter- oder Streikkomitees. Die Aktionskomitees in ihrem heutigen Stadium sollen dazu dienen, den Abwehrkampf der werktätigen Massen Frankreichs zusammenzufassen und ihnen so das Bewusstsein ihrer eigenen Kraft für den künftigen Angriff zu vermitteln. Ob es zu echten Sowjets kommen wird, das hängt davon ab, ob die heutige kritische Situation in Frankreich sich bis zu den letzten revolutionären Schlussfolgerungen entwickeln wird. Das hängt selbstverständlich nicht nur von dem Willen der revolutionären Avantgarde ab, sondern auch von einer Reihe objektiver Bedingungen; jedenfalls wird die Massenbewegung, die heute an die Schranke der Volksfront prallt, ohne Aktionskomitees nicht vorwärts kommen.
Aufgaben wie die Schaffung einer Arbeitermiliz usw., die Vorbereitung des Generalstreiks‚ werden auf dem Papier bleiben, wenn die kämpfende Masse in der Person ihrer verantwortlichen Organe nicht selber diese Aufgabe im Angriff nimmt. Nur im Kampf erstandene Aktionskomitees können eine wirkliche Miliz gewährleisten, die nicht nach Tausenden, sondern Zehntausenden von Kämpfern zählt. Nur Aktionskomitees, die die wichtigsten Zentren des Landes umfassen, werden den Augenblick für den Übergang zu entschiedeneren Methoden des Kampfes wählen können, dessen Führung ihnen rechtmäßig gehört.
Aus den oben gemachten Feststellungen folgt eine Reihe von Schlussfolgerungen für die politische Arbeit der proletarischen Revolutionäre in Frankreich. Die erste betrifft die sogenannte «Revolutionäre (?) Linke». Diese Gruppierung ist gekennzeichnet durch absolutes Unverständnis für die Bewegungsgesetze der revolutionären Massen. So sehr die Zentristen auch von den «Massen» schwätzen, stets orientieren sie sich nach dein reformistischen Apparat. Wenn Marceau Pivert diese oder jene revolutionäre Losung nachspricht, ordnet er sie dem abstrakten Prinzip der «organischen Einheit» unter, die in Wirklichkeit Einheit mit den Patrioten gegen die Revolutionäre bedeutet. Während es für die revolutionären Massen eine Lebensfrage ist, den Widerstand der vereinigten sozialpatriotischen Apparate zu brechen, betrachten die linken Zentristen die «Einheit» dieser Apparate als ein absolutes, über den Interessen des revolutionären Kampfes stehendes Gut.
Nur der kann Aktionskomitees schaffen, der restlos die Notwendigkeit begriffen hat, die Massen von der verräterischen Führung der Sozialpatrioten zu befreien. Allein, Pivert klammert sich an Zyromsky. Zyromsky an Blum, Blum gemeinsam mit Thorez an Herriot, und Herriot an Laval. Pivert gliedert sich in das System der Volksfront ein (nicht umsonst stimmte er auf dem letzten Nationalrat der Partei für die schmähliche Resolution Blums!), und die Volksfront gliedert sich als ein Flügel in Lavals bonapartistisches Regime ein. Der Zusammenbruch des bonapartistischen Regimes ist unvermeidlich. Wenn es der Führung der Volksfront (Herriot-Blum-Cachin-Thorez-Zyromsky-Pivert) in der allernächsten, entscheidenden Periode sich zu halten gelingt, dann wird das bonapartistische Regime unvermeidlich dem Faschismus Platz machen. Voraussetzung für den Sieg des Proletariats ist die Beseitigungder heutigen Führung. Die Losung der «Einheit» wird unter all diesen Umständen nicht nur eine Dummheit, sondern auch ein Verbrechen. Keine Einheit mit den Agenten des französischen Imperialismus und des Völkerbundes. Ihrer treubrüchigen Führung heißt es die revolutionären Aktionskomitees gegenüberstellen. Diese Komitees kann man nur schaffen, wenn man unbarmherzig die antirevolutionäre Politik der sogenannten «Revolutionären Linken» mit Marceau Pivert an der Spitze anprangert. Für Illusionen und Zweifel kann in dieser Hinsicht in unseren Reihen selbstverständlich kein Platz sein.
Nie schien das Radio so kostbar wie in diesen Tagen. Es ermöglicht. aus dem fernen norwegischen Dorf den Pulsschlag der französischen Revolution zu verfolgen. Genauer wäre zu sagen: seine Widerspiegelung im Bewusstsein und in der Stimme der Herren Minister, Gewerkschaftssekretäre und anderer tödlich erschrockener Führer.
Die Worte «Französische Revolution» mögen übertrieben erscheinen. Aber nein! Das ist keine Übertreibung. Just so entsteht die Revolution. Anders kann sie gar nicht entstehen. Die französische Revolution hat begonnen.
Freilich versichert Léon Jouhaux im Gefolge Léon Blums die Bourgeoisie, es handle sich um eine rein ökonomische Bewegung, streng im Rahmen des Gesetzes. Gewiss bemächtigen sich die Arbeiter während des Streiks der Fabriken und führen eine Kontrolle über den Eigentümer und seine Verwaltung ein. Aber über dies betrübliche «Detail» kann man ein Auge zudrücken. Im Ganzen genommen sind es «korporative und nicht politische Streiks», beteuern die Herren Führer. Inzwischen verändert sich unter der Wirkung der «nichtpolitischen» Streiks gründlich die gesamte politische Lage im Lande. Die Regierung legt in ihren Handlungen eine Eile an den Tag, an die sie vorher nicht dachte: ist doch nach Blums Worten die wahre Kraft geduldig! Die Kapitalisten lassen überraschend leicht mit sich reden. Die gesamte Konterrevolution versteckt sich abwartend hinter Blums und Jouhaux Rücken. Und dies Wunder wurde vollbracht durch… einfache «korporative» Streiks. Wo stünden wir, wenn die Streiks politisch wären?
Aber nein, die Führer reden die Unwahrheit. Die Korporation umfasst die Arbeiter eines einzelnen Berufs und scheidet sie von den anderen Berufen. Der Tradeunionismus und der reaktionäre Syndikalismus sind aus Leibeskräften bemüht, die Arbeiterbewegung im korporativen Rahmen zu halten. Darauf beruht die faktische Diktatur der Gewerkschaftsbürokratie über die Arbeiterklasse (die schlimmste aller Diktaturen!) bei sklavischer Abhängigkeit der Jouhaux-Racamond-Clique vorn bürgerlichen Staat. Das Wesen der heutigen Bewegung besteht eben darin, dass sie den beruflichen, korporativen und lokalen Rahmen durchbricht und darüber hinweg die Forderungen, die Hoffnungen. den Willen des gesamten Proletariats kundgibt. Die Bewegung bekommt epidemieartigen Charakter. Die Seuche pflanzt sich fort von Fabrik zu Fabrik, von Korporation zu Korporation, von Gebiet zu Gebiet. Alle Schichten der Arbeiterklasse rufen sich gleichsam gegenseitig zu. Den Anfang machen die Metallarbeiter: das ist die Vorhut. Doch die Kraft der Bewegung will es, dass im kurzen Abstand nach der Vorhat die schweren Reserven der Klasse folgen, darunter auch die rückständigsten Berufe, ihre Nachhut, die die Herren Parlamentarier und Gewerkschaftsführer gewöhnlich ganz vergessen. Nicht von ungefähr gab der «Peuple» offen zu, dass einige besonders niedrig bezahlte Kategorien der Pariser Bevölkerung für ihn eine vollkommene «Überraschung» darstellten. Indes, gerade in der Tiefe dieser unterdrücktesten Schichten entspringen unversiegbare Quellen der Begeisterung, der Selbstaufopferung, der Tapferkeit. Die bloße Tatsache ihres Erwachens ist ein unfehlbares Anzeichen einer großen Flutwelle. Zu diesen Schichten gilt es Zugang finden, koste was es wolle!
