Leo Trotzki: Wohin geht Frankreich? (1934-36)

[alle Texte außer den Anhängen aus Leo Trotzki „Wohin geht Frankreich?“ Antwerpen 1936, Nachdruck Essen 1977.]

Vorwort (10. Juni 1936) 3

Wohin geht Frankreich? 1. Teil (9. 11. 1934) 4

Der Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie. 4

Der Beginn des Bonapartismus in Frankreich. 5

Wird der Bonapartismus von langer Dauer sein?. 6

Die Rolle der Radikalsozialistischen Partei 7

Die «Mittelklassen», die Radikalsozialistische Partei und der Faschismus. 8

Ist der Übergang der Mittelklassen ins Lager des Faschismus unvermeidlich?. 9

Ist es wahr, dass das Kleinbürgertum die Revolution fürchtet?. 10

Ein Bündnis mit den Radikalsozialisten wäre ein Bündnis gegen die Mittelklassen. 11

Die Arbeitermiliz und ihre Gegner 14

Es gilt, die Arbeitermiliz aufzubauen. 17

Die Bewaffnung des Proletariats. 18

Aber die Niederlagen in Österreich und Spanien…... 21

Die Einheitsfront und der Kampf um die Macht 24

Kein Programm der Untätigkeit, sondern ein Programm der Revolution. 25

Anhang: Ein Aktionsprogramm für Frankreich (veröffentlicht Juni 1934) 26

1. Faschismus und Krieg drohen! 27

2. Der Plan der französischen Bourgeoisie. 28

3. Aufhebung des «Geschäftsgeheimnisses». 28

4. Arbeiter- und Bauernkontrolle über Banken, Industrie und Handel 29

5. An die Arbeiter! 29

6. Nationalisierung der Banken, Schlüsselindustrien, Versicherungs- und Transportunternehmen. 30

7. Das Außenhandelsmonopol 30

8. Das Bündnis der Arbeiter und Bauern. 31

9. Sozialleistungen für alle. 32

10. Auflösung der Polizei, politische Rechte für Soldaten. 32

11. Recht auf Selbstbestimmung der Nationen bis hin zum Recht auf Abtrennung. 32

12. Gegen den Krieg, für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa! 33

13. Für die Verteidigung der Sowjetunion. 33

14. Nieder mit dem bürgerlichen «autoritären» Staat! Für die Arbeiter- und Bauernmacht 34

15. Der Kampf für die Arbeiter- und Bauernkommune. 35

16. Für eine einheitliche Versammlung. 36

17. Die Bourgeoisie wird niemals freiwillig aufgeben. 37

Wohin geht Frankreich? 2. Teil (März 1935) 37

Aufgabe und Zweck dieser Schrift 39

I. Wie bildet sich eine revolutionäre Situation. 39

Die wirtschaftlichen Vorbedingungen der sozialistischen Revolution. 39

Ist dies die letzte Krise des Kapitalismus oder nicht?. 40

Fatalismus und Marxismus. 40

«Letzte» Krise und «letzter» Krieg. 41

Die Komintern ist auf die Positionen des sozialdemokratischen Fatalismus übergegangen. 41

Wie beurteilt die Bourgeoisie die Lage?. 42

Sinn der radikalsozialistischen Kapitulation. 43

Das Kleinbürgertum und die vorrevolutionäre Lage. 43

Wie kann ein faschistischer Staatsstreich in Frankreich sich abspielen?. 44

Dialektik und Metaphysik. 45

II.Tagesforderungen und Machtkampf 45

Stagnation der Einheitsfront 45

Resolution des ZK der Kompartei zu den «Tagesforderungen». 46

Warum befolgen die Massen die Aufrufe der Kompartei nicht?. 46

Wirtschaftskonjunktur und Streikkämpfe. 47

Eventuelle Konjunkturbelebung. 48

Reformistischer Plunder statt revolutionärem Programm.. 48

Sicheres Mittel gegen Arbeitslosigkeit 49

Die Kompartei ist eine Bremse. 50

Fertige Rezepte «nach Lenin». 51

«Frieden, Brot und Freiheit!». 52

Drachen und Flöhe. 53

III. Kampf gegen Faschismus und Generalstreik. 53

Das Kominternprogramm und der Faschismus. 53

Reformistische Illusionen der Stalinisten. 54

Kampf um Tagesforderungen und Faschismus. 55

Generalstreik ist kein Versteckspiel 56

Vorbereitung des Generalstreiks. 56

Generalstreik in «nichtrevolutionärer Lage»?. 57

«Überall Sowjets!». 58

Ist aber ein Generalstreik in Bälde möglich?. 59

Wollen die Massen kämpfen?. 60

Basis und Spitzen innerhalb der Partei 60

«Tagesforderungen» und Massenradikalisierung. 61

Generalstreikprogramm.. 61

Generalstreik und CGT. 62

IV.Sozialismus und bewaffneter Kampf 64

Die große Lehre des 6. Februar 1935. 64

«Putschismus» und Abenteurertum.. 64

Voraussicht und Vorbereitung tut Not 65

Arbeitermiliz und Heer 66

Während der Revolution. 67

V.Proletariat, Bauern, Armee, Frauen, Jugendliche. 68

Der Plan der CGT und die Einheitsfront 68

Revolutionäres Bündnis mit der Bauernschaft 69

Das Heer 70

Die Frauen. 71

Die Jugendlichen. 71

VI. Warum Vierte Internationale?. 72

Bankrott der Komintern. 72

Die Lehre der Saar 72

Kominternprogramm.. 73

Organische Einheit[1] 74

Diktatur des Proletariats. 75

Anpassung an die Stalinbürokratie. 76

Vierte Internationale. 77

Jacques Doriot oder Das Messer ohne Klinge. 78

VII. Schlussfolgerung. 79

Kräfteverhältnis. 79

Heißt das, die Lage sei hoffnungslos? … Oh nein! …... 80

Frankreich an der Wende Statt eines Vorworts zur zweiten Ausgabe von «En défense du terrorisme» (Terrorismus und Kommunismus) 80

Die Volksfront und die Aktionskomitees (26. 11. 1935) 91

Die französische Revolution hat begonnen (9. Juni 1936) 94

Vor der neuen Etappe (9. Juli 1936) 102

 

 

 

Vorwort (10. Juni 1936)

Diese Broschüre besteht aus mehreren im Verlaufe der letzten zweieinhalb Jahre zu verschiedener Zeit geschriebenen Arti­keln. Genauer gesagt: geschrieben seit dem Hervortreten der faschistisch-bona­partistisch-royalistischen Koalition am 6. Februar 1934 bis zum grandiosen Mas­senstreik Ende Mai/Anfang Juni 1936. Welch grandioser politischer Pendel­schlag! Die Volksfrontführer möchten na­türlich das Verdienst an dem eingetrete­nen Linksruck für die Umsicht und Weis­heit ihrer Politik buchen. Doch dem ist nicht so. Das Dreiparteienkartell bildete im Verlauf der politischen Krise nur einen drittrangigen Faktor. Kom­munisten, So­zialisten und Radikalsozialisten haben nichts vorausgesehen und nichts gelenkt: sie haben die Ereignisse nur erlitten. Der für sie unerwartete Schlag des 6. Februar 1934 bewog sie, entgegen ihren vorheri­gen Losungen und Doktrinen ihr Heil in einem gegenseitigen Bunde zu suchen. Der ebenso uner­wartet gekommene Streik von Mai/Juni 1936 versetzt diesem par­lamentarischen Verband einen nicht wie­der gutzumachenden Hieb. Was ober­flächlich betrach­tet als der höchste Gipfel der Volksfront erscheinen mag, ist in Wirklichkeit ihre Agonie.

Angesichts dessen, dass die einzelnen Teile der Broschüre getrennt erschienen und verschiedene Etappen der französi­schen Krise widerspiegeln, wird der Leser auf diesen Seiten unvermeidlich auf Wie­derholungen stoßen. Sie aus­merzen, hieße die Konstruktion eines jeden Teils vollständig zerstören und, was viel wichti­ger ist, der ganzen Arbeit ihre Dynamik rauben, in der sich die Dynamik der Er­eignisse selbst spiegelt. Der Verfasser hat es vorgezogen, es bei den Wiederholun­gen zu belassen. Ja, sie mögen für den Leser gar nicht so unnütz sein. Wir leben in einer Epoche der allgemeinen Liquidie­rung des Marxismus bei den offiziellen Spitzen der Arbeiterbewegung Vulgärste Vorurteile dienen heute den politischen und Gewerkschaftsführern der französi­schen Arbeiterklasse zur offiziellen Dok­trin. Hingegen klingt die Stimme des revo­lu­tionären Realismus in dieser künstli­chen Akustik wie die Stimme des «Sek­tie­rer­tums». Um so beharrlicher gilt es, die Grundwahrheiten der marxisti­schen Poli­tik vor dem Auditorium der vor­ge­schritte­nen Arbeiter immer und immer zu wie­derholen.

Bei diesen oder jenen Teilbehauptungen des Verfassers wird der Leser vielleicht einzelne Widersprüche finden. Wir besei­tigen auch diese nicht. Tat­sächlich sollen diese scheinbaren «Widersprüche» nur Hervorhebungen ver­schiedener Seiten ein und derselben Erscheinung in verschie­denen Etappen des Prozesses dar. Im Allgemeinen, scheint es uns, hielt die Broschüre der Prüfung durch die Ereig­nisse stand und wird vielleicht deren Ver­ständnis zu erleichtern vermögen.

Die Tage des großen Streiks werden zwei­fellos auch das Verdienst haben, dass sie die muffige abgestandene Atmo­sphäre der Arbeitsorganisationen lüf­ten und sie von den Bazillen des Reformis­mus und des Patriotismus, «sozialisti­scher», «kommunistischer» oder gewerk­schaftlicher Ausgabe, reinigen. Selbst­re­dend geschieht das nicht mit einem Schlag und nicht von selbst. Es steht ein zäher ideologischer Kampf bevor auf der Grundlage des rauen Klassenkampfes. Doch der weitere Gang der Krise wird zeigen, dass nur der Marxismus erlaubt, sich rechtzeitig im Wirrwarr der Ereignis­se zurechtzufinden und ihre weitere Ent­wicklung vorherzusehen.

Die Februartage 1934 bezeichneten den ersten ernsten Vorstoß der geeinten Kon­terrevolution. Die Mai/Junitage 1936 kennzeichnen die erste mächtige Welle der proletarischen Revolution. Diese zwei Marksteine weisen zwei mögliche Wege: den italienischen und den russischen. Die parlamentarische Demokratie, in deren Namen die Regierung Blum auftritt, wird zwischen den zwei gewal­tigen Mühlstei­nen zu Staub zermahlen werden Welche Teiletappen, Über­gangskombinationen und -gruppierungen, Teilangriffe, takti­sche Episoden be­vorstehen mögen, zu wählen ist nunmehr nur noch zwischen Faschismus und proletarischer Revoluti­on. Das ist der Sinn der vorliegenden Ar­beit.

L Trotzki

 

Wohin geht Frankreich? 1. Teil (9. 11. 1934)

Auf diesen Seiten wollen wir den vorgeschrittenen Arbeitern darlegen, welches Schicksal Frankreich in den nächsten Jahren erwartet. Mit Frankreich meinen wir nicht die Börse, nicht die Banken, nicht die Trusts, nicht die Regierung nicht die Generale, nicht die Geistlichkeit — das alles sind Frankreichs Bedrücker —‚ sondern die Arbeiterklasse und die ausgebeutete Bauernschaft

Der Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie

Nach dem Krieg setzte eine ganze Reihe von Revolutionen ein, die glänzende Siege errangen in Russland, Deutschland, Österreich-Ungarn, später in Spanien. Doch nur in Russland hat das Proletariat die Macht ganz in die Hand genommen, seine Ausbeuter enteignet und damit ei­nen Arbeiterstaat zu schaffen und zu er­halten verstanden. In allen anderen Ländern blieb das Proletariat trotz dem Sieg durch Verschulden seiner Führung auf halbem Wege stehen Infolgedessen entglitt die Macht seinen Händen und verschob sich immer weiter von links nach rechts, bis sie dem Faschismus zur Beute wurde. In mehreren anderen Ländern geriet sie einer Militärdiktatur in die Hände. Auch nicht in einem einzigen zeigte sich das Parlament imstande, die Klassengegensätze zu überbrücken und einen friedlichen Gang der Entwicklung zu gewährleisten. Der Streit wurde mit der Waffe in der Hand entschieden

Zwar hat man in Frankreich lange geglaubt, hier könne der Faschismus niemals Anklang finden. Ist es doch eine Republik, alle Fragen entscheidet das souveräne Volk mit dem allgemeinen Stimmrecht Aber am 6. Februar 1934 zwangen einige Tausend mit Revolvern, Gummiknüppeln und Rasiermessern aus­gerüstete Faschisten und Royalisten dem Lande die reaktionäre Doumergue-Regierung auf, in deren Schutz die faschistischen Banden weiter wachsen und rüsten. Was wird uns der morgige Tag bescheren?

Zwar bestehen in Frankreich, wie in einigen anderen Ländern Europas (England, Belgien, Holland, Schweiz, skandinavische Staaten) noch Parlamente, Wahlen, demokratische Freiheiten oder deren Überreste Aber in all diesen Ländern spitzt sich der Klassenkampf in derselben Richtung zu wie früher in Italien und in Deutschland. Wer sich mit den Worten tröstet «Frankreich ist nicht Deutschland», an dem ist Hopfen und Malz verloren In allen Ländern herrschen heute die gleichen historischen Gesetze: die Gesetze des kapitalistischen Verfalls Bei ferne­rem Verbleib der Produktionsmittel in den Händen eines Häufleins von Kapitalisten ist für die Gesellschaft kein Heil. Sie ist verurteilt, aus einer Krise in die andere zu taumeln, aus Not ins Elend. In den verschiedenen Ländern treten Altersschwäche und Verfall des Kapitalismus in verschiedener Form und in ungleichem Tempo in Erscheinung. Doch das Wesen des Prozesses ist über­all dasselbe. Die Bourgeoisie hat ihre Gesellschaft in eine vollständige Pleite hineingetrieben. Sie vermag dem Volke weder Brot noch Frieden zu sichern Eben darum kann sie die demokratische Ordnung nicht länger er­tragen Sie ist gezwungen die Arbeiter mit physischer Gewalt niederzuhalten. Doch mit der Polizei allein ist der Unzufrieden­heit der Arbeiter und Bauern unmöglich Herr zu werden. Das Heer gegen das Volk marschieren lassen, geht nur zu oft nicht an: es beginnt sich zu zersetzen und am Ende schlägt sich gar ein groß Teil Soldaten auf die Seite des Volks Das Großkapital ist darum genötigt, bewaffnete Banden zu schaffen, speziell gegen die Arbeiter abgerichtet, wie man gewisse Hundesorten auf Wild dressiert, Der geschichtliche Sinn des Faschismus ist, die Arbeiter­klasse niederwerfen, ihre Organisationen zu zerschlagen die politische Freiheit zu erwürgen in jener Stunde wo die Kapitalisten nicht mehr imstande sind, mit Hilfe der demokratischen Mechanik zu regieren und zu herrschen.

Das Menschenmaterial finden die Faschisten zur Hauptsache im Kleinbürgertum. Das Großkapital hat dieses gründlich ruiniert. Die heutige Gesellschaftsordnung weiß ihm keine Rettung. Aber den anderen Ausweg kennt es eben nicht. Seine Unzufriedenheit, Empörung, Verzweiflung wird durch die Faschisten vorn Großkapital abgelenkt und auf die Arbeiter gerichtet Man kann sagen: Faschismus das ist der Vorgang der Gehirnverrenkung des Kleinbürgertums im Interesse seiner schlimmsten Feinde. So verliert das Großkapital die Mittelklassen zuerst, um sie dann mit Hilfe einer Söldlingsagentur faschistischer Demagogen auf das Proletariat zu hetzen. Nur mit solchen Gangstermethoden eben vermag sich das bürgerliche Regime noch zu halten. Wie lange? Solange die proletarische Revolution es nicht stürzt.

Der Beginn des Bonapartis­mus in Frankreich

In Frankreich steht die Bewegung von der Demokratie zum Faschismus erst in ihrer ersten Phase. Das Parlament besteht noch, aber die Macht von ehedem hat es nicht mehr und wird es nie wieder bekommen. Auf den Tod erschrocken, rief nach dem 6. Februar die Parlamentsmehrheit Doumergue, den Retter, den Schiedsrichter ans Ruder. Seine Regierung wie die seines Nachfolgers Flandin steht über dem Parlament. Sie stützt sich nicht auf die «demokratisch» gewählte Mehrheit, sondern direkt und unmittelbar auf den bürokratischen Apparat, auf Polizei und Heer. Eben darum kann Doumergue irgendwelche Freiheit für die Beamten und Staatsangestellten überhaupt nicht dulden. Er braucht einen gehorsamen und disziplinierten bürokratischen Apparat an dessen Spitze er stehen kann ohne Gefahr zu stürzen. In ihrer Angst vor den Faschisten und vor dem <front com­mun>* ist die Parlamentsmehrheit gezwungen, sich Doumergue zu beugen. Man schreibt jetzt viel von einer bevorstehenden «Verfassungsreform» vom Recht zur Auflösung des Abgeordnetenhauses und so weiter. All diese Fragen sind nur von rechtlichem Interesse. Im politischen Sinn ist die Frage bereits entschieden. Die Reform wurde vollzogen ohne Fahrt nach Versailles. Das Erscheinen bewaffneter faschistischer Banden auf offener Bühne ermöglichte den Agenten des Großkapitals, sich über das Parlament zu erheben. Das eben macht heute das Wesen der französischen Verfassung aus. Alles übrige ist nur Illusion, Phrase oder bewusster Betrug.

Die heutige Rolle Doumergues (wie seiner möglichen Nachfolger vom Schlage Tardieus) ist nicht neu. Eine analoge Rolle spielten unter anderen Um­ständen Napoleon I. und Napoleon III. Das Wesen des Bonapartismus besteht in folgendem: gestützt auf den Kampf zweier Lager rettet er mit Hilfe einer bürokratisch-militärischen Diktatur die «Nation». Napoleon I verkörperte den Bonapartismus der stürmischen Jugend der bürgerlichen Gesellschaft. Der Bonapartismus Napoleons III fällt in die Zeit, wo dem Bürgertum bereits eine Glatze wuchs. In Doumergue begegneten wir dem senilen Bonapartismus des kapitalistischen Niedergangs. Die Doumergue-Regierung ist die erste Stufe des Übergangs vom Parlamentarismus zum Bonapartismus. Um sich im Gleichgewicht zu halten, braucht Doumergue zur Rechten die faschistischen und anderen Banden, die ihm zur Macht verhalfen. Von ihm verlangen, dass er — nicht auf dem Papier, sondern in Wirk­lichkeit die Jeunnesses Patriotes, Croix de Feu, Camelots du Roy usw. auflöse, heißt verlangen, er möge den Ast absä­gen, auf dem er sitzt. Zeitweilige Schwan­kungen nach der einen oder anderen Sei­te sind selbstverständlich möglich So könn­te ein vorzeitiger Angriff des Faschis­mus bei den Regierungsspitzen so etwas wie ei­nen linken Seitensprung hervorru­fen. Doumergue hat Flandin Platz ge­macht, das ist ein Betriebsunfall. Flandin wieder­um kann vorübergehend nicht durch Tar­dieu‚ sondern durch Herriot er­setzt wer­den. Aber erstens ist nirgends gesagt, dass die Faschisten einen vor­zei­tigen Umsturzversuch machen werden. Zwei­tens wurde ein vorübergehender Sei­ten­sprung nach links in den Spitzen an der allgemeinen Entwicklungsrichtung nichts ändern sondern bestenfalls die Ent­wick­lung nur ein wenig hinaus­schieben. Zu­rück, zur friedlichen Demokratie ist schon kein Weg mehr. Die Entwicklung führt unabänderlich unabwendbar zum Zu­sammenprall von Proletariat und Fa­schismus.

 

Wird der Bonapartismus von langer Dauer sein?

Wie lange wird das heutige bonapartisti­sche Übergangsregime durchhalten kön­nen? Oder anders ausgedrückt: wie viel Zeit bleibt dem Proletariat noch zur Vor­bereitung auf die Entscheidungsschlacht? Auf diese Frage kann man natürlich nicht genau antworten. Doch einige Anhalts­punkte zur Beurteilung der Geschwindig­keit des Gesamtprozesses kann man immerhin schon bestimmen. Das wichtig­ste Element zu dieser Beurteilung ist die Frage: was wird aus der radikalsoziali­stischen Partei?

Durch die Umstände seiner Entstehung ist der gegenwärtige Bonapartismus, wie bereits gesagt, mit dem beginnenden Bürgerkrieg zwischen den extremen poli­tischen Lagern verbunden. Seine Haupt­stütze findet er in Polizei und Heer. Aber er hat auch eine politische Stütze zur Lin­ken: die Partei der Radikalsozialisten. Die Basis dieser Massenpartei bildet das Kleinbürgertum von Stadt und Land. Die Spitze der Partei setzt sich zusammen aus «demokratischen» Agenten der Großbourgeoisie, die das Volk dann und wann mit kleinen Reformen, meistens aber mit demokratischen Phrasen fütter­ten, es täglich (in Wor­ten) vor der Reakti­on und dem Klerikalismus retteten, in al­len wichtigen Fragen aber die Politik des Großkapitals durchführten. Bedroht vom Faschismus und mehr noch vom Proleta­riat, sahen sich die Radikalsozialisten ge­zwungen, aus dem Lager der parlamen­tarischen Demokratie ins Lager des Bonapartismus zu schwenken. Wie das Kamel unter der Peitsche des Treibers, ging der Radikalis­mus auf seine vier Knie nieder, um die kapitalistische Reaktion zwischen seinen Hockern Platz nehmen zu lassen. Ohne die politische Unterstüt­zung durch die Radikalen wäre die Dou­mergue-Regierung augenblicklich noch unmöglich.

Vergleicht man die politische Entwicklung Frankreichs mit der Deutsch­lands, so entspricht die Doumergue-Regierung (und ihre möglichen Nachfolger) den Regie­rungen Brüning, von Papen, Schleicher, die den Zwischenraum zwi­schen der Weimarer Demokratie und Hitler ausfüll­ten. Es ist indessen auch ein Unterschied vorhanden, der politisch sehr große Be­deutung gewinnen kann Der deutsche Bonapartismus betrat die Bildfläche, als die demokratischen Par­teien dahinge­schmolzen waren, und die Nazis bereits mit kolossaler Wucht wuchsen. Die drei «bo­napartistischen» Regierungen in Deutschland, deren eigene politische Stütze sehr schwach war, balancierten auf einem Seil über dem Ab­grund zwi­schen den beiden feindlichen Lagern Proletariat und Faschismus. Alle drei pur­zelten schnell herunter. Das proletarische Lager war damals gespalten, auf Kampf nicht vorbereitet, von den Führern betro­gen und verraten. Die Nazis konnten die Macht fast kampflos ergreifen.

Der französische Faschismus stellt heute noch keine Massenkraft dar. Da­gegen hat der Bonapartismus hier, wenn auch keine sehr zuverlässige und feste so doch eine Massenstütze in den Radikalen. Zwischen diesen beiden Tatsachen besteht ein in­nerer Zusammenhang. Dem sozialen Charakter seiner Stütze nach ist der Ra­dikalismus eine Partei des Kleinbürger­tums. Der Faschismus aber kann eine Massenkraft nur werden durch die Erobe­rung des Kleinbürgertums. Mit anderen Worten: in Frankreich kann die Ent­wicklung des Faschismus vor allein auf Kosten der Radikalen vor sich ge­hen. Die­ser Prozess vollzieht sich auch heute schon, befindet sich aber noch im Anfangs­stadium.

 

Die Rolle der Radikalsoziali­stischen Partei

Die letzten Kantonalwahlen ergaben die Resultate die man erwarten konnte und musste: gewonnen haben die Flanken, d.h. die reaktionäre und der Arbeiterblock, verloren hat das Zentrum, d.h. die Radi­kalen. Gewinne wie Verluste sind bislang unerheblich. Wären es Parlamentswahlen gewesen, so würden dieselben Erschei­nungen zweifellos beträchtlicheres Aus­maß angenommen haben. Die eingetre­tenen Verschiebungen besitzen für uns keinerlei Bedeutung an sich, sondern nur als Symptome des Wechsels in der Mas­senstimmung. Sie zeigen, dass das klein­bürgerliche Zentrum bereits zugunsten der beiden extremen Lager zu schmel­zen begonnen hat. Das heißt, die Reste des parlamentarischen Regimes werden im­mer mehr unterhöhlt, die extremen Lager werden wachsen, ihr Zusammenprall nahe heranrücken. Es ist unschwer zu begreifen warum dieser Prozess völlig unabwendbar ist.

Die radikale Partei ist die Partei, mit de­ren Hilfe die Großbourgeoisie die Hoff­nungen des Kleinbürgertums auf eine allmähliche und friedliche Besserung sei­ner Lage wach hielt. Diese Rolle der Radi­kalen war nur so lange möglich, wie die wirtschaftliche Lage des Kleinbürgertums leidlich tragbar blieb, solange es nicht dem Massenruin preisgegeben war, so­lange es die Hoffnung auf die Zukunft bewahrte. Zwar ist das Programm der Radikalen stets ein leeres Stück, Papier geblieben. Irgendwelche ernste Sozialre­formen, zugunsten der Werktätigen haben die Radikalen nie durchgeführt noch durchführen können: das hätte ihnen die Großbourgeoisie nicht erlaubt, in deren Händen alle wirklichen Machtmittel sind: Banken und Börse, die große Presse, die höhere Bürokratie, Diplomaten, Generale. Aber mit einigen kleinen Almosen, die die Radikalen, vor allem in der Provinz von Zeit zu Zeit für ihre Kundschaft abhandel­ten, erhielten sie die Illusionen der Volksmassen aufrecht. So ging es bis zur letzten Krise.Jetzt wird es selbst dem rückständigsten Bauern klar, dass es sich nicht uns eine jener gewöhnlichen, bald vorübergehenden Krisen handelt, wie es deren vor dem Krieg häufig gab, sondern um eine Krise der gesamten Gesell­schaftsordnung. Kühne und entschiedene Maßnahmen tun not. Welche? Das weiß der Bauer nicht. Niemand hat es ihm ge­sagt, wie es sich gehörte.

Der Kapitalismus hat die Produktionsmit­tel auf eine solche Höhe gebracht, dass das Elend der von demselben Kapitalis­mus zugrunde gerichteten Volksmassen sie lahm legt. Damit ist das gesamte Sy­stem in eine Periode des Ver­falls, der Zersetzung, der Fäulnis eingetreten. Der Kapitalismus kann nicht nur den Werktä­tigen keine neuen sozialen Reformen oder auch nur kleine Almosen mehr geben, sondern ist gezwungen, selbst die alten wieder wegzunehmen. Ganz Europa ist in eine Epoche der wirtschaftlichen und po­litischen Konterreformen getreten. Die Politik der Ausplünderung und Erstickung der Massen ist nicht eine böse Laune der Reaktion, sondern Folge der Zersetzung des kapitalistischen Systems. Das ist die Grundtatsache, die sich jeder Arbeiter zu eigen machen muss, wenn er nicht mit Phrasengeklingel gefoppt erden will. Eben darum zerfallen und verenden die refor­mistischen demokratischen Parteien eine nach der anderen in ganz Europa. Das­selbe Schicksal erwartet auch die franzö­sischen Radikalen. Nur komplette Hohl­köpfe können glauben, Daladiers Kapitu­lation oder Herriots Dienstfertigkeit vor der extremen Reaktion seien das Ergeb­nis zufälliger zeitweiliger Ursachen oder des Mangels an Charakter dieser klägli­chen Führer. Nein! Große politische Er­scheinungen müssen stets tiefe soziale Ursachen haben. Der Verfall der demo­kratischen Parteien ist eine universale Er­scheinung, die im Verfall des Kapitalis­mus selbst wurzelt. Die Großbourgeousie spricht zu den Radikalen: Jetzt Spaß vor­bei! Wenn ihr nicht aufhört, mit den So­zialisten zu kokettieren, mit dem Volk zu liebäugeln und ihm Wunderdinge zu ver­sprechen, dann rufe ich die Faschisten! Worauf das radikale Kamel sich auf alle Viere niederlässt. Etwas anderes bleibt ihm auch nicht übrig.

Aber der Radikalismus ist auf diese Weise nicht zu retten. Vor allem Volk sein Schicksal an das der Reaktion kettend, beschleunigt er unvermeidlich sein Ver­derben. Der Stimmen- und Mandatsver­lust bei den Kantonalwahlen war nur ein An­fang. Künftighin wird sich der Prozess des Zusammenbruchs der radikalen Par­tei immer rascher vollziehen Die ganze Frage ist nur, wem dieser unaufhaltsame und unvermeidliche Zusammenbruch zu gute kommen wird: der proletarischen Revolution oder dem Faschismus? Wer wird eher, breiter, kühner den Mittelklas­sen das überzeugendere Programm bie­ten und das ist das wichtigste — wer wird ihr Vertrauen erwerben, indem er ihnen mit Wort und Tat seine Fähigkeit beweist, allen Widerstand auf dem Wege zur bes­seren Zukunft zu brechen: der revolutio­näre Sozialismus oder die faschistische Reaktion? Von dieser Frage hängt das Schicksal Frankreichs auf Jahre hinaus ab. Nicht nur Frankreichs, sondern ganz Europas. Nicht nur Europas sondern der ganzen Welt.

 

Die «Mittelklassen», die Radi­kalsozialistische Partei und der Faschismus

Seit dem Siege der Nazi in Deutschland hat man in den Parteien und Gruppen der französischen «Linken» nicht wenig zu­sammengeredet über die Not­wendigkeit, sich enger an die Mittelklassen zu hal­ten, um dem Faschismus den Weg zu ver­sperren Die Fraktion Renaudel & Co trennte sich von der Sozialistischen Partei mit dem speziellen Ziel, dichter bei den Radikalen zu bleiben. Aber zur selben Stunde, als Renaudel, der von den 1848er Ideen lebt, Herriot beide Hände hinstreckte, waren diesem die seinen ge­nommen: die eine Hand hielt Tardieu, die andere Louis Marin.

Daraus jedoch folgt nicht im mindesten, dass die Arbeiterklasse dem Klein­bürger­tum den Rücken kehren und es seinem Schicksal überlassen dürfe. Oh nein! Sich dem Bauern und dem kleinen Mann der Stadt nähern, sie auf unsere Seite zu zie­hen, ist unerlässliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf gegen den Fa­schismus, von der Machteroberung gar nicht zu reden. Es ist nur nötig, die Auf­gabe richtig zu stellen Dazu aber heißt es klar begreifen, welches die Natur der «Mit­­telklassen» ist. Nichts in der Politik ist gefährlicher, vor allem in einer kritischen Periode, als allgemeine Formeln herzu­sagen ohne ihren sozialen Inhalt zu un­tersuchen.

Die derzeitige Gesellschaft besteht aus drei Klassen: Großbourgeoisie, Pro­letariat und Mittelklassen oder Kleinbürgertum. Die Beziehungen zwischen die­sen drei Klassen bestimmen letzten Endes auch die politische Lage des Landes. Die Grundklassen der Gesellschaft sind die Großbourgeoisie und das Proletariat. Nur diese beiden Klassen können eine klare und konsequente selbständige Politik führen. Das Kleinbürgertum zeichnet sich durch seine wirtschaftliche Unselbstän­digkeit und soziale Ungleichförmigkeit aus. Seine oberen Schichten gehen un­mittelbar in die Großbourgeoisie über. Die unteren Schichten verschmelzen mit dem Proletariat und sinken selbst in den Zu­stand des Lumpenproletariats hinab. Sei­ner wirtschaftlichen Lage entsprechend, kann das Klein­bürgertum keine eigene Politik haben. Stets wird es zwischen den Kapitalisten und den Arbeitern hin- und herschwanken Seine eigene Oberschicht stößt es nach rechts; seine unteren, un­terdrückten und ausgebeuteten Schichten vermögen unter gewissen Umständen, schroff nach links zu schwenken. Diese widerspruchsvollen Beziehungen der ver­schiedenen Schichten der Mittelklassen bestimmen die stets konfuse und ganz und gar haltlose Politik der Radikalen: ihr Schwanken zwischen dem Kartell mit den Sozialisten, um die Basis zu beruhigen, und dem nationalen Block mit der kapita­listischen Reaktion, um die Bourgeoisie zu retten Die endgültige Zersetzung des Radikalismus beginnt in dem Augenblick, wo die Großbourgeoisie, selber in der Sackgasse, ihm keine Schwankungen mehr gestattet. Das Kleinbürgertum in Gestalt der dem Ruin entgegenge­henden Massen von Stadt und Land beginnt die Geduld zu verlieren. Seine Haltung den eigenen Oberschichten gegenüber wird immer feindseliger, es überzeugt sich in der Tat von dem Unvermögen und der Treulosigkeit seiner poli­tischen Führer­schaft Der arme Bauer, der Handwerker, der kleine Krämer überzeugen sich in der Praxis, dass ein Abgrund sie trennt von all diesen Bürgermeistern Rechtsanwäl­ten, politischen Geschäftemachern vom Sehlage der Herriot, Daladier, Chautemps & Co, die ihrer Lebensweise und ihren Auffassun­gen nach Großbürger sind. Ehen dieser Enttäuschung des Kleinbür­gertums, seiner Ungeduld, seiner Ver­zweiflung bedient sich der Faschismus. Die fa­schistischen Agitatoren brandmar­ken und verfluchen die parlamentarische Demokratie, die wohl Karrieristen und Be­stechlichen hilft‚ dem kleinen Arbeitsmann aber nichts bringt. Sie, diese Demagogen, schütteln die Faust gegen die Bankiers, Großkaufleute, Kapitalisten. Solche Wor­te und Gebärden entsprechen ganz den Gefühlen des in eine ausweglose Lage geratenen Kleinbesitzers. Die Fa­schisten zeigen sich kühn, gehen auf die Straße, greifen die Polizei an, versuchen mit Ge­walt das Parlament auseinanderzu­jagen. Das imponiert dem in Verzweiflung verfal­lenen Kleinbürger. Er sagt sich «Die Ra­dikalen, bei denen sind zuviel Halun­ken, die haben sich endgültig den Ban­kiers verkauft; die Sozialisten versprechen seit langem, die Ausbeutung abzuschaf­fen, aber nie gehen sie vom \Wort zur Tat über; die Kommunisten kann man schon überhaupt nicht ver­stehen: heute so, morgen anders; man muss doch probie­ren, ob nicht vielleicht die Faschisten hel­fen».

 

Ist der Übergang der Mittel­klassen ins Lager des Fa­schismus unvermeidlich?

Renaudel, Frossard und ähnliche wenden ein, das Kleinbürgertum sei am meisten der Demokratie zugetan und werde eben darum mit den Radikalen gehen. Welch ungeheurer Irrtum! Die Demokratie ist nur eine politische Form. Das Kleinbürgertum kümmert sich nicht um die Schale der Nuss, sondern um ihren Kern. Es sucht Rettung vor Elend und Verderben. Stellt sich die Demokratie als ohnmächtig her­aus — zum Teufel mit der Demokratie. So denkt oder fühlt jeder Kleinbürger. Die steigende Empörung der unteren Schich­ten des Kleinbürgertums gegen seine ei­genen oberen «gebildeten» Schichten in Gemeinde, Kanton und Parlament, das ist die soziale und politische Hauptquelle des Fa­schismus. Dahinzu kommt der Hass der von der Krise beiseite geschleuderten akademischen Jugend gegen die wohlsi­tuierten Rechtsanwälte, Professoren, Ab­geordneten und Minister. Auch hier leh­nen sich folglich die unteren Schichten der kleinbürgerlichen Intelligenz gegen ihre Spitzen auf.

Bedeutet das, dass der Übergang des Kleinbürgertums auf den Weg des Fa­schismus unvermeidlich, unabwendbar ist? Nein, eine solche Schlussfolgerung wäre schmählicher Fatalismus. Was wirklich unvermeidlich, unabwendbar ist, das ist der Untergang des Radikalismus und all jener politischen Gruppierungen, die ihr Geschick an das seine heften. Un­ter den Bedingungen des kapitalistischen Verfalls ist für eine Partei demokratischer Reformen und des «friedlichen» Fort­schritts kein Platz mehr. Welchen Weg auch immer die zukünftige Entwicklung Frankreichs gehen muss, der Radikalis­mus wird jedenfalls von der Bildfläche verschwinden, verworfen und bespien vom Kleinbürgertum, das er endgültig verraten hat. Dass unsere Voraussage der Wirklichkeit entspricht davon wird sich jeder bewusste Arbeiter von nun ab auf Grund der Tatsachen und der Erfah­rung täglich überzeugen. Neue Wahlen werden den Radikalen Niederlagen brin­gen. Schicht für Schicht werden die Volksmassen unten, Grup­pen er­schrockener Karrieristen oben abstoßen. Austritte, Spaltungen, Verrat werden ein­ander in ununterbrochener Reihe folgen. Keine Manöver und Blöcke werden die radikale Partei retten. In den Abgrund wird sie die «Partei» der Renaudel, Déat & Co mit sich reißen. Das Ende der radi­kalen Partei ist die unabwendbare Folge der Tatsache, dass die bürgerliche Ge­sellschaft ihrer Schwierigkeiten mit Hilfe der sogenannten demokratischen Metho­den nicht mehr Herr zu werden vermag. Die Spaltung zwischen den unteren Schichten des Kleinbürgertums und den Spitzen ist unabwendbar.

Aber das bedeutet keineswegs, dass die dem Radikalismus folgenden Massen ihre Hoffnungen unfehlbar auf den Faschis­mus übertragen müssten. Zwar hat der verkommenste deklassierteste und gierig­ste Teil der Mittelklassejugend seine Wahl bereits in dieser Richtung getroffen. Vor­nehmlich aus diesem Reservoir for­mieren sich die faschistischen Banden. Aber die breiten Kleinbür­germassen von Stadt und Land stehen noch vor der Wahl. Sie schwanken vor der großen Entscheidung. Eben weil sie schwanken, fahren sie bis­her noch fort, doch bereits ohne Zutrauen, für die Radikalen zu stimmen. Dieser Zu­stand des Schwan­kens, des Sich-Beden­kens wird indessen nicht Jahre sondern Monate dauern. Die politische Entwick­lung wird in der kom­menden Periode fie­berhaftes Tempo an­nehmen. Das Klein­bürgertum wird die Demagogie des Fa­schismus nur in dem Falle von sich wei­sen, wenn es an die Wirklichkeit des an­deren Weges glaubt. Der andere Weg aber, das ist der Weg der proletarischen Re­volution.

 

Ist es wahr, dass das Klein­bürgertum die Revolution fürchtet?

Parlamentarische Routiniers, die sich für Kenner des Volkes halten, pflegen immer wieder zu sagen «Man darf die Mittelklas­sen nicht mit der Revolution schrecken, sie lieben das Extreme nicht». In solch allgemeiner Form ist diese Behauptung vollkommen falsch. Natürlich ist der Kleineigentümer für die Ordnung, solange seine Geschäfte leidlich gehen und so­lange er hofft, dass sie morgen besser gehen werden. Ist aber diese Hoffnung dahin, so gerät er leicht in Wut und ist be­reit, auf die extremsten Maßnahmen ein­zugehen. Wie hätte er sonst in Italien und Deutschland den demokratischen Staat stürzen und dem Faschismus zum Siege verhelfen können? Der verzweifelnde kleine Mann sieht im Faschismus vor al­lem eine Kampfkraft gegen das Großkapi­tal und glaubt, zum Unterschied von den Arbeiterparteien, die sich nur mit dem Mundwerk betätigen, werde der Faschis­mus die Faust in Bewegung setzen, um mehr «Gerechtigkeit» zu schaffen. Und der Bauer und der Handwerker sind auf ihre Art Realisten: sie verstehen, dass man ohne die Faust mit dem Ding nicht fertig werden wird. Es ist falsch, dreimal falsch, zu behaupten, das heutige Klein­bürgertum gehe nicht mit den Arbeiterpar­teien, weil es «extreme Maßnahmen» scheute. Ganz im Gegenteil. Die unteren Schichten des Kleinbürger­tums, seine breiten Massen, sehen in den Arbeiterpar­teien nur Parlaments­maschinen, trauen nicht der Kraft der Arbeiterparteien, ihrer Kampffähigkeit, ihrer Bereitschaft, dies­mal den Kampf bis ans Ende zu führen. Ist dem aber so, lohnt es dann, den Radi­kalismus durch seine linken parlamentari­schen Spießgesellen zu ersetzen? — so überlegt oder fühlt der ruinierte und auf­gebrachte Halbeigentümer. Ohne Ver­ständnis für diese Psychologie der Bau­ern, Handwerker, Angestellten, kleinen Be­amten usw. — eine Psychologie, die sich aus der sozialen Krise ergibt — ist es unmöglich, die richtige Politik auszuarbei­ten.

Das Kleinbürgertum ist wirtschaftlich ab­hängig und politisch zerstückelt Es kann darum nicht selbständig Politik machen. Es braucht einen «Führer», der ihm Ver­trauen einflößt. Dieser Führer — ein indi­vidueller oder ein kollek­tiver, d.h. eine Person oder eine Partei — kann ihm die eine oder die andere Grundklasse liefern, d.h. entweder die Großbourgeoisie oder das Proletariat. Der Faschismus eint und bewaffnet die zerstreuten Massen: aus menschlichem Staub schafft er Kampfab­teilungen. Damit gibt er dem Kleinbürger­tum die Illusion, dass es eine selbständi­ge Kraft sei. Es beginnt sich einzubilden, dass es wirklich den Staat kommandieren werde. Kein Wunder, wenn ihm die Hoff­nungen und Illusionen zu Kopf steigen. Aber das Kleinbürgertum kann auch das Proletariat zum Führer nehmen. Das hat es in Russland, zum Teil in Spanien ge­zeigt. Es neigte dahin in Italien, Deutsch­land, Österreich. Doch die Parteien des Proletariats zeigten sich dort nicht auf der Höhe ihrer geschichtlichen Aufgabe. Da­mit das Kleinbürgertum sich ihm an­schließe, muss das Proletariat sich sein Vertrauen erkämpfen. Dazu aber muss es der eigenen Kraft vertrauen. Erforderlich ist ein klares Aktionsprogramm und die Bereitschaft, mit allen verfügbaren Mitteln um die Macht zu kämpfen. Fest verbun­den von der revolutionären Partei zum entscheidenden und unerbittlichen Kamp­fe, spricht das Proletariat zum Bau­ern und zum kleinen Mann der Stadt: «ich kämpfe um die Macht; hier ist mein Pro­gramm; ich bin bereit, mich mit euch über Änderungen an diesem Programm zu verständigen; Gewalt werde nur gegen das Großkapital und seine Lakaien an­wenden, mit euch aber, die ihr von der ei­genen Arbeit lebt, will ich ein Bündnis schließen auf Grund eines bestimmten Programms» Solch eine Sprache wird der Bauer erstehen. Not tut nur, dass er Zu­trauen habe zur Fähigkeit des Proletari­ats, die Macht zu ergreifen. Dazu aber heißt es, die Einheitsfront von aller Zwei­deutigkeit, aller Unentschiedenheit, allem Phrasenglauben säubern; heißt es die Lage verstehen und ernsthaft den Weg des revolutionären Kampfes betreten.

 

Ein Bündnis mit den Radikal­sozialisten wäre ein Bündnis gegen die Mittelklassen

Renaudel, Frossard und ihresgleichen bilden sich ernsthaft ein, ein Bündnis mit den Radikalen sei ein Bündnis mit den «Mittelklassen» und somit eine Sehranke gegen den Faschismus. Diese Leute se­hen nichts als die parlamenta­rischen Schatten. Sie haben keine Ahnung von der wirklichen Entwicklung der Massen und jagen der überlebten radikalen Partei nach, die ihnen unterdessen die Rücksei­te zugekehrt hat. Sie glauben, in der Epo­che einer großen sozialen Krise könne man das Bündnis mit den in Fluss ge­kommenen Massen durch einen Block mit der kompromittierten und dem Untergang geweihten parlamen­tarischen Clique er­setzen. Das wirkliche Bündnis des Prole­tariats mit den Mittelklassen ist nicht eine Frage der parlamentarischen Statik, son­dern der revo­lutionären Dynamik. Dies Bündnis gilt es zu schaffen, im Kampf zu schmieden.

Das Wesen der heutigen politischen Lage besteht darin, dass das verzweifelte Kleinbürgertum beginnt, das Joch der parlamentarischen Disziplin abzu­schüt­teln mitsamt der Vormundschaft der kon­servativen «radikalen» Clique die das Volk stets betrogen und heute endgültig verraten hat. Sich in dieser Lage mit den Radikalen einlassen, heißt sich der Ver­achtung der Massen preisgeben und das Kleinbürgertum dem Faschismus als dem einzigen Retter in die Arme treiben.

Die Arbeiterpartei soll sich nicht mit hoff­nungslosen Versuchen abgeben, diese Partei von Bankrotteuren zu retten, sie muss im Gegenteil aus Leibeskräften den Prozess der Befreiung der Massen vom radikalen Einfluss fördern. Je eifriger und kühner sie dies Werk vollbringt, um so wahrhaftiger und schneller wird sie es zum Bündnis der Arbeiterklasse mit dem Kleinbürgertum bringen. Man muss die Klassen in ihrer Bewegung nehmen. Man muss sich nach ihrem Kopf und nicht nach ihrem Schwanz richten Die Ge­schichte arbeitet jetzt schnell Wehe dem, der zurückbleibt!

Wenn nun Frossard der sozialistischen Partei das Recht abstreitet, die radikale Partei zu entlarven, zu schwächen und zu zersetzen, so handelt er wie ein konser­vativer Radikaler, nicht aber als Sozialist. Nur die Partei hat Recht auf historisches Dasein, die an ihr Programm glaubt und danach strebt, das ganze Volk um ihr Banner zu scharen. Sonst ist sie keine hi­storische Partei, sondern eine Parla­mentssippschaft, eine Karrieristenclique. Es ist nicht nur Recht, sondern elementa­re Pflicht einer Partei des Proletariats, die werktätigen Massen von dem schädlichen Einfluss der Bourgeoisie zu befreien! Diese historische Aufgabe ist um so dringlicher, als die Radikalen heute mehr denn je das Werk der Reak­tion zu decken trachten, das Volk einlullen, betrügen und damit den Sieg des Faschismus vorberei­ten. Die linken Radikalen? Die kapitulie­ren doch ebenso fatal vor Herriot, wie dieser vor Tardieu.

Frossard wiegt sich in der Hoffnung, ein Bündnis der Sozialisten mit den Radika­len würde zu einer «linken» Regierung führen, die die faschistischen Organisa­tionen entwaffnet und die Republik rettet. Schwerlich ist eine ärgere Missgeburt als dieser Bastard von demokratischen Illu­sionen mit einem eines Polizisten würdi­gen Zynismus auszudenken. Sagen wir — darüber ausführlicher weiter unten — eine Arbeitermiliz tut not, so erwidern die Frossards und seine Nachbeter: «Ge­gen den Faschismus soll man nicht mit physischen, sondern ideologischen Mit­teln kämpfen» Sagen wir: nur eine kühne revolutionäre Massenmobilisie­rung, die nicht anders als im Kampf ge­gen den Radikalismus möglich ist, ver­mag dem Faschismus den Boden zu ent­ziehen so erwidern dieselben Leute: «Nein, uns kann nur die Polizei einer Re­gierung Da­ladier-Frossard retten».

Erbärmliches Gestammel! Die Radikalen waren doch an der Macht, und wenn sie sie freiwillig Doumergue abtraten, so nicht, weil ihnen Frossards Hilfe fehlte, sondern weil sie vor dem Faschismus und der Großbourgeoisie schlot­terten, die ih­nen mit dem royalistischen Rasiermesser drohte und noch mehr vor dem Proletari­at, das sich gegen den Faschismus zu erheben begann. Um den Skandal voll zu machen, gab Frossard, erschrocken über den Schreck der Radikalen, selber Dala­dier den Rat zu kapitulieren! Nimmt man eine Minute lang an — eine offensichtlich unwahrscheinliche Annahme! — die Ra­di­kalen hätten eingewilligt, das Bündnis mit Doumergue zugunsten eines Bünd­nisses mit Frossard zu brechen, so wären die fa­schistischen Banden diesmal unter unmit­telbarer Beihilfe der Polizei dreimal so stark auf die Straße gezogen: die Ra­dika­len aber zusammen mit den Fros­sards hätten sich sogleich unter die Ti­sche ver­krochen oder auf den Minister­toi­letten versteckt.

Aber machen wir noch eine phantastische Annahme Daladier-Frossards Polizei «ent­­­waffnet» die Faschisten. Wäre damit die Frage etwa gelöst? Wer wird denn die Polizei selbst entwaffnen, die mit der Rechten den Faschisten zurückerstatten wird, was sie ihnen mit der Linken nahm? Die Komödie der Entwaffnung durch die Polizei würde nur die Autorität der Fa­schisten als Kämpfer gegen den kapitali­stischen Staat erhöhen. Schläge gegen die faschistischen Banden können nur in dem Masse wirksam sein, wie diese Ban­den gleichzeitig politisch isoliert werden. Indessen würde die hypothetische Regie­rung Daladier-Frossard weder den Arbei­tern noch den kleinbürgerlichen Massen etwas bringen, denn die Grundlagen des Privateigentums würde sie nicht antasten können Ohne Enteignung der Banken, Großhandelsfirmen Schlüsselindustrien des Transports, ohne Außenhandelsmo­nopol und ohne eine Reihe anderer ein­schneidender Maßnahmen ist den Bauern Handwerkern, Krämern ganz unmöglich zu helfen. Durch ihre Passivität Ohn­macht, Verlogenheit wurde die Regierung Daladier-Frossard Stürme der Entrüstung im Kleinbürgertum entfesselt und es end­gültig auf den Weg des Faschismus sto­ßen, wenn, ja wenn diese Regierung möglich wäre.

Man muss jedoch zugeben, dass Fros­sard nicht allein dasteht. Am selben Tag (dem 24 Oktober), wo der gemäßigte Zy­romsky im Populaire gegen Frossards Versuch der Wiederbelebung des Kartells Stellung nahm, trat Cachin in der Huma­nité für den Gedanken eines Blockes mit den Radikalsozialisten ein. Er, Cachin, begrüßte entzückt die Tatsache, dass die Radikalen sich für die «Entwaffnung» der Faschisten ausgesprochen hatten. Zwar sprachen die Radi­kalen von der Entwaff­nung aller, einschließlich der Arbeiteror­ganisationen. Zwar würde sich in den Händen des bonapartistischen Staates eine solche Maßnahme hauptsächlich ge­gen die Arbeiter richten. Zwar würden die «entwaffne­ten» Faschisten schon am nächsten Tage das doppelte Quantum Waffen er­halten, nicht ohne Mithilfe der Polizei. Aber wozu sich mit so finsteren Grübeleien abquälen? Jeder Mensch braucht Hoffnung. Und da tritt Cachin eben in die Fußstapfen von Wels und Otto Bauer, die ihrerzeit auch alles Heil von der Entwaffnung erwarteten zu be­werkstelligen durch Brünings und Dolfus­sens Polizei. Mit einer Kehrtwendung von 180° setzt Cachin Radikalsozialisten und Mittelklassen gleich. Die unterdrückten Bauern sieht er nur durch das Prisma des Radikalismus. Das Bündnis mit den ar­bei­tenden Kleineigentümern stellt er sich nicht anders als in Form eines Blockes mit jenen parlamentarischen Schiebern vor, die — endlich — bei dem Kleineigen­tümer an Vertrauen einzubüßen beginnen. Statt die beginnende Empörung des Bau­ern und Handwerkers gegen die «de­mo­kra­tischen» Ausbeuter zu nähren und zu schüren und diese Empörung in die Bahn eines Bündnisses mit dem Pro­letariat zu lenken, macht Cachin Anstal­ten, die radi­kalen Bankrotteure mit der Autorität des «front commun» zu stützen und so die Empörung der unteren Schich­ten des Kleinbürgertums auf den Weg des Fa­schismus zu treiben.