Dadurch dass sich die Streikbewegung aus den korporativen und lokalen Rahmen losriss, wurde sie gefährlich nicht nur für die bürgerliche Gesellschaft, sondern auch für ihre eigenen parlamentarischen und gewerkschaftlichen Vertretungen, die jetzt vor allem besorgt sind, die Wirklichkeit nicht zu sehen. Einer historischen Legende zufolge antwortete einer der Höflinge auf die Frage Ludwig XVI. «Was ist das, eine Revolte?», »Nein, Eure Hoheit, das ist die Revolution». Heute antworten auf die Frage der Bourgeoisie: «Ist das eine Revolte?» ihre Höflinge: «Nein, das sind nur Korporativstreiks». Indem sie die Kapitalisten beruhigen, beruhigen BIum und Jouhaux sich selbst. Doch Worte werden nicht helfen. Zwar kann in dem Augenblick, wo diese Zeilen in der Presse erscheinen werden, die erste Welle sich legen. Äußerlich gesehen wird das Leben in die alten Ufer zurücktreten. Doch das ändert nichts an der Sache. Das was geschah, sind nicht Korporativstreiks. Das sind überhaupt nicht Streiks. Das ist ein Streik. Das ist der offene Zusammenschluss der Unterdrückten gegen die Unterdrücker. Das ist der klassische Anfang der Revolution.
Die ganze vergangene Erfahrung der Arbeiterklasse, die Geschichte ihrer Ausbeutung, Not. ihrer Kämpfe und Niederlagen wird unter dem Ansturm der Ereignisse lebendig und tritt jedem, selbst dein rückständigsten Proletarier ins Bewusstsein und stößt ihn in eine Reihe mit den anderen. Die ganze Klasse geriet in Bewegung. Diese gigantische Masse ist mit Worten nicht zurückzuhalten.
Der Kampf muss enden entweder mit dem größten aller Siege oder mit der fürchterlichsten aller Katastrophen.
Der «Temps» nannte den Streik «Generalmanöver der Revolution». Das ist unvergleichlich ernster als das was Blum und Jouhaux sagen. Aber auch die Definition des Temps. ist gleichwohl unrichtig weil in gewissem Sinne übertrieben. Manöver setzen das Vorhandensein eines Kommandos, eines Stabes, eines Plans voraus. Das gibt es in dem Streik nicht. Die Zentren der Arbeiterorganisationen. darunter auch der Kompartei, wurden überrumpelt. Sie fürchten am meisten, dass der Streik ihnen einen Strich durch alle ihre Rechnungen macht. Das Radio gibt einen bemerkenswerten Satz von Marcel Cachin wieder: «Wir alle — die einen wie die anderen — stehen vor der Tatsache des Streiks». Mit anderen Worten: der Streik ist unser gemeinsames Unglück. Mit diesen Worten überzeugt der grimmige Senator die Kapitalisten, Zugeständnisse zu machen, um die Lage nicht zu verschärfen. Die Parlamentarier und Gewerkschaftssekretäre, die sich an den Streik von der Seite her anpassen, um ihn möglichst bald zu ersticken, stehen im Wesen außerhalb des Streiks, hängen in der Luft und wissen selber nicht, ob sie mit den Beinen oder mit dem Kopf am Boden landen werden. Einen revolutionären Stab hat die erwachte Masse noch nicht.
Der wirkliche Stab ist beim Klassenfeind. Dieser Stab fällt durchaus nicht mit der Regierung Blum zusammen, wenn er sie auch geschickt ausnutzt. Die kapitalistische Reaktion spielt heute ein großes und riskantes Spiel, aber sie spielt es mit Verstand. Im gegenwärtigen Augenblick greift sie zum Schlagdamesystem. «Geben wir heute all den unangenehmen Forderungen nach, die den einmütigen Beifall Blums, Jouhaux und Daladiers finden. Von der Anerkennung im Prinzip zur Verwirklichung ist ja noch ein weiter Weg. Da ist das Parlament, der Senat, die Kanzleien, alles Obstruktionsmaschinen. Die Massen werden Ungeduld an den Tag legen und versuchen, heftiger zu drücken. Daladier wird sich mit Blum entzweien. Thorez wird versuchen, nach links abzuspringen. Blum und Jouhaux werden sich mit den Massen entzweien. Dann werden wir alle heutigen Zugeständnisse zurückholen, sogar mit Wucher.» So überlegt der wirkliche Stab der Konterrevolution: die berühmten «200 Familien» und ihre Angriffsstrategen. Sie handeln nach einem Plan. Und es wäre leichtfertig zu sagen, dass ihr Plan unbegründet sei. Nein, mit Blums, Jouhaux‘ und Cachins Hilfe kann die Konterrevolution ihr Ziel erreichen.
Die Tatsache, dass die Massenbewegung als Improvisation so grandiose Ausmasse und einen so großen politischen Effekt erzielt, charakterisiert am allerbesten den tiefen, organischen, wahrhaft revolutionären Charakter der Streikwelle. Darin liegt ein Pfand für die Dauer der Bewegung, für ihre Zähigkeit und die Unvermeidlichkeit einer Reihe wachsender Wellen. Ohne das wäre der Sieg unmöglich. Aber für den Sieg ist all dies ungenügend. Gegen den Stab und den Plan der «200 Familien» bedarf es eines Stabs und Plans der proletarischen Revolution. Weder das eine noch das andere ist bereits vorhanden. Doch sie können geschaffen werden. Alle Voraussetzungen und Elemente einer neuen Massenkristallisierung sind gegeben.
Die Ausdehnung der Streiks ist, wird gesagt, hervorgerufen durch die «Hoffnungen» auf die Volksfrontregierung. Das ist nur ein Viertel der Wahrheit oder gar noch weniger. Beschränkte sich die Sache nur auf Hoffnungen, so würden die Arbeiter das Risiko des Kampfes nicht laufen. Im Streik kommt vor allem das Misstrauen oder der Mangel an Vertrauen seitens der Arbeiter zum Ausdruck, wenn nicht dem guten Willen der Regierung, so ihrer Fähigkeit gegenüber, die Hindernisse niederzureißen und mit ihren Aufgaben zu Rande zu kommen. Die Proletarier wollen der Regierung «helfen», aber auf ihre, auf proletarische Weise. Volles Bewusstsein ihrer Kraft ist bei ihnen natürlich noch nicht vorhanden. Es wäre aber eine grobe Karikatur, die Sache so darzustellen, als ließe sich die Masse nur von frommen «Hoffnungen» auf Blum leiten. Es fällt ihr nicht leicht, die Gedanken beisammen zu halten unter dem Druck der alten Führer, die sich bemühen, sie so bald wie möglich in das alte Tretrad der Knechtschaft und der Routine zurückzujagen. Dennoch beginnt das französische Proletariat die Geschichte nicht von vorn. Der Streik brachte überall und allenthalben die denkendsten und kühnsten Arbeiter in vorderste Reihe. Ihnen gehört die Initiative. Sie handeln bislang vorsichtig, sie tasten den Boden ab. Die vordersten Abteilungen bemühen nicht zu weit vorzuspringen, um sich nicht zu isolieren. Der freundschaftliche Widerhall der Übrigen wird ihnen Mut gehen. Der Klassenappell verwandelt sich in die Probe einer Selbstmobilisierung. Das Proletariat selbst bedürfte am meisten dieser Kundgebung des eigenen Willens. Die erreichten praktischen Erfolge, so wacklig sie an sich auch sind, müssen außerordentlich das Selbstvertrauten der Massen erhöhen, besonders der rückständigsten und unterdrücktesten Schichten.
Die Haupteroberung der ersten Welle besteht darin, dass in den Werkstätten und Fabriken Führer hervortraten. Es entstanden die Elemente für lokale und bezirkliche Stäbe. Die Masse kennt sie. Sie kennen einander. Die echten Revolutionäre werden Verbindung mit ihnen suchen. So hat die erste Selbstmobilisierung der Massen die ersten Elemente der revolutionären Führung bezeichnet und zum TeiI herausgebildet. Der Streik hat den gigantischen Organismus der Klasse aufgerüttelt, belebt, erneuert. Die alte Organisationshülle ist noch längst nicht abgestreift, im Gegenteil, hält sich noch ziemlich fest. Doch unter ihr macht sich bereits die neue Haut bemerkbar.
Über das Tempo der Ereignisse, das sich unzweifelhaft beschleunigen wird. sprechen wir jetzt nicht. Hier ist es bislang nur möglich, zu vermuten und zu erraten. Die zweite Welle, ihre Dauer, ihr Umfang und ihre Spannung werden ohne Zweifel eine viel konkretere Prognose gestatten, als es jetzt angeht. Doch eins ist von vornherein klar: die zweite Welle wird bei weitem nicht denselben friedlichen, fast gutmütigen, frühlingsmäßigen Charakter tragen wie die erste. Sie wird reifer, zäher und strenger sein, weil hervorgerufen durch die Enttäuschung der Massen über die praktischen Resultate der Volksfrontpolitik und ihres eigenen ersten Angriffs. In der Regierung wird Uneinigkeit Platz greifen, desgleichen in der Parlamentsmehrheit. Die Konterrevolution wird plötzlich selbstsicherer und frecher werden. Neue leichte Erfolge werden die Massen nicht erwarten dürfen. Angesichts der Gefahr, zu verlieren, was erobert worden war, des wachsenden Widerstands des Feindes, der Schlappheit und Uneinigkeit der offiziellen Führung verspüren die Massen das brennende Bedürfnis nach einem Programm, einer Organisation, einem Plan, einem Stab. Darauf gilt es sich und die vorgeschrittenen Arbeiter vorzubereiten. In der Atmosphäre der Revolution werden die Umerziehung der Massen, die Auswahl der Kader und ihre Stählung schnell vor sich gehen.
Der revolutionäre Stab kann nicht durch Spitzenkombinationen entstehen. Die Kampforganisation würde mit der Partei selbst dann nicht zusammenfallen, wenn in Frankreich eine revolutionäre Massenpartei bestände, denn die Bewegung ist unvergleichlich breiter als die Partei. Die Organisation kann auch nicht mit den Gewerkschaften zusammenfallen, denn die Gewerkschaften erfassen nur einen unbedeutenden Teil der Klasse und an ihrer Spitze steht eine erzreaktionäre Bürokratie. Die neue Organisation muss der Natur der Bewegung selbst entsprechen, die kämpfenden Massen widerspiegeln, ihren sich erstarkenden Willen ausdrücken. Es handelt sich um eine unmittelbare Vertretung der revolutionären Klasse. Hier braucht man neue Formen nicht zu erfinden: es gibt geschichtliche Präzedenzfälle. Die Werkstätten und Fabriken werden ihre Deputierten wählen, die sich zwecks gemeinsamer Ausarbeitung der Kampfpläne und zur Kampfleitung versammeln. Den Namen dieser Organisation braucht man ebenfalls nicht zu erfinden, er lautet Sowjets der Arbeiterdeputierten.
Die Hauptmasse der revolutionären Arbeiter steht heute bei der Kommunistischen Partei. In der Vergangenheit riefen sie nicht selten: «Überall Sowjets!» Die meisten von ihnen meinten es mit dieser Losung zweifellos ehrlich und ernst. Es gab eine Zeit, wo wir diese Losung für unzeitgemäß hielten. Jetzt aber hat sich die Lage von Grund auf geändert. Der mächtige Klassenzusammenprall geht einem schicksalsschweren Ende entgegen. Wer schwankt, wer Zeit verstreichen lässt, der ist ein Verräter. Es heißt wählen zwischen dem größten der geschichtlichen Siege und der fürchterlichsten der Niederlagen. Man muss den Sieg vorbereiten. «Überall Sowjets»? Einverstanden. Aber es ist Zeit, von den Worten überzugehen zur Tat.
Die entscheidende Etappe (5. Juni 1936)
Das Tempo der Ereignisse in Frankreich hat sich jäh beschleunigt. Bislang war der vorrevolutionäre Charakter der Lage festzustellen auf Grund theoretischer Analyse und einzelner politischer Symptome. Jetzt sprechen die Tatsachen für sich selbst. Man kann ohne Übertreibung sagen, in ganz Frankreich gibt es nur zwei Parteien, deren Führer die ganze Tiefe der revolutionären Krise nicht sehen, nicht begreifen oder nicht sehen wollen: nämlich die «Sozialisten» und die «Kommunisten». Ihnen sind natürlich auch die «unabhängigen» Gewerkschaftsführer hinzuzufügen. Die Arbeitermassen schaffen heute mit Hilfe direkter Aktion eine revolutionäre Situation. Die Bourgeoisie fürchtet die Entwicklung der Ereignisse auf den Tod und ergreift hinter den Kulissen, vor der Nase der neuen Regierung, alle nötigen Maßnahmen zu Schutz, Rettung, Betrug, Unterdrückung und blutiger Rache. Nur die «sozialistischen» und «kommunistischen» Führer schwätzen weiter von der Volksfront, als hätte der Klassenkampf nicht bereits ihr elendes Kartenhaus umgeworfen.