Theoretische Verwahrlosung rächt sich in der revolutionären Politik stets bitter. Anti­faschismus wie Faschismus sind für die Stalinisten nicht konkrete Begriffe son­dern zwei große Säcke, wohinein sie alles stopfen, was ihnen zwischen die Finger gerät. Doumergue ist für sie ein Faschist, ebenso wie früher Daladier. In Wirklich­keit ist Doumergue der kapitalistische Ausbeuter des faschistischen Flügels des Kleinbürgertums, so wie Herriot der Aus­beuter des radikalen Kleinbürgertums ist. Augenblicklich haben sich diese beiden Systeme zum bonapartistischen Regime zusammengetan. Doumergue ist auf seine Art auch ein «Antifaschist» denn er zieht eine «friedliche Militär - und Polizei­diktatur des Großkapitals dem Bürger­krieg mit seinem ungewissen Ausgang vor. Aus Furcht vor dem Faschismus und mehr noch vor dem Proletariat schoß sich der «Antifaschist» Daladier Doumergue an. Doch ohne Existenz der faschisti­schen Banden wäre das Doumergue-Re­gime undenkbar. Die elementare marxi­stische Analyse beweist so die völlige Unhaltbar­keit des Gedankens eines Bündnisses mit den Radikalen gegen den Faschismus! Die Radikalen selbst ‚ sor­gen für den Be­weis, wie phantastisch und reaktionär die politischen Schwärmereien Frossards und Cachins tatsächlich sind

 

Die Arbeitermiliz und ihre Gegner

Um zu kämpfen heißt es, die Kampfwerk­zeuge und -mittel erhalten und verstär­ken: Organisationen, Presse, Versamm­lungen usw. All das bedroht der Faschis­mus ganz unmittelbar. Noch ist er zu schwach, um den direkten Kampf um die Macht anzutreten: aber er ist stark genug, um zu versuchen, die Arbeiterorganisa­tionen stückweise zu zerschlagen, bei diesen Angriffen seine Banden zu stählen, in den Arbeiterreihen Niedergeschlagen­heit zu säen: und ihnen das Vertrauen in die eigene Kraft zu nehmen. Dabei findet der Faschismus unfreiwillige Helfershelfer in all jenen, die den «physischen» Kampf für unzulässig und aussichtslos erklären und von Doumergue die Entwaffnung sei­ner faschistischen Garde fordern. Nichts ist für das Proletariat gefährlicher — vor allem unter den heutigen Umständen — als das süße Gift falscher Hoffnungen. Nichts steigert die Frechheit der Faschi­sten mehr als der schlappe «Pazifismus» der Arbeiterorganisationen. Nichts unter­gräbt so sehr das Vertrauen der Mittel­klassen zum Proletariat wie abwartende Untätigkeit, fehlender Kampfwille.

Der Populaire und besonders die Huma­nité schreiben täglich: «Die Ein­heitsfront gebietet dem Faschismus halt». «die Ein­heitsfront wird es nicht zulassen», «die Faschisten werden es nicht wagen», und so weiter ohne Ende. Das sind Phrasen. Man muss den Arbeitern. Sozialisten wie Kommunisten, rund heraus sagen: Er­laubt den leichtsinnigen und verantwor­tungslosen Journalisten und Rednern nicht, euch in Phrasen zu wiegen. Es geht um unseren Kopf und um die Zukunft des Sozialismus. Wir sind die letzten, die Be­deutung der Einheitsfront zu leugnen. Wir predigten sie, als die Führer beider Par­teien noch dagegen waren. Die Ein­heits­front eröffnet gewaltige Möglichkei­ten. Aber auch nicht mehr. Die Einheits­front allein entscheidet nichts. Entschei­den wird nur der Massenkampf. Die Ein­heits­front ist etwas herrliches, wenn bei einem Angriff faschistischer Banden auf den Po­pulaire oder die Humanité kom­munisti­sche Abteilungen den sozialisti­schen zur Hilfe eilen, und umgekehrt. Aber dazu müssen die proletarischen Kampfabtei­lungen vorhanden sein, sich schulen, üben, sich bewaffnen. Ist aber keine Ver­teidigungsorganisation. d.h. keine Arbei­termiliz vorhanden, dann werden der Po­pulaire und die Humanité, und mögen sie noch so viel Artikel schreiben über die Allmacht der Einheits­front, beim erstbe­sten gut vorbereiteten Überfall der Fa­schisten ohne Schutz sein. Versuchen wir, kritisch die «Argumente» und «Theo­ri­en» der Gegner der Arbei­termiliz abzu­wägen, die in beiden Arbei­terparteien recht zahl- und einflussreich sind.

Wir brauchen einen Massenselbstschutz, und keine Miliz, wird oft gesagt. Aber was ist dieser «Massenselbstschutz»? Ohne Kampforganisation, ohne Spezialkader, ohne Waffen? Den unorganisierten, un­vorbereiteten, sich selbst überlassenen Massen die Verteidigung gegen den Fa­schismus auftragen, hieße eine ungleich niedrigere Rolle spielen als die des Ponti­us Pilatus. Die Rolle der Miliz leugnen, heißt die Rolle der Avantgarde leugnen. Wozu dann eine Partei? Ohne Unterstüt­zung der Massen ist die Miliz nichts. Aber ohne organisierte Kampfabteilungen wird die heldenmütigste Masse stückweise von den faschistischen Banden zerbrochen werden. Die Miliz dem Selbstschutz ent­gegenstellen ist Unsinn. Die Miliz ist das Organ des Selbstschutzes

— Zur Organisation einer Miliz aufrufen — sagen einige, allerdings wenig ernste und aufrichtige Gegner —. das ist «Pro­vo­kation». Das ist kein Argument, son­dern eine Beschimpfung. Entspringt die Notwendigkeit, die Arbeiterorganisa­tionen zu verteidigen, der gesamten Läge, wie kann man dann nicht zur Schaffung der Miliz aufrufen? Vielleicht will man uns sa­gen, die Schaffung der Miliz «provo­zie­re» die Faschisten zu Angriffen, und die Re­gierung zu Unterdrückungsmaßregeln? Dann ist das ein durch und durch reaktio­näres Argument. Der Libera­lismus redete. den Arbeitern immer ein, ihr Klas­sen­kampf «provoziere» die Reak­tion. Die Re­formisten wiederholten diese Anschul­di­gung gegen die Marxisten. Die Men­sche­wiki gegen die Bolschewiki. Letz­ten Endes geht diese Beschuldigung zu­rück auf den tiefen Gedanken, dass, wenn die Unter­drückten nicht mucken, die Un­ter­drücker auch nicht gezwungen sind zu­zu­schlagen. Das ist die Philosophie Tolstojs und Gandhis. aber beileibe nicht die Mar­xens oder Lenins. Wenn die Hu­manité künftig auch die Lehre des «Wi­derstehe dem Bö­sen nicht mit Ge­walt» entwickeln will, so möge sie folge­richti­gerweise zum Symbol nicht Hammer und Sichel neh­men, das Emblem der Ok­tober­revolution, sondern die fromme Ziege, die Gandhi mir ihrer Milch ernährt.

— Aber die Bewaffnung der Arbeiter ist nur in einer revolutionären Situation an­gebracht, die doch noch nicht besteht! — Dies tiefsinnige Argument besagt, die Ar­beiter sollen solange auf sich einschlagen lassen, bis die Situation revolutionär ge­worden ist. Die gestern die «dritte Peri­ode» predigten, wollen nicht sehen, was vor ihren Augen sich abspielt. Die Frage der Bewaffnung stellte sich ja praktisch überhaupt nur, weil die «friedliche», «nor­ma­le», «demokratische> Situation einer stürmischen, kritischen und instabilen Platz machte, die ebenso in eine revo­lu­tionäre wie in eine konterrevolutionäre übergehen kann. Diese Alternative hängt vor allein davon ab, ob die vorgeschritte­nen Arbeiter dulden, dass man sie unge­straft stückweise zerschmettert, oder ob sie jeden Hieb mit zwei Hieben beantwor­ten, den Mut der Unterdrückten heben und sie um sich vereinigen werden. Die revolutionäre Situation fällt nicht vom Himmel. Sie gewinnt Gestalt unter aktiver Beteiligung der revolutionären Klasse und ihrer Partei.

Die französischen Stalinisten berufen sich jetzt darauf, dass die Miliz das deutsche Proletariat vor der Niederlage auch nicht bewahrt habe. Gestern noch bestritten sie überhaupt die Niederlage in Deutschland und behaupteten, die Politik der deut­schen Stalinisten sei von Anfang bis Ende richtig gewesen. Heute sehen sie alles Übel in der deutschen Arbeitermiliz (Rote Front). So fallen sie aus einem Fehler in den entgegengesetzten, nicht minder un­geheuerlichen. Die Miliz an sich löst die Frage nicht. Notwendig ist eine richtige Politik. Indessen führte die Politik des Stalinismus in Deutschland (Hauptfeind ist der Sozialfaschismus‚ Gewerk­schafts­spaltung, Liebäugeln mit dein Na­tionalis­mus, Putschismus) fatal zur Iso­lie­rung der proletarischen Vorhut und zu ih­rem Zusammenbruch. Taugt die Strategie nichts, so kann keine Miliz die Lage ret­ten.

Dummes Zeug ist es, dass die Milizorga­nisation als solche auf den Weg des Abenteuers führe, den Feind provoziere, den politischen Kampf durch physischen ersetze und so fort. Hinter all diesen Phrasen steckt nichts weiter als politische Feigheit. Die Miliz als starke Organisation der Vorhut ist in Wirk­lichkeit das zuver­lässigste Mittel gegen Abenteuer, gegen individuellen Terror, gegen blutige Ele­men­tarausbrüche. Zugleich ist die Miliz das einzige ernsthafte Mittel, den Bürger­krieg, den der Faschismus dem Proleta­riat auf­zwingt, auf ein Mindestmaß herab­zu­drücken. Wenn erst die Arbeiter, unge­achtet des Fehlens einer «revolutionären Situation»‚ die patriotischen Muttersöhn­chen einige Male auf ihre Art zurechtwei­sen, so wird die Anwerbung neuer faschi­stischer Banden mit einem Schlage un­endlich schwieriger werden.

Aber hier werfen die in Verwirrung gera­tenen Strategen uns noch nieder­schmet­terndere Argumente entgegen. Zitieren wir wörtlich: «Wenn wir die Rev­olverschüsse der faschistischen Banden mit anderen Revolverschüssen beant­worten»‚ schreibt die Humanité vom 23. Oktober l934, «so verlieren wir aus dem Auge, dass der Fa­schismus das Produkt des kapitalisti­schen Regimes ist, und dass, kämpfen wir gegen den Faschismus. wir es auf das ganze System absehen». Schwerlich kann man in so wenig Zeilen mehr Kon­fusion und Fehler anhäufen. Man darf sich gegen die Faschisten nicht verteidi­gen, weil sie … ein Produkt des kapitali­stischen Regimes sind. Das bedeutet, dass man auf Kampf überhaupt verzich­ten soll, denn alle sozialen Übel unserer Zeit sind «Produkte des kapitalistischen Regimes». Wenn die Faschisten einen Revolutionär töten oder das Gebäude ei­ner proletarischen Zeitung in Brand stecken, müssen die Arbeiter philoso­phisch konstatieren: «Ach! Mord und Brand, das sind die Pro­dukte des kapitali­stischen Systems> und ruhigen Gewis­sens nach Hause geben. Die Kampftheo­rie Marxens ist ersetzt durch fatalistische Schlappheit, die nur dem Klassenfeind nutzt. Der Ruin des Kleinbürgertums ist selbstverständlich ein Produkt des Kapi­talismus. Das Wachsen der Faschisten ist seinerseits ein Produkt des Ruins des Kleinbürgertums. Andererseits aber ist das Wachsen des Elends und der Erbitte­rung im Proletariat ebenfalls Produkt des Kapitalismus, die Miliz aber ihrerseits ein Produkt der Verschärfung des Klassen­kampfes. Warum jedoch sind für die «Marxisten» von der Humanité die faschi­stischen Banden legitimes Produkt des Kapitalismus, die Miliz aber ein illegitimes Produkt der … Trotzkisten? Verstehe wer kann!

Man muss, wird uns gesagt, es auf das gesamte «System» absehen. Auf welche Weise? Über den Kopf der Menschen hinweg? Allein, in verschiedenen Ländern hatten die Faschisten mit Revolverschüs­sen begonnen und mit der Zertrümme­rung des gesamten «Systems» der Arbei­teror­ganisationen aufgehört. Wie denn sonst den bewaffneten Angriff des Fein­des zum Stehen bringen, wenn nicht durch eine bewaffnete Verteidigung, um dann seiner­seits zum Angriff überzuge­hen?

Gewiss, die Humanité anerkennt jetzt in Worten die Verteidigung, aber nur als «Mas­­senselbstschutz»: die Miliz ist schädlich, weil sie — nicht wahr? — die Kampfabteilungen von den Massen ab­schneidet. Aber warum gibt es denn bei den Faschisten eigene bewaffnete Abtei­lungen, die sich von der reaktionären Mas­se nicht abschneiden, sondern im Gegenteil mit ihren wohlorganisierten Schlägen die Stimmung der Massen he­ben und ihre Entschlossenheit erhöhen? Oder ist vielleicht die proletarische Masse ihren Kampfeigenschaften nach dem de­klassierten Kleinbürgertum unterlegen?

Aufs gründlichste verwirrt, beginnt die Humanité zu schwanken: nun stellt sich heraus, dass der Massenselbstschutz die Schaffung von «Selbstschutzgruppen» er­fordere. An die Stelle der verfemten Miliz setzt man besondere Gruppen oder Abtei­lungen. Anfangs scheint der Unterschied nur im Namen zu liegen. Allerdings taugt auch die von der Humanité vorgeschla­gene Bezeichnung nichts. Kann man wohl von «Massenselbstschutz» reden, so doch unmöglich von «Selbstschutzgrup­pen», denn die Be­stimmung der Gruppen ist nicht, sich selbst, sondern die Arbei­ter­organisationen zu schützen. Allein, es han­delt sich selbstverständlich nicht um die Benennung. Die «Selbstschutz­grup­pen sollen», nach Ansicht der Humanité, auf den Gebrauch von Waffen verzichten, um nicht in «Putschismus» zu verfallen. Diese Weisen behandeln die Arbeiter­klasse wie ein Kind, dem man kein Ra­siermesser in die Finger geben darf. Au­ßerdem bilden die Rasiermesser ja be­kanntlich das Monopol der Camelots du Roy. die, als legitimes «Produkt des Kapi­talismus», mit Hilfe von Rasiermessern das «System» der Demokratie stürzten. Wie jedoch werden sich denn die «Selbst­schutzgrup­pen» gegen die faschi­stischen Revolver verteidigen? Offenbar «ideo­lo­gisch». Anders: Es bleibt ihnen nichts an­de­res übrig als sich zu ver­stecken. Ohne pas­senden Gegenstand in den Händen, müssen sie den «Selbst­schutz» in den Füßen suchen. Die Fa­schisten aber wer­den unterdessen un­ge­straft die Arbeiter­organisationen ver­wü­sten. Mag das Pro­letariat dabei auch eine furchtbare Nie­der­lage erleiden, so wird es sich dafür des «Putschismus» nicht schuldig ge­macht ha­ben. Ekel und Ver­achtung, das ist al­les, was dieses feige Getratsch unter der Flagge des «Bol­schewismus» hervor­ruft!

Schon während der «dritten Periode» se­ligen Angedenkens, als die Strategen der Humanité von Barrikaden phantasierten, jeden Tag die Straße «eroberten>. und als «Sozialfaschisten> alles bezeichneten, was ihren Irrsinn nicht mitmachte, sagten wir voraus: Sowie diese Leute sich die Finger verbrannt haben, werden sie die schlimmsten Opportunisten werden. Die Voraussage hat sich nunmehr vollauf be­stätigt. Während in der sozialistischen Partei die Bewegung für die Miliz erstarkt und wächst, eilen die Führer der soge­nannten Kompartei mit der Feuerspritze herbei, um das Verlangen der vorgeschrit­tenen Arbeiter, in Kampfkolonnen anzu­treten, abzukühlen. Kann man sich ein verheerenderes und demo­ralisierenderes Unternehmen vorstellen?

 

Es gilt, die Arbeitermiliz auf­zubauen

In den Reihen der Sozialistischen Partei hört man zuweilen folgendes Argu­ment: — die Miliz, soll man sie machen, aber es ist nicht nötig, laut davon zu reden. Man kann es nur begrüßen, wenn die Genos­sen aufrichtig besorgt sind, die praktische Seite der Sache unberufenen Augen und Ohren vorzuenthalten. Aber zu naiv ist der Gedanke, man könne die Miliz unbe­merkt, heimlich. zwischen vier Wänden schaffen. Wir brauchen Zehn- und später Hunderttau­sende von Kämpfern. Sie wer­den nur in dem Fall kommen, wenn Mil­lionen Ar­beiter und Arbeiterinnen und in ihrem Gefolge auch die Bauern die Not­wendigkeit der Miliz begreifen und um die Freiwilligen eine Atmosphäre heißer Sympathie und aktiver Unterstützung schaffen. Konspiration kann und darf le­diglich die technische Seite der Sache verhüllen. Was aber die politische Kam­pagne betrifft, so muss sie offen, auf den Versammlungen, in den Fabriken, auf Straßen und Plätzen geführt werden.

Kerntruppe der Miliz müssen die Indu­striearbeiter sein, die durch die Ar­beits­stätte verbunden sind, einander kennen und ihre Kampfabteilungen gegen das Eindringen feindlicher Agenten viel besser und wirksamer zu schützen ver­mögen als noch so hoch stehende Bürokraten. Kon­spirative Stäbe ohne offene Massenmobi­lisierung werden im Augenblick der Ge­fahr ohnmächtig in der Luft hängen. Nötig ist, dass alle Arbeiterorganisationen sich ans Werk machen. In dieser Frage kann es keine Trennungslinie zwischen Arbei­terparteien und Gewerkschaften geben. Hand in Hand müssen sie die Massen mobilisieren. Dann wird der Arbeitermiliz voller Erfolg beschieden sein.

— Aber woher sollen die Arbeiter denn die Waffen hernehmen?, entgegnen die nüchternen «Realisten», will sagen ängst­lichen Philister. Hat doch der Klassen­feind Gewehre, Kanonen, Tanks, Gase, Flugzeuge. Die Arbeiter aber: ein paar hundert Revolver und Taschenmesser.

In diesem Einwand kommt alles zuhauf, die Arbeiter zu schrecken. Einer­seits set­zen unsere Weisen die Bewaffnung der Faschisten mit der des Staates gleich, andererseits wenden sie sich an den Staat mit dem Ersuchen, er möge die Fa­schisten entwaffnen. Eine bemerkenswer­te Logik! In Wirklichkeit ist ihre Einstel­lung in beiden Fällen falsch. In Frankreich haben die Faschisten den Staat noch nicht erobert. Am 6. Februar befanden sie sich in bewaffnetem Konflikt mit der Staatspolizei. Unrichtig ist es darum, von Kanonen und Tanks zu reden. wo es sich unmittelbar um bewaffneten Kampf mit den Faschisten handelt. Die Faschisten sind selbstredend reicher als wir, es fällt ihnen viel leichter, Waffen zu kaufen. Aber die Arbeiter sind zahlreicher, ent­schlossener, selbstaufopfernder, zumin­dest, wenn sie eine feste revolutionäre Füh­rung verspüren. Neben anderen Quellen können sich die Arbeiter auf Ko­sten der Faschisten bewaffnen, indem, sie sie systematisch entwaffnen. Das ist heute eine der sichersten Formen des Kampfes gegen den Faschismus. Wenn die Arbeiterarsenale sich auf Kosten der faschistischen Depots zu füllen beginnen, dann werden die Banken und Trusts mit Spenden für die Ausrüstung ihrer Mord­banden vorsichtiger sein. Man kann sogar annehmen, dass in diesem Falle — doch nur in diesem Falle — die unruhig wer­den­den Machthaber wirklich daran gehen werden, die Bewaffnung der Faschisten zu unterbinden, um den Arbeitern keine zusätzliche Waffenquelle zu liefern. Längst ist bekannt: nur eine revolutionäre Taktik erzeugt als Nebenprodukt «Refor­men» oder Zugeständnisse seitens der Regierung.

Wie aber die Faschisten entwaffnen? Na­türlich ist das mit ein paar Leit­artikeln al­lein nicht zu machen. Kampfstaffeln müs­sen geschaffen werden. Stäbe der Miliz müssen gebildet werden. Ein guter Er­kundungsdienst muss eingerich­tet wer­den. Tausende freiwilliger Informatoren und Mithelfer werden von allen Seiten kommen. wenn sie merken, dass wir mit Ernst an die Sache herangehen. Not tut der Wille zur revolutionären Tat.*

Aber die faschistischen Waffen sind selbstverständlich nicht die einzige Quel­le. In Frankreich gibt es mehr als eine Million organisierter Arbeiter. Allge­mein gesehen ist das sehr wenig. Aber es reicht voll aus, um den Grundstein zur Arbeitermiliz zu legen. Bewaffnen die Par­teien und Gewerkschaften auch nur ein Zehntel ihrer Mitglieder, so ergäbe das bereits eine Miliz von 100.000 Mann. Man kann nicht daran zweifeln, dass die Zahl der Freiwilligen am Tage nach dem Aufruf der <Einheitsfront> diese Ziffer weit über­schreiten würde. Beisteuerungen der Par­teien und Gewerkschaften, freiwillige Sammlungen und Spenden würden es ermöglichen, im Laufe von ein, zwei Mo­naten 100 bis 200.000 Arbeiterkämpfern Waffen zu verschaffen. Das faschistische Gesindel würde schnell den Schwanz einklemmen. Die ganze Perspektive der Entwicklung würde sich unendlich günsti­ger gestalten.

Auf das Fehlen der Waffen oder andere objektive Gründe hinweisen zur Erklärung dessen, weshalb man bislang nicht an die Bildung der Miliz heran­gegangen ist, heißt sich und die anderen täuschen. Das Haupt-, ja man kann sagen einzige Hin­dernis wurzelt in dem konservativen und passiven Charakter der führenden Arbei­terorganisationen. Die skeptischen Führer glauben nicht an die Kraft des Proletari­ats. Sie erhoffen sich alle möglichen Wunder von oben, statt der revolutionä­ren Energie von unten einen revolutionä­ren Ausweg zu verschaffen. Die bewuss­ten Arbeiter müssen ihre Führer zwingen, entweder unmittelbar an die Schaffung der Arbeitermiliz zu schreiten, oder jünge­ren und frischeren Kräften Platz zu ma­chen.

 

Die Bewaffnung des Proleta­riats

Ein Streik ist unvorstellbar ohne Propa­ganda und ohne Agitation. aber auch ohne Streikposten, die, wo sie können, durch Überzeugung wirken, aber, wenn sie dazu gezwungen sind, physische Ge­walt zu Hilfe nehmen. Der Streik ist die einfachste Form des Klassenkampfes, der in verschiedener Proportion stets «ideo­lo­gi­sche« mit physischen Maßnah­men ver­einigt. Der Kampf gegen den Fa­schismus ist im Grunde ein politischer, braucht je­doch die Miliz, wie der Streik den Streik­posten. Eigentlich ist der Streik­posten ja der Keim der Arbeitermi­liz. Wer den phy­sischen Kampf ablehnen zu müssen meint, sollte auf allen Kampf verzichten, denn der Geist lebt nicht ohne den Leib.

Nach dem großartigen Ausspruch des Kriegstheoretikers Clausewitz ist der Krieg die Fortsetzung der Politik mit ande­ren Mitteln. Diese Definition trifft vollauf auch für den Bürgerkrieg zu. Der physi­sche Kampf ist nur ein «anderes Mittel» des politischen Kampfes. Man kann sie nicht einander gegenüberstellen, denn man kann nicht willkürlich den politischen Kampf abstoppen, wenn er sich kraft in­nerer Notwendigkeit in physischen Kampf verwandelt. Pflicht der re­volutionären Par­tei ist es, von vornherein die Unver­meid­lichkeit der Um­wandlung der Politik in of­fenen militärischen Zusammenstoß vor­auszusehen und sich mit aller Kraft auf diesen Augenblick ebenso vorzuberei­ten, wie es die herr­schenden Klassen tun.

Milizabteilungen zur Abwehr des Fa­schismus sind das Erste auf dem Wege zur Bewaffnung des Proletariats, doch nicht das Letzte. Unsere Losung lautet: Bewaffnung des Proletariats und der Re­volutionären Bauern. Die Volksmiliz muss letzten Endes alle Werktätigen er­fassen. Dies Programm ist restlos zu verwirk­lichen erst im Arbeiterstaat, in dessen Hände alle Produktionsmittel und infolgedessen auch Zerstörungsmittel übergehen werden, d.h. sämtliche Waffen und Waffenfabriken.

Allein, zum Arbeiterstaat wird man mit leeren Händen nicht gelangen. Vom fried­lichen. verfassungsmäßigen Wege zum Sozialismus können heute nur po­litische Invaliden vom Schlage Renaudels reden. Der verfassungsmäßige Weg ist abge­schnitten durch mit Faschisten besetzte Schützengräben. Solcher Gräben liegen noch manche vor uns. Die Bourgeoisie wird mit Hilfe von Polizei und Heer auch vor einem Dutzend Staatsumwälzungen nicht zurückschrecken, nur um das Prole­tariat nicht an die Macht zu lassen Der sozialistische Arbeiterstaat kann nicht an­ders geschaffen werden als durch die siegreiche Revolution. Jede Revolution bereitet sich durch den Gang der wirt­schaftlichen und politi­schen Entwicklung vor, aber entschieden wird sie stets durch den offenen be­waffneten Zusammenstoß der feindlichen Klassen. Der revolutionäre Sieg wird möglich nur dank langer politi­scher Agitation, Erziehungsarbeit, Mas­senorgani­sierung. Aber auch der bewaff­nete Zusammenstoß muss von langer Hand vor­bereitet sein. Die Arbeiter müs­sen wissen, dass sie sich auf Tod und Leben zu schlagen haben werden. Sie müssen nach Waffen trachten als nach dem Un­terpfand ihrer Befreiung. In einer so kritischen Epoche wie der gegenwärti­gen muss die Partei der Revolution un­ermüdlich den Arbeitern die Notwendig­keit der Bewaffnung predigen und alles tun, um zumindest der proletarischen Vorhut Waffen zu sichern. Ohne das ist ein Sieg undenkbar.

Die kürzlichen großen Wahlsiege der bri­tischen Labour Party tun dem Gesagten in keiner Weise Abbruch. Nimmt man so­gar an, die nächsten Parlamentswahlen brächten der Arbeiterpartei die absolute Mehrheit — was noch gar ­nicht feststeht; nimmt man ferner an, die Partei beschrit­te dann wirklich den Weg sozialistischer Umgestaltungen — was wenig wahr­scheinlich ist —‚ so wird sie auf ihrem Wege sofort auf solch einen wütenden Widerstand seitens des Oberhauses, des Königs, der Banken. der Börse, der Büro­kratie und der großen Presse stoßen, dass die Spaltung in Fraktionen unver­meidlich und der radikalere linke Flügel sich in der parlamentarischen Minderheit befinden wird. Gleich­zeitig damit wird die faschistische Bewegung unerhörten Auf­schwung nehmen. Die über die Gemein­dewahlen erschrockene britische Bour­geoisie bereitet sich auch heute schon zweifellos tatkräftig auf den außerparla­menta­rischen Kampf vor, während die Spitzen der Arbeiterpartei das Proletariat mit den Wahlerfolgen einlullen und zum Unglück gezwungen sind, die britischen Ereignisse durch die rosarote Brille Jean Longuets zu betrachten. In Wirklich­keit drängt die britische Bourgeoisie dem Proletariat einen um so erbitterteren Bür­gerkrieg auf, je weniger die Führer der Labour Party sich darauf vorbe­reiten.

— Aber woher wollt ihr denn Waffen für das gesamte Proletariat her­nehmen? — wenden von neuem die Skeptiker ein, die ihre innere Haltlosigkeit für eine objektive Unmöglichkeit halten. Sie vergessen, dass von jeher in der Geschichte jede Revolution vor derselben Frage stand. Und nichtsdestoweniger sind siegreiche Revolutionen die Marksteine der wichtig­sten Etappen in der Entwicklung der Menschheit.

Das Proletariat erzeugt die Waffen, trans­portiert sie, baut die Gebäude, wo sie aufbewahrt werden, schützt diese Gebäu­de gegen sich selbst, dient in der Armee und stellt dessen ganze Ausrüstung her. Nicht Riegel und Mauern trennen die Waf­fen vom Proletariat, sondern die Ge­wohnheit des Gehorsams, die Hypnose der Klassenherrschaft, das Gift des Na­tionalismus. Es genügt, diese psychologi­schen Mauern niederzureißen und keine steinerne Mauer wird standhalten. Es ge­nügt, dass das Proletariat die Waffen wolle — und es wird sie finden. Aufgabe der revolutionären Partei ist es, diesen Willen zu wecken und seine Umsetzung in die Tat zu erleichtern.

Aber da rücken die Frossard und Hunder­te anderer angsterfüllter Parlamen­tarier, Journalisten und Gewerkschaftsfunktionä­re mit ihrem letzten, gewichtig­sten Argu­ment heraus: kann denn nach der tragi­schen Erfahrung in Österreich und Spani­en ein ernster Mensch sich von physi­schem Kampf überhaupt Erfolg verspre­chen? Bedenkt doch die heutige Technik: Tanks! Gase!! Flugzeuge!!! Dies Argu­ment beweist nur, dass einige «ernste Menschen» nicht nur nichts lernen wollen, sondern vor Angst selbst das bisschen vergessen, was sie einst lernten. Die Geschichte der letzten zwanzig Jahre ist ein besonders grelles Zeugnis dafür, dass die Grundfragen in den Beziehungen zwischen den Klassen wie zwischen den Nationen durch physische Gewalt ausgetra­gen werden. Die Pazifisten hofften lange, das Anwachsen der Militärtechnik werde den Krieg unmöglich machen. Die Philister plappern seit mehreren -zig Jahren, das Anwachsen der Militärtechnik mache die Revolution unmöglich. Indessen, Kriege und Revolutionen gehen ihren Gang. Niemals gab es soviel Revolutionen, darunter siegreiche, wie seit dem letzten Krieg, der die Kriegstechnik mit aller Macht spielen ließ.

In Form neuester Offenbarungen bieten Frossard & Co uralte Ladenhüter an, wo­bei sie einfach den Hinweis auf die Selbstlader und Maschinengewehre er­setzen durch den Hinweis auf Tanks und Bombenflugzeuge. Wir antworten: an je­der Maschine stehen Menschen, die nicht nur durch technische, sondern auch so­ziale und politische Bande gebunden sind. Wenn die geschichtliche Ent­wicklung die Gesellschaft vor eine unaufschiebbare re­volutionäre Aufgabe stellt, wo Sein oder Nichtsein auf dem Spiele steht, wenn eine fortschrittliche Klasse da ist, an deren Sieg das Heil der Gesellschaft hängt — dann tut der bloße Gang des politischen Kampfes für die revolutionäre Klasse die mannigfaltigsten Möglichkeiten auf: sei es, die Kriegsmacht des Feindes lahm zu legen, sei es, sie direkt zu erobern, zu­mindest teilweise. Für das Philisterbe­wusstsein stellen diese Möglichkeiten immer «glückliche Zufälle» dar, die sich nie wiederholen werden. In Wirklichkeit eröffnen sich in unerwartetsten Fügungen, im Wesen aber durchaus gesetzmäßig, derlei Möglichkeiten in jeder großen, d. h. echten Volksrevolution. Aber der Sieg kommt dennoch nicht von selbst. Die günstigen Möglichkeiten zu nutzen, bedarf es des revolutionären Willens, eiserner Entschlossenheit zum Sieg, kühner und weitblickender Führung.

Die Humanité erkennt in Worten die Lo­sung der «Arbeiterbewaffnung» an, aber nur, um in der Praxis darauf zu verzich­ten. Heute, in der augenblicklichen Peri­ode, sei es — nach Behauptung dieser Zeitung — unstatthaft, eine Losung her­zugeben. die nur «in voller revolutionärer Krise» gelte. Es ist gefährlich, die Flinte zu laden, sagt der allzu «vorsichtige» Jä­ger, solange das Wild sich noch nicht ge­zeigt hat. Doch wenn das Wild sich zeigt, wird es zum Laden zu spät sein. Glauben die Strategen von der Humanité denn, dass sie «in voller revolutionärer Krise», ohne Vorbereitung, das Proletariat mobi­lisieren und bewaffnen können werden? Um viel Waffen zu beschaffen, bedarf es deren schon einer gewissen Menge. Be­darf es militärischer Kaders. Bedarf es des unerschütterlichen Willens der Mas­sen, die Waffen an sich zu reißen. Bedarf es einer unaufhörlichen Vorbereitungsar­beit, nicht bloß in Turnsälen, sondern in unlöslicher Ver­bindung mit dem Tages­kampf der Massen. Das bedeutet: es gilt unver­züglich, die Miliz aufzubauen und gleichzeitig Propaganda zu machen für die allgemeine Bewaffnung der Arbeiter und revolutionären Bauern.

 

Aber die Niederlagen in Österreich und Spanien…

Die Ohnmacht des Parlamentarismus in den Verhältnissen der Krise des gesam­ten sozialen Systems des Kapitalismus ist so augenfällig, dass die Vulgärdemokra­ten im Arbeiterlager (Renaudel, Frossard und ihresgleichen) kein ein­ziges Argu­ment finden, um ihre verknöcherten Vor­urteile zu verteidigen. Um so bereitwilliger haschen sie nach allen Misserfolgen und Niederlagen auf dem revolutionären We­ge. Ihr Gedankengang ist folgender: zeigt der reine Parlamentarismus keinen Aus­weg, so steht es mit dem bewaffneten Kampf auch nicht besser. Die Niederla­gen der proletarischen Aufstände in Österreich und Spanien sind für sie jetzt selbstredend ein beliebtes Argument. In Wahrheit tritt bei der Kritik an der revolu­tionären Methode die theoretische und politische Bestandlosigkeit der Vulgärde­mokraten noch greller zu Tage als bei ih­rer Verteidigung der Methoden der fau­lenden bürgerlichen Demokratie.

Niemand sagt, dass die revolutionäre Me­thode automatisch den Sieg garantie­re. Was entscheidet, ist nicht die nackte Me­thode, sondern ihre richtige Anwen­dung. eine marxistische Orientierung in den Er­eignissen, eine starke Organisati­on, in langer Erfahrung gewonnenes Ver­trauen der Massen, scharf­blickende und kühne Leitung. Der Ausgang jeder einzel­nen Schlacht hängt ab von dem Augen­blick und den Bedingungen des Zusam­men­tref­fens. vom Kräfteverhältnis. Der Marxis­mus ist weit von dem Ge­danken entfernt, wonach der bewaffnete Zusam­menstoß die einzige revolutionäre Metho­de oder ein in allen und jeden Umständen gutes Allheilmittel sei. Der Marxismus kennt überhaupt keinen Fetisch, weder einen Parlaments-, noch einen Aufstands­fe­tisch. Alles ist gut an seinem Ort und zu seiner Zeit. Eins aber kann man von An­fang an sagen: auf parlamentarischem Wege hat das sozialistische Proletariat noch nie und nirgends die Macht erobert, oder sich ihr auch nur genähert. Die Re­gierungen Scheidemann, Hermann Mül­ler, MacDonald hatten mit Sozialismus nichts gemein. Die Bourgeoisie ließ die Sozial­demokraten und Labourparteiler an die Macht nur unter der Bedingung, dass sie den Kapitalismus gegen seine Feinde verteidigen. Und sie haben diese Be­din­gungen pflichtbewusst erfüllt. Der rein parlamentarische, antirevolutionäre So­zialismus hat nie und nirgends zu einem sozialistischen Ministerium geführt, dafür aber mit Erfolg elende Renegaten groß­gezogen, die sich der Arbeiter­partei zwecks einer Ministerkarriere bedienten: die Millerand, Briand, Viviani, Laval, Paul-Boncour, Marquet.

Andererseits ist durch die geschichtliche Erfahrung erwiesen, dass die revolutionä­re Methode zur Eroberung der Macht durch das Proletariat zu führen vermag: Russland 1917, Deutschland und Öster­reich 1918, Spanien 1930. In Russland war es die starke bolschewistische Partei, die lange Jahre hindurch die Revolution vorbereitete und die Macht fest an sich zu reißen verstand. Die reformistischen Par­teien in Deutschland, Österreich und Spanien haben die Revolution weder vor­bereitet noch geleitet, sondern erlitten. Voll Angst vor der Macht, die ihnen wider Willen in den Schoß gefallen war, traten sie sie freiwillig an die Bourgeoisie ab. Auf diese Weise untergruben sie das Ver­trauen des Proletariats in sich selbst und mehr noch das des Kleinbürgertums in das Prole­tariat. Nachdem sie so der fa­schistischen Reaktion die Voraussetzun­gen ihres Wachstums geschaffen hatten, fielen sie ihr zum Opfer.

Der Bürgerkrieg, sagten wir Clausewitz folgend, ist die Fortsetzung der Politik, nur mit anderen Mitteln, Das heißt: Das Ergebnis des Bürgerkriegs hängt nur zu einem Viertel, wenn nicht Zehntel, ab vom Verlauf des Bürger­krieges selbst, von sei­nen technischen Mitteln, der rein militäri­schen Leitung; zu drei Vierteln, wenn nicht neun Zehnteln, von der politischen Vorbereitung. Worin besteht aber die po­litische Verbereitung? Im revolutionären Zusammenschweißen der Massen, in ih­rer Befreiung von der Sklavenhoffnung auf die Gnade, Großmut, Loyalität der «demokratischen Sklavenhalter, in der Aufzucht revolutionärer Kader, imstande, die offizielle öffentliche Meinung gering zu achten und der Bourgeoisie gegenüber auch nur den zehnten Teil jener Unerbitt­lichkeit aufzubringen, die die Bourgeoisie den Werktätigen gegenüber an den Tag legt. Ohne solche Stählung wird der Bür­gerkrieg, wenn die Verhältnisse ihn auf­zwingen — und sie werden ihn auf je­den Fall aufzwingen — unter den für das Proletariat ungünstigsten Bedingun­gen verlaufen, von vielen Zufälligkeiten ab­hängen. wobei sogar im Falle eines mili­tärischen Sieges die Macht den Hän­den des Proletariats wieder entgleiten kann. Wer nicht vorhersieht, dass der Klassen­kampf unvermeidlich zum be­waffneten Zusammenstoß führen muss, der ist blind. Aber nicht weniger blind ist auch der, der hinter dem bewaffneten Zu­sam­menstoß und seinem Ausgang nicht die ganze vorangehende Politik der kämp­fen­den Klassen sieht,

In Österreich erlitt eine Niederlage nicht die Methode des Aufstandes, sondern der Austromarxismus, in Spanien der prinzi­pienlose parlamentarische Reformismus. 1918 lieferte die österreichische Sozial­demokratie hinter dem Rücken des Prole­tariats die von ihm errungene Macht der Bourgeoisie aus. 1927 sagte sie sich nicht nur feig vom proletarischen Auf­stand, der alle Chancen hatte zu siegen, los, sondern ließ den Arbeiterschutzbund gegen die aufständischen Massen mar­schieren. Damit hat sie Dollfuß den Sieg errmöglicht. Bauer & Co sagten: «wir wollen eine friedliche Entwicklung. wenn aber die Feinde den Kopf verlieren und uns angreifen. dann… Diese Formel sieht sehr gescheit und «realistisch» aus. Be­dauerlicherweise baut auch Marceau Pi­vert seine Er­wägungen auf dieser aus­tromarxistischen Schablone auf: «Wenn … dann». In Wahrheit ist diese Formel eine Falle für das Proletariat: sie beruhigt es, lullt es ein und betrügt es. «Wenn», das bedeutet: die Formen des Kampfes hängen von dem guten Willen der Bour­geoisie ab, und nicht von der absoluten Unversöhnlichkeit der Klasseninteressen. «Wenn», das bedeutet: wenn wir ge­scheit, vorsichtig, nachgiebig sind, dann wird auch die Bourgeoisie loyal sein, und alles wird friedlich abgehen. Während sie dem Trugbild «wenn» nachjagten, wichen Otto Bauer und die anderen Führer der österreichischen Sozial­demokratie untätig vor der Reaktion zurück, gaben sie ihr eine Position nach der anderen preis, demoralisierten sie die Massen, wichen sie noch und noch ein Stück zurück, bis sie endgültig in der Sackgasse saßen; hier, auf der allerletzten Schanze, nah­men sie den Kampf auf und … verloren ihn.

In Spanien nahmen die Dinge einen ande­ren Lauf, doch die Ursachen der Nieder­lage sind im Grunde dieselben. Die sozia­listische Partei teilte ähnlich wie die russi­schen Sozialrevolutionäre und Mensche­wiki die Macht mit der republikanischen Bourgeoisie, um die Arbeiter und Bauern zu hindern, die Re­volution zu Ende zu führen. Zwei Jahre lang an der Macht, waren die Sozialisten der Bourgeoisie behilflich, sich die Massen mit Hilfe eini­ger Brocken von Agrar-, Sozial- und Na­tionalreformen vom Halse zu halten. Ge­gen die revolutionärsten Schichten des Volkes setzten die Sozialisten die Unter­drückungsgewalt ein. Das Resultat war ein doppeltes. Der Anarchosyndikalis­mus, der bei richtiger Politik der Arbeiter­partei im Feuer der Revolution zer­schmolzen wäre wie Wachs, er­starkte vielmehr und sammelte die kampfberei­testen Schichten des Proletariats um sich. Am anderen Ende nutzte die sozial-ka­tholische Dem­agogie die Unzu­friedenheit der Massen mit der bürgerlich-sozialisti­schen Regie­rung geschickt aus. Als die sozialistische Partei genug kompromittiert war, stieß die Bour­geoisie sie von ihrer Machtstellung herunter und ging zum An­griff auf der ganzen Linie über. Die sozia­listische Par­tei hatte nunmehr die Vertei­digung unter den allerungünstigsten von ihr selbst mit ihrer vorhergehenden Poli­tik. geschaffe­nen Umständen aufzuneh­men, Die Bour­geoisie besaß bereits eine Mas­senstütze zur Rechten. Die anarcho­syndi­kalisti­schen Führer, die während der Re­volution alle Fehler begangen, die in die­sen be­rufsmäßigen Wirrschädeln nur ir­gend Platz fanden, lehnten es ab, einen von den verräterischen «Politikern» ge­führten Aufstand zu unterstützen. Die Be­wegung bekam keinen allgemeinen, son­dern nur sporadischen Charakter. Die Regierung richtete ihre Schläge auf die einzelnen Felder des Schachbrettes. So endete der von der Reaktion aufge­zwun­gene Bürger­krieg mit der Niederlage des Proletariats.

Aus der spanischen Erfahrung ist un­schwer eine Schlussfolgerung gegen die sozialistische Beteiligung an einer bürger­lichen Regierung zu ziehen. Dieser Schluss ist an und für sich unanfechtbar, aber ganz ungenügend. Der austromar­xi­stische Schein«radikalismus» ist kei­nes­wegs besser als der spanische Ministeria­lismus. Der Unterschied zwischen ihnen ist nur ein technischer, kein politi­scher. Beide hofften, die Bourgeoisie werde ih­nen «Loyalität» mit «Loyali­tät» entgelten. Und beide führten das Proleta­riat in die Katastrophe. In Spanien wie in Österreich erlitten eine Niederlage nicht die Metho­den der Revolution, sondern die opportu­nistischen Methoden bei einer re­volutio­nären Lage. Das ist nicht ein und dassel­be!

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Wir wollen uns hier nicht bei der Politik der Komintern in Österreich und Spanien aufhalten, verweisen vielmehr die Leser auf die Sammlung der «Vérité» der ver­gangenen Jahre und auf eine Reihe von uns herausgegebener Broschü­ren. In ei­ner ungemein günstigen politischen Lage erwiesen sich die öster­reichische und die spanische Kompartei — bebürdet mit Theorien wie der der «dritten Periode», des «Sozialfaschismus» usw. — zu völli­ger Isolierung ver­dammt. Sie kompromit­tierten die Methoden der Revolution durch «Moskaus» Autorität und versperrten gleichzeitig den Weg der wahrhaft mar­xi­stischen, wahrhaft bolschewistischen Po­litik. Eine Grundeigenschaft der Revo­luti­on ist die, dass sie alle Doktrinen und Me­thoden einer schnellen und erbar­mungs­losen Nachprüfung unterzieht. Die Strafe folgt der Missetat fast auf dem Fuße. Die Verantwortung der Komintern für die Nie­derlagen des Proletariats in Deutschland, Österreich, Spanien ist un­ermesslich. Es ist nicht genug, (in Wor­ten) «revolu­tio­nä­re» Politik zu machen. Nötig ist eine rich­ti­ge Politik. Ein anderes Ge­heimnis des Sieges hat noch niemand entdeckt.

 

Die Einheitsfront und der Kampf um die Macht

Wir sagten bereits: Die Einheitsfront der sozialistischen und kommunistischen Par­tei birgt grandiose Möglichkeiten. Wenn sie nur ernstlich will, ist sie morgen Herr über Frankreich. Sie muss es aber eben wollen.

Der Umstand, dass Jouhaux und über­haupt die CGT-Bürokratie außerhalb der Einheitsfront stehen und «Selbstän­dig­keit» bewahren, scheint un­seren Worten zu widersprechen. Doch nur auf den er­sten Blick. In Epochen großer Aufgaben und großer Gefahren, wo die Massen aufgerüttelt werden, fallen die Scheide­wände zwischen den politischen und den Gewerkschaftsorganisationen des Prole­tariats. Die Arbeiter wollen wis­sen, wie sich vor Arbeits­losigkeit und Fa­schismus retten, und scheren sich herz­lich wenig um Jouhaux‘ «Unabhängigkeit» von der proletarischen Politik (von der bürgerli­chen Politik ist Jouhaux — ach — nur all­zu abhängig). Wenn die proletari­sche Vorhut, verkörpert in der Einheits­front, den rechten Weg des Kampfes vor­zeich­net, dann werden die von der Ge­werk­schaftsbürokratie aufgerichteten Grenz­pfähle von dem reißenden proletari­schen Strom davongeschwemmt werden. Den Schlüssel zur Lage hält jetzt die Ein­heits­front, Macht sie von diesem Schlüs­sel keinen Gebrauch, so wird sie eine ebenso erbärmliche Rolle spielen wie es in der russischen Revolution die Einheits­front der Menschewiki mit den Sozialrevo­lutio­nären getan haben würde, wenn … ja wenn die Bolschewiki sie dabei nicht ge­stört hätten.

Wir gehen auf die sozialistische und die kommunistische Partei einzeln nicht ein, weil sie beide politisch auf ihre Selbstän­digkeit zugunsten der Einheits­front ver­zichtet haben. In dem Augenblick, wo die beiden Arbeiterparteien, die in der Ver­gangenheit in heftigem Konkurrenzkampf miteinander lagen, darauf verzichteten, sich gegenseitig zu kritisieren und einan­der die Anhänger abspen­stig zu machen, haben sie als besondere Parteien zu exi­stieren aufgehört. Der Vorbehalt in Bezug auf die noch bestehen bleibenden «prin­zipiellen Meinungsverschiedenheiten» än­dert daran nichts. Treten die prinzipiel­len Meinungsver­schiedenheiten in einem so verantwortungsvollen Moment wie dem jetzigen nicht offen und aktiv in Erschei­nung, so hören sie damit auf, politisch zu existieren; sie gleichen einem Schatz auf dem Grunde des Ozeans. Ob die Zu­sammen­arbeit mit der Verschmelzung enden wird oder nicht, wollen wir nicht im voraus erraten. In der gegenwärtigen Pe­riode aber, die für Frankreichs Schicksal von ausschlaggebender Bedeutung ist, handelt die Einheitsfront wie eine unvoll­en­dete, auf föderativem Prinzip aufgebau­te Partei.

Was will die Einheitsfront? Bis jetzt hat sie es den Massen noch nicht gesagt. Kampf gegen den Faschismus? Aber noch hat die Einheitsfront nicht einmal verlauten lassen, wie sie den Faschismus zu bekämpfen gedenkt. Ein bloßer Ver­teidigungsblock gegen den Faschismus wäre dafür vielleicht ausreichend, falIs in allem übrigen beide Parteien volle Selb­ständigkeit wahrten. Aber nein, wir haben mit einer Einheitsfront zu tun, die beinahe die gesamte öffentliche Tätigkeit der bei­den Parteien umfasst und ihren Kampf untereinander um die Mehrheit des Prole­tariats ausschließt. Aus dieser Lage heißt es alle Konsequenzen ziehen. Die erste und wichtigste ist: der Kampf um die Macht. Das Ziel der Einheitsfront kann nur eine Einheitsfrontregierung sein, d.h. eine Regierung aus Sozialisten und Kommunisten, ein Minis­terium Blum-Cachin. Das muss offen gesagt werden. Wenn die Einheitsfront sich selbst ernst nimmt — und nur unter dieser Bedingung werden sie die Volks­massen ernst neh­men —, so kommt sie um die Losung der Machtergreifung nicht herum. Mit welchen Mitteln? Mit allen Mitteln, die zum Ziele führen. Die Einheitsfront verzichtet nicht auf den parlamentarischen Kampf. Aber sie benutzt das Parlament vor allem dazu, seine Ohnmacht zu enthüllen und dem Volke klar zu machen, dass die Basis der heutigen Regierung außerhalb des Par­laments liegt, und sie daher nur durch eine mächtige Massenbewegung ge­stürzt werden kann. Kampf um die Macht, das heißt: alle Möglichkeiten wahr­nehmen, die das halbparlamentarisch-bonapartistische Regime bietet, um es im re­volutionären Sturmangriff zu stürzen und den bürgerli­chen Staat durch den Arbeiterstaat zu er­setzen.

Die letzten Kantonalwahlen brachten ei­nen Zuwachs der sozialistischen und be­sonders der kommunistischen Stimmen. Als solche entscheidet diese Tatsache gar nichts. Die deutsche Kompartei hatte am Vorabend ihres Zusammenbruchs einen noch ungleich stürmischeren Stimmen­zuwachs zu verzeichnen. Neue breite Schichten Unterdrückter werden durch die ganze Lage nach links getrieben, sogar unabhängig von der Politik der extremen Parteien. Der Stimmenzuwachs der fran­zösischen kommunistischen Partei ist der größere, weil diese trotz ihrer heutigen konservativen Politik die «extreme Linke» bleibt. Die Massen tun damit ihren Willen kund, die Arbeiterparteien weiter nach links zu schieben, denn die Massen sind unermesslich linker als ihre Parteien. Da­von zeugt auch die revolutionäre Stim­mung der sozialistischen Jugend. Man ver­gesse nicht, dass die Jugend ein emp­findliches Barometer ihrer Klasse und ih­rer Vorhut ist! Tritt die Einheitsfront nicht aus ihrer Untätigkeit heraus, oder noch schlimmer, beginnt sie einen unwürdigen Roman mit den Radikalen, so werden «links» von der Einheitsfront Anarchisten, Anarchosyndikalisten und andere derarti­ge Gruppierungen des politischen Zerfalls zu erstarken beginnen. Gleich­zeitig wird die Indifferenz, die Vorläuferin der Kata­strophe. zunehmen. Wenn hingegen die Einheitsfront, sich Rücken und Flanken gegen die faschistischen Banditen deckend, einen breiten politischen An­griff unter der Losung der Machterobe­rung eröffnet, so wird sie einen solchen machtvollen Widerhall finden, dass die opti­mistischsten Erwartungen übertroffen werden. Das nicht verstehen können nur hirnlose Schwätzer, für die die großen Massenbewegungen ewig ein Buch mit sieben Siegeln bleiben werden.

 

Kein Programm der Untä­tig­keit, son­dern ein Pro­gramm der Revolution

Der Kampf um die Macht muss von dem Grundgedanken ausgehen, dass, ist ein Widerstand gegen weitere Verschlechte­rung in der Lage der Massen auf dem Boden des Kapitalismus noch möglich, so doch irgendeine wirkliche Besse­rung ihrer Lage ohne revolutionären Eingriff in das kapitalistische Eigentumsrecht ausge­schlossen ist. Die politische Kampagne der Einheitsfront muss auf einem gutaus­gearbeiteten Übergangsprogramm fußen, d.h. einem System von Maßnahmen, die — unter einer Arbeiter- und Bauernregie­rung — den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus sichern sollen.*

Aber das Programm ist nicht zur Beruhi­gung des Gewissens da, sondern zur re­volutionären Tat. Welcher Wert käme ei­nem Programm zu, wenn es toter Buch­stabe bleibt? Die belgische Arbeiterpartei nahm beispielsweise den groß­sprecheri­schen Plan De Man an, mit allen erdenk­lichen «Sozialisierungen»; aber was für einen Sinn hat es, wenn sie zu seiner Verwirklichung nicht den kleinen Finger rühren will? Die Programme des Fa­schismus sind phantastisch, verlogen, demagogisch. Aber der Faschismus führt einen zähen Kampf um die Macht. Der Sozialismus kann das wissenschaftlichste Programm aufstellen, sein Wert wird aber gleich null sein, wenn die Vorhut des Proletariats nicht einen verwegenen Kampf um die Eroberung des Staates führt. Die soziale Krise ist in ihrem politi­schen Ausdruck die Krise der Macht. Der alte Herr der Gesell­schaft ist pleite. Ein neuer Herr muss kommen. Wenn nicht das revolutionäre Proletariat die Macht ergreift, so tut es unweigerlich der Fa­schismus!

Ein Programm mit Übergangsforderungen für die «Mittelklassen» kann natürlich große Bedeutung erlangen, wenn es ei­nerseits den wirklichen Nöten der Mittel­klassen gerecht wird und andererseits den Erfordernissen der Bewe­gung zum Sozialismus entspricht** Aber, noch ein­mal, der Schwerpunkt liegt jetzt nicht in einem speziellen Programm. Programme haben die «Mittelklassen» viele gesehen. Sie brauchen die Gewissheit, dass mit dem Programm auch Ernst gemacht wird. In dem Augenblick, wo. sich der Bauer sagen wird; «diesmal gibt, scheint‘s, die Arbeiterpartei nicht nach», wird die Sache des Sozialismus ge­wonnen sein. Dazu aber ist notwendig, mit der Tat die uner­schütterliche Bereit­schaft zu zeigen, alle Hindernisse aus unserem Wege zu räu­men.

Kampfmittel zu erfinden, ist kein Bedarf; die gesamte Geschichte der Weltarbei­terklasse liefert sie. Konzentrierte, auf ei­nen Punkt hämmernde Kampagne der Ar­beiterpresse: wahrhaft sozialistische Re­den von der Parlamentstribüne herab, nicht als zahme Abgeordnete, sondern als Führer des Volkes; Ausnützung aller Wahlkampagnen zu revolutionären Zwecken; ununterbrochene Massenver­sammlungen, wohin die Massen nicht bloß kommen. um Redner anzuhören, sondern sich Tageslosungen und -anwei­sungen zu holen; Schaffung und Ausbau der Arbeitermiliz; wohlorganisierte De­monstrationen, welche die Straßen von den reaktionären Banden säubern: Pro­teststreiks: öffentliche Kampagne für die Vereinigung und Erweiterung des Rah­mens der Gewerkschaften im Zeichen des entschiedenen Klassenkampfes; hart­näckige und gut berechnete Aktionen zur Gewinnung der Armee für die Sache des Volkes: immer größere Streiks; immer machtvollere Manifestationen, General­streik aller Werktätigen von Stadt und Land, Generalangriff auf die bonapartisti­sche Staatsgewalt im Namen der Ar­bei­ter- und Bauerngewalt.

Noch ist Zeit zur Vorbereitung des Sieges. Der Faschismus ist noch keine Massen­bewegung. Der unabwendbare Verfall des Radikalismus bedeutet jedoch Unterhöh­lung der Basis des Bonapartismus, Wachsen der extremen Lager und Heran­nahen der Lösung. Es handelt sich nicht um Jahre, sondern um Monate. Diese Frist steht natürlich nirgends geschrieben. Sie hängt ab vom Kampf der lebendigen Kräfte, in erster Linie von der Politik des Proletariats und seiner Einheitsfront. Die potenziellen Kräfte der Revolution über­steigen die des Fa­schismus und über­haupt der vereinigten Reaktion um das Vielfache. Die Skep­tiker, die die Sache für verloren halten, heißt es unbarmherzig aus den Ar­beiterreihen jagen. Die unteren Schichten erwidern leidenschaftlich jedes kühne Wort, jede wirklich revolutionäre Losung. Die unteren Schichten wollen den Kampf.

Nicht das Geklügel der Parlamentarier und Journalisten, sondern der rechtmäßi­ge und schöpferische Hass der Bedrück­ten gegen die Bedrücker ist heute der einzige fortschrittliche Faktor der Ge­schichte. Es heißt, das Antlitz den Mas­sen, ihren tiefsten Schichten zuzukehren. Es heißt, an ihre Leidenschaften und an ihren Verstand zu appellieren. Jene heuch­lerische «Vorsicht», die nur ein an­derer Name ist für Feigheit, und die in großen geschichtlichen Umwäl­zungen mit Verrat gleichbedeutend ist, heißt es über Bord werfen. Die Ein­heitsfront muss Dan­tons Ausspruch zu ihrem Leitsatz ma­chen: «Kühnheit, Kühnheit. und nochmals Kühnheit».

Richtig die Lage verstehen und aus ihr alle praktischen Konsequenzen ziehen —kühn, furchtlos, bis zu Ende — das heißt, den Sieg des Sozialismus sichern.

Anhang: Ein Aktions­pro­gramm für Frank­reich (veröffentlicht Juni 1934)

[aus: Leo Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale: Übergangsprogramm, Schriften zum Programm, zur Ge­schichte der Vierten Internationale. Essen o.J.]

1. Faschismus und Krieg drohen!

An alle Arbeiter Frankreichs!

Angeführt von der Großbourgeoisie geht Frankreich im Zerfallsprozess der kapita­listischen Welt unter. In den herrschen­den Kreisen der Gesellschaft, in allen In­sti­tutionen des Regimes häufen sich Skandale, breitet sich der korrumpierende Ein­fluss der Reichen aus.

Wachsende Arbeitslosigkeit bei den Ar­beitern; Ruin bei den kleinen Bauern; für alle Ausgebeuteten wächst das Elend.

Der sterbende Kapitalismus ist bankrott. Und die herrschende Klasse hat nur einen einzigen Plan, um zu versuchen, aus dem historischen Bankrott herauszukom­men: noch mehr Elend für die arbeitenden Massen! Unterdrückung aller Reformen, sogar der läppischsten! Unterdrückung des demokratischen Regimes!

In der ganzen Welt wird die eiserne Ferse des Faschismus die letzte Zuflucht des verzweifelten Kapitalismus.

Der Imperialismus, dem durch die Russi­sche Oktoberrevolution 1917 eine Todes­stoß versetzt worden war, konnte seine Herrschaft über die Gesellschaft aufgrund der Niederlage der proletarischen Partei­en in den zwei Perioden der Nachkriegs­epo­che: dem allgemeinen Verrat der So­zialdemokratie und der diesen Niederla­gen fol­genden Entartung der Kommuni­stischen Internationale aufrechterhalten. Die Niederlage der Deutschen Revolution 1923, der chinesischen Revolution 1927 und des deutschen und österreichischen Proletariats 1933 und ‘34 kennzeichnen die entschei­denden Momente, in denen es dem Kapitalismus gelang, sich zu stabili­sieren.

Jedoch dienten diese widerruflichen vor­läufigen Siege, (die erreicht wurden, ohne dass sich die frühere herrschende Klasse in Sowjetrussland wieder etablieren konn­te) nur dazu, die allgemeine Krise zu ver­schärfen. Gewaltiger und anarchischer als zuvor stößt der Druck der Monopole auf dem Weltmarkt an die nationalen Gren­­ze und das Prinzip des Privateigen­tums.

Indem sie aus den Niederlagen des Prole­tariats auf seinem revolutionären Marsch zum Sozialismus Nutzen zieht, gebraucht die Weltbourgeoisie ihre letzte Zuflucht, den Faschismus, mit dem sie verzweifelte Anstrengungen macht, die organisierte Arbeiterklasse von ihrem Weg zum So­zialismus abzubringen.

Das ist die internationale Situation, die Frankreichs Bourgeoisie zum Faschis­mus drängt.

Aber Faschismus allein ist noch nicht das letzte Wort des zerfallenden Kapita­lismus. Wenn er seinen inneren Feind bekämpft hat, muss jeder Imperialismus nach au­ßen expandieren. Das ist die Quelle eines neuen Weltkriegs. 50 Millionen Men­schen kamen im grausamen Leid des letzten Krieges und seiner Folgen um. Im näch­sten Krieg werden Arbeiter in der ganzen Welt zu Hunderten von Millionen massa­kriert werden. Frankreich, dessen Bevöl­kerung stagniert, wird dem weniger als je­des andere Land entgehen.

Die Arbeiter müssen sich diesen kriminel­len Plänen der Bourgeoisie mit aller Macht widersetzen!

 

2. Der Plan der französischen Bour­geoisie

Bei dem Versuch, sich aus dem Chaos zu erheben, in das sie das Land gestürzt hat, muss die französische Bourgeoisie zuerst das Geldproblem lösen. Eine Fraktion will das durch Inflation, d.h. Ausgabe von Papiergeld, Entwertung der Löhne, Anhe­bung der Lebenshaltungskosten, Verar­mung der Kleinbourgeoisie, erreichen; eine andere durch Deflation, d.h. Ein­schränkung auf dem Rücken der Arbeiter (Senkung der Gehälter und Löhne), Aus­dehnung der Arbeitslosigkeit, Ruin der kleinen bäuer­lichen Produzenten und der Kleinbourgeoisie in den Städten.

Beide alternativen Mittel würden das Elend für die Ausgebeuteten vermehren. Zwischen diesen beiden kapitalistischen Methoden zu wählen, hieße, zwischen zwei Instrumenten zu wählen, mit denen die Ausbeuter sich darauf vorbereiten, die Kehle der Arbeiter durchzuschneiden.

Brutale Deflation ist der erste Schritt im Plan der französischen Bourgeoisie. Die Arbeiter werden der Arbeitslosenunter­stützung beraubt; die Sozialversicherung wird in Frage gestellt; die Löhne werden herabgesetzt. Regierungsangestellte sind bereits davon betroffen, die Kleinbauern sind die nächsten.

Dies wird die Bourgeoisie nicht daran hindern, morgen zur anderen Methode der Inflation überzugehen, wenn es ratsam ist. Hitler-Deutschland ist ein Beispiel da­für. Die Ausgebeuteten müssen diesem Plan der Bourgeoisie mit aller Kraft ent­gegentre­ten!

Dem Programm der Deflation, dem Ab­bau ihrer Existenzbedingungen, müssen die Arbeiter ihr eigenes Programm der grundlegenden Umwandlung der sozialen Verhältnisse entgegensetzen durch voll­ständige «De­flation» aller Privilegien und Profite der Banden der Oustrics und Sta­wiskys, die das Land ausbeuten! Das ist der einzige Weg zur Rettung!

 

3. Aufhebung des «Geschäfts­geheim­nisses»

Um eine für die arbeitenden Massen gün­stige Lösung zu finden, müssen wir un­ver­züglich und erbarmungslos die Bi­lanz des kapitalistischen Bankrotts zie­hen, eine Inventur der Einnahmen und Ausga­ben aller Klassen, aller sozialen Gruppen, durch­führen.

Für die Proletarier, die Ausgebeuteten al­ler Kategorien, ist das nicht schwierig.

Die Löhne der Arbeiter sind in den kapita­listischen Rechnungsbüchern eingetra­gen.

Was Ausgaben angeht, so registrieren kleine Geschäftsleute sie Woche für Wo­che.

Die Einnahmen und Ausgaben der Bau­ern, Handwerker, kleinen Geschäftsleute, Kleinfunktionäre sind für niemanden eine Geheimnis. Die raubgierigen Banken schätzen die Wachstumsrate des Ruins der Bauern durch Hypotheken ganz präzi­se! Aber die Kapitalisten, die großen Aus­beuter, hüten eifersüchtig ihre Geheim­nisse. Die Trusts, die Monopole, die gro­ßen Gesellschaften, die die ganze Pro­duk­tion des Landes durch direkten Besitz von 9/10 des Landes beherrschen, legen nie­mals Rechenschaft über ihren Dieb­stahl ab.

Diese ausbeutende Mafia umgibt sich mit dem heiligen Schleier des Geschäfts­ge­heimnisses.

Geschäftsgeheimnisse sind nur eine Vor­richtung, um das Leben der Armen zu kontrollieren, indem sie alle Bank-, Indu­strie- und Handelsgeschäfte der Reichen, der Stawiskys und de Wendels, ver­schlei­ern, die sich unter dem Mantel der «allgemei­nen Wohlfahrt» und «nationalen Ökonomie» verstecken.

Nieder mit den Geschäftsgeheimnissen: Diejenigen, die heute Opfer verlangen, sollen erst mal ihre Rechnungsbücher vor­zeigen. So wird ihre Unehrlichkeit ent­hüllt werden!

 

4. Arbeiter- und Bauernkon­trolle über Banken, Industrie und Handel

Die bürgerliche Demokratie gewährte den arbeitenden Massen mit der Wahlurne ei­nen Schein politischer Kontrolle über ihre Führer. So lange ihr das keinen Scha­den zufügte, ließ die Bourgeoisie eine solche Demokratie zu. Aber sie erlaubte nie­mals auch nur den Schatten einer Kontrolle über ihre Wirtschaftsführung, über die Grundlage ihrer Ausbeutung, die in Anar­chie, Bankrott und Armut der Massen en­det.

Der parasitäre Aktionär hat das Recht zu wissen, wie das Geschäft funktioniert, das ihn bereichert. Der Arbeiter, der ausge­beutete Produzent, hat nur zu gehor­chen und seinen Mund zu halten; er ist nichts als ein Teil der Maschinerie.

Aber die Arbeiter wollen alle Teile der Maschine kennen. Sie allein können ihr Funktionieren beurteilen. Errichten wir über das kapitalistische beherrschte Ma­nagement die unerbittliche Kontrolle des arbeitenden Volkes!

Fabrikkomitees, Bauernkomitees, Komi­tees der kleinen Beamten und der An­ge­stellten könnten sehr leicht, mit der Hilfe aufrichtiger Techniker, Ingenieure und Buchhalter — die gegenüber dem arbei­tenden Volk loyal sind —‚ das Geschäfts­ge­heimnis der Ausbeuter beseitigen. So müssen wir die öffentliche Kontrolle über Banken, Industrie und Handel errichten.

 

5. An die Arbeiter!

In dieser allgemeinen Perspektive kämpft die Kommunistische Liga für folgende Maßnahmen zu Gunsten der Arbeiter:

1) 40-Stunden-Woche, Lohnerhöhungen.

Die Arbeiterkontrolle wird beweisen, dass der Stand der Produktivkräfte die Ver­kür­zung des Arbeitstages ermöglicht. Lohn­erhöhungen auf Kosten der Magnaten des «Comité des Forges», des «Comité des Houilleres», der Finalys, der Schnei­ders und Stawiskys und zum materiellen und moralischen Vorteil des arbeitenden Vol­kes.

2) Wahre soziale Sicherheit und als er­stes Arbeitslosenversicherung. Minde­stens einen Monat Urlaub jährlich.

Rente ab dem 50. Lebensjahr, von der man leben kann.

3) Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Ab­schaffung der Über-Ausbeutung der Frauen, jungen Leute, Ausländer und Ar­beiter aus den Kolonien.

4) Gleicher Lohn und gleiche Rechte für die arbeitenden Frauen wie für die arbei­tenden Männer. Mutterschutz mit zusätz­licher Freistellung von der Arbeit.

5) Die gleichen Löhne für die Jugendli­chen wie für die Erwachsenen. Ausdeh­nung von Studium und Lehre auf Kosten der Allgemeinheit. Besondere hygienische Maß­nahmen.

6) Verhinderung jeder Sondergesetzge­bung für ausländische und koloniale Ar­beiter.

 

6. Nationalisierung der Ban­ken, Schlüsselindustrien, Versicherungs- und Trans­portunternehmen

Gegenwärtig sind es die Banken, die die ganze Wirtschaft des Landes leiten und tat­sächlich kontrollieren. Aber wenn sich das arbeitende Volk der Banken bemäch­tigt und mit diesem Mittel anfängt, Indu­strie, Transport und Handel zu führen, könnte der allgemeine Lebensstandard sofort angehoben werden.

Die Nationalisierung der Banken, großen Industrie, Transport- und Versicherungs­gesellschaften ist die unabdingbare Vor­aussetzung für eine Wirtschaft, die auf das Wohlergehen der großen arbeitenden Massen, des ganzen Volkes gerichtet ist.

Diese Nationalisierung darf keine Ent­schädigung für die großen Kapitalisten zu­lassen, die sich selbst durch Ausbluten der Proletarier Jahr für Jahr bereichert ha­ben und die nur Elend und wirtschaftli­che Anarchie anbieten konnten.

Die Nationalisierung der großen Produkti­ons- und Austauschmittel bedeutet auf keinen Fall die Vernichtung der kleinen Bauern, Handels- und Handwerksunter­neh­men. Im Gegenteil, es sind die großen privilegierten Monopole, die die kleinen Un­ternehmer erdrosseln.

Den kleinen Unternehmern muss die Freiheit gelassen werden, und dann könn­ten die Arbeiter, nachdem sie die großen Unternehmen nationalisiert ha­ben, ihnen zur Hilfe kommen. Eine ge­plante Wirt­schaft, die auf dem ungeheu­ren Reich­tum, den die Banken, Trusts, Aktienge­sellschaften usw. angesammelt haben, fußt, würde die Erstellung eines Plans der Produktion und Verteilung er­lauben, der den Kleinprodu­zenten direkte Aufträge des Staates, Rohmaterial und Kredite un­ter ganz günstigen Bedingun­gen anbietet. So würden die Bauern landwirtschaftliche Maschinen und Dün­ger zu niedrigen Prei­sen erhalten.

Nationalisierung durch die Arbeiter be­deu­tet Zerstörung der großen Privat­mo­no­pole, Unterstützung der Kleinunter­nehmen, Neuverteilung von Produkten zum Wohl der großen Masse der Produ­zenten.

 

7. Das Außenhandelsmono­pol

Der gesamte Außenhandel muss durch die Hände des Staates gehen. So würde der Handel nicht länger von Privatmono­polen kontrolliert, die Importe und Exporte ohne Rücksicht auf die Interessen der Verbraucher regeln. Den großen Massen ent­stünden durch diese Einmischung zwi­schen nationaler Produktion und Welt­markt unschätzbare Vorteile. So würde der Staat, unter der Herrschaft der Arbei­ter, den gesamten Außenhandel zum Wohle der Gemeinschaft wirklich kontrol­lieren.

 

8. Das Bündnis der Arbeiter und Bau­ern

Die Bauernschaft macht fast die Hälfte der französischen Bevölkerung aus. Der proletarische Staat muss in gleicher Weise von den ausgebeuteten Bauern ge­tragen werden wie von den Arbeitern in Stadt und Land. Unser Programm beant­wortet die Bedürfnisse der großen ländli­chen Massen genauso wie jene der Arbei­terklasse.

Wir bestätigen, dass die Kollektivierung der Landwirtschaft wie der Industrie, als höhere Form des Fortschritts, unser Endziel ist. Aber das Proletariat kann den Bauern dieses Ziel nicht aufzwingen. Es kann nur die Entwicklung auf dieses Ziel hin erleichtern. Das Proletariat kann nur Vorschläge in dieser Richtung machen, die dann durch die gemeinsame Erfah­rung der beiden in gleicher Weise von den kapitalistischen Ausbeutern unter­drückten Klassen vervollständigt, berich­tigt, und verbreitert werden. Als erstes müssen wir den Bauern eine reale Chance geben, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen, über den Gebrauch ihrer Kräfte und ihres Be­sitzes zu entscheiden, ihre bevorzugten Methoden der Landwirt­schaft zum Aus­druck zu bringen, auf­grund ihres eigenen Urteils den Augen­blick zu wählen, in dem sie von der priva­ten zur kollektiven Wirtschaft übergehen.

Die ländliche Bevölkerung ist bei weitem nicht homogen. Die herrschende Klas­se und die ihr unterwürfigen Professoren verheimlichen sorgfältig die Tatsache, dass eine kleine Minderheit einen großen Teil des Landbesitzes monopolisiert hat und in ihren Händen die besten landwirt­schaftlichen Produktionsmittel (Maschi­nen, Traktoren, Vieh usw.), ganz abgese­hen von den Kreditquellen, kon­zentriert hat.

Wir schlagen einen Kampf für die Ver­wirklichung folgender Maßnahmen vor:

1) Gleiche Rechte für die Landarbeiter wie für jene in den Städten. Allgemeine Ge­setze in Bezug auf die Arbeitsverträge, den Arbeitstag und den wöchentlichen Ruhetag, soziale Sicherheit (ein­schließ­lich Arbeitslosenversicherung). Die Ar­beits­gesetzgebung muss in ihrer Ge­samtheit auf die Landarbeiter angewandt werden.

2) Enteignung der großen Besitztümer, Güter und Modellfarmen zu Gunsten kol­lektiver und kooperativer Formen und Kleinbauernlandwirtschaft.

3) Abschaffung der Landpächter-Sklave­rei. Überprüfung der laufenden Pachten durch Komitees bäuerlicher Arbeiter, ge­wählt von den Bezirken.

4) Revision der Pfandgüter. Moratorium. Stoppt alle Prozesse und Verfallsdaten.

 

9. Sozialleistungen für alle

Die großen Einrichtungen des Staates (Postämter, Zoll, Erziehungswesen usw.), die mehrere Millionen Arbeiter ausbeuten, arbeiten zum Wohle des Kapitalismus. Die jüngsten Skandale haben die Korrup­tion gezeigt, die unter den höheren Funk­tionä­ren herrscht.

Die kleinen Regierungsangestellten wer­den von den korrupten und käuflichen Beamten ausgebeutet, die ihr Amt dazu benutzen, dass die besitzende Klasse die Arbeiter noch mehr ausquetschen kann.

Wir müssen reinen Tisch machen. In Zu­sammenarbeit mit allen Ausgebeuteten werden die Komitees und Zusammen­schlüsse der kleinen Regierungsangestell­ten die notwendigen Veränderungen vor­nehmen, um wahre soziale Dienstleistun­gen einzurichten, die durch und für die arbeitenden Massen funktionieren.

 

10. Auflösung der Polizei, politische Rechte für Solda­ten

Die Regierung nötigt den Armen, den Ausgebeuteten, dem Volk aller Stände, Bil­lionen Francs ab, um ihre Polizei, ihre Mobilgarden und ihre Armee auszubauen und zu bewaffnen — mit einem Wort, nicht nur zur Vorbereitung des Bürger­krieges, sondern auch eines imperialisti­schen Kriegs. Junge Arbeiter, die zu Hun­derten und Tausenden für die bewaffnete Streitkräfte zu Land und See mobilisiert sind, sind aller Rechte beraubt.

Wir fordern die Entlassung aller reaktio­nären und faschistischen Offiziere und Unteroffiziere, Instrumente des Staats­streichs. Auf der anderen Seite müssen die Arbeiter unter Waffen all ihre politi­schen Rechte zurückerhalten und sollten in Soldatenkomitees vertreten sein, die in besonderen Versammlungen gewählt werden. So werden sie mit der großen Masse der Arbeiter eng verbunden blei­ben und werden ihre Kräfte mit dem ge­gen Reaktion und Faschismus organisier­ten und bewaffneten Volk vereinen.

Alle Polizei-Vollstrecker des kapitalisti­schen Willens, des bürgerlichen Staates und ihre Cliquen korrupter Politiker müs­sen entlassen werden. Ausübung polizei­licher Pflichten durch die Arbeitermiliz. Abschaffung der Klassengerichtshöfe, Wahl der Richter, Ausdehnung der Schwur­gerichte auf alle Verbrechen und Ver­gehen; das Volk selbst wird Recht sprechen.

 

11. Recht auf Selbstbestim­mung der Nationen bis hin zum Recht auf Ab­trennung

Der räuberische Vertrag von Versailles ist nicht nur für die Arbeiter ganz Europas eine Quelle grausamer Übel, sondern auch für jene des «siegreichen» Landes Frankreich. Er ermöglichte es der Bour­geoisie, Elsass-Lothringen auch nur ohne eine Volksabstimmung, wie sie es für das Saargebiet forderte, zu annektieren. Die Ver­teidigung der internationalen Bezie­hungen, wie sie aus diesem Vertrag her­vorgehen, führt heute zum Krieg.

Die französische Bourgeoisie unterdrückt nicht nur indirekt einen ganzen Teil Euro­pas, sondern verwüstet und vernichtet riesige Kolonien. Für alle Völker, die von den großen französischen Kapitalisten — von den de Wendels und Michelins, den Pariser Banken und anderen — unter­drückt werden, für das Volk von Elsass- Lothringen genauso wie für das Volk von Indochina, Marokko und Madagaskar, fordern wir das Recht auf Selbstbestim­mung bis hin und einschließlich des Rechts auf Abtrennung, sofern sie darauf bestehen.

Die arbeitenden Massen in diesem Land haben kein Interesse daran, die franzö­si­schen Banken bei der Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft über andere Völker zu un­terstützen. Im Gegenteil, indem sie Ver­bündete und Helfer für ihren eigenen Kampf gewinnen, unterstützen die Arbei­ter den Befreiungskampf der Völker.

 

12. Gegen den Krieg, für die Vereinig­ten Sozialistischen Staaten von Eu­ropa!

Um die Gesellschaft zu verändern und aus dem Chaos herauszuholen, müssen wir sie als erstes vor dem Krieg retten, in den sie die Bourgeoisie erneut stürzen würde.

Gegen die Bewegungen des deutschen Faschismus haben die französischen Ka­pitalisten eine Blockpolitik angefangen. Diese bezieht sich auf Staaten, die dem verbrecherischen Vertrag von Versailles treu ergeben sind. Frankreich benutzt den Völkerbund, die Versammlung der raub­gierigen Bourgeoisie. um seine Handlun­gen mit dem Schleier des Pazifismus zu bedecken, während es die Last der ver­nichten­den Kosten des Rüstungswettlaufs auf das arbeitende Volk ablädt.

Und die «Defensiv»-Lüge von der «Si­cher­­heit» ermöglicht es chauvinisti­schem Wahnsinn, sein Werk zu verrich­ten und das Land in die ungeheuren Massaker von morgen zu treiben.

Die Proletarier, Bauern, Händler, Hand­werker und Regierungsangestellten kön­nen diese Zukunft nur dadurch abwenden, dass sie überall ihre Kontrollorgane er­richten, die Geheimdiplomatie demaskie­ren, sich mit allen Mitteln den Kriegsvor­bereitungen widersetzen, dass sie die Herrschaft den Imperialisten aus den Händen reißen.

Nur der Sieg der revolutionären Arbeiter Frankreichs kann jede Möglichkeit eines imperialistischen Krieges ausmerzen und die versklavten Völker Europas und der Kolonien aufwecken. Abkommen und Ver­träge würden dann zu Staub; die ein­zig mögliche Lösung, die bereits 1919 ge­se­hen wurde, lautete dann: Die Vereinig­ten Sozialistischen Staaten von Europa.

Gegen die imperialistischen Blockpolitik, gegen die pazifistische Lüge des Völ­ker­bundes, gegen die Geheimdiplomatie des Krieges und den Irrsinn der Aufrüstung! Überall auf dem alten europäischen Kon­tinent — geteilt. militarisiert, blutbefleckt, bedroht von der totalen Zerstörung durch einen neuen Krieg erheben wir das ein­zige Banner der Befreiung, das Banner der Arbeiter- und Bauernregierung der Verei­nigten Staaten von Europa, des brü­derlichen Bundes der Sowjetstaaten!

 

13. Für die Verteidigung der Sowjet­union

Für jeden Proletarier ist der erste Schritt in diese Richtung die bedingungslose Ver­teidigung der Sowjetunion, wo die Okto­berrevolution von 1917 das große Fun­dament für die erste Erfahrung der prole­tarischen Diktatur auf der Basis der Ab­schaffung des Privateigentums der gro­ßen Kapitalisten legte.

Der Kampf gegen die Sowjetunion bleibt weiter das grundlegende Ziel der imperia­listischen Weltreaktion.

Die Arbeiter Frankreichs werden für die Verteidigung der Sowjetunion kämpfen, indem sie die .«pazifistischen» Pläne der Bourgeoisie entlarven. Ab­kommen und Verträge werden das sowjetische Proleta­riat nicht wirksam ver­teidigen, sondern nur der revolutionäre Kampf für den Sturz der Bourgeoisie in den anderen Ländern wird es können.

Die Vereinigung der Sozialistischen Re­publiken Frankreichs und Russlands wird die internationale proletarische Solidarität verbreitern. Kompromisse mit Barthou, Tardieu, Herriot und ihren imperialisti­schen Banden werden es nicht.

Nur diese großen Maßnahmen können die Massen vor Elend retten und sie zum So­zialismus führen. Von heute an müssen alle Arbeiter mit aller Kraft für ihre Durch­setzung kämpfen.

Überdies können diese Maßnahmen nicht durch eine einzelne Aktion, nicht durch die Aktivität der einen oder anderen Gruppe voll umgesetzt werden. Das kann nur durch die Staatsmacht geschehen, die Wirtschaft, Politik und Kultur des gan­zen Landes steuert. In wessen Händen ist das Steuer? Das ist die ganze Frage!

 

14. Nieder mit dem bürgerli­chen «autoritären» Staat! Für die Arbeiter- und Bauern­macht

Die Bourgeoisie beginnt gegenwärtig, ih­ren Plan zur Umwandlung der Staatsge­walt durchzuführen, mit dem sie den Wi­derstand der Arbeiter ein für allemal bre­chen will: Abbau der Rechte der gewähl­ten demokratischen Institutionen (Parla­ment und Gemeinden) und sogar völlige Unterdrückung dieser Rechte, wo sich der proletarische Druck wenn auch vermittelt niederschlägt.

Die Bourgeoisie versucht, die Voll­streckungsgewalt in den Händen weniger Männer zu konzentrieren, die ihre Ent­scheidungen mit den Mitteln des Verwal­tungs-, Militär- und Polizeiapparates durch­drücken, was brutal, unkontrol­liert und teuer ist.

Der bürgerliche Plan eines «autoritären» Staates, der gegen die Ausgebeute­ten gerichtet ist, muss von den arbeitenden Massen unbarmherzig angegriffen wer­den.

Nur wenn die arbeitenden Massen ihre Zukunft in ihre eigenen Hände neh­men, können und werden sie — vereint in einer mächtigen revolutionären Zu­versicht — energisch und eisern die notwendige starke Macht schaffen, um die Gesell­schaft von der kapitalistischen Oligarchie zu retten, die sie korrumpiert und in Ruin führt.

Die Aufgabe besteht darin, den kapitali­stischen Staat, der für den Profit der gro­ßen Ausbeuter funktioniert, durch den proletarischen Staat der Arbei­ter und Bauern zu ersetzen. Die Aufgabe besteht darin, in diesem Lande die Herrschaft des arbeitenden Volkes zu errichten. Wir er­klären allen Leuten ge­genüber, dass es sich nicht um zweitrangige «Ver­änderun­gen» handelt, sondern dass die Herr­schaft einer kleinen Minderheit der Bour­geoisklasse durch die Führung und Macht der riesigen Mehrheit des arbeitenden Volkes ersetzt werden muss.

Hierfür ist das Bündnis der Bauern und Arbeiter notwendig. Die Reaktion ver­sucht, die Bauern mit dem Gespenst ei­ner proletarischen Diktatur zu er­schrecken, wo die Arbeiter die Bauern un­terjochen. In Wahrheit kann der prole­tari­sche Staat solange nicht geschaffen wer­den, wie das Proletariat von der Bau­ern­schaft isoliert ist.

Das Beispiel der Oktoberrevolution, So­wjetrusslands, hilft uns. Dennoch haben wir es in Frankreich einfacher als unsere russischen Brüder und können einige ih­rer Fehler vermeiden. Frankreichs Wirt­schaft ist höher entwickelt, und wir beab­sichtigen den aktuellen Bedingungen un­seres Landes entspre­chend zu handeln. Auf der Grundlage eines klaren und prä­zisen Programms und einer guten Ver­ständigung zwischen dem Proletariat und den ausgebeu­teten Bauern kann die Dik­tatur des Proletariats errichtet werden.

Die Bauernschaft ist zerstreut. Das ist ei­ner der Gründe für ihre politische Ohn­macht, trotz ihrer großen Zahl und Bedeu­tung in der Produktion. Die Bauern kön­nen nur zur Macht gelangen, wenn sie mit den Arbeitern gegen die Bourgeoisie ge­meinsame Sache machen.

 

15. Der Kampf für die Arbei­ter- und Bauernkommune

Das Bündnis der Bauernschaft mit den Arbeitern wird nur dann zustande kom­men, wenn die arbeitende Klasse ihre Stärke, ihre entschiedene Initiative und ihre Fähigkeit zeigt, dieses Programm zu verwirklichen. Dies ist der Grund, weshalb wir vorrangig Bedingungen für die Einheit in der Aktion schaffen müs­sen.

Die Arbeitereinheitsfront der Parteien und Gewerkschaften, die ohne Aus­nahme alle Kräfte des arbeitenden Volkes vereint, muss organisiert werden.

Ein nationales Komitee der Arbeiterein­heitsfront, regionale und lokale Ko­mitees sollten organisiert werden. Schaffung von Betriebskomitees gewählt von den Arbei­tern.

Der Impuls, der von diesen vereinigten Arbeiterkomitees ausgeht, ihre Au­torität unter den Massen, wird das arbeitende Volk auf dem Lande anregen, sich selbst in Bauernkomitees zu organisieren.

Im Kampf gegen Faschismus, Reaktion und Krieg akzeptiert das Proleta­riat die Hilfe kleinbürgerlicher Gruppen (Pazi­fi­sten, Liga für die Menschenrech­te, die gemeinsame Front usw.), aber solche Bündnisse können nur von zweit­rangiger Bedeutung sein. Als erstes besteht die Aufgabe darin, in den Fabri­ken und in der Umgebung der industriellen Zentren die Aktionseinheit der Arbeiterklasse selbst sicherzustellen. Das Bündnis der bedeu­tenden Arbeiterorganisationen (Kommuni­sti­sche Partei, Sozialistische Partei, CGT, CGTU, Kommunistische Liga) wird aber keinen revolutionären Wert haben, solan­ge es nicht auf die Schaffung von

1. Kampfkomitees, die die Massen reprä­sentieren (Vorformen von Sowjets);

2. Arbeitermiliz in ständiger Aktionsein­heit, wenn auch von den verschiede­nen Organisationen und Parteien organisiert, gerichtet ist.

Um den Kampf sowohl der Arbeiter als auch der Bauern zu stärken, soll­ten die Arbeiterkomitees eine enge Zusammen­arbeit mit den Bauernkomitees einrichten. Als Organe der Volksverteidigung gegen den Faschismus errichtet müssen diese verbündeten Arbeiter- und Bauernkomi­tees im Verlauf des Kampfes direkt von den Massen gewählte Organismen wer­den, zu Machtor­ganen der Arbeiter und Bauern. Auf dieser Grundlage wird die proletarische Macht im Gegensatz zur kapitalistischen Macht errichtet, und die Arbeiter- ­und Bauernkommune wird tri­umphieren.

 

16. Für eine einheitliche Ver­sammlung

Wir sind feste Partisanen eines Arbeiter- und Bauernstaates, der den Ausbeu­tern die Macht wegnehmen wird. Es ist unser erstes Ziel, die Mehrheit der Arbeiterklas­se und ihrer Verbündeten für dieses Pro­gramm zu gewinnen.

Solange die Mehrheit der Arbeiterklasse auf der Grundlage der bürgerlichen De­mokratie verbleibt, sind wir bereit, diese mit all unseren Mitteln gegen die heftigen Angriffe der bonapartistischen und fa­schi­stischen Bourgeoisie zu verteidigen.

Dennoch verlangen wir von unseren Klas­senbrüdern, die dem «demokratischen» Sozialismus anhängen, dass sie ihren Ideen treu bleiben, dass sie ihre Einge­bung nicht aus den Ideen und Methoden der Dritten Republik ziehen, sondern aus der Verfassung von 1793.

Nieder mit dem Senat, der durch be­schränktes Wahlrecht zustande kam und der die Macht des allgemeinen Wahl­rechts zu einer bloßen Illusion macht! Nieder mit der Präsidentenschaft der Re­publik, die als Versteck für die konzen­trierten Kräfte von Militarismus und Reak­tion dient! Eine einzi­ge Versammlung muss die legislative und die exekutive Gewalt verbinden. Die Mitglieder sollen für zwei Jahre durch allgemeines Stimm­recht ab 18 Jahren, ohne Diskriminierung von Geschlecht oder Nationalität, gewählt werden. Die Abgeordneten sollen auf der Basis örtlicher Versammlungen gewählt werden, jederzeit durch ihre Wähler abbe­rufbar sein und das Gehalt eines Fachar­beiters erhalten.

Dies ist die einzige Maßnahme, die die Massen voranbringen würde an­statt sie zurückzuwerfen. Eine freigiebigere Demo­kratie würde den Kampf für die Arbeiter­macht erleichtern.

Falls die Partei des «demokratischen» Sozialismus, von der wir durch un­ver­söhnliche Differenzen in Lehre und Me­thode getrennt sind, im Laufe des unaus­weichlichen Kampfes gegen den Feind das Vertrauen der Mehr­heit gewinnen sollte, sind wir und werden wir immer be­reit sind, eine SFIO-Regierung gegen die Bourgeoisie zu verteidigen.

Wir wollen unser Ziel nicht durch bewaff­nete Konflikte zwischen den verschiede­nen Arbeitergruppen erreichen, sondern durch wahre Arbeiterdemokratie, durch Pro­paganda und loyale Kritik, durch frei­willige Umgrup­pierung der großen Mehr­heit des Proletariats unter die Fahne des wahren Kommunismus.

Arbeiter, die dem demokratischen Sozia­lismus anhängen, müssen weiterhin ver­stehen, dass die Verteidigung der Demo­kratie nicht genügt; die Demokra­tie muss wiedergewonnen werden. Die Verschie­bung des Schwerpunkts der politischen Entscheidung aus dem Parlament ins Kabinett, aus dem Kabinett in die Oligar­chie des Finanzkapitals, der Generale und Polizei ist eine aner­kannte Tatsache. We­der das gegenwärtige Parlament noch die neuen Wahlen können das ändern. Wir können die erbärmlichen Überreste der Demokratie nur dann verteidigen und ins­besondere können wir die demokratische Arena für die Aktivität der Massen nur er­weitern, wenn wir die bewaffneten faschi­stischen Kräfte vernichten, die am 6. Fe­bruar 1934 damit anfingen, die Achse des Staates zu verschieben und es weiterhin tun.

 

17. Die Bourgeoisie wird niemals freiwillig aufgeben

Die Bourgeoisie wird niemals aus eige­nem Willen Maßnahmen zustimmen, die die Gesellschaft aus dem Chaos ziehen können. Sie will all ihre Privilegien beibe­halten, und zu ihrem Schutz fängt sie an, faschistische Banden einzuset­zen.

Unsere Losung lautet nicht: Entwaffnung der faschistischen Banden des Finanz­ka­pitals durch die Polizei eben desselben Finanzkapitals. Wir weigern uns, die kri­minelle Illusion zu verbreiten, dass eine kapitalistische Regierung tatsächlich zur Entwaffnung kapitalistischer Banden schrei­ten kann. Die Aus­gebeuteten müs­sen sich selbst gegen die Kapitalisten ver­teidigen.

Bewaffnung des Proletariats, Bewaffnung der armen Bauern!

Antifaschistische Volksmiliz!

Die Ausbeuter, die nichts als eine winzige Minderheit sind, werden vor der Entfesse­lung eines Bürgerkriegs zurückprallen; die faschistischen und reaktio­nären Banden werden ihre Kühnheit nur dann verlieren, wenn die Arbeiter bewaffnet sind und die Massen führen.

Nur wenn die Arbeiter auf diese Art und Weise verfahren, wird der größere Teil der Soldaten und Matrosen — Kinder des arbeitenden Volkes, denen un­sere Propa­ganda unaufhörlich ihre Herkunft und ihre Klassenpflichten ins Gedächtnis rufen muss — für die Sache der Arbeiter ge­wonnen werden können und sich gegen die reaktionären und faschistischen Offi­ziere, die sie gegen ihre eigene Klasse benutzen würden, auf die Seite der arbei­tenden Massen schlagen.

Die Aufgabe ist ungeheuer, aber es ist der einzige Weg zur Rettung! Die Kommuni­stische Liga zeigt den Weg.

Die Gesellschaft, die nur durch eure Ar­beit existieren kann, verrottet, weil die herrschende Bourgeoisie kein einziges ih­rer abscheulichen Privilegien auf­geben will. Um sie zu behalten, rüstet die Bour­geoisie faschistische Banden, die eure Existenz bedrohen.

Am 12. Februar zeigtet ihr eure Macht und euren Entschluss, euch nicht dieser Gewalt zu unterwerfen. Aber an jenem Tag betrogen Euch eure Führer; sie ga­ben keine konkrete Parole aus, keine ernsthafte Perspektive für euren Kampf. Um Eure Stärke zu gewinnen, um Euer Lebensrecht zu verteidigen, um nicht mehr für die Bereicherung einer Minder­heit schamloser Ausbeuter zu arbeiten — bereitet eure Revolution vor, schließt Euch den Aktionen der Kommunistischen Liga an!

 

 

Wohin geht Frankreich? 2. Teil (März 1935)

In dem Augenblick. als Flandin auf Dou­mergue folgte, erhoben wir vor der prole­tarischen Avantgarde die Frage: Wohin treibt Frankreich? (La Vérité Nr. 226, 9. November 1934). Die seitdem verflosse­nen viereinhalb Monate haben kei­ne we­sentliche Änderung gebracht und weder unsere Analyse noch unsere Prognose abgeschwächt. Das französische Volk steht am Scheidewege: ein Weg führt zur sozialistischen Revolution, der andere zur faschistischen Katastrophe. Die Wahl des Weges hängt vom Proletariat ab. An sei­ner Spitze befindet sich seine organisierte Avantgarde. Aufs neue stellen wir die Frage: wohin wird die proletarische Avantgarde Frankreich führen

 

Die Diagnose der Komintern ist ver­heerend falsch

Der sozialistische Parteivorstand trat im Januar mit einem Programm hervor für den Kampf um die Macht, für die Ver­nich­tung des bürgerlichen Staatsappa­rates, für die Errichtung der Arbeiter- und Bauernde­mokratie, für die Enteig­nung der Banken und der konzentrier­ten Industriezweige. Allein, bis jetzt hat die Partei keinen Finger gerührt. dieses Programm vor die Massen zu bringen. Die kommunistische Partei ihrerseits wei­gert sich rundweg, den Weg des Kampfes um die Macht zu betreten. Aus welchem Grund? «Die Situation ist nicht revolutio­när».

Miliz? Bewaffnung der Arbeiter? Arbeiter­kontrolle? Nationalisierungsplan?

Unmöglich. «Die Situation ist nicht revo­lutionär». Was soll man tun? Mit den Kle­rikalen große Petitionen vom Stapel las­sen, mit den Radikalsozialisten hohle Phrasen dreschen, und abwarten. Wie lange? Solange die Situation nicht von selbst revolutionär wird. Die gelehrten Ärzte der Kommunistischen Internatio­nale haben ein Thermometer, das stecken sie der alten Dame Geschichte unter die Achsel, um auf diese Weise unfehlbar die revolutionäre Temperatur zu be­stimmen. Doch ihr Thermometer zeigen sie nie­mandem.

Wir behaupten: die Diagnose der kom­munistischen Internationale ist grund­falsch. Die Situation ist so revolutionär, wie sie bei einer nichtrevolutionären Politik der Arbeiterparteien nur sein kann. Ge­nauer: die Situation ist vorrevolutio­när. Damit diese Situation reif werde, ist sofortige, kühne und unermüdliche Mobi­lisierung der Massen un­ter den Losungen der Machteroberung im Namen des So­zialismus notwendig. Unter dieser Bedin­gung allein wird die vorrevolutionäre Si­tuation zu einer revolutionären wer­den. Im entgegengesetzten Fall, d. h. wenn man weiter auf der Stelle tritt, wird sich die vorrevolutionäre Situation unab­wend­bar in eine konterrevolutionäre ver­wan­deln und den Sieg des Faschis­mus her­beiführen.

Die rituelle Phrase von der «nicht­revolu­tionären Situation» dient heute einzig und allein dazu, die Arbeiter zu verdummen, ihre Willenskraft zu brechen und dem Klassenfeind die Hände zu lösen. Unter der Hülle solcher Phrasen sam­melt sich bei den Spitzen des Proletariats Konser­vatismus, Schlappheit Stumpf­sinn, Feig­heit, und die Katastrophe bereitet sich vor wie in Deutschland.

 

Aufgabe und Zweck dieser Schrift

In den folgenden Zeilen unterwerfen wir Diagnose und Prognose der Komin­tern einer ausführlichen marxistischen Kritik. Bei entsprechender Gelegenheit werden wir auch auf die Ansichten verschiedener sozialistischer Führer eingehen, insofern es unser wesentliches Ziel erfordert, näm­lich zu zeigen, wie grundverkehrt die Politik des Zentralkomi­tees der franzö­si­schen Kompartei ist. Dem Ge­schrei und den Beschimpfungen der Sta­linisten werden wir Tatsachen und Ar­gu­mente entgegenhalten.

Wir wollen uns selbstverständlich nicht auf bloße Kritik beschränken. Den fal­schen Ansichten und Losungen werden wir die schöpferischen Ideen und Me­tho­den Marx‘ und Lenins gegenüberstellen.

Wir bitten den Leser um angestrengte Aufmerksamkeit. Es geht im unmittel­bar­sten Sinne um den Kopf des französi­schen Proletariats. Nicht ein bewusster Arbeiter hat das Recht, diesen Fragen, von deren Lösung das Schicksal seiner Klasse abhängt, teilnahmslos gegenüber­zustehen.

 

I. Wie bildet sich eine revo­lutio­näre Situation

Die wirtschaftlichen Vorbe­dingungen der sozialisti­schen Revolution

Erste und wichtigste Voraussetzung einer revolutionären Situation ist eine unerträg­liche Verschärfung der Widersprüche zwi­schen den Produktivkräften und den Ei­gentumsformen. Die Nation hört auf, vorwärtszugehen. Der Stillstand, und darüber hinaus der Rückgang in der Ent­wicklung der Wirtschaftskräfte bedeuten, dass die kapitalistische Produktions­weise endgültig erschöpft ist und der sozialisti­schen weichen muss.

Die gegenwärtige Krise, die alle Länder erfasst und die Wirtschaft jahrzehn­teweit zurückwirft, hat die bürgerliche Ordnung ein für allemal ad absurdum ge­führt. Zer­schlugen in der Frühzeit des Kapitalismus ausgehungerte und unwis­sende Arbeiter die Maschinen, so sind es heute die Kapi­talisten selber, die Ma­schinen und Fabri­ken zerstören. Bei weiterem Bestand des Privateigentums an den Produktionsmit­teln droht der Menschheit Barbarei und Degeneration.

Grundlage der Gesellschaft ist ihre Wirt­schaft Diese Grundlage ist reif für den Sozialismus in doppeltem Sinn: die mo­derne Technik hat einen sol­chen Grad er­reicht, dass sie dem Volk und der ganzen Menschheit hohen Wohl­stand gewährlei­sten könnte, aber das überlebte kapitali­stische Eigentum verdammt das Volk zu immer größerer Armut und Not.

Die ökonomische Grundvoraussetzung ist schon lange vorhanden. Aber der Kapita­lismus wird nicht von selbst abtreten. Nur die Arbeiterklasse vermag die Pro­duktivkräfte den Händen der Ausbeuter und Würger zu entreißen. Die Geschichte stellt uns diese Aufgabe mit aller Schärfe. Ist das Proletariat aus dem einen oder anderen Grunde außerstande, die Bour­geoisie zu stürzen und die Macht zu er­greifen, wird es z.B. von seinen eigenen Parteien und Gewerk­schaften gelähmt, dann wird der Verfall von Wirtschaft und Zivilisation fort­schreiten, die Missstände werden wachsen, Verzweiflung und Er­mattung werden sich der Massen be­mächtigen, der abgelebte. verfaulende, morsche Kapitalismus wird das Volk stets mehr würgen, es in den Abgrund neuer Kriege reißen. Außer der sozialistischen Revolution ist keine Rettung.

 

Ist dies die letzte Krise des Kapitalis­mus oder nicht?

Der Vorstand der Komintern hatte zu­nächst versucht, die 1929 einsetzende Krise für die letzte des Kapitalismus zu erklären. Zwei Jahre später erklärte Sta­lin, die gegenwärtige Krise sei «wahr­schein­lich» noch nicht die letzte. Auch im sozialistischen Lager begegnen wir dem gleichen Prophezeiungs­versuch: ist es die letzte Krise oder nicht?

«Es wäre unklug zu behaupten», schreibt Blum im Populaire vom 23. Fe­bruar, «dass die gegenwärtige Krise eine letzte Verkrampfung des Kapitalismus sei, ein letztes Zucken vor Agonie und Verwe­sung» Dieselbe Ansicht teilt Grumbach, der am 26. Februar in Mühlhausen sagte: «Einige behaupten, diese Krise sei vor­übergehend, andere sehen darin die End­krise des kapitalistischen Systems. Wir wagen es noch nicht, uns definitiv zu äu­ßern».

In dieser Art der Fragestellung stecken zwei Kardinalfehler: erstens wird da­bei Konjunkturkrise und historische Krise des gesamten kapitalistischen Sy­stems durcheinan­dergeworfen, zweitens wird angenommen, unabhängig von der bewussten Aktivität der Klassen könne eine Krise von selber die «letzte» sein.

Unter der Herrschaft des Industriekapitals zur Zeit der freien Konkurrenz überwogen die Konjunkturaufstiege bei weitem die Krisen, die ersten waren die «Regel». die zweiten die «Ausnahme» der Kapitalis­mus in seiner Gesamtheit war im Aufstieg begriffen. Seit dem Krieg, mit der Herr­schaft des Monopol- und Fi­nanzkapitals. überwiegen die Konjunkturkrisen bei wei­tem die Belebungen: man kann sagen, die Krisen sind zur Regel geworden und Aufschwünge die Ausnahme; die Wirt­schaftsentwicklung als Ganzes geht bergab und nicht bergauf.

Nichtsdestoweniger sind Konjunktur­schwankungen unvermeidlich, und unter dem kranken Kapitalismus werden sie fortbestehen, solange der Kapitalismus besteht. Und der Kapitalismus wird fort­bestehen, solange die proletarische Re­vo­lution ihm nicht den Garaus macht. Das ist die einzig richtige Antwort.

 

Fatalismus und Marxismus

Der proletarische Revolutionär muss vor allem begreifen. dass der Marxismus‚ die einzige wissenschaftliche Theorie von der proletarischen Revo­lution, nichts gemein hat mit fatalistischem Warten auf die «letz­te» Krise. Der Marxismus ist seinem Wesen nach eine Anleitung zu revolu­tionärem Handeln Der Marxismus igno­riert nicht Willen und Mut, sondern hilft ihnen auf den richtigen Weg.

Es gibt keine Krise, die von selber für den Kapitalismus «töd­lich» werden könn­te. Die Konjunkturschwankungen schaffen Iediglich Situatio­nen, in denen es dem Proletariat leichter oder schwerer fällt, den Kapitalismus zu stürzen. Der Über­gang von der bürgerlichen zur sozia­listi­schen Gesellschaft hat zur Vorausset­zung das Handeln lebender Menschen, die ihre eigene Geschichte gestalten. Da­bei ge­horchen sie nicht dem Zufall oder ihrer Lust, sondern dem Einfluss be­stimmter objektiver Ursachen. Ihre eige­nen Hand­lungen aber — ihre Initiative, Kühnheit, Aufopferung, oder umgekehrt Dummheit und Feigheit — bilden not­wendige Glieder in der Kette der histori­schen Entwicklung.