Blum erklärt: «Das Land hat der Volksfront ein Mandat erteilt, und wir können über den Rahmen dieses Mandats nicht hinausgehen». Blum betrügt seine eigene Partei und versucht, das Proletariat zu betrügen. Die Stalinisten (die sich immer noch «Kommunisten» nennen) helfen ihm dabei. In Wirklichkeit benutzten Sozialisten und Kommunisten die Tricks, Fallen und Schlingen der Wahlmechanik, um die werktätigen Massen im Interesse des Bündnisses mit dem bürgerlichen Radikalsozialismus zu vergewaltigen. Das politische Wesen der Krise kommt darin zum Ausdruck, dass dem Volk von den Radikalsozialisten und ihrer Dritten Republik zum Erbrechen übel ist. Das versuchen die Faschisten auszunutzen. Was aber taten die Sozialisten und Kommunisten? Sie verbürgten sich vor dem Volke für die Radikalsozialisten: stellten sie als unschuldig verleumdet hin, versicherten die Arbeiter und Bauern, alles Heil läge in einen Kabinett Daladier. Auf diesem Kammerton war die ganze Wahlkampagne gestimmt. Wie antworteten die Massen darauf? Sie brachten den Kommunisten als der extremen Linken einen gewaltigen Anwachs an Stimmen und Sitzen. Die Wendungen und Zickzacks der Söldlinge der Sowjetdiplomatie haben die Massen nicht verstanden, weil sie sie in ihrer eigenen Erfahrung noch nicht geprüft haben. Die Massen lernen nur in der Aktion: für theoretische Beschäftigung fehlt ihnen die Zeit. Wenn anderthalb Millionen Wähler den Kommunisten ihre Stimme geben, so sagt damit ihre Mehrheit zu diesen: «Wir wollen, dass Ihr in Frankreich tut, was die russischen Bolschewiki bei sich im Oktober 1917 taten». Das ist der wahre Wille des aktivsten Teils der Bevölkerung, jenes Teils, der fähig ist zu kämpfen und Frankreichs Zukunft zu sichern. Das ist die erste Lehre der Wahlen.
Die Sozialisten behielten annähernd die alte Stimmenzahl bei trotz der Abspaltung der bedeutenden Gruppe der Neos. In dieser Frage gaben die Massen ihren «Führern» ebenfalls eine prachtvolle Lehre. Die Neos wollten das Kartell, um jeden Preis, d. h. die Zusammenarbeit mit der republikanischen Bourgeoisie zum Heil und Gedeih der «Republik». Eben auf dieser Linie spalteten sie von den Sozialisten ab und traten als Konkurrenten bei den Wahlen auf. Die Wähler wandten sich von ihnen ab. Die Neos sind zusammengebrochen. Vor zwei Jahren sagten wir voraus, die weitere politische Entwicklung werde vor allem alle kleinen Gruppen treffen, die sich den Radikalsozialisten anhängen. Und so haben die Massen im Konflikt zwischen den Sozialisten und den Neos die Gruppe verurteilt und beiseite geworfen, die systematischer und entschiedener. lauter und offener das Bündnis mit der Bourgeoisie predigte. Das ist die zweite Lehre der Wahlen.
Die sozialistische Partei ist keine Arbeiterpartei nicht nur ihrer Politik sondern auch der sozialen Zusammensetzung nach. Sie ist eine Partei der neuen Mittelschicht (Beamte, Angestellte usw.), zum Teil des Kleinbürgertums und der Arbeiteraristokratie. Eine ernste Analyse der Wahlstatistik würde ganz unzweifelhaft beweisen, dass die Sozialisten an die Kommunisten einen bedeutenden Teil von Arbeitern und ganz armen Bauern abgaben und von den Radikalsozialisten dafür bedeutende Gruppen der Mittelklassen erhielten. Das heißt, die Entwicklung des Kleinbürgertums geht von den Radikalsozialisten nach links zu den Sozialisten und Kommunisten, während die Gruppen der Mittel- und Großbourgeoisie von den Radikalsozialisten nach rechts abschwenken. Die Gruppierung vollzieht sich um die Klassenachsen und nicht um die künstliche Linie der «Volksfront». Schnelle Polarisierung der politischen Verhältnisse ist bezeichnend für den revolutionären Charakter der Krise. Das ist die dritte und Hauptlehre.
Der Wähler hat somit seinen Willen — soweit er überhaupt Möglichkeit hat, ihn in der Zwangsjacke des Parlamentarismus kundzutun — kundgetan nicht für die Volksfrontpolitik, sondern gegen sie. Allerdings haben die Sozialisten und Kommunisten beim zweiten Wahlgang durch das Rücktreten ihrer Kandidaten zugunsten der radikalsozialistischen Bourgeois den politischen Willen der Werktätigen Frankreichs noch mehr verzerrt. Trotzdem gingen die Radikalsozialisten aus der Probe mit geschundenem Wanst hervor und büßten ein ganzes Drittel ihrer Sitze ein. Der «Temps» meint: «weil sie mit den Revolutionären Block machten». Daladier sagt: «Ohne die Volksfront hätten wir noch mehr verloren». Daladier hat unbedingt recht. Führten die Sozialisten und Kommunisten eine Klassenpolitik, d.h. kämpften sie um das Bündnis der Arbeiter und halbproletarischen Elemente von Stadt und Land gegen die gesamte Bourgeoisie, und zwar auch gegen deren verfaulten radikalsozialistischen Flügel, so hätten sie noch bedeutend mehr Stimmen bekommen und die Radikalsozialisten wären in der Kammer zu einem winzigen Grüppchen zusammengeschmolzen.
Alle politischen Tatsachen bezeugen, dass es weder in den sozialen Verhältnissen Frankreichs, noch in der politischen Stimmung der Massen irgendeinen Stützpunkt für die Volksfront gibt. Diese Politik ist von oben her aufgezwungen: von der radikalsozialistischen Bourgeoisie. den sozialistischen Geschäftemachern, den Sowjetdiplomaten und ihren kommunistischen Lakaien. Mit vereinten Kräften taten sie alles, was man mit Hilfe des ehrlosesten aller Wahlsysteme tun konnte, um die Volksmassen politisch zu betrügen und zu bestehlen, und ihren wahren Willen zu entstellen. Nichtsdestoweniger verstanden es die Massen, auch unter diesen Umständen zu zeigen, dass sie nicht Koalitionen mit den Radikalsozialisten wollen, sondern den Zusammenschluss der Werktätigen gegen die gesamte Bourgeoisie.