Niemand hat die Krisen des Kapitalismus numeriert und im voraus ange­merkt, wel­che die «letzte» sein soll. Aber unsere ganze Epoche und vor allein die gegen­wärtige Krise gebieten dem Proletariat: nimm die Macht! Zeigt sich jedoch die Arbeiterpartei trotz günstigen Umständen unfähig, das Pro­letariat zur Machterobe­rung zu führen, dann wird die Gesell­schaft notwendiger­weise auf kapitalisti­scher Grundlage fortleben — bis zu einer neuen Krise oder einem neuen Krieg, vielleicht bis zum vollständigen Zusam­menbruch der europäi­schen Zivilisation.

 

«Letzte» Krise und «letzter» Krieg

Der imperialistische Krieg von 1914-18 stellte auch eine «Krise» im Leben des Kapitalismus dar und wohl die fürchter­lichste aller möglichen Krisen. In keinem Buche steht geschrieben, ob dieser Krieg der letzte blutige Wahnsinn des Kapita­lismus war oder nicht. Die Erfahrung Russlands hat gezeigt, dass der Krieg dem Kapitalismus ein Ende setzen konn­te. In Deutschland und Österreich war das Schicksal der bürgerlichen Ge­sell­schaft 1918 vollkommen abhängig von der Sozialdemokratie, aber diese Partei erwies sich als ein Knecht des Kapitals. In Italien und Frankreich hätte das Proleta­riat am Ende des Krie­ges die Macht er­obern können, aber an seiner Spitze fehlte eine revolutionäre Partei. Kurz, hätte die Zweite Internationale nicht im Augenblick des Krieges die Sache des Sozialismus zugunsten des bürgerlichen Patriotismus verraten, dann würde die ganze Geschichte Europas und der Menschheit heute ganz anders aussehen. Die Vergangenheit ist allerdings nicht wiedergutzumachen. Doch kann und muss man die Lehren der Vergangenheit beherzigen.

Die Entwicklung des Faschismus ist an sich der unwiderlegbare Beweis für die Tatsache, dass die Arbeiterklasse in der Erfüllung der Aufgabe, die ihr der Nieder­gang des Kapitalismus seit langem ge­stellt hat, schrecklich weit zurück ist.

Die Worte: diese Krise ist noch nicht die «letzte», können allein diesen Sinn ha­ben: trotz den Lehren des Krieges und der Nachkriegswirren haben die Ar­beiterpar­teien es noch nicht verstanden, weder sich noch das Proletariat auf die Macht­ergreifung vorzubereiten: schlimmer, die Führer dieser Parteien sehen bis heute noch nicht einmal die Aufgabe selbst, sondern überlassen diese ihre eigene Aufgabe, die Aufgabe ihrer Partei und der Klasse, der «historischen Entwicklung». Fatalismus, das Ist theoretischer Verrat am Marxismus und Rechtfertigung des politischen Verrats am Proletariat, d. h. Vorbereitung erneuter Kapitulation vor ei­nem neuen «letzten» Kriege.

 

Die Komintern ist auf die Positionen des sozialdemo­kratischen Fatalismus über­gegangen

Der Fatalismus der Sozialdemokratie ist ein Erbe aus der Vorkriegszeit, als der Kapitalismus fast unaufhörlich wuchs, die Zahl der Arbeiter stieg, die Zahlen der Parteimitglieder, die Stimmen bei den Wahlen und die Mandate zunahmen. Die­ser automatische Aufstieg erzeugte all­mählich die reformistische Illusion, man brauche nur auf dem alten Wege (Pro­pa­ganda, Wahlen, Organisation) fort­zu­ge­hen, und der Sieg werde sich von selber einstellen.

Zwar hat der Krieg den Automatismus der Entwicklung zerstört. Aber der Krieg ist ja eine «Ausnahmeerscheinung». Mit Genfs Hilfe wird es keine neuen Kriege mehr geben, alles wird seinen normalen Lauf nehmen und der Automatis­mus der Ent­wicklung wird wiederhergestellt sein.

Im Lichte dieser Perspektive müssen die Worte: «Es ist dies die letzte Krise noch nicht» bedeuten: «In 5, 10, 20 Jahren werden wir mehr Stimmen und Sit­ze ha­ben, dann werden wir hoffentlich die Macht übernehmen». (Siehe Artikel und Reden von Paul Faure). Dieser fatalisti­sche Optimismus, der vor einem Vier­tel­jahrhundert überzeugend schien, klingt heute wie eine Stimme aus dem Jen­seits. Grundfalsch ist die Vorstellung, das Pro­letariat werde, der künftigen Kri­se entge­gengehend, unfehlbar mächtiger werden als es heute ist. Bei der unvermeidlich fortschreitenden Verfaulung des Kapita­lismus wird das Proletariat nicht wachsen und stärker werden, sondern sich zerset­zen, und das Heer der Arbeits­losen und Lumpenproletarier wird stets größer wer­den, das Kleinbürgertum wird unterdes­sen der Deklassiererung und Verzweiflung anheimfallen. Der Zeitverlust eröffnet dem Faschismus eine Perspektive. und nicht der proletarischen Revolu­tion.

Es ist bemerkenswert. dass auch die durch und durch bürokratisierte Komin­tern die Theorie der revolutionären Aktion durch die Religion des Fatalismus er­setzt hat. Kampf ist unmöglich, denn es ist ja «keine revolutionäre Situation» da. Aber die revolutionäre Situation fällt nicht vom Himmel, sie entsteht im Klas­senkampf. Die Partei des Proletariats ist der wich­tig­ste politische Faktor bei der Entste­hung einer revolutionären Situation. Wenn diese Partei den revolutionären Aufgaben den Rücken kehrt, wenn sie die Arbeiter einlullt und betrügt, um mit Peti­tionen zu spielen und sich mit den Radi­kalen zu verbrüdern, dann wird notwendig nicht eine revolutionäre, sondern eine konterre­volutionäre Situation entstehen.

 

Wie beurteilt die Bourgeoisie die Lage?

Der Verfall des Kapitalismus bei einer außeror­dentlich hohen Entwicklungsstufe der Produktivkräfte ist die ökonomische Voraussetzung für die sozialistische Re­volution. Auf dieser Grundlage spielt sich der Klassenkampf ab. im heißen Klas­senkampf entsteht und reift die revolutio­näre Situation.

Wie beurteilt die Großbourgeoisie, Herr­scherin über die Gesellschaft unserer Tage, die gegenwärtige Situation, und wie handelt sie? Der 6. Februar 1934 kam unerwartet nur für die Arbeiterorganisa­tionen und für das Kleinbürgertum. Die Großkapitalszentren waren schon längst an der Verschwö­rung beteiligt, deren Ziel war, den Parlamentarismus mit Gewalt durch den Bonapartismus («persön­li­ches» Regime) zu ersetzen. Das heißt. Banken. Trusts, Generalstab und Presse hielten die Gefahr der Revo­lution für so nah und unmit­telbar, dass sie sich längst durch einen «kleinen» Staatsstreich dar­auf vorberei­teten.

Aus dieser Tatsache ergeben sich zwei wichtige Schlussfolgerungen: 1. die Kapi­talisten hielten die Situation schon vor 1934 für revolutionär, 2. sie warteten nicht untätig die Entwicklung der Ereig­nisse ab, um in letzter Minute zur «le­ga­len» Verteidigung zu greifen, son­dern er­grif­fen selber, die Initiative und schick­ten ihre Banden auf die Straße. Die Groß­bourgeoisie erteilte so den Arbeitern eine unschätzbare Lektion in Klassenstra­tegie.

Die Humanité sagt in einem fort, die «Ein­heitsfront» habe Doumergue da­von­gejagt. Das ist gelinde gesagt hohle Prahlerei. Im Gegenteil, wenn das Groß- kapital es möglich und vernünftig fand, Doumergue durch Flandin zu ersetzen, so nur darum, weil die Einheitsfront, wie sich die Bour­geoisie aus eigener Er­fahrung überzeug­te, noch keine unmittelbar revo­lutionäre Gefahr darstellt. «Da die schrecklichen Führer der kommunisti­schen Internationa­le der Lage im Lan­de zum Trotz sich nicht auf den Kampf vor­bereiten, sondern vor Furcht zittern, so bedeutet das, dass man mit dem Über­gang zum Faschismus war­ten kann. Warum unnütz die Ereignisse forcieren und vorzeitig die Radikalsoziali­sten kom­promittieren. die man noch nötig haben kann», das sagen sich die wahren Meis­ter der Lage. Sie erhalten die Natio­nale Union und deren bonapartistische Ver­ordnungen aufrecht, setzen das Parla­ment unter Terror, aber Doumergue las­sen sie ausruhen. Die Herren des Kapitals haben so an ihrem anfänglichen Urteil eine gewisse Korrektur vorgenommen, da sie erkannten, dass die Situation nicht eine unmittelbar revolutionäre, sondern eine vorrevolutionäre ist.

Zweite hervorragende Lektion in Klas­sen­strategie! Sie zeigt. dass selbst das Großkapital, das über alle Kommandohe­bel verfügt, nicht auf einen Schlag, a priori und unfehlbar die politische Lage in ihrer ganzen Realität einzuschätzen ver­mag: es nimmt den Kampf auf, und im Prozess des Kampfes auf Grund der Kampferfahrungen korrigiert und präzi­siert es sein Urteil. Das ist überhaupt das einzig mögliche Verfahren, sich in der Po­litik genau und gleichzeitig aktiv zu ori­en­tieren.

Aber die Führer der Komintern? In Mos­kau, abseits von der französischen Arbei­terbewegung, geben einige mittelmäßige, schlecht unterrichtete und meist des Fran­zösischen unkundige Bürokraten mit Hilfe ihres Thermometers die un­fehlbare Diagnose: «Die Situation ist nicht revolu­tionär». Und das Zentralkomi­tee der fran­zösischen Kompartei hat Augen und Oh­ren zu schließen und diese hohle Phrase nachzuplappern. Der Weg der kommu­ni­stischen Internationale ist der kürzeste Weg in den Abgrund!

 

Sinn der radikalsozia­listi­schen Kapitu­lation

Die radikal - sozialistische Partei ist das politische Werkzeug der Groß­bourgeoi­sie, das den Traditionen und Vorurteilen des Kleinbürgertums am besten angepasst ist. Trotzdem haben die verantwortlichsten Führer des Radikalso­zialismus unter der Peitsche des Finanz­kapitals sich demütig in den Staatsstreich vom 6. Februar. der unmittelbar gegen sie gerichtet war, gefügt. Sie haben somit anerkannt, dass der Gang des Klassen­kampfes die Grundinteressen der «Na­ti­on», d.h. der Bourgeoisie. bedroht, und sahen sich gezwungen, die Wahlin­teres­sen ihrer Partei zu opfern. Die Ka­pi­tulati­on der mächtigsten parlamentarischen Partei vor den faschistischen Re­volvern und Rasiermessern ist der äußere Aus­druck für den vollständigen Zu­sam­menbruch des politischen Gleich­ge­wichts im Lande Wer aber diese Worte ausspricht, sagt eben damit: die Situation ist revolutionär, oder genauer, vorrevolu­tionär.*

 

Das Kleinbürgertum und die vorrevolutionäre Lage

Die Prozesse, die sich in den kleinbürger­lichen Massen abspielen, sind von außer­ordentlicher Bedeutung für die Beurteilung der politischen Situation. Die politische Krise des Landes ist vor allem eine Krise des Vertrauens der klein­bürgerlichen Massen in ihre traditionellen Parteien und Führer. Unzufriedenheit, Nervosität, Unstetigkeit und leichte Erregbarkeit des Kleinbürgertums sind äußerst wich­tige Züge einer vorrevolutionären Situati­on. Wie ein Fieberkran­ker sich von der rechten Seite auf die linke wälzt, kann sich das fiebernde Klein­bürgertum nach rechte oder nach links wenden. Je nach­dem, welcher Seite sich in der kommen­den Periode die Millionen französischer Bauern, Handwerker, Kleinhändler und kleinen Beamten zuwenden werden, kann die augenblickliche vorrevolutionäre Si­tuation ebenso wohl in eine revolutionäre wie in eine konter­revolutionäre umschla­gen.

Eine ökonomische Konjunkturbesserung könnte — nicht für lange Zeit — die Diffe­renzierung des Kleinbürgertums nach rechts oder links wohl verlangsamen, doch nicht aufhalten. Umgekehrt, wird die Krise sich verschärfen, so wird der Zu­sammenbruch des Radikalsozialismus und aller ihm nahestehenden parlamen­tarischen Gruppierungen doppelt ge­schwind vor sich gehen.

 

Wie kann ein faschistischer Staatsstreich in Frankreich sich abspielen?

Man soll jedoch nicht meinen, dass der Faschismus notwendigerweise eine mächtige parlamentarische Partei sein muss, bevor er die Macht ergreift. Das war in Deutschland der Fall, aber in Itali­en war es anders. Damit der Faschismus siege, ist keineswegs erforderlich, dass das Kleinbürgertum zuvor mit den alten «demokratischen» Parteien bricht: es ge­nügt, dass es das Vertrauen, das es zu ihnen hatte, verliert und unruhig nach neuen Wegen Ausschau hält.

Bei den bevorstehenden Gemeindewah­len kann das Kleinbürgertum noch eine recht ansehnliche Anzahl Stimmen für die Radikalsozialisten oder benachbarte Grup­pen abgehen. infolge Fehlens einer neuen politischen Partei, der es gelänge. das Vertrauen der Bauern und des kleinen Mannes der Stadt zu erobern. Und gleich­zeitig kann mit Hilfe der Großbourgeoisie einige Monate nach den Wah­len ein mili­tärischer Gewaltstreich des Faschismus stattfinden und durch seinen Druck die Sympathien der verzweifeltsten Schichten des Kleinbürgertums ge­winnen.

Darum wäre es eine grobe Illusion, sich damit zu vertrösten, dass die Fahne des Faschismus in der Provinz und auf dem Lande noch nicht populär gewor­den ist. Die antiparlamentarischen Tendenzen beim Kleinbürgertum können, wenn sie aus dem Bett der offiziellen parlamentari­schen Politik der Parteien hinaustreten, direkt und unmittelbar einen militärischen Gewaltstreich unterstützen, wenn dieser für das Heil des Großkapitals notwendig werden wird. Eine derartige Handlungs­weise entspricht weit mehr sowohl den französischen Traditionen wie dem fran­zösischen Temperament.*

Die Wahlziffern haben selbstverständlich eine symptomatische Bedeutung. Aber sich allein auf dieses Anzeichen stützen, hieße sich des parla­mentarischen Kreti­nismus schuldig machen. Es handelt sich um viel tiefere Prozesse, die eines schö­nen Tages die Herren Parlamentarier un­versehens überra­schen können. Hier wie auf anderen Gebieten entscheidet nicht die Arithmetik, sondern die Dynamik des Kampfes. Die Großbourgeoisie nimmt nicht passiv die Entwicklung der Mittel­klassen zur Kenntnis, sondern schmiedet eiserne Zan­gen, mit deren Hilfe sie im geeigneten Moment die von ihr gequälten und verzweifelten Massen packen kann.

 

Dialektik und Metaphysik

Das marxistische Denken ist dialektisch: es betrachtet alle Er­scheinungen in ihrer Entwicklung, bei ihrem Übergang von ei­nem Zustand in den anderen. Das Den­ken des konservativen Kleinbürgers ist metaphysisch: seine Vorstellungen sind unbeweglich und unwandelbar, zwischen den Erscheinungen befinden sich bei ihm undurchdringbare Scheidewände. Die ab­solute Gegenüberstellung einer revolutio­nären und einer nichtrevolutionären Si­tuation stellt ein klassisches Beispiel me­taphysischen Denkens dar, nach der Formel: ja, ja, — nein, nein, — alles An­dere ist vom Übel.

Im Prozess der Geschichte begegnet man stabilen, vollständig unrevolutionären Si­tuationen. Man begegnet auch ausge­sprochen revolutionären Situationen. Es gibt auch konterrevolutionäre Situationen (das soll man nicht vergessen!). Was aber in unserer Epoche, der Epoche des faulenden Kapitalismus ganz besonders vorherrscht, das sind mittlere und Über­gangssituationen: zwischen nichtrevolu­tionären und vorrevolutionären, zwischen vorrevolutionären und revolutionären oder … konterrevolutionären Situationen. Ge­rade diese Über­gangszustände sind von ausschlaggebender Bedeutung vom Standpunkt der po­litischen Strategie.

Was würden wir von einem Maler sagen, der nur die beiden extremen Far­ben des Spektrums zu unterscheiden vermöchte? Dass er farbenblind oder halbblind ist und auf den Pinsel verzichten soll. Was von einem Politiker sagen, der nur imstande wäre, zwei Zustände zu unterscheiden: «re­volutionär» und «nicht-revolutionär»? Dass er kein Marxist ist, sondern ein Sta­linist, der wohl einen guten Beamten ab­geben mag, aber auf keinen Fall einen proletarischen Führer.

Eine revolutionäre Situation bildet sich durch die Wechselwirkung objektiver und subjektiver Faktoren. Zeigt sich die Partei des Proletariats unfähig, recht­zeitig die Tendenzen der vorrevolutionären Situati­on zu analysieren und aktiv in deren Entwicklung einzugreifen, dann wird an­stelle einer revolutionären un­vermeidlich eine konterrevolutionäre Situation entste­hen. Eben diese Gefahr droht gegen­wärtig dem französischen Proletariat. Die kurzsichtige, passive, opportunisti­sche Politik der Einheitsfront und vor al­lem der Stalinisten, die deren rechter Flü­gel geworden sind, das ist das Haupthindernis auf dem Wege zur proletarischen Revolution in Frank­reich.

 

II.Tagesforderungen und Machtkampf

Stagnation der Einheitsfront

Das Zentralkomitee der Kompartei lehnt den Kampf für die Nationalisierung der Produktionsmittel als eine mit dem bür­gerlichen Staat unverträgliche Forderung ab. Aber den Kampf um die Macht, den Kampf für die Schaffung eines Arbeiter­staates lehnt das Zentralkomitee gleich­falls ab. Diesen Aufgaben hält es ein Pro­gramm der «Tagesforderungen» entge­gen.

Die Einheitsfront ist zur Zeit jegli­chen Programmes bar. Gleichzeitig sieht die eigene Erfah­rung der Kompartei auf dem Gebiet des Kampfes für die «Tagesfor­de­rungen» äußerst kläglich aus. Alle Reden, Artikel und Resolutionen über die Notwen­digkeit, dem Kapital mit Streiks zu ant­worten, haben bisher zu nichts, oder zu beinahe nichts geführt. Trotz einer immer gespannteren Lage im Lande herrscht in der Arbeiterklasse ge­fährliche Stagnation.

Schuld an dieser Stagnation gibt das Zen­tralkomitee der Kompartei allen außer sich selbst. Wir gedenken niemanden rein zu waschen. Unser Standpunkt ist be­kannt. Doch wir glauben, das Haupthin­dernis auf dem Wege der Entwicklung des revolutionären Kampfes ist heute die­ses einseitige, der gesamten Lage wider­sprechende, beinahe wahnsinnige Pro­gramm der «Tages­forderungen». Wir wollen hier in aller notwendigen Breite die Beweggründe und Argumente des Zen­tralkomitees der Kompartei beleuchten. Nicht dass diese Ar­gumente ernst und tief wären, im Gegenteil, sie sind miserabel. Aber es handelt sich um eine Frage, von der das Schicksal des französischen Proletariats abhängt

 

Resolution des ZK der Kom­par­tei zu den «Tagesforde­run­gen»

Das berufenste Dokument zur Frage der «Ta­gesforderungen» ist die programmati­sche Resolution des Zentralkomitees der Kompartei (Siehe L‘Humanité vom 24. Februar 1935). Verweilen wir bei diesem Dokument.

Die Aufzählung der Tagesforderungen ist sehr allgemein gehalten: Verteidi­gung der Löhne, Verbesserung der Sozialversiche­rungen, Kollektivverträge. «Gegen das teure Leben», usw. Kein Wort davon, wie unter den Bedingungen der gegenwärti­gen sozialen Krise der Kampf für diese Forderungen aussehen kann und soll. In­dessen begreift jeder Arbeiter, dass bei zwei Millionen Vollerwerbslosen und Kurzarbeitern der gewöhnliche gewerk­schaftliche Kampf für Kollektivverträge eine Utopie ist. Um unter den gegenwärti­gen Bedingungen den Kapitalis­ten ernste Zugeständnisse abzutrotzen, heißt es ih­ren Willen brechen; das ist nur durch re­volutionäre Offensive zu erreichen. Eine revolutionäre Offensive aber, die Klasse gegen Klasse stellt, kann nicht einzig und allein unter ökonomischen Teillosungen entfaltet werden. Man gerät in eine Teufelsmühle. Da liegt die Hauptursache für die Stagnation der Einheitsfront.

Die Bedeutung des allgemeinen marxisti­schen Satzes: soziale Reformen sind weiter nichts als Nebenpro­dukte des revolutionären Kampfes, wird in der Epoche des kapitalistischen Niedergangs am unmittelbarsten und brennendsten. Die Kapitalisten können den Arbeitern in etwas nachgeben nur auf die Gefahr hin, alles zu verlieren.

Aber selbst die größten «Zugeständnis­se», deren der heutige, selber in die
Enge getriebene Kapitalismus fähig ist, bleiben absolut bedeutungslos, gemessen
an dem Elend der Massen und an der Tiefe der sozialen Krise. Darum muss
die dringendste aller Tagesforderungen lauten: Enteignung der Kapitalisten und Nationalisierung (Soziali­sie­rung) der Produktionsmittel. Diese Forde­rung lässt sich unter der Herrschaft der Bour­geoisie nicht verwirklichen? Allerdings! Eben darum gilt es die Macht zu erobern.

 

Warum befolgen die Massen die Aufrufe der Kompartei nicht?

Die Resolution des Zentralkomitees gibt beiläufig zu, dass «es der Partei noch nicht gelungen ist, den Widerstand gegen die Offensive des Kapitals zu organisieren und zu entwickeln». Aber die Resolution übergeht gänzlich die Fra­ge, warum denn eigentlich trotz den Anstrengungen der KP und der CGTU die Erfolge auf dem Gebiet des ökonomischen Abwehrkamp­fes so absolut bedeu­tungslos sind. Am Generalstreik vom 12. Februar, bei dem es absolut nicht um eine «Tages­for­de­rung» ging, nahmen Millio­nen Arbeiter und Angestellte teil. Doch an der Abwehr der Kapitalsoffensive betei­ligte sich bisher nur ein winzi­ger Bruchteil davon. Veran­lasst denn diese verblüffend deutliche Tatsache die «Führer» der Kompartei zu gar keiner Schlussfolge­rung? Warum wa­gen Millionen Arbeiter an einem Gene­ral­streik, an stürmischen Straßenkundge­bungen, an Auseinander­setzungen mit den faschistischen Banden teilzunehmen, und lehnen es ab. sich an vereinzelten ökonomischen Streiks zu be­teiligen?

«Es gilt», sagt die Resolution, «die Ge­füh­le zu verstehen, welche die Arbei­ter bewegen, die zur Aktion übergehen möch­ten». Es gilt zu verstehen … Zum Un­glück aber verstehen die Schreiber der Resolution selber nichts. Wer Arbei­ter­versammlungen besucht, weiß, dass all­gemeine Reden über «Tagesforderun­gen» die Zuhörer meistens in einem Zu­stand kalter Indifferenz lassen, hingegen lösen klare und präzise revolutionäre Lo­sungen eine Welle von Sympathie aus. Dieser Unterschied im Reagieren der Massen charakterisiert aufs klarste die po­litische Lage im Lande.

«In der gegenwärtigen Periode», bemerkt unerwarteterweise die Resolution, «er­for­dert der ökonomische Kampf sei­tens der Arbeiter schwere Opfer». Man müsste noch hinzufügen: und nur aus­nahmswei­se verspricht er positive Resul­tate. Dabei hat doch der Kampf für die Tagesforde­rungen zur Auf­gabe, die Lage der Arbeiter zu bessern. ‘Wenn die Sta­linisten diesen Kampf in den Vordergrund schieben und dafür auf die revolutionären Losungen verzichten, dann meinen sie ohne Zweifel, dass gerade der ökonomi­sche Teilkampf am geeignetsten sei, die breiten Massen in Bewegung zu bringen. Das genaue Gegenteil zeigt sich: auf Ap­pelle zu öko­nomischen Streiks reagieren die Massen fast überhaupt nicht. Wie kann man nur in der Politik nicht den Tat­sachen Rech­nung tragen?

Die Massen begreifen oder fühlen, dass unter den Bedingungen der Krise und der Arbeitslosigkeit ökonomische Teilkonflikte unerhörte Opfer erfordern, die in keinem Falle durch die erreichten Resultate ge­rechtfertigt werden. Die Massen erwarten und fordern andere, wirksamere Metho­den. Ihr Herren Strategen, lernt bei den Massen: sie leitet ein sicherer revolutionä­rer Instinkt.

 

Wirtschaftskonjunktur und Streik­kämpfe

Gestützt auf schlecht verdaute Leninzita­te, wiederholen die Stalinisten in einem fort: «Streikkämpfe sind auch in Krisen­zeiten möglich». Sie verstehen nicht, dass es Krise und Krise gibt. In der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus war der Blick der Fabrikanten wie der Arbeiter, selbst während einer scharfen Krise, vorwärts gerichtet, auf die neu bevorstehende Be­lebung. Die gegenwärtige Krise aber ist die Regel und nicht die Ausnahme. Auf rein wirtschaftlichem Gebiet ist das Prole­tariat durch furchtbaren Druck der Wirt­schaftskatastrophe zu ungeordnetem Rückzug getrieben. Andererseits stößt der Niedergang des Kapitalismus mit aller Wucht das Proletariat auf den Weg des revolutionären politischen Massenkamp­fes. Doch die Führung der Kompartei ver­sucht, diesen Weg aus allen Kräften zu versperren. So wird das Programm der «Tagesforderungen» in den Händen der Stalinisten ein Werkzeug zur Desorientie­rung und Desorganisierung des Proleta­ri­ats. Indessen würde eine politische Of­fensive (Kampf um die Macht), verbunden mit aktiver bewaffneter Verteidigung (Mi­liz), mit einem Schlage das Kräftever­hältnis der Klassen umkehren, und dabei nebenher auch den rückständigsten Ar­beiterschichten Gelegenheit zu siegrei­chem wirtschaftlichen Kampf geben.

 

Eventuelle Konjunktur­bele­bung

Der sterbende Kapitalismus hat, wie wir wissen, auch seine Zyklen, aber abstei­gende kranke. Der Krise des kapitalisti­schen Systems kann nur die proletari­sche Revolution ein Ende bereiten. Die Konjunktur­krise wird unvermeidlich einer neuen kurzen Wiederbelebung Platz ma­chen, wenn nicht inzwischen Krieg oder Revolution eintritt.

Im Falle einer wirtschaftlichen Konjunk­turbelebung werden Streikkämpfe ohne Zweifel weit größeren Umfang annehmen können. Darum heißt es aufmerksam den Gang von Handel und Industrie, insbe­sondere die Veränderungen auf dem Ar­beitsmarkt verfolgen, ohne sich auf die Meteorologen der Jouhauxschule zu ver­lassen, und den Arbeitern in der Praxis zu: helfen, im nötigen Augenblick auf die Kapitalisten Druck auszuüben. Aber selbst im Falle eines ausgedehnten Streik­kampfes wäre es ein Verbrechen, sich auf ökonomische Teilforderungen zu beschränken. Die Konjunkturbelebung kann weder lang noch tief sein, denn wir haben ja mit den Zyklen eines unheilbar kranken Kapitalismus zu tun. Die neue Krise — nach der kurzen Wiederbele­bung kann noch furchtbarer sein als die ge­genwärtige. Alle Grundprobleme wer­den mit verdoppelter Kraft und Schärfe wieder auftauchen. Wenn man Zeit ver­liert, kann das Wachstum des Faschis­mus unauf­haltsam werden.

Aber heute ist die wirtschaftliche Wieder­belebung nur eine Hypothese. Rea­lität sind: Verschärfung der Krise, zweijähriger Militärdienst, Deutschlands Auf­rüstung. Kriegsgefahr.

Von dieser Realität heißt es ausgehen.

 

Reformistischer Plunder statt revolutionärem Programm

Die Endidee der programmatischen Reso­lution des Zentralkomitees krönt würdig das ganze Gebäude. Zitieren wir sie wört­lich:

«Während sie täglich kämpfen für die Linderung des Elends der ar­beitenden Massen, zu dem diese durch das kapitalistische Re­gime verdammt sind, unterstreichen die Kommunisten. dass die end­gültige Befreiung nur erreicht wer­den kann durch die Abschaffung des kapitalistischen Regimes und die Errichtung der Diktatur des Proletariats».

Diese Formel klang nicht schlecht in der Frühzeit der Sozialdemokratie, vor mehr als einem halben Jahrhundert. Die Sozi­aldemokratie führte damals nicht ohne Er­folg den Kampf der Arbeiter für einzelne Forderungen und Reformen, für das, was man «Minimalprogramm» nannte, und sie «unterstrich» dabei, dass die endgültige Befreiung des Proletariats nur durch die Revolution zu verwirklichen sei. Das «Endziel» des Sozialismus stellte man sich in nebelhafter Ferne der Jahre vor. Diese Vorstellung, die sich schon am Vorabend des Krie­ges vollständig über­lebt hatte, hat das Zentralkomitee der Kompartei unversehens in unsere Epoche verpflanzt, sie Wort für Wort bis zum letz­ten Komma wieder­holend. Und diese Leute berufen sich auf Marx und Lenin!

Wenn sie «unterstreichen», dass die «endgültige Befreiung» nur durch die Abschaffung des kapitalistischen Regi­mes zu erreichen sei, so ha­ben sie nichts anderes im Sinn, als mit Hilfe dieser Ele­mentarwahrheit die Ar­beiter zu betrügen. Denn sie erwecken bei ihnen die Vorstel­lung. als sei eine ge­wisse, wenn auch un­be­deutende Besserung im Rahmen des gegenwärtigen Regi­mes möglich. Sie schildern den faulenden. niedergehenden Kapitalismus so, wie ihre Väter und Großväter den robusten, aufsteigenden. Die Tatsache ist unbestreitbar: die Stali­nisten schmücken sich mit dem Plunder des Reformismus.

Die marxistische politische Formel aber muss lauten:

«Indem die Kommunisten (oder Sozialisten) täglich den Mas­sen erklären, dass der faulende Kapi­talismus nicht nur keine Bes­serung ihrer Lage, sondern nicht einmal die Aufrechterhaltung des bisheri­gen Elendsniveaus gestattet, in­dem sie offen vor den Massen die Aufgabe der sozialistischen Revo­lution als die unmittelbare Auf­gabe unserer Tage stellen, indem sie die Arbeiter für die Macht­ergreifung mobilisieren, indem sie die Arbei­terorganisationen mittels der Miliz verteidigen, lassen sie gleichwohl keine Gelegenheit fah­ren, neben­bei dem Feinde die eine oder an­dere Teilkonzession abzuringen oder zumindest ihn daran zu hin­dern, das Lebensniveau der Arbei­ter noch weiter zu senken».

Man vergleiche aufmerksam diese Formel mit den oben zitierten Zeilen der Resolu­tion des Zentralkomitees. Wir hoffen, der Unterschied ist klar: dort Stalinismus, hie Leninismus. Dazwischen ein Ab­grund.

 

Sicheres Mittel gegen Ar­beitslosigkeit

Lohnerhöhung, Kollektivverträge, Sen­kung der Lebenskosten… Aber was mit der Arbeitslosigkeit? Die Resolution des Zentralkomitees weiß auch dafür Abhil­fe. Zitieren wir: «Sie (die Kommunisten) for­dern die Inangriffnahme öffentlicher Ar­bei­ten. Zu diesem Zweck arbeiten sie konkrete, der jeweiligen Lage am Ort oder im Bezirk angepasste Vorschläge aus, geben sie die Mittel zur Finanzierung die­ser. Arbeiten an (Projekt einer Kapitals­zwangsabgabe, Anleihen mit Staatsga­rantie, usw.)».

Ist das nicht erstaunlich? Dieses Schwin­delrezept ist beinahe Wort für Wort bei Jouhaux abgeschrieben: die Stalinisten verwerfen die fortschrittlichen Forde­run­gen des «Plans»: der CGT und akzep­tie­ren dessen phantastischsten und uto­pischsten Teil.

Die Hauptproduktivkräfte der Gesellschaft sind von der Krise ganz oder halb lahm­gelegt. Die Arbeiter stehen ratlos vor den Maschinen, die sie schufen. Das rettende Zentralkomitee schlägt vor, außerhalb und neben der realen kapitalistischen Wirtschaft eine andere kapitalistische Wirtschaft zu gründen, auf der Grundlage «öffentlicher Arbeiten».

Man sage uns nicht, es handle sich um episodische Unternehmen: die heutige Arbeitslosigkeit ist keine episodische, keine bloß konjunkturelle, sondern eine strukturelle, bösartigste Äußerung des kapitalistischen Niedergangs. Damit sie verschwinde, schlägt das Zentralkomitee vor, ein System großzügiger öffentli­cher Arbeiten zu schaffen, der jeweiligen Ge­gend angepasst, mittels eines beson­de­ren Finanzierungssystems neben den in Unordnung geratenen Finanzen des Kapi­talismus. Mit einem Wort, das Zentral­komitee der Kompartei schlägt dem Kapi­talismus weiter nichts vor, als sein Do­mizil zu wechseln. Und diesen «Plan» stellt man dem Kampf um die Macht und dem Nationalisierungsprogramm ge­gen­über! Es gibt keine schlimmeren Op­portuni­sten als erschrockene Abenteu­rer.

Wie man zur Realisierung der öffentlichen Arbeiten, zur Kapitalszwangs­abgabe, zu den garantierten Anleihen usw. gelangen soll, davon wird kein Wort gesagt. Ohne Zweifel mit Hilfe von … Petitionen. Das ist die geeignetste und wirksamste Art des Handelns. Den Petitionen halten we­der Krisen, noch Faschismus, noch Mili­tarismus stand. Darüber hinaus beleben die Petitionen die Papierindustrie und lin­dern die Arbeitslosigkeit. Merken wir uns also: Orga­nisierung von Petitionen als der wesentlichste Teil des Arbeitsbeschaf­fungssystems nach dem Plan von Thorez & Co.

Über wen machen sich diese Herrschaf­ten lustig? Über sich selbst oder über das Proletariat?

 

Die Kompartei ist eine Bremse

«Man muss staunen, wie passiv das Proletariat nach mehr als hundert Jah­ren Klassenkampf solche Entbehrungen und Vergewaltigungen erträgt». Diesen so herablassenden Satz bekommt man auf Schritt und Tritt von Sozialisten oder Schreibtischkommunisten zu hören. Der Widerstand ist nicht stark genug? Die­sen Mangel kreidet man dann den Arbeiter­massen an. Als stünden die Parteien und Gewerkschaften abseits vom Proletariat, als wären sie nicht seine Kampforgane! Eben weil das Proletariat als das Resultat der mehr als hundertjährigen Geschichte seiner Kämpfe sich politische und ge­werkschaftliche Organisationen geschaf­fen hat, ist es ihm nun schwer und beina­he unmöglich, den Kampf gegen das Ka­pital ohne und gegen sie zu führen. Al­lein, was als Triebfeder der Aktion auf­ge­baut wurde, ist Ballast oder Bremse ge­worden.

Die gesamte Lage leitet die Arbeiter zu dem Gedanken hin, dass, um ihre Exi­stenzbedingungen zu ändern, es revolu­tionärer Taten bedarf. Aber gerade weil es sich um den Entscheidungskampf han­delt, der Millionen von Menschen mitrei­ßen muss, gehört die Initiative natürli­cherweise den leitenden 0rganisationen‚ den Arbeiterparteien. der Einheitsfront. Von die­sen muss ein klares Programm, müssen die Losungen und die Mobilisie­rung zum Kampfe ausgehen. Damit die Massen sich erheben, müssen die Par­teien selber mit kühner revolutionärer Kampagne im Lande den Anfang ma­chen. Aber den führenden Organisatio­nen, einschließlich der Kompartei, fehlt dazu der Mut. Die Kompartei wälzt ihre Aufgaben und Verpflichtungen auf die Massen ab. Sie verlangt, die durch ihre Schuld einer revolutionären Führung ba­ren Millionen von Menschen mögen erst einmal zersplitterte Kämpfe für Teilforde­rungen unternehmen und den skeptischen Bürokraten ihre Kampfbereitschaft bewei­sen. Vielleicht werden sich dann die gro­ßen Führer bequemen, das Kommando zum Angriff zu geben. Anstatt die Massen zu lenken‚ unterzieht das bürokratische Zentralko­mitee die Massen einem Ex­amen‚ gibt ihnen eine schlechte Note und rechtfertigt so seinen Opportunismus und seine Feigheit.

 

Fertige Rezepte «nach Lenin»

Zur Zeit des relativen wirtschaftlichen und politischen Gleichgewichts in Frankreich (1929-1933) rief das Zentralkomitee der Kompartei die .«Dritte Pe­riode» aus und tat es nicht mehr unter der Eroberung der Straße nebst Barrika­den. Heute, während der wirtschaftlichen, sozialen und politi­schen Krise, begnügt es sich mit einem bescheidenen Programm von «Tagesfor­de­rungen». Dieser ab­surde Wi­derspruch ist das komplexe Produkt meh­rerer Fakto­ren: des Zurückschreckens vor seinen letz­ten Fehlern, der Unfähig­keit, den Massen Gehör zu schenken, der bürokra­tischen Gewohnheit, dem Prole­tariat eine fertige Marschroute vorzu­schreiben, schließlich der ideologischen Anarchie, Ergebnis der un­zähligen Zick­zacks, Fäl­schungen, Lügen und Repres­salien.

Unmittelbarer Verfasser des neuen Pro­gramms ist ohne Zweifel Bela Kun, der augenblickliche «Führer» der Komintern, der in einem fort zwischen Aben­teurertum und Opportunismus wechselt. Bei Lenin las er, dass die Bolschewiki unter gewis­sen Umständen für Streiks und die Men­schewiki dagegen waren, und im Hand­umdrehen hat er auf diesen Fund seine «realistische» Politik gegründet. Doch zu seinem Unglück hat Bela Kun Lenin … auf der un­rechten Seite aufgeschlagen.

In gewissen Perioden der revolutionären Bewegung des russischen Proleta­riats haben wirtschaftliche Streiks wirklich eine gewaltige Rolle gespielt. Nur war der rus­sische Kapitalismus damals nicht morsch, sondern wuchs und stieg rasch empor. Das russische Proletariat war ein unbeschriebenes Blatt und Streiks waren seine erste Form des Erwachens und der Betätigung. Und im Übrigen fielen die breiten Überschwemmungen der Streiks jedes mal mit einem Konjunk­turauf­schwung der Industrie zusammen.

Keine dieser Voraussetzungen ist in Frank­reich vorhanden. Das französische Proletariat ist durch eine grandiose Schule der Revolution, des gewerkschaft­li­chen und parlamentarischen Kampfes gegangen und ist Träger all des positiven und negativen Erbes dieser reichen Ver­gangenheit. Schwerlich ist in Frankreich ein spontanes Anschwellen der Streikbe­wegungen zu erwarten, sogar in einer Pe­riode wirtschaftlichen Aufschwungs, ge­schweige denn zu einer Zeit, wo eine Konjunkturkrise die offenen Wunden des: kapitalistischen Niedergangs noch ver­tieft.

Nicht weniger wichtig ist die andere Seite der Frage. Während der ersten stürmi­schen Streikbewegung in Russland gab es eine Fraktion in der russischen Sozial­demokratie, die sich auf ökonomische Teilforderungen zu beschränken suchte: die sogenannten «Ökonomisten». Ihrer Meinung nach sollte man die Lo­sung «Nie­der mit dem Selbstherrschertum!» zurückstellen bis zum Anbruch einer «re­vo­lutionären Situation». Lenin hielt die «Öko­nomisten» für elende Oppor­tunisten. Er zeigte, dass es gilt, die revolutionäre Si­tuation selbst während der Periode der Streikbewegung aktiv vorzuberei­ten.

Ist es schon überhaupt absurd, die ver­schiedenen Etappen und Episoden der russischen revolutionären Bewegung me­chanisch auf Frankreich zu übertragen, so ist ganz und gar unmöglich, es zu tun auf die Art Bela Kuns, der weder von Russ­land, noch von Frankreich, noch vom Marxismus eine Ahnung hat. Man soll in Lenins Schule die Methode des Han­delns lernen, und nicht den Leninismus zu Zitaten und Rezepten verzapfen, die für alle Lebensla­gen gleich passen.

 

«Frieden, Brot und Freiheit!»

Nach der Meinung der Stalinisten ist die Lage in Frankreich also nicht re­volutionär, revolutionäre Losungen sind darum nicht angebracht, die ganze Aufmerksamkeit heißt es auf ökonomische Streiks und Teilforderungen richten. So das Pro­gramm. Ein opportunistisches und leblo­ses Programm, aber ein Programm.

Daneben gibt es aber noch ein anderes. Tag für Tag wiederholt die Humani­té die dreifache Losung: «Friede, Brot, Frei­heit!» Unter dieser Fahne, sagt die Hu­manité, haben 1917 die Bolschewiki ge­siegt. Im Kielwasser der Stalinisten wie­derholt der Sozialist Just denselben Ge­danken. Sehr richtig. 1917 aber war in Russland die Lage ausgesprochen revo­lutionär. Wieso denn taugen Losungen, die den Sieg einer proletarischen Revolu­tion sicherten, als «Tagesforderungen» einer nichtrevolutionären Situation? Mö­gen die Weisen der Humanité uns ein­fa­chen Sterblichen dies Geheimnis erklä­ren.

Was uns betrifft, erinnern wir daran, wel­che «Tagesforderungen» die drei­fache Losung der Bolschewiki umschloss.

«Frieden!» bedeutete 1917, im Kriege: Kampf gegen alle patrioti­schen Parteien von den Monarchisten bis zu den Men­schewiki, Forderung der Veröffentlichung aller Geheimverträge, revolutionäre Mobi­lisierung der Soldaten gegen die Vorge­setzten und Organisierung der Verbrü­de­rung an der Front. «Frieden!» bedeute­te dem österreichischen und deutschen Militarismus einerseits, dem der Entente andererseits den Kampf anzusagen. Die Losung der Bolschewiki bezeichnete also die kühnste und revolutionärste Politik, die die Geschichte der Menschheit je ge­kannt hat.

1935, im Bunde mit Herriot und den bür­gerlichen «Pazifisten» d.h. mit heuch­leri­schen Imperialisten, für den Frieden «kämp­fen» bedeutet weiter nichts, als für den Status quo einzutreten, der der fran­zösischen Bourgeoisie im Augenblick dienlich ist. Bedeutet Einlullen und Demo­ralisierung der Arbeiter mit Illusionen über «Abrüstung» und «Nichtangriffspakte», mit der Völkerbundslüge, bedeutet Vorbe­reitung erneuter Kapitulation der Arbeiter­parteien in dem Augenblick, wo es der französischen Bourgeoisie oder ihren Ri­valen gut erscheinen wird, den Status quo umzustoßen.

«Brot!» Das bedeutete für die Bolsche­wiki 19l7: Enteignung der Großgrund­besitzer und Spekulanten vom Boden und von den Getreidevorräten, und Ge­treidehandelsmonopol in den Händen der Arbeiter- und Bauernregierung. Was bedeutet die Losung «Brot!» bei den französischen Stalinisten von 1935? Blo­ßes Nachplappern des Wortes!

«Freiheit» Die Bolschewiki zeigten den Massen, dass die Freiheit nur Schein ist, solange Schule, Presse und Versamm­lungsräume in den Händen der Bour­geoisie verbleiben. «Freiheit!» hieß: Über­nahme der Macht durch die Sowjets, Enteignung der Großgrundbesitzer, Arbei­terkontrolle der Produktion.

«Freiheit!» im Bunde mit Herriot und den ehrbaren Damen beiderlei Ge­schlechts von der Liga für Menschenrechte bedeu­tet: Unterstützung der halb bonapartisti­schen, halb parlamentarischen Regierun­gen, und weiter nichts. Die Bourgeoisie braucht gegenwärtig nicht nur die Banden La Rocques, sondern auch das «linke» Ansehen Herriots. Das Finanzkapital be­waffnet die Faschisten. Die Stalinisten stellen das linke Ansehen Herriots mittels der Maskeraden der «Volksfront» wieder her. Dazu dienen im Jahre 1935 die Lo­sungen der Oktoberrevo­lution!

 

Drachen und Flöhe

Als einziges Beispiel für die neue «realistische» Politik erzählt die Resoluti­on des Zentralkomitees, wie die Arbeits­losen von Villejuif in die Volksküche der Croix de Feu Suppe essen gehen und da­bei rufen: «La Rocque an den Galgen!» Wie viele die Suppe essen und wie viele rufen, wird uns nicht gesagt: Zahlen kön­nen die Stalinisten nun einmal nicht ver­tragen. Aber nicht darum handelt es sich … Wie tief muss eine «revolutionäre» Partei gesunken sein, um in einer pro­grammatischen Resolution für die prole­tarische Politik kein anderes Beispiel zu finden als die ohnmächtigen Rufe be­drückter und ausgehungerter Arbeiter, die gezwungen sind, sich von den Brosamen der faschistischen Wohltätigkeit zu näh­ren. Und diese Führer empfinden nicht ihre Niedrigkeit und ihre Schande!

Marx zitierte einmal, als er von gewissen seiner Schüler sprach, Heines Wor­te: «Ich habe Drachen gesät und Flöhe ge­erntet». Wir fürchten, die Gründer der Dritten Internationale müssen dieselben Worte wiederholen … Indessen, unsere Epoche verlangt nicht nach Flöhen, son­dern nach Drachen!

 

III. Kampf gegen Faschis­mus und Generalstreik

Das Kominternprogramm und der Faschismus

Das 1928 in der Periode ihres theoreti­schen Verfalls verfasste Programm der kommunistischen Internationale sagt: «Die Epoche des Imperialismus ist die Epo­che des sterbenden Kapitalismus». An sich ist diese lange vorher von Lenin for­mulierte Feststellung ganz unbestreit­bar und für die Politik des Proletariats in un­serer Epoche von entscheidender Be­deutung. Aber die Verfasser des Komin­tern­programms haben die mechanisch übernommene These vom sterbenden oder faulenden Kapitalismus keineswegs begriffen. Dies Unverständnis kam be­sonders deutlich in der für uns bren­nend­sten Frage zum Vorschein: beim Fa­schismus.

Das Kominternprogramm sagt in dieser Beziehung: «Neben der Sozialdemokra­tie, die der Bourgeoisie hilft, das Proleta­riat zu erdrosseln und dessen Wachsam­keit einzuschläfern, trat der Faschismus auf». Die Komintern hat nicht begriffen, dass die Mission des Faschismus nicht ist, ne­ben der Sozialde­mokratie zu wir­ken, son­dern alle alten Arbeiterorganisa­tionen. einschließlich der reformistischen, zu zer­schlagen. Aufgabe des Faschismus sei, wie das Pro­gramm sich ausdrückt, «die Vernichtung der kommunistischen Schichten des Proletariats und ihrer lei­tenden Kader». Der Faschismus bedrohe keineswegs die Sozialdemokratie und die reformistischen Gewerkschaften, im Ge­genteil, die Sozialdemokratie selbst spiele immer mehr eine «faschistische Rolle». Der Faschismus ergänze nur das Werk des Reformismus, indem er «neben der Sozialdemokratie» auftritt.

Wir zitieren nicht etwa den Artikel irgend­eines Thorez‘ oder Duclos‘, die sich auf Schritt und Tritt widersprechen, sondern das grundlegende Dokument der Komin­tern. ihr Programm (siehe Kap. II, Absatz 3: «Die Krise des Kapitalismus und der Faschismus»). Dort finden wir alle Grundelemente der Theorie vom Sozial­faschismus. Die Kominternführer haben nicht begriffen, dass mit dem faulenden Kapitalismus auch die gemäßigtste und unterwürfigste Sozialdemokratie unver­träglich ist, sowohl als Regierungspartei wie in der Op­position. Der Faschismus ist berufen, nicht «neben der Sozialdemo­kratie», son­dern auf ihren Gebeinen Platz zu nehmen. Gerade daraus ergaben sich Möglich­keit, Notwendigkeit und Dringlich­keit der Einheitsfront, Aber die unglückse­lige Kominternführung hat die Einheits­frontpolitik nur in der Periode anzuwen­den versucht, als die Sozialdemokratie sie nicht nötig hatte. Seitdem die Lage des Reformismus wacklig wurde und die So­zialdemokratie Schlägen ausgesetzt war, lehnte die Komintern die Einheitsfront ab. Diese Leute haben die ärgerliche Nei­gung, im Sommer einer Überzieher zu tragen und im Winter splitternackt zu ge­hen!

Trotz der lehrreichen Erfahrung Italiens schrieb die Komintern Stalins genia­len Aphorismus auf ihre Fahne: «Sozial­de­mokratie und Faschismus sind nicht Anti­poden, sondern Zwillinge». Das ist die Hauptursache der Niederlage des deut­schen Proletariats. Gewiss machte die Komintern in der Einheitsfrontfrage eine jähe Wendung: die Tatsachen erwie­sen sich mächtiger als das Programm. Doch das Kominternprogramm wurde weder beseitigt noch geändert. Seine Grundfeh­ler wurden den Arbeitern nicht erklärt. Die Kominternführer, die ihr Selbstvertrauen verloren haben, lassen für alle Fälle die Türe off­en für ein Zurück auf die Positio­nen des «Sozial­faschismus». Dadurch bekommt die Einheitsfrontpolitik einen prinzipienlo­sen, diplomatischen und unsi­cheren Cha­rakter.

 

Reformistische Illusionen der Stalinisten

Das Unverständnis für den Sinn der le­ninschen These vom «Kapitalismus in der Agonie» gibt der ganzen gegenwärtigen Politik der französischen Kompartei das Gepräge kreischender Ohnmacht, ver­mehrt um reformistische Illusionen. Wäh­rend doch der Faschismus das organi­sche Erzeugnis des kapitalistischen Nie­dergangs ist, sind die Stalinisten plötzlich überzeugt, dass es möglich sei. mit dem Faschismus fertig zu werden, ohne an die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft zu rühren.

Am 6. März 1935 schrieb Thorez zum hundertundersten Mal in der Humanité:

«Um dem Faschismus die endgültige Niederlage zu bereiten, schla­gen wir aufs neue der sozialistische Partei gemeinsa­me Aktion zwecks Ver­teidigung der Ta­gesforderungen vor…»

Jeder bewusste Arbeiter sollte über die­sen programmatischen Satz gut nach­denken. Der Faschismus erwächst, wie wir wissen, aus der Paarung der Verzweif­lung der Mittelklassen mit der terroristi­schen Politik des Großkapitals. «Tages­for­derungen» sind Förderungen, die den Rahmen des Kapitalismus nicht über­schreiten. Wieso kann man denn, ohne den Boden des faulenden Kapitalis­mus zu verlassen, «dem Faschismus die endgül­tige (!) Niederlage bereiten»?

Wenn Jouhaux sagt: indem wir der Krise ein Ende bereiten (so einfach ist das nicht!), werden wir damit auch den Fa­schismus besiegt haben, dann bleibt er sich wenigstens selbst treu: noch und noch setzt er seine Hoffnung auf die Er­neuerung und Verjüngung des Kapitalis­mus. Die Stalinisten aber anerkennen in Worten die Unausweichlichkeit des baldi­gen Zerfalls des Kapitalismus. Wie kön­nen sie versprechen, den politischen Überbau zu gesunden durch endgülti­ge Besiegung des Faschismus, und gleich­zeitig die faulende wirtschaftliche Ba­sis der Gesellschaft unangetastet zu lassen.

Meinen sie, das Großkapital könne nach Belieben das Rad der Geschichte rück­wärts drehen und wieder den Weg der Zugeständnisse und «Reformen» be­schreiten? Glauben sie, das Kleinbürger­tum könne mit «Tagesforderungen» vor wachsendem Ruin, vor Deklassierung und Verzweiflung bewahrt werden? Ja, wie soll man dann die tradeunionistischen und reformistischen Illusionen mit der These vom Kapitalismus in der Agonie in Einklang bringen?

Theoretisch betrachtet ist die Einstellung der Kompartei, wie wir sehen, rein­ster Unsinn. Schauen wir zu, wie diese Ein­stellung im Lichte des praktischen Kamp­fes aussieht.

 

Kampf um Tagesforderungen und Faschismus

Am 28. Februar drückte Thorez in folgen­den Worten den gleichen durch und durch falschen Grundgedanken der gegenwärti­gen Politik der Kompartei aus:

«Um den Faschismus endgültig zu schla­gen, heißt es, das ist sonnenklar, der wirtschaftlichen Offensive des Kapitals gegen das Lebensniveau der werk­tätigen Massen Einhalt gebieten».

Wozu die Arbeitermiliz? Wozu direkten Kampf gegen den Faschismus? Es heißt, das Lebensniveau der Massen zu heben suchen, und der Faschismus wird wie durch Zauberschlag verschwinden.

Leider, ach, ist in diesen Zeilen die ganze Perspektive des kommenden Kampfes völlig verzerrt, sind die wirklichen Ver­hältnisse auf den Kopf gestellt. Die Kapi­talisten kommen zum Faschismus nicht, weil es ihnen so gefällt, sondern weil sie müssen: sie können das Privateigentum an den Produktionsmitteln nur aufrechter­halten durch eine Offensive gegen die Ar­beiter, durch verschärfte Un­terdrückung, durch Verbreitung von Elend und Ver­zweiflung. Gleichzeitig in Furcht vor dem unvermeidlichen Widerstand der Arbeiter, hetzen die Kapitalisten durch ihre Mit­telsmänner das Kleinbürgertums gegen das Proletariat, welches sie beschuldigen, die Krise zu verlängern und zu vertiefen, und finanzieren die fa­schistischen Ban­den, um die Arbeiter zu zertreten.

Wenn morgen der Widerstand der Arbei­ter auf die Offensive des Kapitals sich verstärkt, wenn Streiks häufiger und be­deutender werden, dann wird der Fa­schismus, entgegen Thorez‘ Worten, nicht verschwinden, sondern im Gegen­teil doppelt so stark werden. Das Anwachsen der Streikbewegung wird die Mo­bilisie­rung von Streikbrechern hervorrufen. Alle «patriotischen» Banditen wer­den in die Bewegung eintreten. Tägliche Angriffe auf die Arbeiter werden an der Tagesordnung sein. Davor die Augen schließen, heißt dem sicheren Unter­gang entgegengehen.

Das heißt wohl, werden Thorez und Kon­sorten erwidern, dass man keinen Wi­der­stand leisten soll? (Folgen die üblichen Beschimpfungen gegen uns, über die wir wie über eine dreckige Pfütze hinweg­schreiten werden). Nein, Widerstand ist notwendig. Wir gehören keineswegs zu der Schule, die meint, Schwei­gen, Aus­weichen, Kapitulieren sei das beste Schutzmittel. «Provoziert den Feind nicht!», «Verteidigt euch nicht!», «Be­waff­net euch nicht», «Legt euch auf den Rücken und streckt alle Viere gen Him­mel!». Die Theoretiker dieser strate­gi­schen Schule sind nicht bei uns, son­dern in der Redaktion der Humanité zu suchen! Es ist notwendig, dass das Prole­tariat Widerstand leistet, will es nicht vernichtet werden. Aber dann ist keine re­formisti­sche und pazifistische Illusion zu­lässig. Der Kampf wird erbittert sein. Es gilt im Voraus die unvermeidlichen Folgen des Widerstands zu sehen und sich dar­auf vorzubereiten.

Durch ihre gegenwärtige Offensive gibt die Bourgeoisie dem Verhältnis zwi­schen der wirtschaftlichen und der sozialen Lage des faulenden Kapitalismus einen neuen‚ unvergleichlich schärferen Charakter. Genau ebenso müssen auch die Arbeiter ihrer Abwehr einen neuen, den Methoden des Klassenfeindes entsprechenden Cha­rakter geben. Gleichzeitig mit der Vertei­digung gegen die ökonomischen Hiebe des Kapitals gilt es zu verstehen, die ei­genen Organisatio­nen gegen die Söldner­banden des Kapitals zu verteidigen. An­ders als durch die Arbeitermiliz ist das unmöglich. Keine leeren Behauptungen, kein Geschrei und keine Beschimpfung der Humanité können diesen Schluss entkräf­ten.

Besonders zu den Gewerkschaften muss man sagen: Genossen, eure Lokale und eure Zeitungen werden gebrandschatzt, eure Organisationen zu Staub ver­wandelt werden, wenn ihr nicht unmittelbar dazu übergeht, gewerkschaftliche Ab­wehr­staffeln («Gewerkschaftsmiliz») zu bil­den, wenn ihr nicht in der Tat beweist, dass ihr kampflos keinen Fingerbreit vor dem Faschismus zurückweichen werdet.

 

Generalstreik ist kein Ver­steck­spiel

In demselben Artikel (vom 28. Februar) beklagt sich Thorez:

«Die sozialistische Partei hat unsere Vor­schläge für eine umfassende Aktion ein­schließlich Streik‚ gegen die noch immer in Kraft befindlichen Notverordnungen nicht angenommen».

Einschließlich Streik? Was für ein Streik? Da es sich um die Aufhebung der Notver­ordnungen handelt, so hat Thorez an­scheinend nicht wirtschaftliche Teil­streiks, sondern den Generalstreik, d.h. einen po­litischen Streik im Auge. Er spricht das Wort «Generalstreik» nicht aus, damit man nicht merke, dass er ja nur unseren alten Vorschlag wiederholt. Zu welch er­bärmlichen Schlichen müs­sen die Armen greifen, um ihr Schwanken und ihre Selbstwidersprechungen zu ver­schleiern!

Dies Verfahren ist anscheinend Methode geworden. In seinem offenen Brief vom 12. März schlägt das Zentralkomitee der Kompartei der sozialistischen Par­tei vor, gegen den zweijährigen Militärdienst eine entschiedene Kampagne zu er­öffnen «mit allen Mitteln, einschließlich Streik». Wie­derum dieselbe geheimnisvolle Formel! Das Zentralkomitee meint offenbar den Streik als Mit­tel des politischen, d.h. revo­lutionären Kampfes. Aber warum fürchtet es dann, das Wort Generalstreik laut auszusprechen und redet bloß von Streik schlecht­hin? Mit wem spielt das Zentral­komitee Versteck? Wohl mit dem Prole­tariat?

Vorbereitung des General­streiks

Lässt man aber diese unangebrachten Methoden zur Rettung des «Prestige» beiseite, dann bleibt die Tatsache, dass das Zentralkomitee der Kompartei zum Kampf gegen das bonapartistische Ge­setzeswerk der Doumergue-Flandin den Ge­neralstreik vorschlägt. Wir sind damit vollkommen einverstanden. Doch verlan­gen wir, dass die Führer der Arbeiteror­ganisationen selbst begreifen und den Massen auseinandersetzen, was unter den gegenwärtigen Umständen der Gene­ralstreik bedeutet und wie man sich dar­auf vorbereiten soll.

Schon ein einfacher wirtschaftlicher Streik erfordert in der Regel eine Kampforgani­sation, insbesondere Streikposten. Unter den heutigen Um­ständen — Erbittertheit des Klassenkampfes, faschistische Pro­vokation und fa­schistischer Terror — ist eine sorgfältige Organisierung der Streik­posten eine Lebensfrage für jeden bedeu­tenden wirtschaftlichen Konflikt. Man stelle sich doch einen Gewerkschaftsfüh­rer vor, der erklärte: «Nein, keine Streik­posten, das ist Provokation, die Selbst­verteidigung der Streikenden genügt!» Ist nicht klar, dass die Arbeiter einem derartigen «Führer freundschaftlich raten müssten, ins Hospital, wenn nicht so­gleich ins Irrenhaus zu gehen? Sind doch Streikposten gerade das wichtigste Organ der Selbstvertei­digung der Streikenden!

Dehnen wir diesen Gedankengang auf den Generalstreik aus. Wir meinen keine bloße Kundgebung. keinen symbolischen Einstunden- oder sogar 24-Stunden-Streik, sondern eine Schlachtoperation mit dem Ziel, den Gegner zum Nach­ge­ben zu zwingen. Unschwer ist zu begrei­fen, welch furchtbare Verbitterung des Klas­senkampfes ein Generalstreik unter den augenblicklichen Umständen bedeu­ten würde! Die faschistischen Banden würden überall wie Pilze aus dein Boden schießen und mit all ihren Kräften versu­chen, Ver­wirrung, Provokation und Zer­setzung in die Reihen der Streikenden zu tragen. Wie den Generalstreik an­ders vor über­flüssigen Opfern und sogar seinem vollständigen Zusammenbruch bewahren als durch straff disziplinierte Arbeiter­kampf­staffeln? Generalstreik ist verall­ge­meinerter Teilstreik. Die Arbeitermi­liz ist der verallgemeinerte Streik­posten. Nur elende Schwätzer und Prah­ler können heutzutage mit dem Ge­danken des Generalstreiks spielen und gleichzei­tig das zähe Arbeiten an der Schaffung der Arbeitermiliz verweigern!

 

Generalstreik in «nichtrevolu­tio­närer Lage»?

Doch damit ist das Maß des Missge­schicks des Zentralkomitees der Kompar­tei noch nicht voll.

Der Generalstreik ist, wie jeder Marxist weiß, eins der revolutionärsten Kampfmit­tel. Der Generalstreik wird nur möglich, wenn der Klassenkampf über alle korpo­rativen Sonderinteressen hinausgeht, al­len Berufs- und Wohngebiets­scheidungen zum Trotz sich ausdehnt, die Grenzen zwischen Parteien und Ge­werkschaften, zwischen dem Gesetzlichen und dem Un­gesetzlichen verwischt, die Mehrheit des Proletariats mobilisiert und es aktiv der Bourgeoisie und dem Staat gegenüber­stellt. Nach dem Generalstreik kann nur noch der bewaffnete Aufstand kommen. Die gesamte Geschichte der Arbeiterbe­wegung bezeugt. dass der Generalstreik, mit welchen Losungen er auch auftritt, stets die innere Ten­denz hat, in ausge­sprochen revolutionären Konflikt, in direk­ten Machtkampf überzugehen. Mit ande­ren Worten: der Generalstreik ist möglich nur in Ver­hältnissen äußerster politischer Spannung und darum stets ein unver­kennbarer Ausdruck des revolutionären Charakters der Situation. Wieso kann in diesem Fall das Zentralkomitee den Ge­neralstreik vorschlagen? «Die Situation ist nicht revolutionär»!

Vielleicht wird uns Thorez entgegnen, dass er nicht den eigentlichen General- streik meint, sondern einen kleinen harmlosen Streik, gerade gut für den Haus­gebrauch der Humanitéredaktion? Oder fügt er wohl diskret hinzu, dass er ja gar nichts riskiert, wenn er den SFIO-Füh­rern den Generalstreik vorschlägt, da sie voraussichtlich doch ablehnen? Nun, am wahrscheinlichsten ist, dass Tho­rez statt einer Erwiderung uns einfach anklagen wird, mit Chiappe, Ex-Alfons XIII und dem Papst ein Komplott zu schmieden: solche Antworten gelingen Thorez am besten!

Aber jeder kommunistische Arbeiter, der einen Schädel auf den Schultern hat, soll über die schreienden Widersprüche sei­ner unseligen Führer nachdenken: seht, die Bildung einer Arbeitermiliz ist unmög­lich, wo die Situation doch nicht revolu­tionär ist; ja, es ist sogar unmöglich, für die Bewaffnung des Proletariats Propa­ganda zu machen, d.h. die Arbeiter auf die zukünftige revolutionäre Si­tuation vor­zubereiten; aber wie es scheint, ist es schon heute möglich, die Ar­beiter zum Generalstreik aufzufordern, trotz Fehlen der revolutionären Situation. Wahrlich, hier sind alle Grenzen der Dummheit und des Unsinns überschritten!

 

«Überall Sowjets!»

Auf allen Versammlungen hört man die Kommunisten die Losung skandieren. die ihnen als Erbschaft aus der «dritten Peri­ode» geblieben ist: «Überall Sowjets». Es ist absolut klar, dass diese Losung, nimmt man sie ernst, zutiefst revo­lutionär ist: unmöglich ist das Sowjetregime an­ders zu errichten als durch be­waffneten Aufstand gegen die Bourgeoisie. Aber der bewaffnete Auf­stand setzt Waffen in den Händen des Proletariats voraus. Somit sind die Losungen «Überall Sowjets!» und «Arbeiterbewaffnung» eng und untrenn­bar miteinander verknüpft. Warum wird aber die erste Losung von den Stalin­isten unaufhörlich wiederholt und die zweite zu «trotzkistischer Provokation» gestempelt?

Wir sind mit um so mehr Recht verdutzt, als die Losung der Arbeiterbewaff­nung der augenblicklichen politischen Lage und der Geistesverfassung des Pro­letariats weit mehr entspricht. Die Losung der «Sowjets» ist ihrem Wesen nach offensiv und setzt eine siegreiche Revolution vor­aus. Indes, heute befindet sich das Prole­tariat in der Defensive. Der Faschismus bedroht es unmittelbar mit phy­sischer Vernichtung. Die Notwendigkeit der Ver­teidigung, selbst mit der Waffe in der Hand, leuchtet heute viel breiteren Schichten ein als der Gedanke einer revo­lutionären Offensive. Die Losung der Be­waffnung darf daher in der gegen­wärtigen Etappe mit einem weit größeren und weit aktiveren Echo rechnen als die Losung der Sowjets. Wie kann nur eine Arbeiter­partei, wenn sie nicht tat­sächlich die In­teressen der Revolution verraten hat, eine so außergewöhnliche Lage fahren lassen und niederträchtig den Gedanken der Be­waffnung kompro­mittieren, statt ihn eifrig zu popularisieren?

Wir wollen gern zugeben, dass wir diese Frage stellen, weil sie uns so von unserer «konterrevolutionären» Natur und im Be­sonderen durch den Wunsch diktiert ist, die Militärintervention auszulösen: be­kanntlich werden der Mikado und Hitler, sobald sie durch unsere Fragestellung sich davon überzeugt haben werden, wel­cher Wind in Bela Kuns und Thorez Köp­fen weht, der UdSSR den Krieg erklären.

All das ist von Duclos unwiderlegbar fest­gestellt und bedarf keiner Beweise. Aber immerhin habt die Güte zu antworten: wie soll man zu den Sowjets gelan­gen ohne bewaffneten Aufstand? Wie soll man zum Aufstand gelangen ohne Bewaffnung der Arbeiter? Wie sich gegen den Faschis­mus verteidigen ohne Waffen? Wie auch nur zu einer teilweisen Bewaffnung kom­men ohne Propagan­da für diese Losung?

 

Ist aber ein Generalstreik in Bälde möglich?

Auf eine derartige Frage kann man keine Antwort a priori, d. h. keine im voraus fer­tige Antwort geben. Um eine Antwort zu bekommen, muss man zu fragen wissen. Wen? Die Masse. Wie fragen? Mittels der Agitation.

Die Agitation ist nicht nur ein Mittel, den Massen diese oder jene Losungen mitzu­teilen, die Massen zur Aktion aufzurufen usw. Die Agitation ist für die Partei auch ein Mittel, den Massen zu lauschen, ihre Stimmungen und Gedanken zu ergründen und je nach den Resultaten diesen oder jenen praktischen Ent­schluss zu fassen. Nur die Stalinisten machten die Agitation zu einem kreischen­den Monolog: Für die Marxisten, Leninisten ist die Agitation stets ein Zwiegespräch mit der Masse.

Damit aber diese Zwiesprache die not­wendigen Resultate ergebe, muss die Partei die allgemeine Lage im Lande rich­tig beurteilen und den allgemeinen Weg des kommenden Kampfes vorzeichnen. Mittels der Agitation und der Ergründung der Massen muss die Partei an ihrer Ein­stellung die notwendigen Verbesserun­gen und Vergenauerungen anbringen im Be­sonderen hinsichtlich des Bewegungs­tempos und der Daten der großen Ak­tionen.

Die Lage im Land ist weiter oben definiert worden: sie ist vorrevolutionär bei nichtrevolutionärer Führung des Proleta­riats. Und da die Politik des Prole­tariats der Hauptfaktor in der Entwicklung einer revolutionären Situation ist, hemmt der nichtrevolutionäre Charakter der proleta­rischen Führung die Um­wandlung der vorrevolutionären Lage in eine ausge­sprochen revolutionäre und trägt eben dadurch dazu bei. dass sie in eine konter­revolutionäre umschlägt.

In der objektiven Wirklichkeit gibt es selbstverständlich keine strengen Ab­gren­zungen zwischen den verschiedenen Stadien des politischen Prozesses. Eine Etappe schiebt sich in die andere, und die Lage weist infolgedessen verschiede­ne Widersprüche auf. Diese Widersprüche erschweren gewiss die Diagnose und die Prognose, machen sie aber keineswegs unmöglich.

Die Kräfte des französischen Proleta­ri­ats sind nicht nur nicht verbraucht, sondern sogar unangetastet. Der Fa­schis­mus ist als politischer Faktor in den kleinbürgerlichen Massen noch verhält­nismäßig schwach (wenn auch viel mächtiger, als die Parla­mentarier glauben). Diese beiden sehr wichtigen politischen Tatsachen gestatten mit voller Überzeugung zu sagen: noch ist nichts verloren, die Möglichkeit. die vorrevolu­tionäre Lage in eine revolutionäre zu ver­wandeln, ist noch voll und ganz gegeben.

Indes, in einem kapitalistischen Land wie Frankreich kann es keinen revolu­tionären Kampf geben ohne Generalstreik: wenn die Arbeiter und Arbeiterinnen während der entscheidenden Tage in den Fabriken bleiben, wer soll dann kämpfen? Somit stellt sich der Generalstreik auf die Ta­gesordnung.

Allein, der Zeitpunkt des Generalstreiks ist eine Frage der Be­reitschaft der Mas­sen zum Kampf und der Bereitschaft der Arbeiterorganisationen, sie in den Kampf zu führen

 

Wollen die Massen kämpfen?

Doch ist es wahr, dass nur die revolutio­nare Führung fehlt? Ist nicht in den Mas­sen selbst, im Proletariat eine große kon­servative Kraft zu beobachten? Solche Stimmen sind von allen Seiten zu hören. Und kein Wunder! Sobald eine revolutio­näre Krise naht, verbergen sich zahlrei­che Führer, denen vor der Verantwortung bange ist, hinter dem angeblichen Kon­servatismus der Massen. Die Geschichte lehrt uns, dass einige Wochen, ja Tage vor dem Oktoberaufstand hervorragende Bolschewiki wie Sinowjew, Kamenjew, Rykow (von den Losows­ki, Manuilski usw. ganz zu schweigen) behaupteten, die Massen seien müde und wollten nicht kämpfen. Und dabei standen Sinowjew, Kamenjew und Rykow als Revolutionäre turmhoch über den Cachin, Thorez und Monmousseau.

Wer sagt, das französische Proletariat sei nicht gewillt oder nicht imstande, den re­volutionären Kampf zu führen, der ver­leumdet es und dichtet den werk­tätigen Massen seine eigene Schlappheit und Feigheit an. Bisher hat es noch keinen Fall gegeben, weder in Paris noch in der Provinz, wo die Mas­sen einem Auf­ruf von oben nicht Folge geleistet hät­ten.

Das größte Beispiel ist der Generalstreik vom 12. Februar 1934. Trotz voll­ständiger Spaltung in der Leitung, trotz Fehlen jeg­licher ernsten Vorbereitung, trotz hart­näckigen Anstrengungen der CGT-Führer, die Bewegung auf ein Minimum zurückzu­führen, da sie sie ja nicht ganz verhindern konnten, hatte der Generalstreik den größten Erfolg, den er unter den gegebe­nen Umständen haben konnte. Es ist klar: die Massen, wollten kämpfen. Jeder be­wusste Arbeiter muss sich sagen: der Druck von unten muss doch wohl mächtig gewesen sein, wenn sogar Jouhaux einen Moment lang aus seiner Unbeweglichkeit heraustrat. Ge­wiss handelte es sich nicht um einen Generalstreik im eigentlichen Sinne, son­dern bloß um eine Kundgebung von 24 Stunden. Doch diese Beschrän­kung stammte nicht von den Massen‚ sondern war von oben dik­tiert.

Die Demonstration auf dem Platz der Re­publik vom 10. Februar d.J. bestä­tigt gleichfalls diese Schlussfolgerung. Das einzige Instrument, dass die führen­den Kreise zur Vorbereitung gebraucht hatten, war die Feuerspritze. Die einzige Losung, die die Massen zu hören bekamen, war: Psst! Psst! Nichtsdestoweniger übertraf die Zahl der Manifestanten alle Erwartun­gen. In der Provinz stand es im letzten Jahr und steht es genau so. Es ist un­möglich, auch nur eine einzige ernst zu nehmende Tatsache zu nennen, die be­zeugte. dass die Führer kämpfen wollten und die Massen ihnen die Gefolgschaft verweigert hätten. Immer und überall war ein glatt umgekehrtes Verhältnis zu beob­achten. Das gilt auch heu­te noch in vol­lem Umfang. Die Basis will kämpfen, die Spitzen bremsen. Das ist die Hauptge­fahr, sie kann zu einer wahren Katastro­phe führen.

 

Basis und Spitzen innerhalb der Partei

Dasselbe Verhältnis ist nicht nur zwischen den Parteien (oder Gewerkschaf­ten) und dem Proletariat, sondern auch innerhalb jeder Partei anzutreffen. So hat Frossard an der Basis der SFIO nicht die mindeste Stütze: ein­zig und allein die Abgeordneten und Bürgermeister halten zu ihm, die wollen, dass alles beim Alten bleibe. Marceau Pivert hingegen wird dank sei­nem immer klareren und entschlossene­ren Auftreten eine der beliebtesten Figu­ren bei der Basis. Wir geben das um so bereitwilliger zu, als wir in der Vergan­genheit nie darauf verzichteten und in Zu­kunft auch nicht darauf ver­zichten wer­den, offen zu sagen, wann wir mit Pivert nicht einer Meinung sind.

Als politisches Symptom überragt diese Tatsache jedoch an Bedeutung weit die Frage der Personen Frossards und Pi­verts: sie zeigt die allgemeine Entwick­lungstendenz. Die Basis der sozialisti­schen Par­tei, wie auch der kommuni­stischen, ist linker, revolutionärer, küh­ner als die Spitzen: eben deswegen will sie nur den linken Führern Vertrauen schenken. Mehr noch: sie drängt die auf­richtigen Sozialisten immer weiter nach links. Warum indessen radikalisiert sich die Basis? Weil sie mit den Volksmas­sen, mit ihrem Elend, ihrer Empörung, ihrem Hass unmittelbar in Berührung steht. Dies ist ein untrügliches Symptom, auf das man sich verlassen kann.

 

«Tagesforderungen» und Massenradikalisierung

Die Führer der Kompartei können sich zwar darauf berufen, dass die Massen ih­ren Appellen nicht Folge leisten. Allein, diese Tatsache entkräftigt nicht, son­dern bekräftigt unsere Analyse. Die Arbeiter­massen begreifen was die «Führer» nicht begreifen, nämlich dass bei schwerer so­zialer Krise der wirtschaftliche Teilkampf allein, der gewaltige Anstrengungen und gewaltige Opfer erfordert, keine ernsten Resultate bringen kann. Schlimmer: er kann das Proletariat schwä­chen und er­schöpfen. Die Arbeiter sind wohl bereit, an Kampfkundgebungen und am Gene­ralstreik teilzunehmen, nicht aber an klei­nen, ermüdenden und aussichts­losen Streiks. Trotz allen Aufrufen, Manifesten und Artikeln der Humanité tre­ten die kommunistischen Agitatoren fast nirgends vor die Massen, um Streiks namens «un­mit­telbarer Teilforderungen» zu predi­gen. Sie fühlen, die bürokrati­schen Pläne der Führer entsprechen absolut nicht der ob­jektiven Lage und der Massenstim­mung. Ohne eine große Perspektive kön­nen und werden die Massen nicht in den Kampf treten. Die Politik der Humanité ist eine Politik des künstlichen und fal­schen Schein«realismus». Der Misser­folg der CGTU beim Ansagen von Teil­streiks ist eine mittelbare, aber sehr reale Bestäti­gung für die Tiefe der Krise und die gei­stige Spannung in den Arbeitervierteln.

Man darf jedoch auch nicht glauben, dass die Radikalisierung der Massen von selbst und automatisch zunehmen werde. Die Arbeiterklasse erwartet von ihren Or­ganisationen eine Initiative. Wenn sie merken wird, dass sie in ihren Erwartun­gen enttäuscht wurde — und diese Stun­de ist vielleicht nicht so fern — dann wird der Radikalisierungsprozess abbre­chen, in Mutlosigkeit und Er­schlaffung und ver­einzelte Verzweiflungsausbrüche um­schlagen. Am Rande des Proletariats werden sich zu den anarchistischen fa­schistische Tendenzen gesellen. Der Wein wird zu Essig geworden sein.

Die Veränderungen in der politischen Stimmung der Massen erfordern größ­te Aufmerksamkeit. Diese lebendige Dialek­tik in jeder Etappe zu ergründen, das ist die Aufgabe der Agitation. Augenblicklich bleibt die Einheitsfront frevel­hafterweise sowohl hinter der Entwicklung der sozia­len Krise, wie hinter der Massenstimmung zurück. Noch ist es möglich, die verlorene Zeit aufzuholen. Aber noch weiter Zeit verlieren darf man nicht. Die Geschichte zählt jetzt nicht nach Jahren, sondern nach Monaten und Wochen.

 

Generalstreikprogramm

Um festzustellen, in welchem Maße die Massen zum Generalstreik bereit sind, und um gleichzeitig die Kampfstimmung der Massen zu erhöhen, gilt es ih­nen ein revolutionäres Aktionsprogramm vorzule­gen. Teillosungen wie Aufhebung der bo­na­partistischen Notverordnungen und des zweijährigen Militärdien­stes werden na­türlich in diesem Programm einen her­vor­ragenden Platz einnehmen. Aber diese beiden episodischen Losungen sind gänzlich unzureichend.

Über allen Teilaufgaben und -forderun­gen unserer Epoche steht die Macht­fra­ge. Seit dem 6. Februar steht die Machtfrage als eine Frage der Kraft. Die Gemeinde- und Parlamentswahlen mö­gen ihre Bedeutung haben für die Kräfte­beurteilung, aber nicht mehr. Entschieden wird die Frage durch den offenen Konflikt der beiden Lager. Regierungen wie Dou­mergue, Flandin werden den Vordergrund nur bis zum Tage der endgültigen Aus­einandersetzung behaupten. Morgen wird entweder der Faschismus oder das Prole­tariat Frankreich regieren.

Ehen weil das gegenwärtige staatliche In­teregnum ungemein unsicher ist, kann der Generalstreik große Teilerfolge zeiti­gen, nämlich der Regierung Zugeständ­nisse in der Frage der bonapartistischen Notver­ordnungen, des zwei­jährigen Mili­tärdien­stes usw. abringen. Doch ein der­artiger an sich äußerst kost­barer und be­deuten­der Erfolg wird das Gleichgewicht der «Demokratie» nicht wiederherstellen: das Finanzkapital wird die Subsidien für den Faschismus ver­doppeln, und die Macht­frage wird sich, vielleicht nach einer kur­zen Pause, mit doppelter Gewalt stel­len.

Die wesentliche Bedeutung des General­streiks, unabhängig von den Teiler­folgen, die er haben, aber auch nicht haben kann, liegt darin, dass er revolutionär die Machtfrage stellt. Indem das Proletariat die Fabriken, den Transport, alle Ver­kehrsmittel überhaupt, die Elektrizitäts­werke usw. stillegt, lähmt es da­mit nicht nur die Produktion, sondern auch die Re­gierung. Die Staatsgewalt hängt in der Luft. Sie muss entweder das Proletariat durch Hunger und Gewalt zähmen, es so zwingen. den bürgerlichen Staatsapparat wieder in Gang zu set­zen, oder aber dem Proletariat Platz machen.

Für welche Losungen und aus welchem Anlass der Generalstreik auch ausbricht, stellt er, wenn er die eigentlichen Massen ergreift und diese Massen wirk­lich kampfentschlossen sind, unvermeidlich alle Klassen der Nation vor die Fra­ge: wer soll Herr im Hause sein?

Die Führer des Proletariats müssen diese innere Logik des Generalstreiks verste­hen, sonst sind sie keine Führer, sondern Dilettanten und Abenteurer. Po­litisch be­deutet das: den Führern liegt es ob, schon jetzt vor dem Proletariat das Pro­blem der revolutionären Machteroberung aufzurollen. Andernfalls sollen sie sich nicht unterstehen, von Generalstreik zu reden. Aber verzichten sie auf den Gene­ralstreik, so verzichten sie damit auf revo­lutionären Kampf überhaupt, d. h. liefern das Proletariat dem Faschismus aus.

Entweder vollständige Kapitulation oder revolutionären Kampf um die Macht, das ist die Alternative, die sich aus den ge­samten Umständen der heutigen Krise er­gibt. Wer diese Alternative nicht begriffen hat, der hat im Lager des Proleta­riats nichts zu suchen

 

Generalstreik und CGT

Die Frage des Generalstreiks verwickelt sich dadurch, dass die CGT das Monopol beansprucht, den Generalstreik auszuru­fen und zu führen. Demnach ginge diese Frage die Arbeiterparteien gar nichts an. Und was einen auf den ersten Blick am meisten überrascht, ist, dass es soziali­stische Abgeordnete gibt, die diesen An­spruch ganz in der Ordnung finden: in Wahrheit wollen sie sich bloß dieser Ver­antwortung entledigen.

Ziel des Generalstreiks ist, wie schon sein Name sagt, möglichst das gesamte Pro­le­tariat zu erfassen. Die CGT vereinigt in ih­ren Reihen vermutlich nicht mehr als 5-8% des Proletariats. Der eigne Einfluss der CGT jenseits der Gewerkschaftsgren­zen ist absolut unbedeutend, soweit er nicht in dieser oder jener Frage mit dem Einfluss der Arbeiterparteien zusammen­fällt. Kann man zum Bei­spiel den Einfluss der CGT-Zeitung Le Peuple mit dem des Populaire oder der Humanité verglei­chen?

Die Leitung der CGT steht ihren Auffas­sungen und Methoden nach den Aufga­ben der heutigen Epoche noch weit ferner als die der Arbeiterparteien. Je weiter man von den Apparatspitzen zur Basis der Gewerkschaftsmitglieder hin- ab­steigt, um so geringer das Vertrauen in Jouhaux und seine Gruppe. Der Mangel an Vertrauen schlägt immer mehr in akti­ves Misstrauen um. Der heutige kon­ser­vative Apparat der CGT wird unvermeid­lich durch die fernere Entwick­lung der re­volutionären Krise hinweggefegt werden.

Der Generalstreik ist seinem Wesen nach ein politisches Unternehmen. Er stellt die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit dem bürgerlichen Staat entgegen. Er versam­melt gewerkschaftlich Organisierte und Unorganisierte, sozialistische, kom­muni­stische und parteilose Arbeiter. Er braucht einen Presse- und Agitatorenap­parat, wie ihn die CGT allein keineswegs besitzt.

Der Generalstreik stellt geradeheraus die Frage der Machteroberung durch das Proletariat. Die CGT kehrte und kehrt die­ser Aufgabe den Rücken (der Blick der CGT-Führer ist auf den bürgerlichen Staat gerichtet). Die CGT-­Führer selbst fühlen allerdings, dass die Führung des Generalstreiks ihre Kräf­te übersteigt. Wenn sie dennoch das Monopol seiner Führung beanspruchen. so einzig und al­lein weil sie auf diese Weise den Gene­ralstreik im Keim zu ersticken hoffen.

Und der Generalstreik vom 12. Februar 1934? Das war nur eine kurze und fried­fertige Demonstration, der CGT von den sozialistischen und kommunistischen Ar­beitern aufgezwungen. Jouhaux und Kon­sorten übernahmen die formelle Führung des Widerstandes, eben um zu verhin­dern, dass er zum revolutionären Gene­ralstreik werde.

In den Instruktionen für ihre Propagandi­sten teilte die CGT mit: «Sogleich nach dem 6. Februar haben die arbeitende Be­völkerung sowie alle Demokraten auf den Aufruf der CGT hin ihren festen Wil­len bekundet. den Aufwieglern den Weg zu versperren». Außer sich selbst ver­merkt die CGT also weder die Sozialisten noch die Kommunisten, sondern nur die «De­mokraten». In diesem einzigen Satz steckt der ganze Jouhaux. Darum eben wäre es ein Verbrechen, Jouhaux die Ent­scheidung der Frage zu überlassen, ob und wann der revolutionäre Kampf erfor­derlich ist.

Selbstverständlich werden die Gewerk­schaften bei der Vorbereitung und Durch­führung des Generalstreiks eine beachtli­che Rolle spielen, jedoch nicht kraft eines Monopols. sondern Seite an Seite mit den Arbeiterparteien. Vom re­volutionären Standpunkt aus gesehen ist besonders wichtig, eng mit den lokalen Gewerk­schaftsorganisationen zusammenzuarbei­ten, ohne dabei selbst­verständlich im min­desten ihre Autonomie zu verletzen.

Was die CGT betrifft, so wird sie entwe­der sich in die gemeinsame pro­letarische Front einreihen und den «De­mokraten» Abschied sagen, oder abseits stehen bleiben müssen. Loyale Zusammenarbeit mit gleichen Rechten? Ja. Ge­meinsame Untersuchung des Zeitpunktes und der Mittel zur Durchführung des General­streiks? Ja! Anerkennung von Jouhaux‘ Monopol. die revolutionäre Be­wegung zu erdrosseln? Niemals!

 

IV.Sozialismus und be­waffneter Kampf

Die große Lehre des 6. Fe­bru­ar 1935

An jenem Tage des 6. Februar 1935 plan­ten die faschistischen Verbände auf dem Concordeplatz zu demonstrieren. Was tut also die Einheitsfront und im Be­sonderen das Zentralkomitee der Kompartei? Es ruft die Pariser Arbeiter auf, zur gleichen Stunde wie die Faschisten auf dem Con­cordeplatz zu demonstrieren. Die Faschi­sten kommen wohl ohne Waffen? Nein, seit einem Jahr bewaffnen sie sich mit doppeltem Eifer. Vielleicht würde das Zentralkomitee der Kompar­tei die Ab­wehrstaffeln ausreichend bewaffnen? Oh nein! das Zentralkomitee ist gegen «Put­schismus» und «physischen Kampf». Aber wie ist es dann möglich, Zehntau­sende von Arbeitern unbewaffnet, unvor­bereitet, schutzlos den bewun­dernswert organisierten und bewaffneten, das revo­lutionäre Proletariat mit blutigem Hass verfolgenden faschistischen Banden ent­gegenzutreiben?

Mögen Schlauköpfe uns nur nicht sagen, das Zentralkomitee der Kompartei hätte gar nicht die Absicht gehabt, die Arbeiter vor die faschistischen Revolver zu trei­ben, sondern Flandin nur einen passen­den Vorwand geben wollen, die faschisti­sche Demonstration zu verbieten. Das ist ja noch schlimmer. Das Zen­tralkomitee der Kompartei hatte demnach mit den Köpfen der Arbeiter gespielt, und der Ausgang dieses Spiels hing einzig und allein von Flandin, oder genauer von den Polizeichefs aus Chiappes Schule ab. Und was wäre geschehen, wenn man auf der Polizeipräfektur beschlossen hätte, die Gelegenheit wahrzunehmen und den revolutionären Arbeitern vermittelst der Faschisten eine Lektion zu er­teilen, zumal die Verantwortung für das Blutbad auf die Führer der Einheits­front zurückgefallen wäre? Die Folgen kann man sich un­schwer vorstellen! Wurde diesmal das Blutbad auch vermieden, im Falle der Fortsetzung derselben Politik wird es bei der ersten ähnlichen Gelegenheit unver­meidlich und bestimmt eintreten.

 

«Putschismus» und Aben­teu­rer­tum

Das Benehmen des Zentralkomitees war bürokratisches Abenteurertum reinsten Wassers. Die Marxisten haben stets ge­lehrt, Opportunismus und Abenteurer­tum sind nur zwei Seiten derselben Medaille. Der 6. Februar 1935 zeigt mit bemerkenswerter Deutlichkeit, wie leicht sich die Medaille dreht.

«Wir sind gegen den Putschismus, ge­gen die Aufstandsmethoden!», so rede­te jah­relang Otto Bauer, der den Schutz­bund (Arbeitermiliz), Erbschaft der Revo­lution von 1918, nicht loszuwerden ver­mochte. Die mächtige österreichische Sozialde­mokratie wich feig zurück, passte sich der Bourgeoisie an, wich wieder zu­rück, ver­anstaltete alberne «Petitionen». gab sich den falschen Anschein zu kämp­fen, setzte Hoffnungen auf ihren Flandin (mit Namen Dollfuß), gab eine Position nach der an­deren preis, und als sie ganz in der Sack­gasse stak, begann sie hyste­risch zu schreien: «Arbeiter, zu Hilfe!» Die besten Kämpfer stürzten sich ohne Ver­bindung mit den desorientierten, nieder­geschla­ge­nen und betrogenen Massen in den Kampf und erlitten die unvermeidli­che Nie­derlage. Wonach Otto Bauer und Juli­us Deutsch erklärten: «Wir haben als Re­volutionäre gehandelt, aber das Prole­ta­riat hat uns nicht unterstützt!»

Die spanischen Ereignisse verliefen nach demselben Schema. Die sozialdemo­krati­schen Führer riefen die Arbeiter erst dann zum Aufstand. als sie der Bour­geoisie alle eroberten revolutionären Positionen abge­treten und die Volksmassen durch ihre Rückzugspolitik ermattet hatten. Die be­rufsmäßigen «Antiputschisten» sahen sich gezwungen, zur bewaffneten Vertei­digung aufzurufen, und zwar un­ter Bedin­gungen, wo diese Verteidigung großen­teils den Charakter eines «Put­sches» be­kam.

Der 6. Februar 1935 war in Frankreich eine Wiederholung der österreichi­schen und spanischen Ereignisse im Kleinen. Monatelang haben die Stalini­sten die Arbeiter eingeschläfert und de­moralisiert. die Losung der Miliz lächerlich gemacht und den physischen Kampf «abgelehnt», um dann plötzlich ohne die mindeste Vorbereitung dem Proletariat zu befehlen:

«Vorwärts marsch, zur Concorde!». Diesmal hat der liebe Langeron sie geret­tet. Morgen aber, wenn die Atmosphäre noch erhitzter sein wird, wenn die fa­schi­stischen Halunken die Arbeiterführer zu Dutzenden ermorden oder die Huma­nité in Brand stecken — wer sagt, das sei un­wahrscheinlich? — dann wird das wei­se Zentralkomitee bestimmt rufen: «Ar­beiter, zu den Waffen!» Und später im Kon­zen­trationslager oder, wenn sie es soweit bringen, in den Straßen von Lon­don, wer­den dieselben Führer mit Stolz verkün­den: «Wir haben zum Aufstand ge­rufen, aber die Arbeiter sind uns nicht gefolgt!»

 

Voraussicht und Vorberei­tung tut Not

Das Geheimnis des Erfolges liegt natür­lich nicht im «physischen Kampf» selbst, sondern in der richtigen Politik. Richtig aber nennen wir eine Politik, die den Ver­hältnissen von Zeit und Raum entspricht. An sich löst die Arbeitermiliz das Pro­blem nicht. Doch die Arbeitermiliz Ist notwendiger Bestandteil der Zeit und Raum entsprechenden Politik. Unsinnig wäre es, mit Revolvern auf die Wahlurne zu feuern. Aber noch unsinniger wäre es, sich gegen die faschistischen Banden mit dem Stimmzettel verteidigen zu wollen.

Die ersten Kerngruppen der Arbeitermiliz sind unvermeidlich schwach, ver­einzelt und unerfahren. Routiniers und Skeptiker werden verächtlich den Kopf schütteln. Es gibt Zyniker, die sich nicht schämen, im Gespräch mit Journalisten des Comité des Forges über den Gedanken der Arbei­termiliz zu spotten. Wenn sie sich so ge­gen das Konzentrationslager sichern zu können glauben, da irren sie sich. Der Imperialismus schert sich nicht um die Kriecherei dieses oder je­nes Führers, für ihn gilt es die Klasse zu zertreten.

Als Guesde und Lafargue in ihren jungen Jahren sich an die Propaganda des Mar­xismus machten, galten sie in den Augen der gescheiten Philister für macht­lose Einzelgänger und naive Utopisten. Den­noch sind sie es gewesen. die dieser Be­wegung, die soviel geriebene Parlamen­tarier mit sich schleppt, das Bett gru­ben. Auf literarischem, gewerkschaftlichem und genossenschaftlichem. Gebiet wa­ren die ersten Schritte der Arbeiterbewegung schwach, schwankend und unsi­cher. Trotz seiner Armut hat das Proletariat dank seiner Zahl und seinem Op­fergeist mächtige Organisationen geschaffen.

Die bewaffnete Organisation des Prole­tariats‚ die in diesem Augenblick beinahe vollständig mit der Abwehr des Fa­schismus zusammenfällt, ist ein neuer Zweig des Klassenkampfes. Auch hier sind die ersten Schritte ungeübt und un­beholfen. Man muss auf Fehler gefasst sein. Ja, es ist unmöglich, die Provokati­on ganz zu vermeiden. Die Kaderauslese wird nach und nach um so zuverlässiger, um so solider ausfallen, je näher die Miliz der Fabrik stehen wird, wo die Ar­beiter einander gut kennen.

Doch die Initiative muss notwendigerwei­se von oben ausgehen. Die Partei kann und soll die ersten Kader liefern. Den­selben Weg müssen auch die Gewerk­schaften beschreiten, und sie werden es unvermeidlich tun. Diese Kader werden um so rascher an Zu­sammenhalt und Kraft gewinnen, je mehr Sympathie und Hilfe ihnen seitens der Arbeiterorganisa­tionen und darüber hinaus seitens der werktätigen Massen zu­teil wird.

Was von diesen Herren sagen, die anstel­le Sympathie und Unterstützung, nur Ta­del und Spott übrig haben, oder schlim­mer, vor dem Klassenfeind die Arbeiter­selbstschutzstaffeln als «Aufstands»- und «Putsch»garden hinstellen? Man sehe sich unter anderen das sozialistische Blatt Combat Marxiste («Marxisti­scher (!) Kampf (?)») an. Gelehrte und halbgelehr­te Pedanten, Jouhaux’ theo­retische Adju­tanten, geleitet von russischen Men­schewiki, höhnen boshaft über die ersten Schritte der Arbeitermiliz. Diese Herren sind unmöglich anders denn als erklärte Feinde der proletarischen Revolution zu bezeichnen.

 

Arbeitermiliz und Heer

Hier aber rücken die konservativen Rou­tiniers mit ihrem letzten Argument heraus. «Glaubt ihr denn, das Proletariat könne mit schlecht bewaffneten Miliz- gruppen die Macht erobern, d. h. das heutige Heer mit seiner modernen Technik (Tanks! Flugzeuge!! Gase!!!) besiegen?…» Schwer­lich ist ein platteres und trivialeres, obendrein hundertfach durch Theorie und Geschichte widerlegtes Argu­ment auszu­denken. Und doch muss es jedesmal als das letzte Wort des «realistisches» Den­kens herhalten.

Selbst wenn man einen Augenblick an­nimmt, die Milizstaffeln würden sich mor­gen im Kampf um die Macht als unzu­länglich herausstellen, so sind sie darum heute zur Verteidigung nicht weniger notwendig. Die CGT-Führer lehnen be­kanntlich jeden Kampf um die Macht ab. Das wird die Faschisten nicht im minde­sten davon abhalten, die CGT zu zer­trümmern. Gewerkschaftsführer, die nicht rechtzeitig Verteidigungsmaßnahmen er­greifen. begehen ein Verbre­chen an den Gewerkschaften, ganz unabhängig von ihrem politischen Kurs.

Schauen wir uns indessen das gewichtig­ste Argument der Pazifisten näher an. «Be­waffnete Arbeiterabteilungen sind ge­genüber dem Heer unserer Tage ohn­mächtig». Dies «Argument» richtet sich ha Grunde nicht gegen die Miliz, son­dern gegen die Idee der proletarischen Re­volution selbst. Nimmt man einen Au­genblick lang an, das bis an die Zähne bewaffnete Heer werde unter allen Um­stän­den auf der Seite des Großkapitals stehen, dann soll man nicht nur auf die Arbeitermiliz verzichten, sondern auf den Sozialismus überhaupt. Dann wäre der Kapitalismus ewig.

Zum Glück ist das nicht der Fall. Die proletarische Revolution bedingt äußerste Verschärfung des Klassenkampfes, in der Stadt und auf dem Lande, und folglich auch im Heer. Die Revolution wird nur dann siegen, wenn sie den Hauptteil des Heeres für sich gewonnen oder minde­stens neutralisiert hat. Das lässt sich al­lerdings nicht improvisieren, das muss systematisch vorbereitet wer­den.

Hier unterbricht uns der pazifistische Dok­trinär, um — in Worten — sich mit uns einverstanden zu erklären. «Natürlich», wird er sagen, «muss man das Heer mit unablässiger Propaganda gewinnen». Das tun wir ja. Der Kampf gegen die hohe Sterblichkeit in den Kasernen, gegen die zwei Jahre, gegen den Krieg — der Erfolg in diesem Kampf macht die Arbeiterbe­waffnung überflüssig.

Stimmt das? Nein, das ist grundfalsch. Friedliche und ungetrübte Gewinnung des Heeres ist noch weniger möglich als friedliche Gewinnung einer Parlaments­mehrheit. Schon die sehr gemäßigten Kampagnen gegen die Sterblichkeit in den Kasernen und gegen die zwei Jahre haben ohne Zweifel eine Annäherung und geradezu ein Komplott der patriotischen Verbände mit den reaktionären Offizieren zur Folge, sowie die Verdoppelung der Subsidien des Finanzkapitals an die Fa­schisten. Je größer der Erfolg der an­ti-militaristischen Agitation, desto schnel­l­er wächst die faschistische Ge­fahr. Das ist die reale und nicht erfunde­ne Dialektik des Kampfes. Dar­aus ist der Schluss zu ziehen, dass es schon im Pro­zess der Propaganda und der Vorberei­tung sich mit der Waffe in der Hand, und von Mal zu Mal besser zu verteidigen gilt.

 

Während der Revolution

Die Revolution wird unvermeidlich Schwan­ken und Kampf innerhalb der Ar­mee mit sich bringen. Selbst die am mei­sten fortgeschrittenen Teile werden erst dann offen und aktiv auf die Seite des Proletariats übergehen. wenn sie mit ei­ge­nen Augen sehen, dass die Arbeiter sich schlagen wollen und imstande sind zu siegen. Auf­gabe der faschisti­schen Banden wird es sein, die Annähe­rung zwischen dem re­volutionären Prole­tariat und der Armee nicht zu erlauben. Die Faschisten werden den Arbeiterauf­stand schon im Keime zu ersticken su­chen, um dem besten Teil des Heeres die Möglichkeit zu nehmen, die Aufständi­schen zu unterstützen. Gleichzeitig wer­den die Faschisten den reaktionären Ar­meeteilen helfen, die revolutionärsten und unzuverlässigsten Regimenter zu ent­waffnen.

Welches wird in diesem Fall unsere Auf­gabe sein?

Es ist ausgeschlossen, im voraus anzu­geben, wie die Revolution in einem be­stimmten Lande verlaufen wird. Aber auf Grund der gesamten historischen Er­fah­rung kann man mit Bestimmtheit behaup­ten, dass der Aufstand in keinem Fall und in keinem Land den Charakter eines blo­ßen Zweikampfes zwischen der Arbei­termiliz und dem Heer annehmen wird. Das Kräfteverhältnis wird viel komplizier­ter und für das Proletariat weitaus günsti­ger sein. Die Arbeitermiliz wird — nicht durch ihre Bewaffnung, sondern durch ihr Bewusstsein und ihren Heroismus — Vor­hut der Revolution sein. Der Fa­schis­mus aber die Vorhut der Kont­er­revo­lu­tion. Die Arbeitermiliz muss mit Unter­stützung der gan­zen Klasse, mit Sympa­thie aller Arbeiter die Verbrecher­banden der Reaktion schlagen, entwaff­nen und terrorisieren, um so den Arbei­tern den Weg zur revolutionären Ver­brüderung mit der Armee freizumachen. Im Bunde werden Arbeiter und Soldaten den konter­revolutionären Teilen den Gar­aus ma­chen. So wird der Sieg sicher sein.

Skeptiker werden verächtlich mit den Schultern zucken. Das tun Skeptiker vor jeder siegreichen Revolution. Das Prole­tariat täte gut daran, die Skeptiker aufzu­fordern, sich aus dem Staube zu machen. Die Zeit ist zu kostbar, um den Tauben auseinanderzusetzen, was Musik, den Blinden, was Farben, und den Skeptikern, was sozialistische Revolution Ist.

 

V.Proletariat, Bauern, Ar­mee, Frauen, Jugend­li­che

Der Plan der CGT und die Einheitsfront

Jouhaux hat die Planidee bei de Man entlehnt. Bei allen beiden ist das Ziel das gleiche: den letzten Zusammenbruch des Reformismus zu verschleiern und dem Proletariat neue Hoffnungen einzu­flößen, um es von der Revolution abzu­bringen.

Weder de Man noch Jouhaux haben ihre «Pläne» erfunden. Sie nahmen ganz ein­fach die grundlegenden Forderungen des marxistischen Übergangsprogramms, die Nationalisierung der Banken und Schlüsselindustrien, warfen den Klassen­kampf über Bord und setzten an die Stel­le der revolutionären Enteignung die Fi­nanzoperation «Enteignung» gegen Ent­schädigung.

Die Staatsgewalt geht nach wie vor vom «Volke» aus, d. h. von der Bour­geoisie. Aber der Staat kauft die wichtigsten Indu­striezweige (man sagt uns nicht genau welche) ihren heutigen Besitzern ab, die für zwei, drei Generationen schma­rotzen­de Rentner werden: an die Stelle der pri­vatkapitalistischen Ausbeutung schlecht­hin tritt die indirekte Ausbeutung auf dem Umwege über einen Staatskapitalismus.

Da Jouhaux weiß, dass selbst dies ka­strierte Nationalisierungsprogramm ab­so­lut undurchführbar ist, erklärt er sich von vornherein bereit, seinen «Plan» gegen das Kleingeld parlamentarischer For­men im modischen Planwirtschaftsstil einzu­wechseln. Jouhaux Ideal wäre es, durch Schieben hinter den Kulissen die ganze Operation darauf zu reduzieren, dass in verschiedenen Wirtschafts- und Industrie­räten die Ge­werkschaftsbürokraten Sitz bekommen, ohne Vollmacht und Autori­tät, aber mit Diäten.

Nicht von ungefähr fand Jouhaux’ Plan — der wirkliche, der sich hinter dem papie­renen «Plan» verbirgt — die Unterstüt­zung der Neo und sogar die Zustim­mung Herriots!

Das fromme Ideal der «freien» Gewerk­schaftsbewegung wäre jedoch nur dann zu verwirklichen, wenn der Kapitalismus sich wieder verjüngt und die Arbeitermas­sen sich wieder unters Joch beugen. Wenn aber der kapitalistische Nieder­gang weitergeht? Dann kann der Plan, der die Arbeiter von «bösen Gedanken» abhalten sollte, die Fahne der revolutionären Be­wegung werden.

Natürlich hat Jouhaux, vom belgischen Beispiel erschreckt, eiligst zum Rück­zug geblasen. Der wichtigste Tagesordnungs­punkt der Nationalratssitzung der CGT von Mitte März — die Propaganda für den Plan — verschwand unver­sehens. Wenn dies Manöver mehr oder weniger gelang, so ist daran einzig und allein die Leitung der Einheitsfront schuld.

Die CGT-Führer hatten ihren «Plan» auf­gebracht, um mit den Parteien der Revo­lution konkurrieren zu können. Damit zeigte Jouhaux, dass er im Gefolge sei­ner bürgerlichen Inspiratoren die Situation als (im weitesten Sinne des Wortes) revolu­tionär einschätzt. Aber der revolutionäre Ge­gner ließ sich auf dem Kampf­schauplatz nicht blicken. Da beschloss Jouhaux, auf diesem so gefahrvollen Weg nicht weiterzugehen. Er zog sich zurück und wartet nun ab.