Wenn in all den Wahlkreisen, wo die Sozialisten und Kommunisten zugunsten der Radikalsozialisten zurücktraten, beim zweiten Wahlgang revolutionäre Arbeiterkandidaten aufgestellt worden wären, so würden sie würden sie ohne Zweifel eine recht erhebliche Anzahl Stimmen vereinigt haben. Leider fand sich keine Organisation, die zu einer solchen Initiative fähig gewesen wäre. Das zeigt, dass die revolutionären Gruppen, zentrale wie lokale, hinter der Dynamik der Ereignisse zurückbleiben und es vorziehen, Kandidaturen aufrechtzuerhalten oder zurückzuziehen, wo es gälte zu handeln. Traurig! Doch die allgemeine Orientierung der Massen ist dennoch ganz klar.
Sozialisten und Kommunisten bereiteten aus Leibeskräften ein Ministerium Herriot vor; schlimmstenfalls ein Ministerium Daladier. Was aber taten die Massen? Die zwangen den Sozialisten und Kommunisten ein Ministerium Blum auf. Ist das etwa nicht ein direktes Votum gegen die Volksfrontpolitik?
Oder bedarf es vielleicht noch der Beweise? Die Demonstration zum Andenken der Kommunarden überragte dieses Jahr sichtlich alle jeher in Paris gesehenen Volksdemonstrationen. Indes standen die Radikalsozialisten zu dieser Demonstration in keiner Beziehung und konnten es auch gar nicht. Die werktätigen Massen von Paris bewiesen mit unnachahmlichem politischen Instinkt, dass sie in doppelter Anzahl dort zur Stelle sind, wo sie nicht gezwungen werden, die ekelhafte Verbrüderung ihrer Führer mit den bürgerlichen Ausbeutern mit anzusehen. Die Wucht der Demonstration vom 24. Mai ist die überzeugendste, unverrückbarste Desavouierung der Volksfrontpolitik durch die Arbeiter von Paris.
— Aber ohne die Volksfront wäre das Parlament, in dem die Sozialisten und Kommunisten bei all dem doch nicht die Mehrheit bilden, ja nicht lebensfähig und die Radikalsozialisten würden — oh Schreck! — «in die Arme der Reaktion» getrieben. Diese Erwägung ist ganz jener feigen Philister würdig, die an der Spitze der sozialistischen und der kommunistischen Partei stehen. Die Lebensunfähigkeit des Parlaments ist eine unvermeidliche Folge des revolutionären Charakters der Krise. Mit Hilfe einer Reihe politischer Schiebungen gelang es, diese Lebensunfähigkeit halbwegs zu maskieren: doch wird sie sich gleichwohl morgen offenbaren. Um die bis ins Knochenmark reaktionären Radikalsozialisten nicht «in die Arme der Reaktion» zu treiben, muss man sich mit den Radikalsozialisten vereinigen zum Schutze des Kapitals. Darin und nur darin besteht die Mission der Volksfront. Doch dem stehen die Arbeiter im Wege.
Das Parlament ist lebensunfähig, weil die heutige Krise auf parlamentarischem Wege keinerlei Ausweg bietet. Und wiederum erfassten die französischen werktätigen Massen mit dem ihnen eigenen feinen revolutionären Instinkt unfehlbar diesen Hauptzug der Situation. In Toulon und Brest gaben sie die ersten Warnungssignale. Die Proteste der Soldaten gegen den «Rabiot» (Verlängerung der Dienstzeit) bedeuteten die für die bürgerliche Ordnung gefährlichste Form der direkten Massenaktion. Schließlich, in den Tagen, als der sozialistische Kongress einstimmig (einschließlich des hohlen Phrasendreschers Marceau Pivert) das Mandat der «Volksfront» entgegennahm und dies Mandat Léon Blum übertrug; in den Tagen, als Blum sich von allen Seiten im Spiegel betrachtete, Vorregierungsgesten machte, Vorregierungsausrufe von sich gab und sie in Artikeln kommentierte, wo immer von Blum die Rede ist und nie vom Proletariat — in diesen Tagen rollte eine prächtige, wahrhaft frühlingsmäßige Streikwelle über Frankreich dahin. Ohne eine Führung zu finden und auch ohne sie auskommend, besetzten die Arbeiter kühn und selbstsicher die Fabrikgebäude nach Niederlegung der Arbeit.
Der neue Gendarm des Kapitals, der Sozialist Salengro, erklärte, bevor er noch wirklich die Macht übernommen hatte (ganz wie es Herriot, Laval. Tardieu und de La Rocque taten)‚ er werde «die Ordnung vor der Anarchie schützen». Ordnung nennt dieses Subjekt die kapitalistische Anarchie. Als Anarchie bezeichnet er den Kampf um die sozialistische Ordnung. Die bislang noch friedliche Okkupation der Fabriken und Betriebe durch die Arbeiter ist von gewaltiger symptomatischer Bedeutung. Die Werktätigen sagen: wir wollen die Herren sein; in den Häusern, wo wir bis jetzt nur Sklaven waren.
Tödlich erschrocken und bestrebt die Arbeiter zu schrecken, sagt Léon Blum: «Ich bin kein Kerenski; ja in Frankreich würde ein Kerenski nicht von einem Lenin abgelöst werden, sondern von jemand anderem». Man soll wohl glauben, der russische Kerenski habe Lenins Politik verstanden und sein Kommen voraus- gesehen. In Wirklichkeit versicherte Kerenski, aufs Haar so wie Blum, den Arbeitern, im Falle seines Sturzes werde nicht der Bolschewismus zur Macht kommen, sondern «jemand anders». Just dort wo Blum sich von Kerenski abgrenzen will, ahmt er ihn sklavisch nach. Man kann jedoch nicht umhin zuzugeben, dass, soweit die Sache von Blum abhängt, er tatsächlich den Weg ebnet den Faschisten, und nicht dem Proletariat.
Am verbrecherischsten und schändlichsten ist in dieser Lage das Verhalten der Kommunisten: sie haben, ohne in die Regierung Blum einzutreten, ihr ihre rückhaltlose Unterstützung zugesagt. «Wir sind zu grässliche Revolutionäre», sagen Cachin und Thorez, «unsere radikalsozialistischen Kollegen können vor Angst sterben: wir bleiben lieber im Vorzimmer». Ministerialismus hinter den Kulissen ist zehnmal schädlicher als der offene und sichtbare. In Wirklichkeit wollen die Kommunisten nach außen hin ihre Unabhängigkeit wahren, um desto besser die Arbeitermassen der Volksfront, d. h. der Disziplin des Kapitals zu unterwerfen. Aber auch dabei bildet der Klassenkampf ein Hindernis. Ein einfacher und ehrlicher Massenstreik zerstört unbarmherzig Mystik und Mystizismus der Volksfront. Sie hat bereits ihren Todesstoß empfangen und nunmehr kann sie nur noch krepieren.
Auf parlamentarischem Weg gibt es keinen Ausweg. Blum erfindet das Pulver nicht oder fürchtet es. Die weiteren Machinationen der Volksfront können lediglich die Agonie des Parlamentarismus hinschleppen und de La Rocque Zeit gehen zur Vorbereitung eines neuen, ernsteren Hiebes, wenn … wenn die Revolutionäre ihm nicht zuvorkommen.
Nach dem 6. Februar 1934 meinten einige ungeduldige Genossen: «morgen» käme das Ende. und darum müsse man sofort irgendein Wunder vollbringen. So eine Politik hat nichts als Abenteuer und Zickzacks ergehen können, welche die Entwicklung der revolutionären Partei außerordentlich gehemmt haben. Die verlorene Zeit ist unwiederbringlich. Doch noch mehr Zeit soll man nicht verlieren. denn viel Zeit bleibt nicht mehr. Wir wollen auch heute keine Fristen festlegen. Aber nach der großen Streikwelle können die Ereignisse sich nur entweder zur Revolution oder zum Faschismus hinentwickeln. Die Organisation, die in der heutigen Streikbewegung keine Stützpunkte findet, die sich nicht fest mit den kämpfenden Arbeitern zu verbinden versteht, ist des Namens einer revolutionären Organisation unwürdig. Da ist es schon besser, ihre Mitglieder suchen sich einen Platz im Armenhaus oder in den Freimaurerlogen (durch Protektion M. Piverts!)
In Frankreich gibt es nicht wenig Herrschaften beiderlei Geschlechts, Exkommunisten, Exsozialisten, Exsyndikalisten, die in Gruppen und Cliquen dahinleben, innerhalb der vier Wände Eindrücke über die Ereignisse auswechseln und glauben. die Zeit sei noch nicht reif für ihre erlauchte Teilnahme. «Es ist noch zu früh». Wenn aber de La Rocque kommen wird, werden sie sagen: «Jetzt ist es schon zu spät». Derlei unfruchtbare Räsonneure gibt es im Besonderen unter dem linken Flügel der Lehrergewerkschaft nicht wenige. Es wäre das größte Verbrechen, auf dieses Publikum auch nur noch eine Minute zu verschwenden. Mögen die Toten ihre Toten begraben!
Frankreichs Schicksal entscheidet sich jetzt nicht im Parlament. nicht in den Redaktionen der versöhnlerischen reformistischen und stalinistischen Zeitungen, nicht in den Zirkeln der Skeptiker, Trübsalbläser und Phrasendrescher. Frankreichs Schicksal entscheidet sich in den Fabriken, die durch Aktionen den Ausweg aus der kapitalistischen Anarchie zu weisen wussten - zur sozialistischen Ordnung. Der Platz der Revolutionäre ist in den Fabriken!
Der letzte Kominternkongress hat in seiner eklektischen Brauküche die Koalition mit den Radikalsozialisten auf eine Stufe gestellt mit der Schaffung von Massenaktionskomitees, d.h. embryonaler Sowjets. Dimitroff wie seine Inspiratoren meinen ernsthaft, man könne Klassenzusammenarbeit und Klassenkampf vereinen, den Block mit der Bourgeoisie und den Kampf des Proletariats um die Macht, die Freundschaft mit Daladier und die Errichtung voll Sowjets. Die französischen Stalinisten tauften die Aktionskomitees um in Volksfrontkomitees, in der Meinung so den revolutionären Kampf mit dem Schutz der bürgerlichen Demokratie zu versöhnen. Die heutigen Streiks zerstören diese jämmerliche Illusion bis in die Wurzel. Die Radikalsozialisten fürchten die Komitees. Die Sozialisten fürchten den Schreck der Radikalsozialisten. Die Kommunisten fürchten die Angst der einen und der anderen. Die Losung der Komitees kann nur von einer wirklich revolutionären Organisation aufgegriffen werden, die rückhaltlos den Massen, ihrer Sache, ihrem Kampf ergehen ist. Die französischen Arbeiter haben erneut bewiesen, dass sie ihres historischen Rufs würdig sind. Es heißt ihnen vertrauen. Sowjets entstanden stets aus Streiks. Der Massenstreik ist das natürliche Grundelement der proletarischen Revolution. Die Aktionskomitees können heute nichts anderes sein als Komitees der Streikenden, die die Betriebe besetzen. Von Zunft zu Zunft, von Fabrik zu Fabrik, von Stadtviertel zu Stadtviertel, von Ort zu Ort müssen die Aktionskomitees unter sich eine enge Verbindung herstellen, sich stadtweise nach Produktionsgruppen, nach Gebieten zu Konferenzen versammeln, um in einem Kongress aller Aktionskomitees Frankreichs zu gipfeln. Das eben wird die neue Ordnung sein, die die heutige Anarchie ablösen soll.
Noch einmal muss man sagen: die seriöse Kapitalspresse wie der Pariser «Temps» oder die Londoner «Times» haben die Bedeutung der Juniereignisse in Frankreich und Belgien viel richtiger und scharfsichtiger eingeschätzt als die Presse der Volksfront. Während die sozialistischen und kommunistischen Offiziosi mit Léon Blum von der beginnenden «friedlichen Umgestaltung des sozialen Regimes Frankreichs» reden, behauptet die konservative Presse, in Frankreich habe die Revolution begonnen, und auf einer der nächsten Etappen werde sie unvermeidlich gewaltsame Formen annehmen. Es wäre nicht richtig, in dieser Prognose nur oder hauptsächlich das Bestreben zu sehen, die Besitzenden zu schrecken. Die Vertreter des Großkapitals wissen den sozialen Kampf sehr realistisch zu betrachten. Die kleinbürgerlichen Politiker hingegen nehmen gern ihre Wünsche für die Wirklichkeit zwischen den Hauptklassen, dem Finanzkapital und dem Proletariat, stehend, schlagen die Herren «Reformatoren» den beiden Gegnern vor, sich auf der mittleren Linie zu einigen, die sie mit großer Mühe im Generalstab der Volksfront ausarbeiteten und die sie selbst verschieden auslegen. Sie müssen sich jedoch nur allzubald davon überzeugen, dass es viel leichter ist, die Klassengegensätze in Leitartikeln auszusöhnen, als im Regierungshandwerk, vor allem mitten in der heftigsten sozialen Krise.
Im Parlament warf man Blum ironisch vor, er habe Verhandlungen über die Forderungen der Streikenden mit Vertretern der «zweihundert Familien» geführt. — Mit wem hätte ich denn sonst unterhandeln sollen? antwortete der Ministerpräsident schlagfertig. In der Tat, wenn man schon Verhandlungen mit der Bourgeoisie führt, dann gehe man zu den wahren Herren, die für sich selbst zu beschließen und anderen zu befehlen vermögen. Dann aber war es überflüssig, ihnen so geräuschvoll den Krieg zu erklären! Im Rahmen des bürgerlichen Regimes, seiner Gesetze, seiner Mechanik ist jede der «zweihundert Familien» weitaus stärker als die Regierung Blum. Die Finanzmagnaten bilden die Krönung des bürgerlichen Systems Frankreichs: die Regierung Blum aber, trotz all ihren Wahlerfolgen, «krönt» nur eine zeitweilige Kluft zwischen zwei kämpfenden Lagern.