Im Januar schlug der Vorstand der Sozia­listischen Partei der Kompartei den ge­meinsamen Kampf um die Macht vor na­mens der Sozialisierung der Banken und konzentrierten Industriezweige. Säßen im Zentralkomitee der Kompartei Re­volutio­näre, sie hätten diesen Vorschlag mit of­fenen Armen aufnehmen müssen. Durch eine breite Kampagne um die Macht, hät­ten sie die revolutionäre Mobili­sierung in­nerhalb der SFIO beschleunigt und gleich­zeitig Jouhaux genötigt, seinen «Plan» zu agitieren. Auf diese Weise hät­te man die CGT zwingen kön­nen, der Einheitsfront beizutreten. Das spezifische Gewicht des französischen Proletariats wäre um ein mehrfaches gestiegen.

Aber im Zentralkomitee der Kompartei sitzen keine Revolutionäre, sondern Göt­zendiener. «Die Situation ist nicht revolu­tionär», erwiderten sie, ihren Nabel be­schauend. Die Reformisten der SFIO at­meten erleichtert auf: die Gefahr ist vor­über. Jouhaux strich geschwind die Frage der Planpropaganda von der Ta­gesord­nung. Und das Proletariat ist in der gro­ßen sozialen Krise somit ohne jedes Programm. Die Komintern hat wieder einmal eine reaktionäre Rolle gespielt.

 

Revolutionäres Bündnis mit der Bauernschaft

Die Agrarkrise bildet heute das Hauptre­servoir der bonapartistischen und faschi­stischen Tendenzen. Wenn die Not den Bauer bei der Kehle packt, ist er zu den unerwartetsten Sprüngen fähig. Die De­mokratie betrachtet er mit wach­sendem Misstrauen.

«Die Losung der Verteidigung der demo­kra­tischen Freiheiten». schrieb Mon­mousseau (Cahier du Bolchévisme, 1. September 1934, S. 1017) «entspricht aus­gezeichnet der Stimmung der Bauern­schaft». Dieser bemerkenswerte Satz be­weist, dass Monmousseau von der Bau­ernfrage genau so wenig Ahnung hat wie von der Gewerkschaftsfrage. Die Bauern beginnen den «Links»parteien den Rücken zu kehren, gerade weil diese un­fähig sind, ihnen etwas anderes zu bieten als leere Worte über die «Verteidigung der Demokratie».

Kein Programm von «Tagesforderungen» vermag dem Dorf etwas von irgend­wel­cher Bedeutung zu bringen. Das Proleta­riat muss mit den Bauern die Sprache der Revolution reden: es wird keine an­dere ge­meinsame Sprache finden. Die Arbeiter müssen zusammen mit den Bau­ern ein Programm revolutionärer Maß­nahmen zur Ret­tung der Landwirt­schaft ausarbeiten.

Vor allem fürchten die Bauern den Krieg. Sollen wir sie vielleicht mit Laval und Lit­winow durch falsche Hoffnungen auf den Völkerbund und die «Abrüstung» ködern? Das einzige Mittel zur Verhinderung des Krieges ist. die eigene Bourgeoisie zu stürzen und das Signal zur Umwandlung Europas in die Vereinigten Staaten der Arbeiter- und Bauernrepubliken zu ge­ben. Ohne Revolution keine Rettung vor dem Krieg.

Die werktätigen Bauern stöhnen unter den Wucherbedingungen des Kredits. Um diese zu ändern, gibt es nur einen Weg: Enteignung der Ban­ken und ihre Konzen­trierung in der Hand des Arbeiterstaats: auf Kosten der Fi­nanzhaie Schaffung ei­nes Vorzugskredits für die Kleinbauern, insbesondere für die bäuerlichen Genos­senschaften. Die Landwirtschaftskredit­banken müssen der Bauernkontrolle un­terliegen.

Die Bauern erleiden die Ausbeutung sei­tens der Dünger- und Mühlentrusts. Kein anderer Weg als die Nationalisierung der Dünger- und Großmühlentrusts und ihre völlige Unter­ordnung unter die Interessen der Bauern und Verbraucher.

Verschiedene Kategorien von Bauern (Meier, Pächter) unterliegen der Aus­beu­tung der Großgrundbesitzer. Kein anderes Mittel gegen den Bodenwucher als die Enteignung der Bodenwucherer durch Bauernkomitees unter Kontrolle des Ar­beiter- und Bauernstaats.

Keine dieser Maßnahmen ist denkbar un­ter der Herrschaft der Bourgeoisie. Kleine Almosen werden dem Bauern nicht hel­fen, mit Pflästerchen ist ihm nicht gedient. Es bedarf kühner revolutionärer Maß­nahmen. Der Bauer wird sie be­greifen, billigen und unterstützen, wenn der Arbei­ter ihm im Ernst zum gemeinsamen Kampf um die Macht die Hand reicht.

Nicht warten, bis das Kleinbürgertum sich von selbst entscheide, sondern dessen Denken formen, dessen Willen stärken‚ das ist die Aufgabe der Arbeiterpartei. Nur so wird der Bund zwischen Arbeitern und Bauern zustande kommen.

 

Das Heer

Der Geist der meisten Offiziere ist ein Abbild des reaktionären Geistes der herr­schenden Klassen des Landes, jedoch in noch kondensierterer Form. Der Geist der Soldatenmasse ist ein Abbild des Geistes der Arbeiter und Bauern, doch in abge­schwächterer Form: die Bourgeoisie ver­steht die Verbindung mit den Offizieren weit besser aufrechtzuerhalten, als das Proletariat die mit den Soldaten.

Der Faschismus imponiert den Offizieren gewaltig wegen seiner entschlosse­nen Losungen und seiner Bereitschaft, die schwierigen Fragen durch Revolver und Maschinengewehr zu lösen. Wir besitzen nicht wenig Nachrichten von dem Zu­sammenhang zwischen den faschisti­schen Verbänden und der Armee durch Vermittlung von Reserve- wie von aktiven Offizieren. Indessen erfahren wir nur ei­nen geringen Teil dessen, was tatsächlich vor sich geht. Jetzt müssen in der Armee die freiwillig Langdienenden eine steigen­de Rolle spielen. Unter ihnen wird die Re­aktion nicht wenig zusätzliche Agenten finden. Die faschistische Durchsetzung der Armee unter dem Schutz des ho­hen Generalstabs ist voll im Gange.

Die jungen bewussten Arbeiter in den Ka­sernen könnten der faschistischen Zerset­zung erfolgreich Widerstand leisten. Doch zum großen Unglück sind sie selbst poli­tisch entwaffnet: sie haben kein Pro­gramm. Der junge Erwerbslose, der Sohn des Kleinbauern, des Krämers oder klei­nen Beamten, sie alle bringen in die Ar­mee die Missstimmung des sozialen Mi­lieus mit, aus dem sie stammen. Was wird ihnen der Kommunist anderes sagen als: «Die Situation ist nicht re­volutionär»? Die Faschisten plündern das marxistische Programm und machen aus gewissen Teilen mit Erfolg ein Werkzeug sozialer Demagogie. Die «Kommunisten» (?) ver­leugnen faktisch ihr Programm und erset­zen es durch die ver­faulten Abfälle des Reformismus. Kann man sich einen schnöderen Bankerott vorstellen?

Die Humanité konzentriert sich auf die «Tagesforderungen» der Soldaten: das ist notwendig, aber nur der hundertste Teil des Programms. Das Leben des Heers ist heute mehr denn je politisch. Jede soziale Krise ist notwendigerweise eine Heeres­krise. Der französische Soldat erwartet und sucht klare Antworten. Auf die Fra­gen der sozialen Krise und der faschisti­schen Demagogie gibt es und kann es keine bessere Antwort geben als das Programm des Sozialismus. Dies Pro­gramm gilt es kühn im Lande entrollen, und durch tausend Kanäle wird es in das Heer eindringen!

 

Die Frauen

Die soziale Krise mit ihrem Gefolge von Beschwerden lastet am drückendsten auf den werktätigen Frauen. Sie sind doppelt unterjocht: durch die besitzen­de Klasse und durch die eigene Familie.

Es gibt «Sozialisten», die das Frauen­stimmrecht fürchten in Anbetracht des Einflusses der Kirche auf die Frau. Als ob das Schicksal des Volkes von einer mehr oder weniger großen Zahl «linker» Ge­meindeverwaltungen im Jahre 1935 ah­hinge, und nicht von der moralischen, sozialen und politischen Lage von Millio­nen Arbeiterinnen und Bäuerinnen in der kommenden Epoche!

Jede revolutionäre Krise ist kenntlich an dem Erwachen der besten Eigen­schaften der Frau aus den werktätigen Klassen: Leidenschaft, Heldenmut und Hingabe. Der kirchliche Einfluss wird nicht vom ohnmächtigen Rationalismus der «Frei­denker», noch von dem abgeschmackten Muckertum der Freimaurer zerstört wer­den, sondern durch den revolutionären Kampf um die Befreiung der Menschheit, und folglich an erster Stelle der Arbeiterin.

Das Programm der sozialistischen Revo­lution muss heutzutage ertönen als Sturm­glocke für die Frauen der Arbeiter­klasse!

 

Die Jugendlichen

Das grausamste Urteil über die Leitung der politischen und gewerkschaftli­chen Arbeiterorganisationen spricht die Schwä­che der Jugendorganisationen. Auf dem Gebiet der menschenfreundlichen Wer­ke, der Vergnügungen und des Sports sind uns Bour­geoisie und Kirche weitaus überlegen. Die Arbeiterjugend kann man ihnen nur durch das sozialisti­sche Pro­gramm und durch die revolutio­näre Aktion entreißen.

Die junge Generation des Proletariats braucht eine politische Führung und keine aufdringliche Vormundschaft. Konservati­ver Bürokratismus erstickt die Ju­gend und schreckt sie ab. Hätte es das Regime der kommunistischen Jugend schon 1848 gegeben, so hätten wir einen Gavroche nicht erlebt. Die Politik der Passivität und Anpassung wirkt besonders unheilvoll auf die Kader der Jugend. Die jungen Büro­kraten werden vorzeitig alt: sie kennen sich wohl in sämtlichen Manövern hinter den Kulissen aus, nicht aber im ABC des Marxis­mus. Ihre «Überzeugung» bilden sie sich von Fall zu Fall, je nach den Er­for­dernissen des Manövers. Die Teilneh­mer am letzten Kongress des Seinedi­strikts der sozialistischen Jugend (Paris und Umgebung) konnten diesen Typ aus der Nähe betrachten.

Vor der Arbeiterjugend heißt es das Pro­blem der Revolution in seiner gan­zen Größe stellen. Der jungen Generation zu­gewandt, gilt es an ihre Kühnheit und ih­ren Mut zu appellieren, ohne die in der Geschichte nichts Großes ge­schieht. Die Revolution wird der Jugend weit die Tore öffnen. Wie könnte die Jugend nicht für die Revolution sein!

 

VI. Warum Vierte Interna­tio­nale?

Bankrott der Komintern

In seinem Brief an den Nationalrat der sozialistischen Partei bezeichnete das Zentralkomitee der Kompartei als Grund­lage zur Vereinigung «das Programm der kommunistischen Internationale, das zum Sieg des Sozialismus in der UdSSR führte, während das Programm der 2. In­ternationale der tragischen Prü­fung des Krieges nicht standhielt und mit der schmerzlichen Bilanz Deutschlands und Österreichs endete». Dass die Zweite In­ternationale Bankrott gemacht hat. das haben die revolutionären Marxisten be­reits August 1914 erklärt. Alle weite­ren Ereignisse haben dieses Urteil nur bestä­tigt. Allein, bei dem Hinweis auf den un­bestreitbaren Bankrott der Sozialdemo­kratie in Deutschland und Österreich ver­gessen die Stalinisten eine Frage zu be­antworten: und was war mit der deut­schen und der österreich­ischen Kom­internsektion? Die deutsche Kompartei brach bei der geschichtlichen Prüfung ebenso schmählich zusammen wie die deutsche Sozialdemokratie. Warum? Die deutschen Arbeiter wollten kämpfen und glaubten, «Moskau» werde sie zum Kampf führen, sie strebten unaufhörlich nach links. Die deutsche Kompartei wuchs rapid, in Berlin war sie zahlenmä­ßig der Sozialdemokratie überlegen. Doch innerlich war sie verwüstet noch be­vor die Stunde der Prüfung kam. Erstickung des inneren Lebens der Partei. Kom­mandos statt Überzeugen. Zickzackpolitik, Ernen­nung der Führer von oben, Lug und Trug gegenüber der Masse als System — all das demoralisierte die Par­tei bis ins Mark hinein. Als die Gefahr nahte, erwies sich die Partei als ein Leichnam. Diese Tatsa­che kann aus der Geschichte nicht mehr ausgelöscht wer­den.

Nach der schändlichen Kapitulation der Komintern in Deutschland verkünde­ten die Bolschewiki-Leninisten: die Dritte In­ternationale ist tot! Unnötig. an die Be­schimpfungen zu erinnern, welche die Stalinisten aller Länder uns an den Kopf warfen. Die Humanité behauptete bereits nach Hitlers endgültigem Machtantritt von Nummer zu Nummer: «In Deutschland gab es keine Niederlage», «Nur Renega­ten können von einer Niederlage spre­chen». «Die deutsche kommunistische Partei wächst von Stunde zu Stunde», «Die Partei Thälmanns be­reitet sich auf die Machtergreifung vor». Kein Wunder, wenn diese verbrecherischen Prahlereien nach der größten aller historischen Kata­strophen die übrigen Sektionen der Kom­intern noch weiter demoralisierten: eine Organisation. die die Fähigkeit verloren hat, aus ihrer eigenen Niederlage zu ler­nen, ist unwiderruflich verurteilt

 

Die Lehre der Saar

Der Beweis blieb nicht lange aus. Das Saarplebiszit war wie geschaffen zu zei­gen, wieviel Vertrauen das deutsche Pro­letariat noch in die Zweite und Drit­te In­ternationale setzte. Die Resultate sind da: genötigt zu wählen zwischen der trium­phierenden Gewalt Hitlers und der mor­schen Kraftlosigkeit der bankrotten Arbei­terparteien, gaben die Massen 90% der Stimmen Hitler, dagegen der Front der Zweiten und Dritten Internationale (die jüdische Bourgeoisie. die geschäft­lich in­teressierten Kreise, die Pazifisten usw. abgerechnet) vermutlich nicht mehr als 7%. Das ist die gemeinsame Bilanz des Reformismus und des Stalinismus. Wehe dem, der diese Lehre nicht begrif­fen hat.

Die werktätigen Massen stimmten für Hitler, weil sie einen anderen Ausweg nicht sahen. Die Parteien, die sie jahr­zehntelang zum Kampf für den Sozialis­mus weckten und sammelten, haben sie betrogen und verraten. Das ist die Schlussfolgerung, die die Arbeiter zogen! Wäre in Frankreich das Banner der sozia­listischen Resolution hoch aufgerichtet worden, so hätte das Saarproletariat sei­nen Blick nach Westen gewandt und die Klassensolidarität über die nationa­le Soli­darität gestellt. Aber ach, der gallische Hahn kündigte dem Saarvolk kein revolu­tionäres Morgenrot an. In Frankreich wird, wenn auch unter der Hülle der Einheits­front, dieselbe Politik der Ohnmacht, der Unentschlossenheit, des Auf-der-Stelle-Tretens, des mangelnden Vertrauens in die eigene Kraft betrieben, an der die Sa­che des deutschen Proletariats scheiterte. Darum ist das Saarplebiszit nicht nur ein Beweis der Auswirkungen der deutschen Katastrophe, sondern auch eine furcht­bare Warnung für das französische Proletariat. Wehe den Parteien, die an der Oberfläche der Ereignisse treiben, sich in Worten wiegen, auf Wunder hof­fen, dem Todfeind gestatten, sich unge­straft zu organisieren, zu bewaffnen, vor­teilhafte Stel­lungen zu beziehen und den günstigsten Augenblick für den entschei­denden Schlag zu wählen!

Das lehrt uns die Saar.

 

Kominternprogramm

Viele Reformisten und Zentristen (d.h. zwischen Reformismus und Revolution Schwankende), die heute nach links wen­den, streben zur Komintern hin: einige, vornehmlich Arbeiter, weil sie im Mos­kauer Programm aufrichtig den Wider­schein der Oktoberrevolution zu finden hoffen, andere, vorwiegend Funktionäre, einfach weil sie mit der mächtigen So­wjetbürokratie Freundschaft schließen möchten. Lassen wir die Karrieristen. Aber den Sozialisten, die aufrichtig in der Komintern eine revolutionäre Führung zu finden hoffen, rufen wir zu: ihr irrt euch grausam! Ihr kennt zu schlecht die Ge­schichte der Komintern der letzten zehn Jahre, eine Geschichte von Fehlern, Ka­tastrophen, Kapitulationen und bürokrati­scher Entartung.

Das heutige Kominternprogramm wurde 1928 auf dem 6. Weltkongress an­ge­nommen, nach der Zertrümmerung der leninistischen Leitung. Zwischen dem heutigen Programm und jenem, mit dem der Bolschewismus 1917 siegte, klafft ein Abgrund. Das Programm des Bolsche­wismus ging davon aus, dass das Schick­sal der Oktoberrevolution untrennbar mit dem Schicksal der internationalen Re­vo­lution verkettet ist. Das Programm von l928 geht trotz allen «internatio­nalis­ti­schen» Phrasen aus von der Perspektive des selbständigen Auf­baus des Sozia­lismus in der Sowjet­union. Lenins Pro­gramm sagte: «Ohne Revolution im We­sten und im Osten sind wir verloren». Dies Programm schloss wesensgemäß die Möglichkeit aus, die Interessen der Weltarbeiterbewegung den Interessen der UdSSR zu opfern. Das. Kominternpro­gramm bedeutet in der Pra­xis: im Interes­se der UdSSR (in Wirklich­keit im Interes­se der diplomatischen Kombinationen der Sowjetbürokratie) könne und solle man die Interessen der proletarischen Revolu­tion in Frankreich opfern. Lenins Pro­gramm lehrte: der So­wjetbürokratismus ist der schlimmste Feind des Sozialis­mus; als Ausdruck des Druckes bürgerli­cher Kräfte und Tenden­zen auf das Prole­tariat kann der Bürokra­tismus zur Wie­derauferstehung der Bour­geoisie führen: ein Erfolg des Kampfes gegen die Plage des Bürokratismus ist nur durch den Sieg des europäischen und des Weltproletari­ats zu gewährleisten. Im Gegensatz dazu sagt das heutige Komin­ternpro­gramm: der Sozialismus kann un­abhängig von den Erfolgen und Niederla­gen des Welt­proletariats unter der Leitung der unfehl­baren und allmächtigen Büro­kratie aufge­baut werden; alles was gegen ihre Un­fehlbarkeit gerichtet ist, ist konter­re­volu­tionär und verdient ausgerottet zu werden.

Im heutigen Kominternprogramm gibt es selbstverständlich viele dem lenin­schen Programm entlehnte Ausdrücke, Formeln, Sätze (auch die konservative Bü­rokratie des Thermidor und des Konsulats in Frankreich gebrauchte die Aus­druckswei­se der Jakobiner), aber im Grunde schließt ein Programm das andere aus. In der Praxis hat die Stalinbürokratie ja schon längst das Programm der in­terna­tionalen proletarischen Revolution durch ein Programm nationaler Sowjet­reformen ersetzt. Die Komintern zersetzt und schwächt mit ihrer aus Opportunis­mus und Abenteurertum gemischten Politik das Weltproletariat und untergräbt da­mit die fundamentalen Interessen der UdSSR Wir sind für die UdSSR, aber gegen die usurpatorische Bürokratie und ihr blindes Werkzeug, die kommunisti­sche Interna­tionale.

 

Organische Einheit[1]

Zugegeben, dass die Kompartei heute sogar wächst. Nicht dank, sondern trotz ihrer Politik. Die Ereignisse drängen die Arbeiter nach links und die Kompartei bleibt trotz ihrer opportunistischen Wen­dung für die Massen die «extreme Lin­ke». Das zahlenmäßige Wachsen der Kompar­tei bietet jedoch nicht die gering­ste Ge­währ für die Zukunft: die deutsche Kom­partei wuchs wie gesagt ständig bis zum Augenblick der Kapitulation, und noch viel rascher.

Jedenfalls ist die Tatsache des Vorhan­denseins zweier Arbeiterparteien, die an­gesichts der gemeinsamen Gefahr die Einheitsfrontpolitik zur absoluten Not­wendigkeit macht, auch eine hinreichende Erklärung für das Streben der Arbei­ter nach ihrer organischen Vereinigung. Gäbe es in Frankreich eine konsequent re­volutionäre Partei. dann wären wir ent­schieden Gegner der Verschmelzung mit der opportunistischen Partei. Bei der Ver­schärfung der sozialen Krise würde die revolu­tionäre Partei im Kampfe gegen den Reformismus bestimmt die überwie­gende Mehrheit der Arbeiter um ihr Ban­ner scharen. Das historische Problem be­steht nicht darin, mechanisch alle Orga­nisationen, die aus verschiedenen Etap­pen des Klassenkampfes überkommen sind, zu vereinigen, sondern das Proleta­riat im Kampf und für den Kampf zu sammeln. Das sind zwei grundverschie­dene, bis­weilen sogar entgegengesetzte Probleme.

Aber tatsächlich gibt es in Frankreich keine revolutionäre Partei. Die Behen­dig­keit, mit der die Kompartei — ohne die geringste Diskussion — von der Theorie und Praxis des «Sozialfaschismus» über­ging zum Block mit den Radikalso­ziali­sten und zur Ablehnung der revolutio­nä­ren Aufgaben im Namen der «Ta­ges­for­derungen», ist ein Zeugnis dafür, dass der Parteiapparat vom Zynismus völlig zerfressen und die Basis desorientiert und des Denkens entwöhnt ist. Es ist eine kranke Partei.

Die Bolschewiki-Leninisten haben die Einstellung der SFIO offen genug kriti­siert, als dass hier bereits mehrfach Ge­sagtes noch einmal wiederholt wer­den müsste. Ohne Zweifel aber wird trotz al­lem der linke, revolutionäre Flügel der SFIO allmählich zum Laboratorium, wo Losungen und Methoden des proletari­schen Kampfes Gestalt annehmen. Wenn dieser Flügel sich festigt und stählt, kann er zum entscheidenden Faktor für die Beeinflussung der kommunisti­schen Ar­beiter werden. In diesem Weg allein liegt das Heil. Die Lage würde hin­gegen ein für allemal verloren sein, wenn der revolutio­näre Flügel der sozialistischen Partei in das Räderwerk des Kominternapparats geriete, das dazu dient, Wirbelsäulen und Charaktere zu brechen, einem das Den­ken auszutreiben und blinden Gehorsam zu lehren — eine offen gesagt verheeren­de Art zur Heranbildung von Revolutio­nä­ren.

«Was, ihr seid also gegen die organische Einheit?», werden uns nicht ohne Entrü­stung manche Genossen fragen.

Nein, wir sind nicht gegen die Einheit. Aber wir sind gegen Fetischismus, Aber­glauben und Verblendung. Einheit an sich löst noch nichts. Die österreichi­sche So­zialdemokratie erfasste beinahe das ge­samte Proletariat, aber nur um es ins Verderben zu stürzen. Die Belgische Ar­beiterpartei kann von sich mit Recht sa­gen, die einzige Arbeiterpartei zu sein. Das hindert sie aber nicht daran, von ei­ner Kapitulation zur anderen zu schreiten. Nur hoffnungslos Naive können er­warten, dass die Labour Party, die das englische Proletariat vollständig be­herrscht, im­stande sein wird dessen Sieg zu garantie­ren. Nicht Einheit an sich entscheidet, sondern ihr realer politischer Gehalt.

Wenn sich die SFIO jetzt auf der Stelle mit der Kompartei vereinigte, so würde das den Sieg noch ebensowenig garantie­ren wie die Einheitsfront: nur richtige re­vo­lutionäre Politik kann den Sieg er­brin­gen. Aber wir sind bereit, zuzugeben, dass die Vereinigung unter den gegen­wärtigen Umständen die Umgrup­pierung und Sammlung der in den beiden Partei­en verstreuten revolutionären Ele­mente erleichtern würde. In diesem — und nur in diesem — Sinne könnte die Vereinigung ein Schritt nach vorwärts sein.

Aber die Vereinigung — das sei hier so­gleich gesagt — wäre ein Schritt zu­rück, schlimmer, ein Schritt in den Abgrund, wenn der Kampf gegen den Oppor­tunis­mus in der vereinigten Partei im Flussbett der Komintern verliefe. Der sta­linistische Apparat ist wohl imstande, eine siegrei­che Revolution auszunutzen. doch orga­nisch unfähig, einer neuen Revolution zum Sieg zu verhelfen. Er ist konservativ bis ins Mark. Wiederholen wir nochmals: die Sowjetbürokratie verhält sich zur alten bol­schewistischen Partei, wie die Bürokra­tie des Direktoriums und des Konsulats zum Jakobinertum.

Die Vereinigung der beiden Parteien würde uns vorwärts bringen nur, wenn sie von Illusionen, Verblendung und glattem Betrug gereinigt ist. Um von der Krankheit der Komintern nicht angesteckt zu wer­den, brauchen die linken So­zialisten eine tüchtige Impfung mit Leninismus. Darum eben verfolgen wir un­ter anderem so aufmerksam und so kritisch die Entwick­lung der linken Gruppen. Einige fühlen sich durch uns gekränkt. Aber wir meinen, dass auf revolutionärem Gebiet die Re­geln der Verantwortung unvergleichlich wichtiger sind als die Re­geln der Höflich­keit. Auch wir werten die gegen uns ge­richtete Kritik nicht vom sentimentalen, sondern vom revolutionären Standpunkt.

 

Diktatur des Proletariats

Zyromsky hat in einer Artikelserie die Grundprinzipien der zukünftigen ver­einig­ten Partei niederzulegen versucht. Das ist jedenfalls viel ernster, als nach Lebas‘ Manier allgemeine Phrasen über die Ein­heit zu dreschen. Leider aber macht Zy­romsky In seinen Artikeln einen Schritt nicht etwa zum Leninismus, sondern zum bürokratischen Zentrismus (Stalinismus). Das tritt, wie wir zei­gen werden, in der Frage der Diktatur des Proletariats be­sonders klar hervor.

Aus irgendeinem Grunde wiederholt Zy­romsky mit besonderer Eindringlich­keit in der Artikelserie den Gedanken — als Ur­sprungsquelle beruft er sich dabei übri­gens auf Stalin! — dass «die Diktatur des Proletariats nie als ein Ziel betrachtet werden kann». Als ob es irgendwo auf der Welt so verrückte Theoretiker gäbe, die die Diktatur des Proletariats für ein «Ziel an sich» halten! Doch hinter dieser son­derbaren Eindringlichkeit steckt ein Ge­dan­ke: Zyromsky entschul­digt sich so­zu­sagen im Voraus bei den Rechten, die Diktatur zu wollen. Leider ist die Diktatur schwer zu errichten, wenn man mit Ent­schuldigungen beginnt.

Weit schlimmer, indes, ist folgender Ge­danke: «Die Diktatur des Proletariats … muss sich im Maße, wie der sozialistische Aufbau sich entwickelt, lockern und fort­schreitend in proletarische Demokratie umwandeln». In diesen we­nigen Zeilen stecken zwei fundamentale prinzipielle Fehler. Die Diktatur des Proletariats wird der proletarischen Demokratie gegen­übergestellt. Indes, die Diktatur des Proletariats kann und muss ihrem Wesen gemäß höchste Entfaltung der proletari­schen Demokratie sein. Zur Durchfüh­rung einer grandiosen sozialen Revolution be­darf das Proletariat der höchsten Offen­barung all seiner Kräfte und Fähigkeiten: es organisiert sich demokratisch, gerade um seine Feinde zu bezwingen. Die Dikta­tur soll, nach Lenin, «jede Kö­chin lehren, den Staat zu lenken». Das Schwert der Diktatur ist gegen die Klas­senfeinde ge­richtet. Grundlage der Diktatur bil­det die proletarische Demokratie.

Bei Zyromsky ersetzt die proletarische Demokratie die Diktatur «in dem Maße, wie sich der sozialistische Aufbau ent­wickelt». Das ist eine ganz falsche Per­s­pektive. In dem Maße, wie die bürgerliche Gesellschaft in die sozialistische über­geht, stirbt die proletarische Demokratie zusammen mit der Diktatur ab, denn der Staat selbst stirbt ab. In der sozialisti­schen Gesellschaft wird für «proletari­sche Demokratie» kein Platz sein, erstens we­gen Nichtvorhandenseins eines Proletari­ats, zweitens wegen fehlender Notwen­digkeit einer Staatsgewalt. Darum wird die Entwicklung der sozialistischen Ge­sellschaft nicht die Umwandlung der Dik­tatur in Demokratie mit sich bringen, son­dern deren gemeinsames Aufgehen in der wirtschaftlichen und kulturellen Organisa­tion der sozialistischen Gesell­schaft.

 

Anpassung an die Stalinbüro­kratie

Wir hätten uns bei diesem Fehler nicht aufgehalten, wäre er rein theoretisch ge­wesen. Tatsächlich aber verbirgt sich da­hinter ein ganzer politischer Plan. Die Theorie von der Diktatur des Proletariats, die Zyromsky, wie er selbst zugibt, bei Dan entlehnt hat, versucht er auf das heutige Regime der Sowjetbürokratie zu­zupassen. Er verschließt übrigens be­wusst die Augen vor der Frage: warum entwickelt sich trotz den enormen Wirt­schaftserfolgen der UdSSR die proleta­ri­sche Diktatur nicht zur Demokratie hin, sondern zu einem ungeheuerlichen, im persönlichen Regime gipfelnden Bürokra­tismus? Warum werden, «im Maße wie sich der sozialistische Aufbau entwickelt», Partei, Sowjets und Gewerkschaften er­stickt? Unmöglich ist diese Frage ohne gründliche Kritik am Stalinismus zu be­antworten. Aber deshalb will sie Zy­roms­ky ja gerade um jeden Preis vermeiden.

Indessen bezeugt die Tatsache, dass eine unabhängige und unkontrollierte Bü­rokra­tie die Verteidigung der sozialen Errun­genschaften der proletarischen Re­volution an sich gerissen hat, dass wir mit einer kranken, entartenden Diktatur zu tun ha­ben, die sich selbst überlassen nicht bei der «proletarischen Demokra­tie», sondern beim vollständigen Zusammenbruch des Sowjetregimes enden wird.

Nur die Revolution im Westen kann die Oktoberrevolution vor dem Unter­gang bewahren. Die Theorie vom «Sozialismus in einem Lande» ist in allen ihren Grund­lagen falsch. Das Kominternprogramm taugt auch nicht mehr. Die Annah­me die­ses Programms hieße, den Zug der inter­nationalen Revolution den Damm hinun­ter kippen. Erste Voraussetzung des Er­folges für das französische Prole­tariat ist vollständige Unabhängigkeit seiner Avant­garde gegenüber der national-kon­servati­ven Sowjetbürokratie. Es ist natür­lich das Recht der Kompartei, als Basis für die Vereinigung das Kominternpro­gramm vorzuschlagen: etwas anderes könnte sie gar nicht anbieten. Doch die revolutionä­ren Marxisten, die sich ihrer Verantwor­tung für das Schicksal des Proletariats bewusst sind, müssen Bucha­rin-Stalins Programm einer unerbittlichen Kritik un­terziehen. Einheit ist etwas Herr­liches, doch nicht auf fauliger Grundlage. Die fortschrittliche Aufgabe be­steht darin, die sozialistischen und kommunistischen Ar­beiter auf der Grundlage des internatio­na­len Programms von Marx und Lenin zu sammeln. Die Interessen des Weltprole­tariats wie die Interessen der UdSSR (sie unterscheiden sich nicht) fordern den gleichen Kampf sowohl gegen den Re­formismus wie gegen den Stalinismus.

 

Vierte Internationale

Die beiden Internationalen, nicht nur die Zweite, sondern auch die Dritte, sind bis ins Mark erkrankt. Es gibt historische Prü­fungen, die untrüglich sind. Große Ereig­nisse (China, England, Deutschland, Ös­terreich, Spanien) haben ihr Urteil ge­fällt. Gegen dies an der Saar bekräftigte Urteil ist keine Berufung möglich. Die Vor­be­rei­tung einer neuen Internationale, fußend auf der tragischen Erfahrung der letzten zehn Jahre, steht auf der Tages­ordnung. Diese grandiose Aufgabe ist selbst­ver­ständlich aufs engste mit dem gesamten Gang des proleta­rischen Klas­senkampf es verknüpft, vor allem mit dem Kampf gegen den Faschismus in Frank­reich. Um den Feind zu besiegen, muss die Avant­garde des Proletariats sich die mit Oppor­tunismus und Stalinismus un­vereinbaren revolu­tionären marxistischen Methoden zu eigen machen. Wird es uns gelingen, diese Aufgabe zu erfüllen? En­gels schrieb einst: «Die Franzosen ver­bessern sich stets beim Herannahen der Kämpfe». Hoffen wir, dass sich auch diesmal die Einschät­zung unseres großen Meisters bestätigen wird. Aber der Sieg des fran­zösischen Proletariats ist denkbar nur, wenn es im Feuer des Kampfes eine wahrhaft re­volutionäre Partei gebiert, Eckstein der kommenden neuen Interna­tionale. Das wäre der kürzeste, vorteilhaf­teste, günstigste Weg zur internationalen Revolution.

Sehr dumm wäre es zu behaupten, sie sei bereits gesichert. Ist ein Sieg mög­lich, so eine Niederlage leider nicht minder. Die gegenwärtige Politik der Einheitsfront und der beiden Gewerkschaften er­leichtert nicht, sondern erschwert den Sieg. Es ist ganz klar, dass im Falle der Zerschlagung des französischen Proleta­riats seine beiden Par­teien ein für allemal von der Bildfläche verschwinden werden.[2] Die Notwendig­keit einer neuen Internatio­nale, auf neuen Grundlagen, würde dann jedem Ar­beiter einleuchten. Doch ist es ebenfalls klar, dass die Errichtung der Vierten Internationale im Falle des Sieges des Faschismus in Frankreich auf tau­send Hindernisse stoßen, äußerst lang­sam vonstatten gehen, und der Brenn­punkt der ganzen revolutionären Arbeit sich dann höchstwahrscheinlich nach Amerika ver­lagern würde.

So führen beide historischen Varianten — Sieg und Niederlage des franzö­sischen Proletariats — gleicherweise, wenn auch verschieden schnell, auf den Weg der Vierten internationale. Ausdruck eben dieser geschichtlichen Tendenz sind die Bolschewiki-Leninisten. Abenteurertum in allen seinen Formen ist ihnen fremd. Es handelt sich nicht darum, die Vierte Inter­nationale künstlich zu «proklamiereren», sondern sie systematisch vorzubereiten. An Hand der Erfahrung aus den Ereignis­sen gilt es den vorgeschrittenen Arbeitern zu zeigen und zu bewei­sen, dass die Pro­gramme und Methoden der beiden Inter­nationalen in unüber­brückbarem Wider­spruch stehen zu den Anforderungen der proletarischen Revolution, und dass die­ser Widerspruch nicht ab-, sondern im Gegenteil unaufhörlich zunimmt. Aus die­ser Analyse ergibt sich die einzig mögli­che Generallinie: theoretische und prakti­sche Vorbereitung der Vierten Internatio­nale.

 

Jacques Doriot oder Das Messer ohne Klinge

Im Februar 1935 fand eine internationale Konferenz mehrerer, weder der Zweiten noch der Dritten Internationale angehö­renden Organisationen statt (zwei hol­ländische Parteien, die deutsche SAP, die englische ILP usw.). Mit Ausnahme der Holländer, die auf dem Boden des revolu­tionären Marxismus stehen, vertraten alle anderen Teilnehmer verschiedene, meist sehr konservative Abarten des Zentris­mus. 1. Doriot, der an dieser Konferenz teilnahm, schrieb in seinem Bericht: «In einer Zeit, wo die Krise des Kapitalismus die Thesen des Marxismus schlagend bewahrheitet … sind die zu diesem Zweck sei es von der Zweiten oder von der Drit­ten Internationale geschaffenen Parteien sämtlich ihrer Mission untreu gewor­den». Hal­ten wir uns nicht dabei auf, dass Doriot im Laufe des zehnjährigen Kampfes gegen die Linke Opposition sel­ber mitgeholfen hat, die Komintern zu zersetzen. Erinnern wir im Besonderen nicht an die traurige Rolle Doriots in Be­zug auf die chinesische Revolution. Bu­chen wir einfach, dass Doriot 1935 den Bankrott der Zweiten und der Dritten In­ternationale begriffen und erkannt hat. Folgerte für ihn daraus die Notwendigkeit der Vorbereitung der neuen Internationa­le? Das annehmen heißt den Zentrismus schlecht kennen. Zur Idee der neuen In­ternatio­nale schreibt Doriot: «Diese Idee des Trotzkismus ist von der Konferenz aus­drücklich verurteilt worden». Doriot geht zu weit, wenn er von «ausdrücklicher Verurteilung» spricht, doch ist es wahr, dass die Konferenz gegen die beiden holländischen Delegierten die Idee der Vierten Internationale ablehnte. Welches ist nun aber eigentlich das Programm der Konferenz? Das, kein Pro­gramm zu ha­ben. Bei ihrer alltäglichen Arbeit bleiben die Konferenzteilnehmer abseits von den internationalen Aufgaben der proletari­schen Revolution und den­ken kaum daran. Aber alle anderthalb Jahr halten sie einen Kongress ab, um ihr Herz zu erleichtern und zu erklären: «Die Zweite und die Dritte Internatio­nale haben Bank­rott gemacht». Dann schütteln sie betrübt die Köpfe und gehen wieder auseinander. Diese «Organisation» sollte eher heißen: Büro zur Veran­staltung einer alljährlichen Totenfeier für die Zweite und Dritte Inter­nationale. Diese ehrenwerten Leute bilden sich ein, «Realisten», «Taktiker», ja «Mar­­xisten» zu sein. In einem fort sagen sie Sprüchlein her wie: «Man darf nicht ergreifen». «Die Massen haben noch nicht begriffen», usw. Aber warum greift ihr denn selber vor, indem ihr den Bank­rott der beiden Internationalen feststellt: die «Massen» haben es doch noch nicht begriffen? Und die Massen, die es begrif­fen haben — ohne euer Zutun — sie … stimmen für Hitler (Saar). Ihr ordnet die Vorbereitung der Vierten Internationale dem «historischen Prozess» unter. Aber seid ihr nicht selber ein Teil dieses Pro­zesses? Die Marxisten waren im­mer be­strebt, an der Spitze des historischen Prozesses zu sein. Welchen Teil eigent­lich bildet ihr?

«Die Massen haben noch nicht begriffen». Aber die Massen sind nicht gleichartig. Neue Ideen werden zuerst von den vorge­schrittenen Elementen auf­genommen. und durch ihre Vermittlung dringen sie in die Massen. Wenn ihr, hehre Weisen, die Notwendigkeit und Unabweisbarkeit der Vierten Internatio­nale begriffen habt, wie könnt ihr nur diese Schlussfolgerung den Massen vorent­halten? Schlimmer noch: nachdem er den Bankrott der bestehen­den Internationa­len erkannt hat, «ver­ur­teilt« (!!!) Doriot gar die Idee der neuen In­ternationale:

Welche praktische Perspektive gibt er also der revolutionären Avantgarde? Gar keine. Doch das heißt Verwirrung, Unruhe und Demoralisierung säen.

Das ist die Natur des Zentrismus. Diese Natur gilt es restlos zu begreifen:

Unter dem Druck der Umstände kann die­ser oder jener Zentrist in Analyse, Ur­teil und Kritik sehr weit gehen: in dieser Hin­sicht wiederholen die SAP-Füh­rer, die die genannte Konferenz leiteten, haargenau vieles von dem, was die Bol­schewiki-Le­ninisten seit zwei, drei oder zehn Jahren sagten. Aber vor den revo­lutionären Schlussfolgerungen macht der Zentrist stets ängstlich halt. Im Fami­lienkreise ei­ne Totenfeier für die Komintern veran­stal­ten? Warum nicht! Aber die Vorberei­tung der neuen Internationale in Angriff neh­men? Nein, lieber … den Trotzkismus «ver­­urteilen».

Doriot hat keinerlei Position. Und er will auch gar keine haben. Nach dem Bruch mit der Kominternbürokratie hätte er eine ernste, fortschrittliche Rolle spielen kön­nen. Aber bis jetzt hat er nicht einmal ver­sucht es zu tun. Er geht den revolutionä­ren Aufgaben aus dem Wege. Er hat sich die SAP-Führer zum Lehrmeister ge­nommen. Will er sich endgültig dem Ver­ein der Zentristen an­schließen? Möge er wissen: ein Zentrist ist ein Messer ohne Klinge!

 

VII. Schlussfolgerung

Kräfteverhältnis

«Abwarten», «Gewähren lassen». «Zeit gewinnen», das sind die Losungen der Reformisten, Pazifisten, Gewerkschaftler und Stalinisten. Diese Politik zehrt von dem Gedanken, die Zeit arbeite für uns. Stimmt das? Nein, grundverkehrt ist es! Wenn wir in einer vorrevolutionären Si­tuation keine revolutionäre Politik führen, dann arbeitet die Zeit gegen uns.

Trotz des Lobgehudels zu Ehren der Ein­heitsfront hat sich das Kräfteverhältnis im letzten Jahr zuungunsten des Proleta­riats geändert. Wa­rum? Marceau Pivert hat darauf in seinem Artikel «Eins hält das andere» (Popu­laire vom 18. März 1935) eine richtige Antwort gegeben. Hin­ter den Kulissen vom Finanzkapital ge­lenkt, betreiben alle Kräfte und Teile der Reaktion eine nicht nachlassende Offen­sivpolitik, erobern eine Position nach der anderen, bauen sie aus und rücken weiter vor (Industrie, Landwirtschaft. Unterricht, Pres­se, Justiz, Armee). Auf Seiten des Proletariats nichts als Phrasen über die 0ffensive, tatsächlich aber nicht einmal eine Defensive. Die Positionen werden nicht ausgebaut, sondern sie sind kampf­los abgetreten oder werden bald abge­tre­ten.

Das politische Kräfteverhältnis wird nicht allein durch objektive Faktoren bestimmt (Rolle in der Produktion, Zahl usw.). son­dern auch durch subjektive: Bewusstsein der Kraft ist der wichtigste Bestandteil wirklicher Kraft. Während der Faschis­mus von Tag zu Tag das Selbstvertrauen der deklassierten Kleinbürger hebt, schwächen die leitenden Gruppen der Einheitsfront den Willen des Proletariats. Die Pazifisten, Schüler Buddhas und Gandhis, und nicht Marx‘ und Lenins, er­gehen sich in Predigten gegen Gewalt, Bewaffnung, physischen Kampf. Die Sta­linisten predigen im Grunde dasselbe, nur dass sie sich auf die «nichtrevolutionäre Situation» beru­fen. Zwischen Faschisten und Pazifisten aller Schattierungen herrscht Arbeitsteilung: die einen verstär­ken das Lager der Reaktion. die anderen schwächen das Lager der Revolution. Das ist die unverhüllte Wahrheit!

 

Heißt das, die Lage sei hoff­nungslos? … Oh nein! …

Zwei Faktoren wirken gegen die Reformi­sten und Stalinisten. Erstens: die Beispie­le Deutschlands, Österreichs und Spani­ens sind noch frisch vor aller Augen, die Arbeitermassen sind auf der Hut, die Re­formisten und Stalinisten aus der Fas­sung. Zweitens: die Marxisten haben rechtzeitig verstanden, vor der pro­letari­schen Avantgarde die Probleme der Re­volution aufzurollen.

Die Bolschewiki-Leninisten sind weit da­von entfernt, ihre zahlenmäßige Stärke zu übertreiben. Doch die Kraft ihrer Losun­gen kommt daher, dass sie die Entwick­lungslogik der gegenwärtigen vorrevolu­tionären Lage ausdrücken. Die Ereignisse jeder Etappe bestätigen ihre Analyse und Kritik. Der linke Flügel der sozialistischen Partei wächst. In der Kompartei ist die Kritik wie bisher er­stickt. Aber das Wach­sen des revolutionären Flügels in der SFIO wird un­weigerlich eine Bresche in die mörderische bürokratische Disziplin der Stalin­isten schlagen: die Revolutionä­re beider Parteien werden einander die Hand reichen zu gemeinsamer Arbeit.

Unser Wahlspruch bleibt wie immer: aussprechen was ist. Das ist der größte Dienst, den man heute der Sache der Re­volution erweisen kann. Die Kraft des Proletariats ist noch unverausgabt. Das Kleinbürgertum hat eine Wahl noch nicht getroffen. Viel Zeit ist verloren, aber die letzten Fristen sind noch nicht abgelau­fen.

Der Sieg ist möglich! Mehr: der Sieg ist gewiss — soweit ein Sieg im Voraus überhaupt gewiss sein kann — unter einer einzigen Bedingung: es gilt den Sieg zu wollen, zu erstreben, es gilt alle Hin­dernisse niederzureißen, es gilt den Feind niederzuwerfen und ihm das Knie auf die Brust zu setzen

Genossen, Freunde, Brüder und Schwestern! Die Bolschewiki-Lenini­sten rufen euch zum Kampf und zum Sieg!

 

Frankreich an der Wende Statt eines Vorworts zur zweiten Ausgabe von «En défense du terrorisme» (Terrorismus und Kommunismus)

Dies Buch ist der Erläuterung der Metho­den der revolutionären Politik des Prole­tariats in unserer Epoche gewidmet. Die Darstellung ist eine polemische, wie es die revolutionäre Politik selbst ist. Sobald die Polemik gegen die herrschende Klas­se die unterdrückten Massen ergreift, schlägt sie, in einer bestimmten Etap­pe, in die Revolution um.

Die theoretische Grundlage der revolutio­nären Politik ist das klare Verständ­nis für die Klassennatur der gegenwärtigen Ge­sellschaft, ihres Staats, ihres Rechts, ih­rer Ideologie. Die Bourgeoisie operiert mit Abstraktionen («Nation», «Vaterland», «De­mo­kratie»), um damit den Ausbeuter­charakter ihrer Herrschaft zu verschleiern. «Le Temps», eines der ehrlosesten Blät­ter des Erdballs, lehrt die Volksmassen Frankreichs jeden Tag Patriotismus und Uneigennutz. Indessen ist es für nieman­den ein Geheimnis, dass sich der Unei­gennutz des «Temps» sel­ber nach einem bestimmten internationalen Preiskurant taxiert.

Das Erste in der revolutionären Politik ist die Entlarvung der bürgerlichen Fiktionen, die das Bewusstsein der Volksmassen vergiften. Diese Fiktionen wer­den beson­ders bösartig, wenn sie mit den Ideen des «Sozialismus» und der «Re­volution» ver­quickt werden. Heute mehr denn je geben die Fabrikanten solcher Amalgame in den Arbeiterorganisationen Frankreichs den Ton an.

Die erste Ausgabe dieses Buches spielte eine gewisse Rolle bei Beginn der For­mierung der französischen kommunisti­schen Partei: der Autor vernahm davon seinerzeit nicht wenig Zeugnisse, deren Spuren übrigens unschwer in der Huma­nité von vor 1924 zu finden sind. In den danach verflossenen 12 Jahren hat in der Kommunistischen Internationale — nach einer Reihe fieberhafter Zickzacks — eine radikale Umwertung der Werte stattge­funden: es genügt zu sagen, dass heu­te diese Publikation auf dem Index der ver­botenen Bücher steht. Ihren Ideen und Methoden nach unterscheiden sich die jetzigen Führer der französischen Kom­munistischen Partei (wir sind gezwungen diesen Namen beizubehalten, der sich in absolutem Widerspruch zur Realität be­findet) prinzipiell in nichts von Kauts­ky, gegen den diese Arbeit gerichtet ist: sie sind nur ungleich ungebildeter und zyni­scher. Der seitens Cachin & Co erlebte Rückfall in Reformismus und Pa­triotis­mus wäre an sich schon ein hinreichender Grund für eine Neuausgabe die­ses Bu­ches. Es gibt jedoch auch ernstere Be­weggründe: sie Wurzeln in der tiefen vor­revoIutionären Krise, welche das Regime der Dritten Republik schüttelt.

Nach achtzehnjähriger Unterbrechung hat­te der Autor dieses Buches Gelegen­heit, zwei Jahre lang (1933-1935) in Frank­reich zu weilen, obgleich nur als pro­vinzieller Beobachter, der obendrein sel­ber unter geheimer Beobachtung stand. Während dieser Zeit spielte sich im Departement lsère, wo der Autor lebte, eine kleine, ganz gewöhnliche und alltäg­liche Episode ab, die jedoch den Schlüs­sel zur gesamten französischen Politik lie­fert. In einem Sanatorium, das dem Co­mité des Forges gehört, erlaubte sich ein junger Arbeiter, dem eine schwere Ope­ration be­vorstand, die revolutionäre Presse zu lesen (richtiger die Presse, die er in seiner Naivität für revolutionär hielt: die Humanité). Die Administration stellte dem unvorsichtigen Kranken, und nach ihm vier anderen, die seine Sympathien teil­ten, das Ultimatum: entweder auf den Bezug der unerwünschten Publikationen zu verzichten oder sofort auf die Straße geworfen zu werden. Die Berufung der Kranken darauf, dass im Sanatorium ja ganz offen klerikal-reaktionäre Propa­ganda betrieben werde, half natürlich nicht. Da es sich um einfache Arbeiter handelte, die weder Abgeordnetenmanda­te noch Ministerportefeuilles riskierten, sondern bloß Gesundheit und Leben, so hatte das Ultimatum keinem Erfolg: die fünf Kranken, der eine am Vorabend der Operation, wurden aus dem Sanato­rium hinausgeworfen. Grenoble hatte damals eine sozialistische Gemeindever­waltung, an deren Spitze Dr. Martin stand, einer jener konservativen Bourgeois, die im All­gemeinen in der sozialistischen Partei den Ton angeben und deren vollendetster Vertreter Léon Blum ist. Die davongejag­ten Arbeiter machten den Versuch, beim Maire Schutz zu suchen. Vergebens: trotz allen Bemühungen, Briefen, Fürsprachen wurden sie nicht einmal vorgelassen. Sie wandten sich an das linke Lokalblatt La Dépéche, in dem die Radikalen und die Sozialisten ein unzertrennliches Kartell bilden. Als der Direktor der Zeitung erfuhr, dass es sich um ein Sanatorium des Comité des Forges handelte, lehnte er es rundweg ab sich einzumischen: alles was Sie wollen, nur nicht das. Wegen einer solchen Unvorsichtigkeit gegenüber die­ser mächtigen Organisation waren der Dépéche schon einmal die Anzeigen ent­zogen worden und ihr ein Einnahmever­lust von 20.000 Fr. entstanden. Zum Un­terschied von den Proletariern hatten der Direktor der «lin­ken» Zeitung wie der Maire etwas zu verlieren: sie verzichteten daher auf den ungleichen Kampf und überließen die Arbeiter mit ihren kranken Därmen und Nieren dem eigenen Schick­sal.

Alle ein, zwei Wochen hält der sozialisti­sche Maire, geplagt von trüben Ju­gend­erinnerungen, eine Rede über die Vorzüge des Sozialismus vor dem Kapital­ismus. Während der Wahlen unterstützt die Dépéche den Maire und seine Par­tei. Al­les ist in Ordnung. Das Comité des For­ges verhält sich zu dieser Art So­zialis­mus, der den materiellen Interessen des Kapitals nicht im geringsten scha­det, mit liberaler Toleranz. Vermittelst Anzeigen für 20.000 Franken im Jahr (so billig sind diese Herren zu haben!) halten sich die Feudalen der Schwerindustrie und der Banken eine große Kartellzeitung faktisch unterworfen! Und nicht nur sie: das Co­mité des Forges hat offensichtlich genug mittelbare und unmittelbare Argumente für die Herren Maires, Senatoren, Abge­ordneten, darunter auch die sozialisti­schen. Das ganze offizielle Frankreich steht unter der Diktatur des Finanzkapi­tals. Im Larousse‘schen Lexikon heißt dieses System «Demokratische Repu­blik».

Den Herren linken Abgeordneten und Re­dakteuren, nicht nur in der Isère. sondern in allen Departements Frankreichs schien es, als werde ihr friedliches Zusammen­leben mit der kapitalistischen Reaktion kein Ende haben. Sie haben sich geirrt. Die längst vom Wurmstich zerfressene Demokratie fühlte plötzlich einen Revol­verlauf an ihrer Schläfe. So wie Hitlers Aufrüstung eine rauhe materielle Tatsa­che —- die gegenwärtige Umwälzung in den Beziehungen zwischen den Staaten verursachte, indem sie offenbarte, wie ei­tel und trügerisch das sogenannte «in­ter­nationale Recht» ist, so brachten die be­waffneten Banden des Oberst de La Rocque die inneren Verhältnisse Frank­reichs in eine Wallung, die alle Par­teien ohne Ausnahme zwang, sich umzustellen, umzufärben und umzugruppieren.

Friedrich Engels schrieb einmal, der Staat, somit auch die demokratische Re­publik, das sind Abteilungen bewaffneter Menschen zum Schutz des Eigentums: alles übrige beschönigt oder maskiert nur diese Tatsache. Die beredten Verteidi­ger des «Rechts», vom Schlage Herriots oder Blums, haben sich stets über solchen Zynismus empört. Doch Hitler und de La Rocque, jeder auf seinem Ge­biet, haben erneut bewiesen, dass Engels Recht hat.

Daladier war Anfang 1934 Ministerpräsi­dent kraft des allgemeinen, gleichen, di­rekten und geheimen Wahlrechts. In sei­ner Tasche, neben dem Schnupftuch, trug er die nationale Souveränität. Sobald aber die Banden de La Rocques, Maur­ras & Co zeigten, dass sie zu schießen und Po­lizeipferden die Sehnen zu zer­schneiden wagen, trat der souveräne Daladier sei­nen Platz einem politischen lnvaliden ab, auf den die Führer der bewaffneten Ban­den gesetzt hatten. Das ist eine Tatsache, die weitaus bedeutender ist als alle Wahl­statistik, und die aus der jüngsten Ge­schichte Frankreichs nicht auszulöschen ist, denn sie ist ein Vor­zeichen der Zu­kunft.

Natürlich ist nicht jede mit Revolvern ausgerüstete Gruppe imstande, zu be­lie­biger Zeit die Richtung des politischen Lebens eines Landes zu ändern. Nur die bewaffneten Abteilungen, die Organe be­stimmter Klassen sind, können un­ter gewissen Umständen eine entscheiden­de Rolle spielen. Oberst de La Rocque und seine Anhänger wollen die «Ord­nung» vor Erschütterungen be­wah­ren. Da aber die Ordnung in Frankreich gleichbe­deutend ist mit Herrschaft des Finanzka­pitals über die mittlere und kleine Bour­geoisie, und Herrschaft der Bourgeoisie als Ganzes über das Prole­tariat und die ihm nahestehenden Schich­ten, so sind de La Rocques Abteilungen nichts weiter als bewaffnete Stoßtrupps des Finanzkapi­tals.

Dieser Gedanke ist nicht neu. Ihm kann man sogar auf den Seiten des Po­pulaire und der Humanité häufig begegnen, wenn er von diesen selbstverständ­lich auch nicht zuerst formuliert wurde. Allein, diese Blätter sprechen nur die halbe Wahrheit aus. Die andere, nicht weniger wichtige Hälfte besagt, dass Herriot und Daladier mit ihren Anhängern ihrerseits ebenfalls eine Agentur des Fi­nanzkapitals sind: an­ders hätten die Radikalen nicht jahrzehn­telang die Regie­rungspartei Frankreichs sein können. Will man nicht Versteck spielen, so muss gesagt werden, dass de La Rocque und Daladier ein und demsel­ben Herren die­nen. Das bedeutet natür­lich nicht, dass sie oder ihre Methoden identisch seien. Im Gegenteil. Sie hassen einander wütend wie zwei spezialisierte Agenturen, von denen jede ein besonde­res Heilsgeheimnis besitzt. Daladier ver­spricht, die Ord­nung mit Hilfe der herge­brachten trikoloren Demokratie aufrecht­zuerhalten. De La Rocque ist der Mei­nung, der überlebte Parlamentarismus verdiene hinwegge­fegt zu werden zugun­sten einer offenen Militär- und Polizeidik­tatur. Die politi­schen Methoden sind ent­gegengesetzt. aber die sozialen Interes­sen sind dieselben.

Die geschichtliche Ursache des Antago­nismus zwischen de La Rocque und Da­ladier — wir bedienen uns dieser Namen nur der Einfachheit der Darstellung halber — ist der Verfall des kapitalistischen Sy­stems, seine unheilbare Krise, seine Fäulnis. Trotz ununterbrochenen Errun­genschaften der Technik und um­wälzen­den Fortschritten einzelner Industriezwei­ge hemmt der Kapitalismus als Ganzes die Entwicklung der Produktivkräfte, wo­durch er äußerste Unsicherheit der sozia­len und internationalen Beziehungen er­zeugt. Die parlamentarische De­mokratie ist unlösbar an die Epoche der freien Konkurrenz und des internationa­len Frei­handels geknüpft. Die Bourgeoisie konnte Streik-. Versammlungs-, Pressefreiheit so lange dulden, wie. die Produktivkräfte sich aufwärts bewegten, die Absatzmärk­te sich erweiterten, der Wohlstand der Massen sich, wenigstens teilwei­se, hob, und die kapitalistischen Nationen leben und leben lassen konnten. Nicht so heute. Die Sowjetunion ausgenommen, ist die imperialistische Epoche charak­terisiert durch Stillstand oder Rückgang des Na­tionaleinkommens, chronische Agrarkrise und organische Arbeitslosigkeit. Diese Erscheinungen sind der heuti­gen Phase des Kapitalismus so innerlich eigen, wie Podagra und Aderverkalkung einem be­stimmten Alter des Menschen. Das Weltwirtschaftschaos als eine Folge des letzten Krieges erklären, heißt hoffnungs­lose Oberflächlichkeit im Geiste des Herrn Caillaux, des Grafen Sforza usw. an den Tag legen. Der Krieg war selbst nichts anderes als ein Versuch der kapi­talistischen Länder, den bereits herein­brechenden Krach auf des Gegners Buckel zu wälzen. Der Versuch ist nicht ge­lungen. Der Krieg hat die Verfallser­scheinungen nur noch vertieft; in seiner wei­teren Entwicklung bereitet dieser Ver­fall einen neuen Krieg vor.

So schlecht die französische Wirt­schafts­statistik, die absichtlich die Pro­bleme der Klassengegensätze umgeht, auch ist, die Erscheinungen des eigentli­chen sozialen Verfalls kann sie doch nicht verbergen. Bei allgemeiner Senkung des Na­tional­einkommens, bei wahrhaft er­schrecken­dem Sturz des Einkommens der Bauern, bei Ruin der kleinen Leute aus der Stadt, bei wachsender Arbeitslo­sigkeit machen die Riesenunternehmun­gen mit jährlichen Umsätzen von über 100 bis 200 Millionen glänzende Geschäf­te. Das Finanzkapital saugt im vollen Sinne des Wortes dem französischen Volk das Blut aus den Adern. Das ist die soziale Grundlage der Ideologie und der Politik der «nationalen Union».

Linderungen und Lichtdurchbrüche im Verfallsprozess sind möglich, so­gar un­vermeidlich, sie bleiben jedoch rein kon­junkturell. Die allgemeine Tendenz unse­rer Epoche aber stellt Frankreich, nach einer Reihe anderer Länder, unabweislich vor die Alternative: entweder muss das Proletariat die durch und durch verfaulte bürgerliche Ordnung stürzen, oder das Kapital muss im Interesse seiner Selbst­erhaltung die Demokratie mit dem Fa­schismus vertauschen. Für wie lange? Auf diese Frage gibt Musso­linis und Hit­lers Schicksal die Antwort.

Die Faschisten schossen am 6. Februar l934 auf direkten Auftrag der Börse, der Banken und Truste. Von denselben Kommandohöhen erhielt Daladier Befehl. Doumergue die Macht abzugeben. Und wenn der radikale Premierminister kapi­tu­lierte — mit jenem Kleinmut, der die Ra­dikalen überhaupt auszeichnet — so ge­rade deswegen. weil er in de La Rocques Banden die Stoßgarden seines eige­nen Herrn erkannte. Mit anderen Worten; der souveräne Daladier trat Doumer­gue die Macht aus demselben Grunde ab, aus dem der Direktor der Dépéche und der Bürgermeister von Grenoble es ablehn­ten, die scheußliche Grausamkeit der Agenten des Comité des Forges an den Pranger zu stellen.

Der Übergang von der Demokratie zum Faschismus ist jedoch schwanger mit der Gefahr sozialer Erschütterungen. Daher das taktische Schwanken und die Mei­nungsverschiedenheiten bei den Spitzen der Bourgeoisie. Alle Magnaten des Kapi­tals sind für weitere Verstärkung der be­waffneten Abteilungen, die in der Stunde der Gefahr eine rettende Reserve sein können. Doch welchen Platz ihnen schon heute anweisen, ob man ihnen erlauben soll, zur Attacke überzu­gehen, oder sie einstweilen nur als Drohung wirken las­sen, diese Fragen sind noch ungelöst. Das Finanzkapital glaubt nicht, dass es den Radikalen noch möglich sei, die kleinbürgerlichen Massen hinter sich her zu führen und mit deren Druck das Prole­tariat im Rahmen der «demo­kratischen» Disziplin zu halten. Aber es ist auch nicht davon überzeugt, dass die faschistischen Organisationen, denen bis jetzt noch eine wirkliche Massenbasis fehlt, die Macht erobern und eine starke Ordnung schaf­fen könnten.

Nicht die parlamentarische Rhetorik, son­dern die Empörung der Arbeiter, der al­lerdings von Jouhaux Bürokratie im Keime erstickte Generalstreikversuch, schließlich die lokalen Aufstände (Toulon, Brest …)[3] überzeugten die Lenker in den Kulissen von der Notwendigkeit zur Vor­sicht. Die Faschisten wurden sanft ver­warnt, die Radikalen atmeten ein ganz klein wenig freier. Le Temps, der schon so weit gewesen war, in einer Reihe von Artikeln der «jungen Generation» Hand und Herz anzutragen, entdeckte von neuem die Vorzüge des dem französi­schen Genie angemessenen liberalen Regimes. So kam ein unstetiges, Über­gangs- und Bastardregime zustande, an­gemessen nicht dem französischen Geni­us, sondern dem Untergang der Dritten Republik. An diesem Regime fallen am deut­lichsten seine bonapartistischen Züge auf: Unabhängigkeit der Macht von Parteien und Programmen, Liquidierung der parlamentarischen Gesetzgebung vermittelst außerordentlicher Vollmach­ten, eine Regierung, die sich über die kämpfenden Lager, d. h. faktisch über die Nation erhebt, als ihr «Schiedsrichter». Die Kabinette Doumergue, Flandin, Laval, alle drei mit un­veränderter Teilnahme der kompromittierten und gedemütigten Radi­kalen, stel­len nur leichte Variationen über ein und dasselbe Thema dar.

Bei der Entstehung des Kabinetts Sarraut verkündete Léon Blum, dessen Scharf­sinn nur zwei, statt drei Dimensionen be­sitzt: «Die letzten Auswirkungen des 6. Februar sind auf der parlamentarischen Ebene zerstört». (Populaire vom 2. Fe­bruar 1936). Das heißt man den Schatten der Kutsche mit dem Schatten der Bürste waschen! Als sei überhaupt «auf parla­mentarischer Ebene» der Druck bewaff­ne­ter Abteilungen des Finanzkapi­tals auf­zuheben! Als sei es möglich, dass Sarraut diesem Druck nicht unterliegt und nicht vor ihm zittert! In Wirklichkeit stellt die Regierung Sarraut-Flandin eine Abart desselben halbparlamentarischen »Bona­partismus» dar, nur mit leichter Neigung nach links. Sarraut selbst hat auf Ankla­gen wegen der von ihm ergriffenen Maß­nahmen im Parlament vortrefflich geant­wortet: «Sind meine Maßnahmen willkür­lich (arbitraires), so weil ich Schiedsrich­ter (arbitre) sein will». Dieser Aphorismus hätte sogar im Munde Napoleon III. nicht schlecht geklungen. Sarraut fühlt sich nicht als Bevollmäch­tigter einer bestimm­ten Partei oder eines Parteienblocks an der Macht, wie es sich nach den Geset­zen des Parlamentarismus gehört, son­dern als Schiedsrichter über Klassen und Parteien, wie es den Gesetzen des Bona­partismus entspricht.

Die Verschärfung des Klassenkampfes und besonders das offene Auftreten der bewaffneten Banden der Reaktion brach­ten auch die Arbeiterorganisationen in nicht geringen Aufruhr. Die sozialistische Partei, die friedlich die Rolle des fünften Rades am Wagen der Dritten Republik spielte, sah sich gezwungen ihrer kartelli­stischen Tradition halb zu entsagen und sogar mit ihrem rechten Flügel (den «Neo») zu brechen Zu eben dieser Zeit machten die Kommunisten die umgekehr­te Entwicklung, aber weitaus großzügiger. Mehrere Jahre lang hatten diese Herren von Barrikaden, von der Eroberung der Straße und ähnlichem geschwätzt (das Geschwätz hatte allerdings vorwiegend li­terarischen Charakter). Jetzt nach dem 6. Februar, als sie begriffen, dass es Ernst wird, stürzten die Bar­rikadenmeister nach rechts. Dieser natürliche Reflex der er­schrockenen Phrasen­drescher fiel vor­trefflich mit der neuen internationalen Orientierung der Sowjetdiplomatie zu­sammen.

Unter dein Druck der Gefahr seitens Hit­lerdeutschland wandte sich die Kremlpoli­tik Frankreich zu. Status quo in den inter­nationalen Beziehungen! Status quo in den inneren Verhältnissen Frankreich! Hoffnungen auf die sozialistische Re­volu­tion? Hirngespinste! In den führenden Kreisen des Kreml wird vom französi­schen Kommunismus anders als mit Ver­achtung gar nicht gesprochen. Man be­hal­te, was man hat, damit es nicht noch schlimmer kommt. Die parlamentarische Demokratie in Frankreich ist ohne die Radikalen nicht vorstellbar: sol­len die Sozialisten sie also unterstützen; den Kommunisten wird man befehlen, den Block Blum-Herriot nicht zu stören; wenn möglich sollen sie sich selbst dem Block an­schließen. Nur keine Erschütte­rungen. nur keine Drohung! Das ist der Kurs des Kreml.

Wenn Stalin auf die Weltrevolution ver­zichtet, wollen die bürgerlichen Par­teien Frankreichs das nicht glauben. Wie falsch! Blinde Vertrauensseligkeit ist in der Politik natürlich keine hohe Tugend. Aber auch blindes Misstrauen ist nicht besser. Man muss verstehen, die Worte mit den Taten zu vergleichen und die all­gemeine Entwicklungstendenz über einen Zeitraum mehrerer Jahre zu er­kennen. Stalins von den Interessen der privilegier­ten Sowjetbürokratie bestimmte Politik ist ganz und gar konservativ geworden. Die französische Bourgeoisie hat allen Grund, Stalin zu trauen. Um so weniger Grund zum Vertrauen hat das französische Pro­letariat.

Auf dem Vereinigungskongress der Ge­werk­schaften [CGT und CGTU] in Tou­louse fand der «Kom­munist» Racamond für die Politik der Volksfront eine wahrhaft un­sterbliche Umschreibung: «Wie die Schüchternheit der Radikalen Partei be­sie­gen?» Wie die Angst der Bour­geoisie vor dem Proletariat besiegen? Ganz ein­fach: die schreckli­chen Revolutionäre müssen das Messer, das sie zwischen den Zähnen hatten, wegwerfen, Pomade ins Haar tun und der reizendsten aller Odalisken ein Lächeln entlocken: das wird einen Vaillant-Coutu­rier letzter Aus­gabe ergeben. Unter dem Druck der geschnie­gelten «Kommu­ni­sten», die aus al­len Kräften die nach links strebenden Soziali­sten nach rechts dräng­ten, musste Blum wiederum die Orientie­rung wechseln, zum Glück in die altge­wohnte Rich­tung. So entstand die Volks­front, eine Versiche­rungsgesell­schaft ge­gen den Ban­krott der Radikalen auf Ko­sten des Kapitals der Arbeiteror­ganisatio­nen.

Der Radikalismus ist untrennbar von der Freimaurerei, und damit ist schon alles gesagt. Während der Debatten im Abge­ordnetenhaus über die faschistischen Verbände bemerkte Herr Xavier Vallat, Trotzki habe seinerzeit den französi­schen Kommunisten «verboten», den Freimau­rerlogen anzugehören. Herr Jammy Schmidt. eine anscheinend hohe Autorität auf diesem Gebiet, erklärte ebendort das Verbot aus der Unvereinbarkeit des des­potischen Bolschewismus mit dem «Frei­geist». Über dies Thema mit den radika­len Abgeordneten zu streiten, be­steht für uns kein Grund. Aber wir halten auch heute für des geringsten Ver­trauens un­würdig jenen Arbeitervertreter, der in der süßlichen Freimaurerreligion der Klas­sengemeinschaft Anregung oder Trost sucht. Das Kartell war nicht zufällig be­gleitet von breiter Teilnahme der Sozia­li­sten an der Maskerade der Logen. Jetzt ist die Reihe an den reumütigen Kommu­nisten, Schürzchen anzulegen! Mit den Schürzchen wird es übrigens den neube­kehrten Lehrlingen leichter fallen, den Meistern des Kartells zu dienen.

Aber die Volksfront — erwidert man uns nicht ohne Entrüstung — ist ab­solut kein Kartell, sondern eine Massenbewegung. Mangel an schwülstigen De­finitionen herrscht natürlich nicht, aber an der Sa­che ändern sie nichts. Bestim­mung des Kartells war stets, die Massenbewegung zu bremsen durch Ablenkung ins Bett der Klassengemeinschaft. Das eben ist auch genau die Be­stimmung der Volksfront. Der Unterschied zwischen ihnen — und er ist nicht von geringer Bedeutung — ist der, dass das traditionelle Kartell sich in einer ver­hältnismäßig ruhigen und stabi­len Epoche des parlamentarischen Regi­mes ab­spielte. Jetzt aber, wo die Massen ungeduldiger und aufbrausender gewor­den sind, bedarf es einer wirksameren Bremse, mit Beteiligung der «Kommu­ni­sten». Gemeinsame Ver­samm­­lungen. Pa­radeumzüge, Schwüre, Verquickung der Kom­munar­denfahne mit der der Versail­ler, Lärm, Geschrei, Dem­agogie — alles dient ei­nem einzigen Zweck: die Massen­bewe­gung zum Stehen zu bringen und zu de­moralisieren.

Als Sarraut in der Kammer sich vor der Rechten rechtfertigte, erklärte er, seine harmlosen Zugeständnisse an die Volks­front seien nichts anderes als ein Sicher­heitsventil des Regimes. Diese Offenheit mag unvorsich­tig scheinen. Sie wurde aber von der äußersten Linken mit stür­mischem Applaus belohnt. Wahrlich, Sar­raut hatte keine Ursache, sich Zwang an­zutun. Auf je­den Fall gelang es ihm, viel­leicht nicht ganz bewusst, eine klassische Definition der Volksfront zu geben: Si­cherheitsventil gegen die Massenbewe­gung. Herr Sar­raut liebt überhaupt die Aphorismen!

Außenpolitik ist Fortsetzung der Innenpo­litik. Gänzlich Verzicht leistend auf den Standpunkt des Proletariats, machen sich Blum, Cachin & Co. unter der Maske der «kollektiven Sicherheit» und des «inter­na­tio­nalen Rechts» den Stand­punkt des na­tionalen Imperialismus zu eigen. Sie be­reiten genau dieselbe Politik der Krieche­rei vor, die sie 1911-18 betrieben, nur mit dem Zusatz: «für die Ver­teidigung der UdSSR». Indessen, während der Jah­re 1918-1923, als die Sowjetdiploma­tie ebenfalls nicht wenig zu lavieren und Ab­kommen zu schließen hatte, konnte nicht eine der Kominternsektionen an ei­nen Block mit der eigenen Bour­geoisie auch nur denken! Ist nicht dies allein schon ein hinreichender Beweis für die Aufrichtigkeit des Stalinschen Verzichts auf die Weltre­volution?

Mit denselben Erwägungen, mit denen die Kominternführer sich an die Brü­ste der Demokratie hängen in der Periode ihrer Agonie, entdeckten sie das lichte Antlitz des Völkerbundes, als diesen bereits To­deskrämpfe zu schütteln began­nen. So entstand, gemeinsam mit den Radikalen und der Sowjetunion die außen­politische Plattform. Das innenpolitische Programm der Volksfront ist gebraut aus Gemein­plätzen, die nicht weniger freie Deutungen zulassen als der Genfer Covenant. Der allgemeine Sinn des Programms ist: alles bleibt beim Alten. In­dessen, die Massen wollen das Alte nicht mehr: darin besteht ja eben das We­sen der politischen Krise.

Das Proletariat politisch entwaffnend, sind die Blum, Paul Faure, Cachin, Tho­rez vor allem darum besorgt, dass es sich nicht physisch bewaffne. Die Agi­tation dieser Herren unterscheidet sich in nichts von Pfaffenpredigten über die Vorzüge der Moralgrundsätze. Engels. der lehrte, dass das Problem der Staats­macht ein Problem von bewaffneten Abteilungen ist, Marx. der den Aufstand als eine Kunst be­trachtete, sind für die heutigen Deputier­ten, Senatoren und Bür­germeister der Volksfront so etwas wie mittelalterliche Barbaren. Der Populaire bildet zum hun­dertsten Mal die Gestalt eines hungrigen Arbeiters ab mit der Un­terschrift: «Ihr werdet schon noch begreifen, dass unse­re nackten Fäuste soli­der sind als alle Eure Gummiknüppel». Welch erhabene Verachtung für die Mi­litärtechnik! Sogar der abessinische Negus hat in dieser Hinsicht fortschrittliche­re Ansichten. Die Umstürze in Italien, Deutschland, Öster­reich haben für diese Leute anscheinend nicht existiert. Werden sie aufhören, die «nackten Fäuste» zu besingen, wenn de La Rocque ihnen selbst Handschellen anlegen wird? Mit. unter bedauert man es fast, dass die Herren Führer diese Erfah­rung nicht ein­zeln machen können, ohne dass die Massen betroffen würden.

Vom Standpunkt des bürgerlichen Regi­mes in seiner Gesamtheit bildet die Volksfront eine Episode im Konkurrenz­kampf zwischen Radikalismus und Fa­schismus um Aufmerksamkeit und Gunst des Großkapitals. Durch ihre theatrali­schen Verbrüderungen mit Sozialisten und Kommunisten wollen die Radikalen dem Herrn beweisen, dass es um die Sa­che des Regimes durchaus nicht so schlecht steht, wie rechts behauptet wird, dass die Gefahr der Revolution durchaus nicht so groß ist, dass sogar Vaillant-Cou­turier das Messer mit der Hunde­leine vertauschte, dass man durch die zahmen «Revolutionäre». die Arbeitermassen disziplinieren und folglich das parlamen­tarische System vor dem Zusammen­bruch retten kann.

Nicht alle Radikalen glauben in gleicher Weise an dieses Manöver: die solideren und einflussreicheren mit Herriot an der Spitze, ziehen es vor, eine abwartende Haltung einzunehmen. Aber auch sie können letzten Endes nichts an­deres vor­schlagen. Die Krise des Parlamentaris­mus ist vor allem eine Krise des Vertrau­ens der Wähler zum Radikalismus. So­lange das Mittel zur Verjüngung des Kapi­talismus nicht gefunden ist, wird und kann es kein Rezept für die Rettung der radikalen Partei geben. Ihr steht nur frei, zwischen verschiedenen Va­rianten des politischen Untergangs zu wählen. Selbst ein relativer Erfolg bei den bevorstehen­den Wahlen wird ihren Zusammenbruch nicht abwenden und nicht einmal lange aufschieben.

Die Führer der sozialistischen Partei, die leichtfertigsten Politiker von ganz Frank­reich, beschweren sich nicht mit der So­ziologie der Volksfront: aus Léon Blums endlosen Monologen kann niemand etwas lernen. Was die Kommunisten betrifft, die außerordentlich stolz sind auf ihre Initiati­ve hinsichtlich der Zu­sammenarbeit mit der Bourgeoisie, so stellen sie die Volks­front dar als ein Bündnis des Proletari­ats mit den Mittelklassen. Welche Par­odie auf den Marxismus! Die radikale Par­tei ist durchaus keine Partei des Kleinbür­gertums. Sie ist nicht einmal ein «Block der mittleren und der kleinen Bourgeoi­sie», nach einer unsinnigen Definition der Moskauer Prawda. Die mittlere Bourgeoi­sie beutet nicht nur wirtschaftlich, son­dern auch politisch das Kleinbürgertum aus und ist selber eine Agentur des Fi­nanzkapitals. Ein hierarchisches, auf Ausbeutung begründetes, politisches Ver­hältnis mit dem neutralen Namen «Block» belegen, heißt der Wirklichkeit spot­ten. Ein Kavallerist ist nicht ein Block von Mensch und Pferd. Wenn die Par­tei der Herriot-Daladier den kleinbürgerlichen, zum Teil sogar den Arbeitermas­sen ritt­lings aufsitzt, so nur, um sie im Interesse der kapitalistischen Ordnung einzulullen und zu betrügen. Die Radikalen sind die demokratische Partei des französischen Imperialismus, jede andere Definition ist Lüge.

Die Krise des kapitalistischen Systems entwaffnet die Radikalen, indem sie ihnen die traditionellen Mittel zur Einschläferung des Kleinbürgertums fortnimmt. Die «Mit­tel­klassen» beginnen zu fühlen, wenn nicht gar zu verstehen, dass die Lage mit schäbigen Reformen nicht zu retten ist, dass ein kühner Bruch mit der herrschen­den Ordnung vonnöten ist. Allein, Radi­kalismus und Kühnheit, sind wie Wasser und Feuer. Der Faschismus nährt sich vor allem von dem wachsenden Misstrauen des Kleinbürgertums zum Radikalismus. Man kann ohne Über­treibung sagen, Frank­reichs politisches Schicksal wird sich in erheblichem Mas­se danach gestal­ten, wie der Radikalismus liquidiert wird, und wer seine Nach­folge antreten, d. h. über den Einfluss auf die kleinbürgerli­chen Massen verfügen wird: der Fa­schismus oder die Partei des Proletariats.

Eine elementare Wahrheit der marxisti­schen Strategie lautet, dass das Bünd­nis des Proletariats mit den kleinen Leuten von Stadt und Land nur im unversöhn­li­chen Kampf gegen die traditionellen par­lamentarischen Vertreter des Kleinbür­ger­tums zu verwirklichen ist. Um die Bauern­schaft auf die Seite des Proletariats zu ziehen, heißt es den Bauer dem radikalen Berufspolitiker entreißen, der den Bauer dem Finanzkapital untertänig macht. Im Gegensatz hierzu ist die Volks­front, das Komplott der Arbeiterbürokratie mit den schlimmsten politischen Aus­beutern der Mittelklassen nur imstande, in den Mas­sen den Glauben an den re­volutionären Weg zu töten und sie der faschistischen Konterrevolution in die Arme zu treiben.

Es ist kaum zu glauben, doch einige Zy­niker versuchen tatsächlich die Volks­frontpolitik mit Hinweisen auf Lenin zu rechtfertigen, welcher nämlich bewies, dass man «ohne Kompromisse» nicht weg­kommt und im Besonderen nicht ohne Abkommen mit anderen Parteien. Der Hohn der heutigen Kominternführer auf Lenin ist zur Regel geworden; sie tre­ten die gesamte Lehre des Erbauers der bolschewistischen Partei mit Füßen, her­nach aber wallfahren sie nach Moskau, ihn im Mausoleum zu verehren.

Lenin begann sein Wirken im zaristischen Russland, wo nicht nur das Pro­letariat und die Bauernschaft, nicht nur die Intel­ligenz. sondern auch breite Krei­se der Bourgeoisie in Opposition zum alten Re­gime standen. Wenn die Volksfrontpolitik überhaupt irgendwo zu Recht bestehen konnte, scheint es vor allem in einem Lande, das seine bürgerliche Revolution noch nicht vollzogen hat. Die Herren Fäl­scher täten jedoch gut zu zeigen, auf wel­cher Etappe, wann und un­ter welchen Umständen die bolschewistische Partei in Russland so etwas wie eine Volksfront gebildet hätte. Mögen sie nur ihre Einbil­dungskraft anstrengen und in den histori­schen Dokumenten herumwühlen.

Der Bolschewismus schloss mit den revo­lutionären kleinbürgerlichen Organisatio­nen praktische Abkommen, zum Beispiel für gemeinsamen illegalen Trans­port der revolutionären Literatur, bisweilen zwecks gemeinsamer Organisierung einer Stra­ßendemonstration, mitunter zum Wider­stand gegen die Schwarzhun­dert. Wäh­rend der Wahlen in die Staatsduma gin­gen sie unter gewissen Um­ständen Wahlblocks ein mit den Menschewiki, oder mit den Sozialrevolutionä­ren in zwei­ter Linie. Das ist auch alles! Weder ge­meinsame «Programme», noch gemein­same ständige Einrichtungen, noch Ver­zicht auf Kritik am zeitweiligen Verbünde­ten. Derartige episodische, begrenzte, streng konkrete Zwecke, Abkommen und Kompromisse — davon und nur davon sprach Lenin! — haben nichts gemein mit einer Volksfront, die ein Konglomerat ver­schiedenartiger Or­ganisationen darstellt, ein dauerndes Bündnis verschiedener Klassen, verbunden für eine ganze Peri­ode — und was für eine Periode! .-—‚ gemeinsames Programm und gemeinsa­me Politik — eine Politik der Paraden, Deklamationen und des Sand-in-die-Au­gen-Streuens. Bei der ersten ernsten Prü­fung wird die Volksfront in Stücke zerbre­chen, und alle ihre Bestandteile werden tiefe Risse aufweisen. Die Volksfrontpoli­tik ist eine Politik des Verrats.

Die Regel des Bolschewismus in der Frage der Blocks lautete :getrennt mar­schieren, vereint schlagen! Die Regel der heutigen Kominternführer ist :vereint marschieren, um getrennt geschlagen zu wer­den. Mögen sich diese Herren an Stalin und Dimitroff halten, aber sollen sie gefälligst Lenin in Ruhe lassen!

Man kann nicht ohne Entrüstung die Er­klärungen der prahlsüchtigen Führer le­sen, wonach die Volksfront Frankreich vor dem Faschismus «bewahrt hat» :in Wirk­lichkeit bedeutet dies bloß, dass die ge­genseitigen Ermunterungen die schreck­haften Helden vor übertriebener Angst «be­wahrten». Für lange Zeit? Zwischen Hitlers erstem Aufstand und seiner Machtübernahme vergingen zehn Jahre, gekennzeichnet durch häufige Ebbe und Flut. Die deutschen Blum und Cachin ha­ben damals ebenfalls nicht nur einmal ih­ren «Sieg» über den Nationalsozialismus ausgeschrien. Wir haben ihnen nicht ge­glaubt und irrten uns nicht. Diese Erfah­rung hat jedoch die französischen Vettern der Wels und Thälmann nichts gelehrt. Zwar beteiligten sich in Deutschland die Kommunisten nicht an der Volksfront, welche die Sozialdemokratie, die bürgerli­che Linke und das ka­tholische Zentrum umfasste («ein Bündnis des Proletariats mit den Mittelklas­sen»!). In jener Periode lehnte die Komintern sogar Kampfab­kommen der Arbei­terorganisationen ge­gen den Faschismus ab. Die Resultate sind bekannt. Das heißeste Mitgefühl mit Thälmann als Gefangenen der Henker kann uns nicht hindern auszusprechen, dass seine, d. h. Stalins Politik zu Hitlers Sieg mehr bei­trug als Hitlers Politik selbst. Nach ihrer Kehrtwendung macht die Komintern jetzt in Frankreich die zur Genüge bekannte Politik der deutschen Sozialdemo­kratie. Ist es da so schwer, die Resultate vorherzusehen?

Die bevorstehenden Parlamentswahlen, wie sie auch ausfallen mögen, werden an sich ernstliche Änderungen in der Lage nicht erbringen: den Wäh­lern bleibt letz­ten Endes die Wahl zwischen einem Schiedsrichter vom Typ La­val und einem Schiedsrichter vom Typ Herriot-Daladier. Da aber Herriot fried­lich mit Laval zu­sammenarbeitete, und Daladier beide un­terstützte, so ist der Unterschied zwischen ihnen, gemessen an den ihnen von der Geschichte gestell­ten Aufgaben. ganz winzig.

Zu meinen, Herriot-Daladier seien im­stande, den «zweihundert Familien», die Frankreich regieren, den Kampf anzusa­gen, heißt frech das Volk zum Narren hal­ten. Die zweihundert Familien schweben nicht in der Luft, sondern sind die organi­sche Krönung des Systems des Finanz­kapitals. Um mit den zweihundert Famili­en fertig zu werden, muss man das wirt­schaftliche und politische Regime stür­zen, an dessen Erhaltung Herriot und Daladier nicht weniger interessiert sind als Flandin und de La Rocque. Es handelt sich nicht um den Kampf der «Na­tion» gegen einige wenige Magnaten, wie die Humanité es darstellt, sondern um .den Kampf des Proletariats gegen die Bour­geoisie, um Klassenkampf, der nur durch die Revolution entschieden werden kann. Zum Haupthindernis auf diesem Wege wurde das Streikbrecherkomplott der Füh­rer der Volksfront.

Wie lange noch in Frankreich halb parla­mentarische, halb bonapartistische Kabi­nette einander ablösen werden, und durch welche konkreten Etappen überhaupt das Land in der nächsten Periode gehen wird, lässt sich nicht im voraus sagen. Das hängt ab von der internationalen und der nationalen Wirtschaftskonjunktur, von der Weltlage, von der Situation in der UdSSR, von dem Haltbar­keitsgrad des italienischen und deutschen Faschismus, vom Gang der Ereignisse in Spanien, schließlich — und das ist der Bedeutung nach nicht der letzte Fak­tor — von der Scharfsichtigkeit und Aktivität der vorge­schrittensten Elemente des französischen Proletariats. Zuckungen des Francs kön­nen das Ende be­schleunigen. Engere Zu­sammenarbeit Frankreichs mit England ist fähig es hinaus­zurücken. Die Agonie der «De­mokratie» kann in Frankreich je­denfalls sich weit länger hinziehen, als in Deutschland die vorfaschistische Periode Brüning-Papen­-Schleicher dauerte: aber sie hört deswegen nicht auf, Agonie zu sein. Die De­mokratie wird hinweggefegt werden. Die Frage ist nur: von wem?

Der Kampf gegen die «200 Familien», gegen Faschismus und Krieg — für Frie­den, Brot, Freiheit und ähnliche schöne Dinge — ist entweder Lüge oder Kampf um den Sturz des Kapitalismus. Das Problem der revolutionären Machterobe­rung steht vor den Werktätigen Frank­reichs nicht als fernes Ziel, sondern als Aufgabe der einsetzenden Periode. Indes, die sozialistischen und kommuni­stischen Führer verzichten nicht nur auf die revolu­tionäre Mobilisierung des Pro­letariats. sondern arbeiten ihr auch aus Leibeskräf­ten entgegen. Brüderschaft mit der Bour­geoisie schließend, jagen und hetzen sie die Bolschewiki. So stark ist ihr Hass ge­gen die Revolution und ihre Angst vor ihr! Die übelste Rolle spie­len unter diesen Bedingungen die Pseudorevolutionäre von der Art Marceau Pi­verts, die die Bourgeoisie zu stürzen versprechen — aber nicht anders als mit Einwilligung Léon Blums. Der ganze Verlauf der fran­zösischen Arbeiterbewegung in den letz­ten zwölf Jahren hat eine Aufgabe auf die Tagesordnung gestellt: die Schaffung ei­ner neuen, revolutionären Par­tei.

Raten, ob die Ereignisse für deren For­mierung «genügend» Zeit lassen werden, ist die fruchtloseste aller Beschäftigun­gen. Der Quell der Geschichte ist schier unerschöpflich an verschiedenen Varian­ten, Übergangsformen, Etappen, Be­schleunigungen und Verzögerungen. Der Faschismus kann unter dem Einfluss wirtschaftlicher Schwierigkeiten vorzeitig losschlagen und eine Niederlage erlei­den. Das käme einem langen Fristenaufschub gleich. Umgekehrt kann er aus Vorsicht zu lange in abwartender Position bleiben und dadurch den revolutionären Organi­sationen neue Chancen geben. Die Volks­front kann an ihren Widersprü­chen eher zerbrechen, als der Faschismus imstande ist, den Generalangriff zu er­öffnen: das würde eine Periode der Umgruppierungen und Spaltungen in den Ar­beiterparteien und der raschen Zusammenschweißung der revolutionären Avant­garde bedeuten. Spontane Massenbewegungen wie Tou­lon und Brest können brei­ten Aufschwung erleben und dem revolutionären Hebel starken Nachdruck ver­leihen. Schließlich muss sogar der Sieg des Faschismus in Frankreich; der theo­retisch nicht ausge­schlossen ist, durchaus nicht sein tau­sendjähriges Reich bedeu­ten, wie es Hit­ler weissagt, ja braucht ihm nicht einmal die Frist zu garantieren, über die Musso­lini verfügte. Beginnend mit Italien oder Deutschland, würde der Abend des Fa­schismus bald auch über Frankreich her­einbrechen. In diesem, dem allerungün­stigsten Fall, bedeutet die Schaffung der revolutionären Partei die Stunde der Re­vanche näher rücken. Die gescheiten Leute, die die unaufschieb­bare Aufgabe mit den Worten abtun: «die Bedingungen sind nicht reif», zeigen nur, dass sie sel­ber für die Bedingungen nicht reif sind.

Die Marxisten Frankreichs wie der ganzen Welt haben in gewissem Sinne wieder von vorne anzufangen, aber auf ungleich höherer geschichtlicher Stufe als ihre Vorgänger. Der Fall der Kommunistischen Internationale, schamloser als der Fall der Sozialdemokratie im Jahre 1914, wird in der ersten Zeit die Vor­wärtsbewegung ungemein erschweren. Die Gewinnung der neuen Kader wird langsam erfolgen, in erbittertem Kampf gegen die Einheits­front der reaktionären und patriotischen Bürokratie innerhalb der Arbeiterklasse. Andererseits stellen gerade diese Schwie­rigkeiten, die nicht zufällig auf das Prole­ta­riat einbrechen, eine wichtige Vor­aus­set­zung dafür eine richtige Auslese und harte Stählung der ersten Vortrupps der neuen Partei und der neuen Interna­tiona­le.

Nur ein ganz unbedeutender Teil der Kominternkader begann seine revolutio­näre Schulung bei Kriegsanfang, vor dem Oktoberumsturz. Alle diese Elemen­te be­finden sich heute beinahe ohne jede Aus­nahme außerhalb der Komintern. Die fol­gende Schicht schloss sich bereits der siegreichen Oktoberrevolution an, das war leichter. Aber auch von dieser zwei­ten Auslese ist nur ein winziger Teil erhal­ten geblieben. Die überwältigende Mehr­heit der heutigen Kominternka­der hat sich nicht dem bolschewistischen Programm. nicht dem revolutionären Banner, sondern der Sowjetbürokratie angeschlossen. Das sind nicht Kämpfer. sondern folgsame Beamte, Adjutanten, Laufjungen. Darum verfault die Dritte In­ternationale so ruhm­los in dieser an grandiosen revolutionären Möglichkeiten reichen geschichtlichen Si­tuation.

Die Vierte Internationale erhebt sich auf den Schultern ihrer drei Vorgän­gerinnen. Die Schläge sausen auf sie ein von vorn, von der Seite und von hin­ten. Karrieristen, Feiglinge, Philister haben in ihren Reihen nichts zu suchen. Der zu Beginn unver­meidliche Einschlag von Sektierern und Abenteuern siebt sich mit dem Wachsen der Bewegung heraus. Mögen Pedanten und Skeptiker mit den Schultern zucken über die «kleinen» Organisationen, die so «kleine» Zeitungen herausgeben und der ganzen Welt den Fehdehandschuh hin­werfen. Ernste Revolutionäre gehen mit Verachtung an den Pedanten und Skepti­kern vorüber. Die Oktoberrevolution ging auch einmal in Kinderschuhen…

Die mächtigen russischen Parteien der Sozialrevolutionäre und der Mensche­wiki, die mit den Kadetten eine «Volksfront» gebildet hatten, wälzten sich nach einigen Monaten im Staube unter den Schlägen des «Häufchens Fanatiker» des Bol­schewismus. Eines ruhmlosen Todes starben später unter den Schlagen des Faschismus die deutsche Sozialdemo­kratie, die deutsche Kompartei und die österreichische Sozialdemokratie. Die Epoche. die unaufhaltsam über die euro­päische Menschheit heraufgezogen ist, wird aus der Arbeiterbewegung restlos alles Zweideutige und Faule ausmerzen. All diese Jouhaux, Citrine, Blum, Cachin, Vandervelde, Caballero sind nur Gespen­ster. Die Sektionen der Zweiten und der Dritten Internationale werden eine nach der anderen ruhmlos von der Bildfläche verschwinden. Eine große Umgruppierung in den Arbeiterreihen ist unvermeidlich. Die jungen revolutionären Kader werden Fleisch und Blut bekommen. Der Sieg ist nur auf Grund der Methoden des Bol­schewismus, deren Verteidigung dieses Buch gewidmet ist.

Die Volksfront und die Aktionskomitees (26. 11. 1935)

Die «Volksfront» ist eine Koalition des Proletariats mit der imperialistischen Bourgeoisie in der Person der Radikalen Partei und anderem faulen Unrat, nicht ganz so hoch aber von gleicher Sorte. Die Koalition erstreckt sich sowohl auf das parlamentarische wie das außerparla­mentarische Gebiet. Auf beiden begrenzt die Radikale Partei, während sie selbst volle Handlungsfreiheit behält, brutal die des Proletariats.

Die Radikale Partei selber befindet sich im Verfallsprozess. Jede neue Wahl weist eine Flucht der Wähler nach rechts und nach links auf. Hingegen gewin­nen die Sozialistische und die Kommunistische Partei, wegen Fehlens einer wahr­haft re­volutionären Partei. Die allgemeine Ten­denz der werktätigen Massen, dar­unter auch der kleinbürgerlichen, geht ganz eindeutig nach links. Die Orientierung der Führer der Arbeiterparteien ist nicht weniger deutlich:

nach rechts. Während die Massen mit dem Stimmzettel und durch ihren Kampf die Partei der Radikalen stürzen wollen, sind die Führer der Ein­heitsfront im Ge­genteil bestrebt, sie zu retten. Nachdem die Führer der Arbeiter­parteien auf Grund eines «sozialistischen» Programms das Vertrauen der Arbeitermassen gewonnen haben, treten sie danach freiwillig den Löwenanteil dieses Vertrauens an die Radikalen ab, zu denen die Arbeiterma­ssen selber überhaupt kein Vertrauen ha­ben.

Die «Volksfront» in ihrer jetzigen Gestalt ist eine schreiende Vergewalti­gung nicht nur der Arbeiter-, sondern auch der for­malen, d. h. bürgerlichen De­mokratie. Die Mehrheit der radikalen Wähler nimmt am Kampf der Werktäti­gen, und folglich auch an der Volksfront nicht teil. Indes, die Radikale Partei hat in dieser Front nicht nur einen gleichberechtigten, sondern privilegierten Platz inne; die Arbeiterpar­teien sind gezwungen, ihre Aktivität auf das Programm der Radikalen Partei zu beschränken. Mit der größten Ungeniert­heit wird diese Idee von den Zynikern der «Humanité» angewandt. Bei den letzten Senatswahlen ist die privilegierte Stel­lung der Radikalen in der Volksfront be­sonders krass in Erscheinung getreten. Die Führer der Kompartei rühmten sich offen, dass sie zugunsten der nichtprole­tarischen Parteien auf einige Posten, die von Rechte wegen den Arbeitern gehören, verzichteten. Das bedeutet einfach, dass die Einheitsfront den Vermögenswahlzen­sus zugunsten der Bourgeoisie zum Teil wieder einführt.

Unter «Front» versteht man die Organi­sation des direkten und unmittelbaren Kampfes. Wo es den Kampf gilt, wiegt je­der Arbeiter zehn Bourgeois auf, und seien sie auch der Einheitsfront ange­schlossen. Vom Standpunkt der revolutio­nären Kampffähigkeit der Front müssten die Wahlprivilegien nicht den radikalen Bourgeois, sondern den Arbeitern zufal­len. Doch Privilegien sind eigentlich gar ­nicht nötig. Die Volksfront verteidigt die «Demokratie»? Möge sie nur mit deren Anwendung auf die eigenen Reihen be­ginnen! Das heißt: die Führung der Volksfront muss direkt und unmittel­bar den Willen der kämpfenden Mas­sen widerspiegeln.

Wie? Sehr einfach: durch Wahlen. Das Proletariat verbietet niemandem, an sei­ner Seite gegen den Faschismus, die bonapartistische Lavalregierung, die Mi­li­tär­verschwörung der Imperialisten und alle anderen Formen der Unterdrückung und Niedertracht zu kämpfen. Das Einzi­ge, was die bewussten Arbeiter von ih­ren tat­sächlichen oder eventuellen Verbünde­ten verlangen, ist, dass sie wirklich kämpfen. Jede Bevölkerungsgruppe, die sich wirk­lich am Kampf in der augenblick­lichen Etappe beteiligt und bereit ist, sich der gemeinsamen Disziplin zu unterwer­fen, soll gleichberechtigt auf die Führung der Volksfront einwirken können.

Je zweihundert, fünfhundert oder tausend Bürger, die sich in einer bestimmten Stadt, einem Stadtteil. einer Fabrik, einer Kaserne, in einem bestimmten Dorf der Volksfront anschließen, müssen während der Kampfhandlungen ihren Ver­treter in ein lokales Aktionskomitee wählen. Alle Teilnehmer des Kampfes verpflichten sich, die Disziplin dieses Komitees anzu­erkennen.

Der letzte Kominternkongress sprach sich in der Resolution zu Dimitroffs Bericht für die Bildung gewählter Aktionskomitees aus als der Massenstütze der Volksfront. Das ist wohl der einzige fortschrittliche Gedanke in der ganzen Re­solution. Aber gerade darum rühren die Stalinisten zu seiner Verwirklichung nicht den kleinen Finger. Sie können sich dazu nicht ent­schließen, ohne die Klassengemeinschaft mit der Bourgeoisie zu sprengen.

Allerdings können an den Wahlen zu den Aktionskomitees nicht nur Arbei­ter, son­dern auch Angestellte, Beamte, Kriegs­teilnehmer, Handwerker, Kleinhänd­ler und Kleinbauern teilnehmen. Auf diese Weise entsprechen die Aktionskomi­tees vortreff­lich den Aufgaben des Kampfes des Pro­letariats um den Einfluss auf das Klein­bürgertum. Dafür aber erschweren sie ungemein die Zusammenarbeit der Arbei­terbürokratie mit der Bourgeoisie. Allein, die Volksfront in ihrer heutigen Gestalt ist nichts anderes als die organisierte Klas­sengemeinschaft der poli­tischen Ausbeu­ter des Proletariats (Reformisten und Sta­linisten) mit den politi­schen Ausbeutern des Kleinbürgertums (Radikale). Wirkli­che Massenwahlen zu den Aktionskomi­tees werden automatisch die bürgerlichen Schieber (Radikale) aus den Reihen der Volksfront verdrängen und damit die ver­brecherische von Moskau diktierte Politik in die Luft sprengen.

Es wäre jedoch falsch, zu meinen, man könne einfach an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Stunde die pro­letarischen und kleinbürgerlichen Massen zur Wahl von Aktionskomitees auf Grund eines bestimmten Statuts auf­rufen. Solch ein Vorgehen Wäre rein bürokratisch und darum fruchtlos. Aktionskomitees können die Arbeiter nur dann wählen, wenn sie selbst an irgendeiner Aktion teilnehmen und das Bedürfnis nach einer revolutionä­ren Führung empfinden. Es handelt sich nicht um die formell-demokrati­sche Ver­tretung aller und jeder Massen, son­dern um die revolutionäre Vertretung der kämpfenden Mas­sen. Das Aktionskomi­tee ist der Apparat des Kampfes. Es ist nicht nötig, im voraus zu erraten, welche Schichten der Werktätigen nun gerade an der Schaffung der Aktionskomitees betei­ligt sein werden: die Grenzen der kämp­fenden Massen werden sich im Kampf von selbst ergehen.

Die größte Gefahr in Frankreich ist, dass die revolutionäre Energie der Mas­sen sich stückweise in Einzelausbrüchen wie Tou­lon, Brest. Limoges verausgabt und der Apathie Platz macht. Nur bewusste Verrä­ter oder hoffnungslose Esel sind imstande zu denken, dass man bei der heutigen Lage die Massen bereden könne, solange still zu halten, bis ihnen von oben die Volksfrontregierung beschert wird. Streiks, Protestkundgebungen. Straßen­kämpfe, direkte Aufstände sind in der heu­tigen Lage ganz unvermeidlich. Auf­gabe der proletarischen Partei ist es nicht, diese Bewegungen zu bremsen und lahmzulegen, sondern sie zusammenzu­fassen und ihnen die größtmögliche Kraft zu verleihen.

Die Reformisten und Stalinisten fürchten vor allem, die Radikalen zu erschre­cken. Der Apparat der Einheitsfront spielt ganz bewusst die Rolle des Desorga­nisators gegenüber‘ den spontanen Massenbewe­gungen. Die Linken vom Schlage Mar­ceau Piverts aber decken nur diesen Ap­parat gegen die Empörung der Mas­sen. Die Lage ist nur in dem Fall zu retten, wenn man den kämpfenden Massen hilft, im Prozess des Kampfes selbst einen neuen Apparat zu schaffen, der den Er­fordernissen des Augenblicks entspricht. Dazu eben sind die Aktionskomitees beru­fen. Während der Kämpfe in Toulon und Brest würden die Arbeiter ohne zu zögern eine lokale Kampforganisation geschaffen haben, hätte man sie nur dazu aufgeru­fen. Am Tage nach den blutigen Ereignis­sen in Limoges wären die Arbeiter und ein beträchtlicher Teil des Kleinbürgertums ohne Zweifel bereit ge­wesen, zur Unter­suchung der blutigen Geschehnisse und zu ihrer Verhinderung in Zukunft ein ge­wähltes Komitee zu bilden. Während der Bewegung in den Ka­sernen im Sommer dieses Jahres gegen den «rabiot» (Ver­län­gerung der Dienstpflicht) würden die Soldaten ohne zu zögern Kompanie-, Regiments- und Gar­nisonsaktionskomi­tees gewählt haben, wenn man ihnen nur diesen Weg gewiesen hätte. Solche Ge­legenheiten bieten sich auf Schritt und Tritt, jetzt und in Zukunft. Meistens im lo­kalen, doch oft auch im nationalen Maß­stab. Die Auf­gabe besteht darin, keine einzige solche Gelegenheit zu verpassen. Erste Vorbe­dingung dafür ist: klar selber die Bedeutung der Aktionskomitees be­greifen als das einzige Mittel, den anti­revolutionären Widerstand der Partei- und Ge­werkschaftsapparate zu bre­chen.

Heißt das, dass die Aktionskomitees die Partei- und Gewerkschaftsorganisa­tionen ersetzen? Es wäre ein Unsinn, die Frage so zu stellen. Die Massen treten in den Kampf mit all ihren Ideen, Gruppierungen, Traditionen und Organisatio­nen. Die Par­teien leben und kämpfen weiter. Bei den Wahlen zu den Aktions­komitees wird jede Partei natürlich danach trachten, ihre An­hänger durchzusetzen. Beschließen wer­den die Aktionskomitees nach Stimmen­mehrheit (bei Vorhandensein völliger Freiheit der Parteien- und Frak­tionsgrup­pierungen). Im Hinblick auf die Parteien kann man die Ak­tionskomitees ein revo­lutionäres Parlament nen­nen: die Par­teien sind nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil notwendig vor­ausgesetzt: gleichzeitig werden sie in der Aktion ge­prüft, und die Massen lernen sich von dem Einfluss der verrotteten Parteien zu befreien.