Jetzt, in der ersten Hälfte des Juli, mag es, oberflächlich betrachtet, scheinen, als sei alles mehr oder weniger zur Norm zurückgekehrt. In Wirklichkeit aber geht in der Tiefe des Proletariats wie auch in den Spitzen der herrschenden Klassen die fast automatische Vorbereitung eines neuen Konflikts vor sich. Die ganze Sache ist die, dass die ins Grunde recht dürftigen Reformen auf die im Juni die Kapitalisten und die Führer der Arbeiterorganisationen sich einigten, nicht lebensfähig sind, weil sie bereits die Kräfte des Verfallskapitalismus als Ganzes genommen übersteigen. Die Finanzoligarchie, die mitten in der heftigsten Krise glänzende Geschäfte macht, kann freilich sich an die 40-Stunden-Woche, den bezahlten Urlaub usw. gewöhnen. Aber die hunderttausende von mittleren und kleinen Unternehmern, auf die sich das Finanzkapital stützt und auf die es heute die Kosten ihres Übereinkommens mit BIum abwälzt, müssen entweder stillschweigend zugrunde gehen oder ihrerseits versuchen, die Kosten der sozialen Reformen auf die Arbeiter und Bauern als Verbraucher abzuwälzen.
Wohl hat Blum in der Kammer und in der Presse so manches Mal die lockende Perspektive einer allgemeinen wirtschaftlichen Wiederbelebung und eines rasch zunehmenden Umsatzes gemalt, die es ermöglichen sollen, die allgemeinen Produktionskosten erheblich zu senken, und infolgedessen die Ausgaben für die Arbeitskraft zu erhöhen gestatten, ohne Erhöhung der Warenpreise. Tatsächlich sind solche kombinierten wirtschaftlichen Prozesse in der Vergangenheit nicht selten zu beobachten gewesen, die ganze Geschichte des vergangenen Kapitalismus steht in ihrem Zeichen. Das Unglück ist nur, dass Blum versucht, die unwiederbringlich verlorene Vergangenheit in die Zukunft zu projizieren. Politiker, die solche Fehltritte begehen können, mögen sich selber Sozialisten und gar Kommunisten nennen, ihr Blick ist aber nicht vorwärts sondern rückwärts gerichtet, und sie sind darum eine Bremse des Fortschritts.
Der französische Kapitalismus mit seinem berühmten «Gleichgewicht» zwischen Landwirtschaft und Industrie ist, nach Italien und Deutschland, aber nicht weniger unaufhaltsam, ins Stadium des Verfalls getreten. Das ist keine Phrase aus einer revolutionären Proklamation sondern unumstößliche Wirklichkeit. Frankreichs Produktivkräfte entwuchsen dem Rahmen des Privateigentums und der Staatsgrenzen. Der Regierungseingriff kann auf der Grundlage des kapitalistischen Regimes nur die Verfallsunkosten von den einen Klassen auf die anderen abwälzen helfen. Auf weiche aber? Wenn der sozialistische Ministerpräsident Verhandlungen über eine «gerechtere» Verteilung des Nationaleinkommens führen muss, findet er, wie wir bereits vernahmen, keine anderen würdigen Partner als die Vertreter der zweihundert Familien. Die Finanzmagnaten, die alle Haupthebel der Industrie, des Kredits und des Handels in der Hand haben, wälzen die Spesen des Abkommens auf die «Mittelklassen» ab und zwingen diese dadurch. mit den Arbeitern in Kampf zu treten. Hier ist der springende Punkt der Lage.
Die Industriellen und Handelsleute zeigen den Ministern ihre Kassabücher und sagen : «Wir können nicht». Die Regierung entsinnt sich der alten Lehrbücher der politischen Ökonomie und antwortet: «Man muss die Produktionsunkosten beschränken». Doch das ist leichter gesagt als getan. Außerdem, die Technik steigern heißt unter den gegebenen Umständen die Arbeitslosigkeit vergrößern und letzten Endes die Krise verschärfen. Die Arbeiter ihrerseits protestieren dagegen, dass das einsetzende Steigen der Preise ihnen das Eroberte wieder zu entreißen droht. Die Regierung weist die Präfekten an, gegen die Teuerung zu Felde zu ziehen. Die Präfekten wissen aber aus langer Erfahrung, dass man viel leichter den Ton der oppositionellen Zeitungen herabdrückt als die Rindfleischpreise. Die Teuerungswelle steht noch ganz vor uns.
Die kleinen Unternehmer, Händler, und nach ihnen auch die Bauern, werden von der Volksfront, von der sie mit mehr Unmittelbarkeit und Naivität als die Arbeiter sofortige Besserung erhofften, immer mehr enttäuscht sein. Der grundlegende politische Widerspruch der Volksfront besteht darin, dass die sie beherrschende Politik der goldenen Mitte, in der Furcht die Mittelklassen zu «schrecken», nicht über den Rahmen der alten Gesellschaftsordnung, d.h. aus der historischen Sackgasse, hinausgeht. Indes, die sogenannten Mittelklassen, selbst verständlich nicht ihre Spitzen, sondern ihre unteren Schichten, spüren auf Schritt und Tritt die Sackgasse und schrecken vor kühnen Lösungen nicht zurück, im Gegenteil, sie fordern sie als Erlösung aus der Schlinge. «Erwartet von uns keine Wunder!», sprechen die an der Macht befindlichen Pedanten. Doch die Sache ist eben die, dass es ohne «Wunder», d.h. ohne heroische Entschlüsse, ohne völligen Umsturz in den Eigentumsverhältnissen, ohne Konzentrierung des Bankensystems, der Hauptindustriezweige und des Außenhandels in den Händen des Staats, für das Kleinbürgertum von Stadt und Land keine Rettung gibt. Wenn die «Mittelklassen» in deren Namen gerade die Volksfront geschaffen wurde, revolutionäre Kühnheit nicht bei der Linken finden, so werden sie sie zur Rechten suchen. Das Kleinbürgertum schüttelt sich im Fieber und es wird sich unausbleiblich von der einen Seite auf die andere werfen. Unterdessen lauert das Großkapital zuversichtlich auf diesen Umschwung, der in Frankreich den Beginn des Faschismus bilden wird, nicht nur als halbmilitärische Organisation der Bourgeoissöhnchen mit Automobilen und Flugzeugen, sondern auch als wirkliche Massenbewegung.
Die Arbeiter übten im Juni einen grandiosen Druck aus auf die herrschenden Klassen, doch nicht bis zu Ende. Sie zeigten ihre revolutionäre Mächtigkeit, aber auch ihre Schwäche: das Fehlen eines Programms und einer Führung. Alle Pfeiler der kapitalistischen Gesellschaft, aber auch alle ihre unheilbaren Gebrechen, blieben an ihrem Platze. Jetzt hat die Periode der Vorbereitung des Gegendrucks eingesetzt: der Repressionen gegen die linken Agitatoren, immer tückischerer Agitation der rechten Agitatoren, des Versuchs der Preiserhöhungen, der Mobilisierung der Unternehmer zu Massenaussperrungen. Die französischen Gewerkschaften, die vor dem Streik nicht einmal eine Million Mitglieder zählten, nähern sich heute der fünften Million. Dieser unerhörte Massenzustrom zeigt, welche Gefühle die Arbeitermassen beseelen. Es kann nicht davon die Rede sein, dass sie widerstandslos die Kosten ihrer eigenen Eroberungen auf sich abwälzen ließen. Die Minister und die offiziellen Führer reden unablässig auf die Arbeiter ein, still zu sitzen und die Regierung nicht bei der mühevollen Lösung der Aufgaben zu stören. Da aber die Regierung im Grunde eigentlich überhaupt keine Aufgaben lösen kann, da die Zugeständnisse vom Juni durch Streik und nicht durch geduldiges Abwarten erzielt worden waren, da jeder neue Tag die Haltlosigkeit der Regierung vor dem sich entfaltenden Gegenangriff des Kapitals aufzeigen muss, so verlieren die monotonen Ermahnungen recht bald ihre Überzeugungskraft. Die Logik der aus dem Junisieg, richtiger aus dem halbfiktiven Charakter dieses Siegs, hervorgegangenen Lage will es, dass die Arbeiter die Herausforderung annehmen, d.h. von neuem in den Kampf treten. In der Furcht vor dieser Perspektive rückt die Regierung nach rechts. Unter dem unmittelbaren Druck der radikalsozialistischen Verbündeten, letzten Endes aber auf Verlangen der «200 Familien»‚ erklärte der sozialistische Innenminister im Senat, dass Besetzungen von Fabriken, Schuppen und landwirtschaftlichen Betrieben durch Streikende nicht länger mehr geduldet würden. Derartige Vorbeugung hält natürlich den Kampf nicht auf, ist aber imstande, ihn ungemein entschiedener und schärfer zu gestalten.
Die ganz objektive, von den Tatsachen und nicht von den Wünschen ausgehende Analyse führt somit zu dem Schluss, dass von zwei Seiten ein neuer sozialer Konflikt sich vorbereitet, der mit fast mechanischer Unvermeidlichkeit ausbrechen muss. Die Natur dieses Konflikts ist im Großen und Ganzen nicht schwer schon jetzt zu bestimmen. In allen revolutionären Perioden der Geschichte kann man zwei aufeinander folgende, eng miteinander verknüpfte Etappen feststellen: die erste ist eine «elementare» Massenbewegung, die den Gegner überrumpelt und ihm ernste Zugeständnisse oder wenigstens Versprechungen abringt: danach bereitet die herrschende Klasse, die die Grundfesten ihrer Herrschaft bedroht fühlt, die Revanche vor. Die halb siegreichen Massen werden ungeduldig. Die traditionellen «linken» Führer, die ebenso wie die Gegner von der Bewegung überrumpelt wurden, hoffen die Lage mit Hilfe versöhnlicher Beredsamkeit zu retten und büßen letzten Endes an Einfluss ein. Die Massen treten in den neuen Kampf fast ohne Führung, ohne klares Programm und ohne Begriff von den bevorstehenden Schwierigkeiten. Der Konflikt, der unabwendbar aus dem ersten halben Sieg der Massen entsteht, endete nicht selten mit deren Niederlage oder halben Niederlage. In der Geschichte der Revolutionen sind von dieser Regel kaum Ausnahmen zu finden. Ein Unterschied jedoch besteht darin — und der ist nicht klein — dass in den einen Fällen die Niederlage den Charakter einer völligen Vernichtung annahm — so war es z. B. in den Junitagen 1848 in Frankreich, mit denen die Revolution zu Ende war — in den anderen stellte die Teilniederlage nur eine Etappe zum Sieg dar — das war beispielsweise die Rolle der Niederlage der Petersburger Arbeiter und Soldaten im Juli 1917. Gerade die Juliniederlage beschleunigte den Aufschwung der Bolschewiki, die nicht nur richtig, ohne Illusionen und unverblümt die Lage einzuschätzen wussten, sondern sich auch in den schwersten Tagen der Misserfolge, Opfer und Verfolgungen von der Masse nicht isolierten.
Ja, die konservative Presse analysiert die Lage nüchtern. Das Finanzkapital und seine politischen und militärischen Hilfsorgane bereiten in kalter Berechnung die Revanche vor. An der Spitze der Volksfront herrscht nichts als Uneinigkeit und Zerwürfnis. Die linken Zeitungen fließen von Moralpredigten über. Die Führer ersäufen in Phrasen. Die Minister bemühen sich, der Börse ihre staatsmännische Reife zu beweisen. All das zusammen bedeutet, dass das Proletariat in den nächsten Konflikt nicht nur ohne die Führung ihrer traditionellen Organisationen treten wird, wie im Juni, sondern auch gegen sie. Indes, eine neue allgemein anerkannte Führung ist noch nicht da. Unter diesen Umständen ist schwerlich mit einem unmittelbaren Sieg zu rechnen. Der Versuch vorauszublicken führt eher zu der Alternative: die Junitage 1848 oder die Julitage 1917. Anders gesagt: entweder eine Vernichtung auf lange Jahre hinaus, mit dem unvermeidlichen Triumph der faschistischen Reaktion, oder aber lediglich eine bittere strategische Lehre, in deren Ergebnis die Arbeiterklasse ungleich reifer dastehen, ihre Führung erneuern und die Bedingungen des künftigen Sieges vorbereiten wird.
Das französische Proletariat ist kein Neuling. Auf seinem Buckel hat es die in der Geschichte gewaltigste Serie historischer Schlachten. Gewiss müssen die neuen Generationen jeweils aus eigener Erfahrung lernen, doch nicht von Anbeginn und nicht in vollem Umfang, sondern sozusagen in abgekürztem Kursus. Die große Tradition lebt im Blut und macht die Wahl des Weges leichter. Bereits im Juni fanden die namenlosen Führer der erwachten Klasse mit prachtvollem revolutionären Takt die Methoden und Formen des Kampfes. Die molekulare Arbeit des Massenbewusstseins hört heutzutage nicht eine Stunde auf. All das lässt damit rechnen, dass die neue Führerschicht nicht nur in den Tagen des unvermeidlichen und wahrscheinlich baldigen neuen Konflikts der Masse treu bleiben, sondern es auch verstehen wird, die ungenügend vorbereitete Armee unverrichtet aus der Schlacht zurückzuziehen.
Es ist nicht wahr, dass die Revolutionäre in Frankreich an der Beschleunigung des Konfliktes oder an seiner «künstlichen» Provozierung interessiert seien: das können nur die stumpfsinnigsten Polizeigehirne meinen. Die marxistischen Revolutionäre sehen ihre Pflicht darin, der Wirklichkeit offen ins Angesicht zu sehen und jedes Ding bei seinem Namen zu nennen. Rechtzeitig aus der objektiven Lage die Perspektive der zweiten Etappe ziehen, heißt den vorgeschrittenen Arbeitern helfen, nicht überrumpelt zu werden, und soviel Klarheit wie möglich ins Bewusstsein der kämpfenden Massen zu tragen. Darin eben besteht heute die wahre Aufgabe einer ernsten politischen Leitung.