Bedeutet das, dass die Aktionskomitees einfach dasselbe sind wie Sowjets? Unter gewissen Umständen können die Akti­onskomitees Sowjets werden. Es wä­re je­doch falsch, die Aktionskomitees mit die­sem Namen zu belegen. Heute, im Jahre 1935, sind die Massen gewohnt, mit dem Wert Sowjet die Vorstellung der bereits eroberten Macht zu verbinden, doch so weit ist es in Frankreich noch nicht. Die russischen Sowjets waren zu Beginn durchaus nicht das, was sie spä­ter wur­den, und trugen damals sogar oft den be­scheidenen Namen Arbeiter- oder Streik­komitees. Die Aktionskomitees in ihrem heutigen Stadium sollen dazu die­nen, den Abwehrkampf der werktätigen Massen Frankreichs zusammenzufassen und ih­nen so das Bewusstsein ihrer eigenen Kraft für den künftigen Angriff zu vermit­teln. Ob es zu echten Sowjets kommen wird, das hängt davon ab, ob die heutige kritische Situation in Frankreich sich bis zu den letzten revolutionären Schlussfol­gerungen entwickeln wird. Das hängt selbstverständlich nicht nur von dem Willen der revolutionären Avantgarde ab, sondern auch von einer Reihe objektiver Bedingungen; jedenfalls wird die Massen­bewegung, die heute an die Schranke der Volksfront prallt, ohne Aktionskomitees nicht vorwärts kommen.

Aufgaben wie die Schaffung einer Arbei­termiliz usw., die Vorbereitung des Ge­neralstreiks‚ werden auf dem Papier bleiben, wenn die kämpfende Masse in der Person ihrer verantwortlichen Organe nicht selber diese Aufgabe im Angriff nimmt. Nur im Kampf erstandene Akti­ons­komitees können eine wirkliche Miliz gewährleisten, die nicht nach Tausenden, sondern Zehntausenden von Kämpfern zählt. Nur Aktionskomitees, die die wich­tigsten Zentren des Landes umfassen, werden den Augenblick für den Übergang zu entschiedeneren Methoden des Kamp­fes wählen können, dessen Führung ih­nen rechtmäßig gehört.

Aus den oben gemachten Feststellungen folgt eine Reihe von Schlussfolgerun­gen für die politische Arbeit der proletarischen Revolutionäre in Frankreich. Die erste be­trifft die sogenannte «Revolutionäre (?) Linke». Diese Gruppierung ist gekenn­zeichnet durch absolutes Unverständnis für die Bewegungsgesetze der revolutio­nären Massen. So sehr die Zentristen auch von den «Mas­sen» schwätzen, stets orientieren sie sich nach dein reformisti­schen Ap­parat. Wenn Marceau Pivert diese oder jene revolutionäre Losung nachspricht, ordnet er sie dem abstrakten Prinzip der «organischen Einheit» unter, die in Wirklichkeit Einheit mit den Patrio­ten gegen die Revolutionäre bedeutet. Während es für die revolutionären Mas­sen eine Lebensfrage ist, den Widerstand der vereinigten sozialpatriotischen Appa­rate zu brechen, betrachten die linken Zen­tristen die «Einheit» dieser Apparate als ein absolutes, über den Interessen des revolutionären Kampfes stehendes Gut.

Nur der kann Aktionskomitees schaffen, der restlos die Notwendigkeit be­griffen hat, die Massen von der verräteri­schen Führung der Sozialpatrioten zu befreien. Allein, Pivert klammert sich an Zyromsky. Zyromsky an Blum, Blum gemeinsam mit Thorez an Herriot, und Herriot an Laval. Pivert glie­dert sich in das System der Volksfront ein (nicht umsonst stimmte er auf dem letzten Nationalrat der Partei für die schmähliche Resolution Blums!), und die Volksfront gliedert sich als ein Flügel in Lavals bonapartistisches Regime ein. Der Zusammenbruch des bonapartisti­schen Regimes ist unvermeidlich. Wenn es der Führung der Volksfront (Herriot-Blum-Cachin-Thorez-Zyromsky-Pivert) in der allernächsten, entscheidenden Peri­ode sich zu halten gelingt, dann wird das bonapartistische Regime unvermeidlich dem Faschismus Platz machen. Voraus­setzung für den Sieg des Proletariats ist die Beseitigungder heutigen Führung. Die Losung der «Einheit» wird unter all diesen Umständen nicht nur eine Dumm­heit, sondern auch ein Verbrechen. Keine Einheit mit den Agenten des französi­schen Imperialismus und des Völker­bundes. Ihrer treubrüchigen Führung heißt es die revolutionären Aktionskomi­tees gegenüberstellen. Diese Komitees kann man nur schaffen, wenn man un­barmherzig die antirevolutionäre Politik der sogenannten «Revolutionä­ren Lin­ken» mit Marceau Pivert an der Spitze anprangert. Für Illusionen und Zweifel kann in dieser Hinsicht in unseren Reihen selbstverständlich kein Platz sein.

Die französische Revolution hat begonnen (9. Juni 1936)

Nie schien das Radio so kostbar wie in diesen Tagen. Es ermöglicht. aus dem fernen norwegischen Dorf den Pulsschlag der französischen Revolution zu verfol­gen. Genauer wäre zu sagen: seine Wi­derspiegelung im Bewusstsein und in der Stimme der Herren Minister, Gewerk­schaftssekretäre und anderer tödlich er­schrockener Führer.

Die Worte «Französische Revolution» mögen übertrieben erscheinen. Aber nein! Das ist keine Übertreibung. Just so ent­steht die Revolution. Anders kann sie gar nicht entstehen. Die französische Revolu­tion hat begonnen.

Freilich versichert Léon Jouhaux im Ge­folge Léon Blums die Bourgeoisie, es handle sich um eine rein ökonomische Bewegung, streng im Rahmen des Ge­setzes. Gewiss bemächtigen sich die Ar­beiter während des Streiks der Fabriken und führen eine Kontrolle über den Eigen­tümer und seine Verwaltung ein. Aber über dies betrübliche «Detail» kann man ein Auge zudrücken. Im Ganzen genom­men sind es «korporative und nicht politi­sche Streiks», beteuern die Herren Füh­rer. Inzwischen verändert sich unter der Wirkung der «nichtpolitischen» Streiks gründlich die gesamte politische Lage im Lande. Die Regierung legt in ihren Hand­lungen eine Eile an den Tag, an die sie vorher nicht dachte: ist doch nach Blums Worten die wahre Kraft geduldig! Die Ka­pitalisten lassen überraschend leicht mit sich reden. Die gesamte Konterrevolution versteckt sich abwartend hin­ter Blums und Jouhaux Rücken. Und dies Wunder wurde vollbracht durch… einfache «korporative» Streiks. Wo stünden wir, wenn die Streiks politisch wä­ren?

Aber nein, die Führer reden die Unwahr­heit. Die Korporation umfasst die Arbeiter eines einzelnen Berufs und scheidet sie von den anderen Berufen. Der Trade­u­nionismus und der reaktionäre Syndika­lismus sind aus Leibeskräften be­müht, die Arbeiterbewegung im korporativen Rahmen zu halten. Darauf beruht die fak­tische Diktatur der Gewerkschaftsbüro­kratie über die Arbeiterklasse (die schlimmste aller Diktaturen!) bei sklavi­scher Abhängigkeit der Jouhaux-Raca­mond-Clique vorn bürgerlichen Staat. Das Wesen der heutigen Bewegung be­steht eben darin, dass sie den beruflichen, kor­porativen und lokalen Rahmen durch­bricht und darüber hinweg die Forderun­gen, die Hoffnungen. den Willen des ge­samten Proletariats kundgibt. Die Bewe­gung bekommt epide­mieartigen Charak­ter. Die Seuche pflanzt sich fort von Fa­brik zu Fabrik, von Korporation zu Korpo­ration, von Gebiet zu Gebiet. Alle Schich­ten der Arbeiterklas­se rufen sich gleich­sam gegenseitig zu. Den Anfang machen die Metallarbeiter: das ist die Vorhut. Doch die Kraft der Bewegung will es, dass im kurzen Abstand nach der Vorhat die schweren Reserven der Klasse folgen, darunter auch die rück­ständigsten Berufe, ihre Nachhut, die die Herren Parlamenta­rier und Gewerkschaftsführer gewöhnlich ganz vergessen. Nicht von ungefähr gab der «Peuple» offen zu, dass einige be­sonders niedrig bezahlte Kategorien der Pariser Bevölkerung für ihn eine voll­kommene «Überraschung» darstellten. Indes, gerade in der Tiefe dieser unter­drücktesten Schichten entspringen un­versiegbare Quellen der Begeisterung, der Selbstaufopferung, der Tapferkeit. Die bloße Tatsache ih­res Erwachens ist ein unfehlbares Anzeichen einer großen Flut­welle. Zu diesen Schichten gilt es Zugang finden, koste was es wolle!

Dadurch dass sich die Streikbewegung aus den korporativen und lokalen Rah­men losriss, wurde sie gefährlich nicht nur für die bürgerliche Gesellschaft, son­dern auch für ihre eigenen parlamentari­schen und gewerkschaftlichen Vertre­tun­gen, die jetzt vor allem besorgt sind, die Wirklichkeit nicht zu sehen. Einer histori­schen Legende zufolge antwortete einer der Höflinge auf die Frage Lud­wig XVI. «Was ist das, eine Revolte?», »Nein, Eu­re Hoheit, das ist die Revo­lution». Heute antworten auf die Frage der Bour­geoisie: «Ist das eine Revolte?» ihre Höf­linge: «Nein, das sind nur Korporativ­streiks». Indem sie die Kapitalisten beru­higen, be­ruhigen BIum und Jouhaux sich selbst. Doch Worte werden nicht helfen. Zwar kann in dem Augenblick, wo diese Zeilen in der Presse erscheinen werden, die er­ste Welle sich legen. Äußerlich ge­sehen wird das Leben in die alten Ufer zu­rück­treten. Doch das ändert nichts an der Sa­che. Das was geschah, sind nicht Kor­po­rativstreiks. Das sind überhaupt nicht Streiks. Das ist ein Streik. Das ist der of­fene Zusammenschluss der Unterdrück­ten gegen die Un­terdrücker. Das ist der klassische Anfang der Revolution.

Die ganze vergangene Erfahrung der Ar­beiterklasse, die Geschichte ihrer Aus­beu­tung, Not. ihrer Kämpfe und Nie­derla­gen wird unter dem Ansturm der Er­eig­nisse lebendig und tritt jedem, selbst dein rückständigsten Proletarier ins Be­wusst­sein und stößt ihn in eine Reihe mit den anderen. Die ganze Klasse ge­riet in Be­wegung. Diese gigantische Masse ist mit Worten nicht zurückzuhalten.

Der Kampf muss enden entweder mit dem größten aller Siege oder mit der fürchterlichsten aller Katastrophen.

Der «Temps» nannte den Streik «Gene­ral­manöver der Revolution». Das ist unvergleichlich ernster als das was Blum und Jouhaux sagen. Aber auch die Defi­nition des Temps. ist gleichwohl un­richtig weil in gewissem Sinne übertrie­ben. Ma­növer setzen das Vorhandensein eines Kommandos, eines Stabes, eines Plans voraus. Das gibt es in dem Streik nicht. Die Zentren der Arbeiterorganisa­tionen. darunter auch der Kompartei, wur­den überrumpelt. Sie fürchten am mei­sten, dass der Streik ihnen einen Strich durch alle ihre Rechnungen macht. Das Radio gibt einen bemerkenswerten Satz von Marcel Cachin wieder: «Wir alle — die ei­nen wie die anderen — stehen vor der Tatsache des Streiks». Mit anderen Wor­ten: der Streik ist unser gemeinsa­mes Unglück. Mit diesen Worten über­zeugt der grimmige Senator die Kapital­i­sten, Zuge­ständnisse zu machen, um die Lage nicht zu verschärfen. Die Parlamen­tarier und Gewerkschaftssekretäre, die sich an den Streik von der Seite her an­passen, um ihn möglichst bald zu er­sticken, stehen im Wesen außerhalb des Streiks, hängen in der Luft und wissen selber nicht, ob sie mit den Beinen oder mit dem Kopf am Boden landen werden. Einen revolutionä­ren Stab hat die er­wachte Masse noch nicht.

Der wirkliche Stab ist beim Klassenfeind. Dieser Stab fällt durchaus nicht mit der Regierung Blum zusammen, wenn er sie auch geschickt ausnutzt. Die ka­pitalisti­sche Reaktion spielt heute ein großes und riskantes Spiel, aber sie spielt es mit Ver­stand. Im gegenwärtigen Augenblick greift sie zum Schlagdamesystem. «Geben wir heute all den unangenehmen Forderun­gen nach, die den einmütigen Beifall Blums, Jouhaux und Daladiers finden. Von der Anerkennung im Prinzip zur Verwirklichung ist ja noch ein weiter Weg. Da ist das Parlament, der Senat, die Kanzleien, alles Obstruktionsmaschinen. Die Massen werden Ungeduld an den Tag legen und versuchen, heftiger zu drücken. Daladier wird sich mit Blum entzweien. Thorez wird versuchen, nach links abzu­springen. Blum und Jou­haux werden sich mit den Massen entzweien. Dann werden wir alle heutigen Zugeständnisse zurück­holen, sogar mit Wucher.» So überlegt der wirkliche Stab der Konterrevolution: die berühmten «200 Familien» und ihre Angriffsstrategen. Sie handeln nach ei­nem Plan. Und es wäre leichtfertig zu sa­gen, dass ihr Plan unbegründet sei. Nein, mit Blums, Jouhaux‘ und Cachins Hilfe kann die Konterrevolution ihr Ziel errei­chen.

Die Tatsache, dass die Massenbewegung als Improvisation so grandiose Aus­masse und einen so großen politischen Effekt erzielt, charakterisiert am aller­besten den tiefen, organischen, wahrhaft revolutionä­ren Charakter der Streik­welle. Darin liegt ein Pfand für die Dauer der Bewegung, für ihre Zähigkeit und die Unvermeidlichkeit einer Reihe wachsender Wellen. Ohne das wäre der Sieg unmöglich. Aber für den Sieg ist all dies ungenügend. Gegen den Stab und den Plan der «200 Famili­en» bedarf es eines Stabs und Plans der proletarischen Re­volution. Weder das eine noch das andere ist bereits vorhan­den. Doch sie kön­nen geschaffen werden. Alle Voraussetzungen und Elemente einer neuen Massenkristallisierung sind gege­ben.

Die Ausdehnung der Streiks ist, wird ge­sagt, hervorgerufen durch die «Hoffnun­gen» auf die Volksfrontregie­rung. Das ist nur ein Viertel der Wahrheit oder gar noch weniger. Beschränkte sich die Sache nur auf Hoffnungen, so wür­den die Arbeiter das Risiko des Kampfes nicht laufen. Im Streik kommt vor allem das Misstrauen oder der Mangel an Ver­trauen seitens der Arbeiter zum Aus­druck, wenn nicht dem guten Willen der Regierung, so ihrer Fähigkeit gegenüber, die Hindernisse nie­derzureißen und mit ihren Aufgaben zu Rande zu kommen. Die Proletarier wollen der Regierung «helfen», aber auf ihre, auf proletarische Weise. Volles Bewusst­sein ihrer Kraft ist bei ihnen natürlich noch nicht vorhanden. Es wäre aber eine grobe Karikatur, die Sache so darzustellen, als ließe sich die Masse nur von frommen «Hoffnungen» auf Blum leiten. Es fällt ihr nicht leicht, die Gedanken beisammen zu halten unter dem Druck der alten Führer, die sich be­mühen, sie so bald wie mög­lich in das alte Tretrad der Knechtschaft und der Routine zurückzujagen. Dennoch beginnt das französische Proletariat die Ge­schichte nicht von vorn. Der Streik brachte überall und allenthalben die den­kendsten und kühn­sten Arbeiter in vor­derste Reihe. Ihnen gehört die Initiative. Sie handeln bislang vorsichtig, sie tasten den Boden ab. Die vordersten Abteilun­gen bemühen nicht zu weit vorzuspringen, um sich nicht zu isolieren. Der freund­schaftliche Widerhall der Übrigen wird ih­nen Mut gehen. Der Klassenappell ver­wandelt sich in die Probe einer Selbst­mobilisierung. Das Proletariat selbst be­dürfte am meisten dieser Kundgebung des eigenen Willens. Die erreichten prak­tischen Erfolge, so wacklig sie an sich auch sind, müssen außerordentlich das Selbstvertrauten der Massen erhöhen, besonders der rückständigsten und unter­drücktesten Schichten.

Die Haupteroberung der ersten Welle be­steht darin, dass in den Werkstätten und Fabriken Führer hervortraten. Es entstan­den die Elemente für lokale und bezirkli­che Stäbe. Die Masse kennt sie. Sie ken­nen einander. Die echten Revolutionäre werden Verbindung mit ihnen suchen. So hat die erste Selbstmobilisierung der Massen die ersten Elemente der revolu­tionären Führung bezeichnet und zum TeiI herausgebildet. Der Streik hat den gigantischen Organismus der Klasse auf­gerüttelt, belebt, erneuert. Die alte Orga­nisationshülle ist noch längst nicht abge­streift, im Gegenteil, hält sich noch ziem­lich fest. Doch unter ihr macht sich be­reits die neue Haut bemerkbar.

Über das Tempo der Ereignisse, das sich unzweifelhaft beschleunigen wird. spre­chen wir jetzt nicht. Hier ist es bislang nur möglich, zu vermuten und zu er­raten. Die zweite Welle, ihre Dauer, ihr Umfang und ihre Spannung werden oh­ne Zweifel eine viel konkretere Prognose gestatten, als es jetzt angeht. Doch eins ist von vornherein klar: die zweite Welle wird bei weitem nicht denselben friedlichen, fast gutmüti­gen, frühlingsmäßigen Charakter tragen wie die erste. Sie wird reifer, zäher und strenger sein, weil hervorgerufen durch die Enttäu­schung der Massen über die praktischen Resultate der Volksfrontpolitik und ih­res eigenen ersten Angriffs. In der Regierung wird Uneinigkeit Platz greifen, des­gleichen in der Parlamentsmehrheit. Die Konterrevolution wird plötzlich selbstsicherer und frecher werden. Neue leichte Erfolge werden die Massen nicht er­warten dürfen. Angesichts der Gefahr, zu verlieren, was erobert worden war, des wachsenden Widerstands des Feindes, der Schlappheit und Uneinigkeit der offi­ziellen Führung verspüren die Massen das brennende Bedürfnis nach einem Programm, einer Organisation, einem Plan, einem Stab. Darauf gilt es sich und die vorgeschrittenen Arbeiter vorzuberei­ten. In der Atmosphäre der Revolution werden die Umerziehung der Massen, die Auswahl der Kader und ihre Stählung schnell vor sich gehen.

Der revolutionäre Stab kann nicht durch Spitzenkombinationen entstehen. Die Kampforganisation würde mit der Partei selbst dann nicht zusammenfallen, wenn in Frankreich eine revolutionäre Massen­partei bestände, denn die Bewegung ist unvergleichlich breiter als die Partei. Die Organisation kann auch nicht mit den Gewerkschaften zusammenfallen, denn die Gewerkschaften erfassen nur einen unbedeutenden Teil der Klasse und an ih­rer Spitze steht eine erzreaktio­näre Büro­kratie. Die neue Organisation muss der Natur der Bewegung selbst entsprechen, die kämpfenden Massen widerspiegeln, ihren sich erstarkenden Wil­len aus­drücken. Es handelt sich um eine unmit­telbare Vertretung der revolutio­nären Klasse. Hier braucht man neue Formen nicht zu erfinden: es gibt geschicht­liche Präzedenzfälle. Die Werkstätten und Fa­briken werden ihre Deputierten wählen, die sich zwecks gemeinsamer Ausarbei­tung der Kampfpläne und zur Kampflei­tung versammeln. Den Namen dieser Or­ganisation braucht man ebenfalls nicht zu erfinden, er lautet Sowjets der Arbeiter­deputierten.

Die Hauptmasse der revolutionären Arbei­ter steht heute bei der Kommunistischen Partei. In der Vergangenheit riefen sie nicht selten: «Überall Sowjets!» Die mei­sten von ihnen meinten es mit dieser Lo­sung zweifellos ehrlich und ernst. Es gab eine Zeit, wo wir diese Losung für unzeit­gemäß hielten. Jetzt aber hat sich die Lage von Grund auf geändert. Der mäch­tige Klassenzusammenprall geht einem schicksalsschweren Ende entgegen. Wer schwankt, wer Zeit ver­streichen lässt, der ist ein Verräter. Es heißt wählen zwischen dem größten der geschichtlichen Siege und der fürchterlichsten der Niederlagen. Man muss den Sieg vorbereiten. «Überall So­wjets»? Einverstanden. Aber es ist Zeit, von den Worten überzugehen zur Tat.

Die entscheidende Etappe (5. Juni 1936)

Das Tempo der Ereignisse in Frankreich hat sich jäh beschleunigt. Bislang war der vorrevolutionäre Charakter der Lage festzustellen auf Grund theoretischer Analyse und einzelner politischer Sym­ptome. Jetzt sprechen die Tatsachen für sich selbst. Man kann ohne Übertreibung sagen, in ganz Frankreich gibt es nur zwei Parteien, deren Führer die ganze Tiefe der revolu­tionären Krise nicht se­hen, nicht begreifen oder nicht sehen wollen: nämlich die «Sozialisten» und die «Kommunisten». Ihnen sind natürlich auch die «unabhän­gigen» Gewerkschafts­führer hinzuzufügen. Die Arbeitermassen schaffen heute mit Hilfe direkter Aktion eine revolutionäre Situation. Die Bour­geoisie fürchtet die Entwicklung der Er­eignisse auf den Tod und ergreift hinter den Kulissen, vor der Nase der neuen Regierung, alle nötigen Maßnahmen zu Schutz, Rettung, Betrug, Unterdrückung und blutiger Rache. Nur die «sozia­listi­schen» und «kom­munisti­schen» Führer schwätzen weiter von der Volksfront, als hätte der Klas­senkampf nicht bereits ihr elendes Kartenhaus um­geworfen.

Blum erklärt: «Das Land hat der Volks­front ein Mandat erteilt, und wir kön­nen über den Rahmen dieses Mandats nicht hinausgehen». Blum betrügt seine eigene Partei und versucht, das Proletariat zu be­trügen. Die Stalinisten (die sich immer noch «Kommunisten» nennen) helfen ihm dabei. In Wirklichkeit benutz­ten Soziali­sten und Kommunisten die Tricks, Fallen und Schlingen der Wahlmechanik, um die werktätigen Massen im Interesse des Bündnisses mit dem bür­gerlichen Radi­kalsozialismus zu vergewaltigen. Das po­litische Wesen der Krise kommt darin zum Ausdruck, dass dem Volk von den Ra­dikalsozialisten und ihrer Dritten Re­publik zum Erbrechen übel ist. Das ver­suchen die Faschisten auszunutzen. Was aber taten die Sozialisten und Kom­munisten? Sie verbürgten sich vor dem Volke für die Radikalsozialisten: stell­ten sie als unschuldig verleumdet hin, versi­cherten die Arbeiter und Bauern, al­les Heil läge in einen Kabinett Daladier. Auf diesem Kammerton war die ganze Wahl­kampagne gestimmt. Wie antworteten die Massen darauf? Sie brachten den Kom­munisten als der extremen Linken einen gewaltigen Anwachs an Stimmen und Sit­zen. Die Wendungen und Zickzacks der Söldlinge der Sowjetdiplomatie haben die Massen nicht verstanden, weil sie sie in ihrer eigenen Erfahrung noch nicht ge­prüft haben. Die Massen lernen nur in der Aktion: für theoretische Beschäfti­gung fehlt ihnen die Zeit. Wenn andert­halb Millionen Wähler den Kommunisten ihre Stimme geben, so sagt damit ihre Mehrheit zu diesen: «Wir wollen, dass Ihr in Frankreich tut, was die russischen Bol­schewiki bei sich im Oktober 1917 taten». Das ist der wahre Wille des aktivsten Teils der Bevölkerung, jenes Teils, der fähig ist zu kämpfen und Frankreichs Zu­kunft zu sichern. Das ist die erste Lehre der Wahlen.

Die Sozialisten behielten annähernd die alte Stimmenzahl bei trotz der Abspal­tung der bedeutenden Gruppe der Neos. In dieser Frage gaben die Massen ihren «Füh­rern» ebenfalls eine prachtvolle Lehre. Die Neos wollten das Kartell, um jeden Preis, d. h. die Zusammenarbeit mit der republikanischen Bour­geoisie zum Heil und Gedeih der «Republik». Eben auf dieser Linie spalteten sie von den Soziali­sten ab und traten als Konkurrenten bei den Wahlen auf. Die Wähler wandten sich von ihnen ab. Die Neos sind zusam­mengebrochen. Vor zwei Jahren sagten wir voraus, die weitere politische Entwick­lung werde vor allem alle kleinen Gruppen treffen, die sich den Radikalsozialisten anhän­gen. Und so haben die Massen im Konflikt zwischen den Sozialisten und den Neos die Gruppe verurteilt und beiseite geworfen, die systematischer und ent­schiedener. lauter und offener das Bünd­nis mit der Bourgeoisie predigte. Das ist die zweite Lehre der Wahlen.

Die sozialistische Partei ist keine Arbei­terpartei nicht nur ihrer Politik son­dern auch der sozialen Zusammensetzung nach. Sie ist eine Partei der neuen Mittel­schicht (Beamte, Angestellte usw.), zum Teil des Kleinbürgertums und der Arbei­teraristokratie. Eine ernste Analyse der Wahlstatistik würde ganz unzweifelhaft beweisen, dass die Sozialisten an die Kommunisten einen bedeutenden Teil von Arbeitern und ganz armen Bauern abga­ben und von den Radikalsozialisten dafür bedeutende Gruppen der Mittelklassen erhielten. Das heißt, die Entwicklung des Kleinbürgertums geht von den Radikal­sozialisten nach links zu den Sozialisten und Kommunisten, während die Gruppen der Mittel- und Großbourgeoisie von den Radikalsozialisten nach rechts ab­schwenken. Die Gruppierung vollzieht sich um die Klassenachsen und nicht um die künstliche Linie der «Volksfront». Schnelle Polarisierung der politischen Verhältnisse ist bezeichnend für den revo­lutionären Charakter der Krise. Das ist die dritte und Hauptlehre.

Der Wähler hat somit seinen Willen — soweit er überhaupt Möglichkeit hat, ihn in der Zwangsjacke des Parlamentaris­mus kundzutun — kundgetan nicht für die Volksfrontpolitik, sondern gegen sie. Al­lerdings haben die Sozialisten und Kom­munisten beim zweiten Wahlgang durch das Rücktreten ihrer Kandidaten zugun­sten der radikalsozialistischen Bourgeois den politischen Willen der Werk­tätigen Frankreichs noch mehr verzerrt. Trotzdem gingen die Radikalsozialisten aus der Probe mit geschundenem Wanst hervor und büßten ein ganzes Drittel ihrer Sitze ein. Der «Temps» meint: «weil sie mit den Revolutionären Block machten». Da­ladier sagt: «Ohne die Volksfront hätten wir noch mehr verloren». Daladier hat un­bedingt recht. Führten die Sozialisten und Kommunisten eine Klassenpolitik, d.h. kämpften sie um das Bündnis der Arbeiter und halbproletarischen Elemente von Stadt und Land gegen die gesamte Bour­geoisie, und zwar auch gegen deren ver­faulten radikalsozialistischen Flügel, so hätten sie noch be­deutend mehr Stimmen bekommen und die Radikalsozialisten wären in der Kam­mer zu einem winzigen Grüppchen zusammengeschmolzen.

Alle politischen Tatsachen bezeugen, dass es weder in den sozialen Verhältnis­sen Frankreichs, noch in der politischen Stimmung der Massen irgendeinen Stütz­punkt für die Volksfront gibt. Diese Politik ist von oben her aufgezwungen: von der radikalsozialistischen Bourgeoisie. den sozialistischen Geschäftema­chern, den Sowjetdiplomaten und ihren kommunisti­schen Lakaien. Mit verein­ten Kräften taten sie alles, was man mit Hilfe des ehrlose­sten aller Wahlsyste­me tun konnte, um die Volksmassen politisch zu betrügen und zu bestehlen, und ihren wahren Wil­len zu entstellen. Nichtsdestoweniger ver­standen es die Mas­sen, auch unter diesen Umständen zu zeigen, dass sie nicht Koalitionen mit den Radikalsozialisten wollen, sondern den Zusammenschluss der Werktätigen gegen die gesamte Bour­geoisie.

Wenn in all den Wahlkreisen, wo die So­zialisten und Kommunisten zugunsten der Radikalsozialisten zurücktraten, beim zweiten Wahlgang revolutionäre Arbeiter­kandidaten aufgestellt worden wären, so würden sie würden sie ohne Zweifel eine recht erhebliche Anzahl Stimmen verei­nigt haben. Leider fand sich keine Orga­nisation, die zu einer solchen Initiative fähig gewesen wäre. Das zeigt, dass die revolutionären Gruppen, zentrale wie lo­kale, hinter der Dynamik der Ereignisse zurückbleiben und es vorziehen, Kandida­turen aufrechtzuerhalten oder zurückzu­ziehen, wo es gälte zu handeln. Traurig! Doch die allgemeine Orientierung der Massen ist dennoch ganz klar.

Sozialisten und Kommunisten bereiteten aus Leibeskräften ein Ministerium Herriot vor; schlimmstenfalls ein Ministerium Daladier. Was aber taten die Mas­sen? Die zwangen den Sozialisten und Kom­munisten ein Ministerium Blum auf. Ist das etwa nicht ein direktes Votum gegen die Volksfrontpolitik?

Oder bedarf es vielleicht noch der Bewei­se? Die Demonstration zum Andenken der Kommunarden überragte dieses Jahr sichtlich alle jeher in Paris gesehe­nen Volksdemonstrationen. Indes standen die Radikalsozialisten zu dieser Demonstrati­on in keiner Beziehung und konnten es auch gar nicht. Die werktätigen Massen von Paris bewiesen mit unnachahmli­chem politischen Instinkt, dass sie in doppelter Anzahl dort zur Stelle sind, wo sie nicht gezwungen werden, die ekelhafte Verbrüderung ihrer Führer mit den bür­gerlichen Ausbeutern mit anzu­sehen. Die Wucht der Demonstration vom 24. Mai ist die überzeugendste, un­verrückbarste De­savouierung der Volksfrontpolitik durch die Arbeiter von Paris.

— Aber ohne die Volksfront wäre das Parlament, in dem die Sozialisten und Kommunisten bei all dem doch nicht die Mehrheit bilden, ja nicht lebensfähig und die Radikalsozialisten würden — oh Schreck! — «in die Arme der Reaktion» getrieben. Diese Erwägung ist ganz jener feigen Philister würdig, die an der Spitze der sozialistischen und der kommunisti­schen Partei stehen. Die Lebensunfä­higkeit des Parlaments ist eine unver­meidliche Folge des revolutionä­ren Charakters der Krise. Mit Hilfe einer Reihe politischer Schiebungen gelang es, diese Lebensunfähigkeit halbwegs zu maskieren: doch wird sie sich gleichwohl morgen offenbaren. Um die bis ins Kno­chen­mark reaktionären Radikalsozialisten nicht «in die Arme der Reaktion» zu trei­ben, muss man sich mit den Radikalso­zialisten vereinigen zum Schutze des Ka­pitals. Darin und nur darin besteht die Mission der Volksfront. Doch dem stehen die Arbeiter im Wege.

Das Parlament ist lebensunfähig, weil die heutige Krise auf parlamentarischem Wege keinerlei Ausweg bietet. Und wie­derum erfassten die französischen werk­tätigen Massen mit dem ihnen eigenen feinen revolutionären Instinkt unfehlbar diesen Hauptzug der Situation. In Toulon und Brest gaben sie die ersten War­nungssignale. Die Proteste der Soldaten gegen den «Rabiot» (Verlängerung der Dienstzeit) bedeuteten die für die bürger­liche Ordnung gefährlichste Form der di­rekten Massenaktion. Schließlich, in den Tagen, als der sozialistische Kon­gress einstimmig (einschließlich des hohlen Phrasendreschers Marceau Pivert) das Mandat der «Volksfront» entgegennahm und dies Mandat Léon Blum über­trug; in den Tagen, als Blum sich von allen Seiten im Spiegel betrachtete, Vorregierungsge­sten machte, Vorregierungsausrufe von sich gab und sie in Artikeln kommentierte, wo immer von Blum die Rede ist und nie vom Proletariat — in diesen Tagen rollte eine prächtige, wahrhaft frühlingsmäßige Streikwelle über Frankreich dahin. Ohne eine Führung zu finden und auch ohne sie auskommend, besetzten die Arbeiter kühn und selbstsicher die Fabrikgebäude nach Niederle­gung der Arbeit.

Der neue Gendarm des Kapitals, der So­zialist Salengro, erklärte, bevor er noch wirklich die Macht übernommen hatte (ganz wie es Herriot, Laval. Tardieu und de La Rocque taten)‚ er werde «die Ord­nung vor der Anarchie schützen». Ord­nung nennt dieses Subjekt die kapitalisti­sche Anarchie. Als Anarchie bezeichnet er den Kampf um die sozialistische Ord­nung. Die bislang noch friedliche Okku­pation der Fabriken und Betriebe durch die Arbeiter ist von gewaltiger symptoma­tischer Bedeutung. Die Werktätigen sa­gen: wir wollen die Herren sein; in den Häusern, wo wir bis jetzt nur Sklaven wa­ren.

Tödlich erschrocken und bestrebt die Ar­beiter zu schrecken, sagt Léon Blum: «Ich bin kein Kerenski; ja in Frankreich würde ein Kerenski nicht von einem Le­nin abge­löst werden, sondern von jemand ande­rem». Man soll wohl glauben, der russi­sche Kerenski habe Lenins Politik ver­standen und sein Kommen voraus- gese­hen. In Wirklichkeit versicherte Kerenski, aufs Haar so wie Blum, den Arbeitern, im Falle seines Sturzes werde nicht der Bol­schewismus zur Macht kommen, sondern «jemand anders». Just dort wo Blum sich von Kerenski abgrenzen will, ahmt er ihn sklavisch nach. Man kann jedoch nicht umhin zuzugeben, dass, soweit die Sache von Blum abhängt, er tatsächlich den Weg ebnet den Faschisten, und nicht dem Proletariat.

Am verbrecherischsten und schändlich­sten ist in dieser Lage das Verhalten der Kommunisten: sie haben, ohne in die Regierung Blum einzutreten, ihr ihre rückhaltlose Unterstützung zugesagt. «Wir sind zu grässliche Revolutionäre», sagen Cachin und Thorez, «unsere radi­kalsozialistischen Kollegen können vor Angst sterben: wir bleiben lieber im Vor­zimmer». Ministerialismus hinter den Ku­lissen ist zehnmal schädlicher als der of­fene und sichtbare. In Wirklichkeit wollen die Kommunisten nach außen hin ihre Unabhängigkeit wahren, um desto besser die Arbeitermassen der Volksfront, d. h. der Disziplin des Kapitals zu un­terwerfen. Aber auch dabei bildet der Klassenkampf ein Hindernis. Ein einfacher und ehrlicher Massenstreik zerstört unbarmherzig My­stik und Mystizismus der Volksfront. Sie hat bereits ihren Todesstoß empfangen und nunmehr kann sie nur noch krepie­ren.

Auf parlamentarischem Weg gibt es kei­nen Ausweg. Blum erfindet das Pul­ver nicht oder fürchtet es. Die weiteren Ma­chinationen der Volksfront können ledig­lich die Agonie des Parlamentarismus hinschleppen und de La Rocque Zeit ge­hen zur Vorbereitung eines neuen, ernste­ren Hiebes, wenn … wenn die Revolutio­näre ihm nicht zuvorkommen.

Nach dem 6. Februar 1934 meinten eini­ge ungeduldige Genossen: «morgen» käme das Ende. und darum müsse man sofort irgendein Wunder vollbringen. So eine Politik hat nichts als Abenteuer und Zickzacks ergehen können, welche die Entwicklung der revolutionären Partei au­ßerordentlich gehemmt haben. Die ver­lo­rene Zeit ist unwiederbringlich. Doch noch mehr Zeit soll man nicht verlieren. denn viel Zeit bleibt nicht mehr. Wir wollen auch heute keine Fristen festlegen. Aber nach der großen Streikwelle können die Ereignisse sich nur entweder zur Revolu­tion oder zum Faschismus hinentwickeln. Die Organisation, die in der heu­tigen Streikbewegung keine Stützpunkte findet, die sich nicht fest mit den kämpfenden Arbeitern zu verbinden versteht, ist des Namens einer revolutionä­ren Organisati­on unwürdig. Da ist es schon besser, ihre Mitglieder suchen sich einen Platz im Ar­menhaus oder in den Freimaurerlogen (durch Protektion M. Piverts!)

In Frankreich gibt es nicht wenig Herr­schaften beiderlei Geschlechts, Exkom­munisten, Exsozialisten, Exsyndikalisten, die in Gruppen und Cliquen dahinle­ben, innerhalb der vier Wände Eindrücke über die Ereignisse auswechseln und glauben. die Zeit sei noch nicht reif für ihre er­lauch­te Teilnahme. «Es ist noch zu früh». Wenn aber de La Rocque kommen wird, werden sie sagen: «Jetzt ist es schon zu spät». Derlei unfruchtbare Räsonneure gibt es im Besonderen unter dem linken Flügel der Lehrergewerkschaft nicht we­nige. Es wäre das größte Ver­brechen, auf dieses Publikum auch nur noch eine Mi­nute zu verschwenden. Mö­gen die Toten ihre Toten begraben!

Frankreichs Schicksal entscheidet sich jetzt nicht im Parlament. nicht in den Re­daktionen der versöhnlerischen reformi­stischen und stalinistischen Zeitungen, nicht in den Zirkeln der Skeptiker, Trüb­salbläser und Phrasendrescher. Frank­reichs Schicksal entscheidet sich in den Fabriken, die durch Aktionen den Aus­weg aus der kapitalistischen Anarchie zu wei­sen wussten - zur sozialistischen Ord­nung. Der Platz der Revolutionäre ist in den Fabriken!

Der letzte Kominternkongress hat in sei­ner eklektischen Brauküche die Koalition mit den Radikalsozialisten auf eine Stufe gestellt mit der Schaffung von Massenak­tionskomitees, d.h. embryonaler Sowjets. Dimitroff wie seine Inspira­toren meinen ernsthaft, man könne Klassenzusam­menarbeit und Klassenkampf vereinen, den Block mit der Bourgeoisie und den Kampf des Proletariats um die Macht, die Freundschaft mit Daladier und die Errich­tung voll Sowjets. Die französischen Sta­linisten tauften die Aktionskomitees um in Volksfrontkomitees, in der Meinung so den revolutionären Kampf mit dem Schutz der bürgerlichen Demokratie zu versöhnen. Die heutigen Streiks zerstören diese jämmerliche Illu­sion bis in die Wur­zel. Die Radikalsozialisten fürchten die Komitees. Die So­zialisten fürchten den Schreck der Radikalsozialisten. Die Kommunisten fürchten die Angst der ei­nen und der anderen. Die Losung der Komitees kann nur von einer wirklich re­volutionären Organisation aufgegriffen werden, die rückhaltlos den Massen, ihrer Sache, ihrem Kampf ergehen ist. Die französischen Arbeiter haben erneut be­wiesen, dass sie ihres historischen Rufs würdig sind. Es heißt ihnen vertrauen. Sowjets entstanden stets aus Streiks. Der Massenstreik ist das natürliche Grund­element der proletarischen Revolution. Die Aktionskomitees können heute nichts anderes sein als Komitees der Streiken­den, die die Betriebe be­setzen. Von Zunft zu Zunft, von Fabrik zu Fabrik, von Stadtviertel zu Stadtvier­tel, von Ort zu Ort müssen die Aktionskomitees unter sich eine enge Verbindung herstellen, sich stadtweise nach Produktionsgruppen, nach Gebieten zu Konferenzen versam­meln, um in einem Kongress aller Akti­onskomitees Frankreichs zu gipfeln. Das eben wird die neue Ordnung sein, die die heutige Anarchie ablösen soll.

Vor der neuen Etappe (9. Juli 1936)

Noch einmal muss man sagen: die seriö­se Kapitalspresse wie der Pariser «Temps» oder die Londoner «Times» ha­ben die Bedeutung der Juniereignisse in Frankreich und Belgien viel richtiger und scharfsichtiger eingeschätzt als die Presse der Volksfront. Während die so­zialistischen und kommunistischen Offi­ziosi mit Léon Blum von der beginnenden «friedlichen Umgestaltung des sozia­len Regimes Frankreichs» reden, behauptet die konservative Presse, in Frank­reich habe die Revolution begonnen, und auf einer der nächsten Etappen werde sie un­vermeidlich gewaltsame Formen anneh­men. Es wäre nicht richtig, in die­ser Pro­gnose nur oder hauptsächlich das Be­streben zu sehen, die Besitzenden zu schrecken. Die Vertreter des Großkapitals wissen den sozialen Kampf sehr rea­li­stisch zu betrachten. Die kleinbürgerli­chen Politiker hingegen nehmen gern ihre Wünsche für die Wirklichkeit zwischen den Hauptklassen, dem Finanzkapital und dem Proletariat, stehend, schlagen die Herren «Reformatoren» den beiden Geg­nern vor, sich auf der mittleren Linie zu einigen, die sie mit großer Mühe im Ge­neralstab der Volksfront ausarbeiteten und die sie selbst verschieden aus­legen. Sie müssen sich jedoch nur allzubald da­von überzeugen, dass es viel leich­ter ist, die Klassengegensätze in Leitartikeln auszusöhnen, als im Regierungshand­werk, vor allem mitten in der heftigsten sozialen Krise.

Im Parlament warf man Blum ironisch vor, er habe Verhandlungen über die For­derungen der Streikenden mit Vertretern der «zweihundert Familien» geführt. — Mit wem hätte ich denn sonst unterhan­deln sollen? antwortete der Ministerpräsi­dent schlagfertig. In der Tat, wenn man schon Verhandlungen mit der Bourgeoisie führt, dann gehe man zu den wahren Her­ren, die für sich selbst zu beschließen und anderen zu befehlen vermögen. Dann aber war es überflüssig, ihnen so ge­räuschvoll den Krieg zu erklären! Im Rahmen des bürgerlichen Re­gimes, sei­ner Gesetze, seiner Mechanik ist jede der «zweihundert Familien» weitaus stärker als die Regierung Blum. Die Finanzma­gnaten bilden die Krö­nung des bürgerli­chen Systems Frankreichs: die Regierung Blum aber, trotz all ihren Wahlerfolgen, «krönt» nur eine zeitweilige Kluft zwi­schen zwei kämpfen­den Lagern.

Jetzt, in der ersten Hälfte des Juli, mag es, oberflächlich betrachtet, scheinen, als sei alles mehr oder weniger zur Norm zu­rückgekehrt. In Wirklichkeit aber geht in der Tiefe des Proletariats wie auch in den Spitzen der herrschenden Klassen die fast automatische Vorbereitung eines neuen Konflikts vor sich. Die ganze Sache ist die, dass die ins Grunde recht dürftigen Reformen auf die im Juni die Kapitalisten und die Führer der Arbeiterorganisationen sich einigten, nicht lebensfähig sind, weil sie bereits die Kräfte des Verfallskapita­lismus als Ganzes genommen überstei­gen. Die Finanzoligarchie, die mitten in der heftigsten Krise glänzende Geschäfte macht, kann freilich sich an die 40-Stun­den-Woche, den bezahlten Urlaub usw. gewöhnen. Aber die hunderttausende von mittleren und kleinen Unternehmern, auf die sich das Finanzkapital stützt und auf die es heute die Kosten ihres Überein­kommens mit BIum abwälzt, müssen entweder stillschweigend zugrunde gehen oder ihrerseits versuchen, die Kosten der sozialen Reformen auf die Arbeiter und Bauern als Verbraucher abzuwälzen.

Wohl hat Blum in der Kammer und in der Presse so manches Mal die lo­ckende Perspektive einer allgemeinen wirtschaft­lichen Wiederbelebung und eines rasch zunehmenden Umsatzes gemalt, die es ermöglichen sollen, die allgemeinen Pro­duktionskosten erheblich zu senken, und infolgedessen die Ausgaben für die Ar­beitskraft zu erhöhen gestatten, ohne Er­höhung der Warenpreise. Tatsächlich sind solche kombinierten wirtschaftlichen Prozesse in der Vergangenheit nicht sel­ten zu beobachten gewesen, die ganze Geschichte des vergangenen Kapitalis­mus steht in ihrem Zeichen. Das Unglück ist nur, dass Blum versucht, die un­wie­derbringlich verlorene Vergangenheit in die Zukunft zu projizieren. Politiker, die solche Fehltritte begehen können, mögen sich selber Sozialisten und gar Kom­muni­sten nennen, ihr Blick ist aber nicht vor­wärts sondern rückwärts gerichtet, und sie sind darum eine Bremse des Fort­schritts.

Der französische Kapitalismus mit seinem berühmten «Gleichgewicht» zwi­schen Landwirtschaft und Industrie ist, nach Ita­lien und Deutschland, aber nicht weniger unaufhaltsam, ins Stadium des Verfalls getreten. Das ist keine Phrase aus einer revolutionären Proklamation sondern un­umstößliche Wirklichkeit. Frankreichs Produktivkräfte entwuchsen dem Rahmen des Privateigentums und der Staatsgren­zen. Der Regierungseingriff kann auf der Grundlage des kapitalistischen Regimes nur die Verfallsunkosten von den einen Klassen auf die anderen abwälzen helfen. Auf weiche aber? Wenn der sozialistische Ministerpräsident Verhandlungen über eine «gerechtere» Verteilung des Natio­naleinkommens füh­ren muss, findet er, wie wir bereits vernahmen, keine anderen würdigen Partner als die Vertreter der zweihundert Familien. Die Finanzmagna­ten, die alle Haupthebel der Industrie, des Kredits und des Handels in der Hand ha­ben, wälzen die Spesen des Abkommens auf die «Mittelklassen» ab und zwingen diese dadurch. mit den Arbeitern in Kampf zu treten. Hier ist der springende Punkt der Lage.

Die Industriellen und Handelsleute zeigen den Ministern ihre Kassabücher und sa­gen : «Wir können nicht». Die Regierung entsinnt sich der alten Lehrbücher der po­litischen Ökonomie und antwortet: «Man muss die Produktionsunkosten beschrän­ken». Doch das ist leichter gesagt als ge­tan. Außerdem, die Technik steigern heißt unter den gegebenen Umständen die Ar­beitslosigkeit vergrößern und letzten En­des die Krise verschärfen. Die Arbeiter ih­rerseits protestieren dagegen, dass das einsetzende Steigen der Preise ihnen das Eroberte wieder zu entreißen droht. Die Regierung weist die Präfekten an, gegen die Teuerung zu Felde zu ziehen. Die Prä­fekten wissen aber aus langer Erfahrung, dass man viel leichter den Ton der op­po­sitionellen Zeitungen herabdrückt als die Rindfleischpreise. Die Teuerungswelle steht noch ganz vor uns.

Die kleinen Unternehmer, Händler, und nach ihnen auch die Bauern, werden von der Volksfront, von der sie mit mehr Un­mittelbarkeit und Naivität als die Arbeiter sofortige Besserung erhofften, immer mehr enttäuscht sein. Der grundlegende politische Widerspruch der Volksfront be­steht darin, dass die sie beherrschende Politik der goldenen Mitte, in der Furcht die Mittelklassen zu «schrecken», nicht über den Rahmen der alten Gesell­schaftsordnung, d.h. aus der histo­rischen Sackgasse, hinausgeht. Indes, die soge­nannten Mittelklassen, selbst verständlich nicht ihre Spitzen, sondern ihre unteren Schichten, spüren auf Schritt und Tritt die Sackgasse und schrecken vor kühnen Lösungen nicht zurück, im Gegenteil, sie fordern sie als Erlösung aus der Schlinge. «Erwartet von uns kei­ne Wunder!», spre­chen die an der Macht befindlichen Pe­danten. Doch die Sache ist eben die, dass es ohne «Wunder», d.h. ohne heroische Entschlüsse, ohne völ­ligen Umsturz in den Eigentumsverhältnissen, ohne Kon­zentrierung des Banken­systems, der Hauptindustriezweige und des Außen­handels in den Händen des Staats, für das Kleinbürgertum von Stadt und Land keine Rettung gibt. Wenn die «Mit­tel­klas­sen» in deren Namen gerade die Volks­front geschaffen wurde, revolu­tionäre Kühnheit nicht bei der Linken fin­den, so werden sie sie zur Rechten su­chen. Das Kleinbürgertum schüttelt sich im Fieber und es wird sich unaus­bleiblich von der einen Seite auf die andere wer­fen. Unter­dessen lauert das Großkapital zuversicht­lich auf diesen Umschwung, der in Frank­reich den Beginn des Faschismus bilden wird, nicht nur als halbmilitärische Orga­nisation der Bour­geoissöhnchen mit Au­tomobilen und Flugzeugen, sondern auch als wirkliche Mas­senbewegung.

Die Arbeiter übten im Juni einen grandio­sen Druck aus auf die herrschenden Klassen, doch nicht bis zu Ende. Sie zeig­ten ihre revolutionäre Mächtigkeit, aber auch ihre Schwäche: das Fehlen eines Programms und einer Führung. Alle Pfei­ler der kapitalistischen Gesellschaft, aber auch alle ihre unheilbaren Gebrechen, blieben an ihrem Platze. Jetzt hat die Pe­riode der Vorbereitung des Gegendrucks eingesetzt: der Repressionen gegen die linken Agitatoren, immer tückischerer Agi­tation der rechten Agitatoren, des Ver­suchs der Preiserhöhungen, der Mobilisie­rung der Unternehmer zu Massenaus­sperrungen. Die französischen Gewerk­schaf­ten, die vor dem Streik nicht einmal eine Million Mitglieder zählten, nähern sich heute der fünften Million. Dieser un­erhörte Massenzustrom zeigt, welche Ge­fühle die Arbeitermassen beseelen. Es kann nicht davon die Rede sein, dass sie wi­derstandslos die Kosten ihrer eigenen Eroberungen auf sich abwälzen ließen. Die Minister und die offiziellen Führer re­den unablässig auf die Arbeiter ein, still zu sitzen und die Regierung nicht bei der mühevollen Lösung der Aufgaben zu stö­ren. Da aber die Regierung im Grunde ei­gentlich überhaupt keine Aufga­ben lösen kann, da die Zugeständnisse vom Juni durch Streik und nicht durch ge­duldiges Abwarten erzielt worden waren, da jeder neue Tag die Haltlosigkeit der Regierung vor dem sich entfaltenden Gegenangriff des Kapitals aufzeigen muss, so verlieren die monotonen Ermahnungen recht bald ihre Überzeugungs­kraft. Die Logik der aus dem Junisieg, richtiger aus dem halbfikti­ven Charakter dieses Siegs, hervorge­gangenen Lage will es, dass die Arbeiter die Herausforde­rung annehmen, d.h. von neuem in den Kampf treten. In der Furcht vor dieser Perspektive rückt die Regie­rung nach rechts. Unter dem unmittelba­ren Druck der radikalsozialistischen Ver­bündeten, letzten Endes aber auf Verlan­gen der «200 Familien»‚ erklärte der so­zialistische Innenminister im Senat, dass Besetzungen von Fabriken, Schuppen und landwirtschaftlichen Betrieben durch Streikende nicht länger mehr geduldet würden. Derartige Vorbeugung hält natür­lich den Kampf nicht auf, ist aber imstan­de, ihn ungemein entschiedener und schärfer zu gestalten.

Die ganz objektive, von den Tatsachen und nicht von den Wünschen aus­gehende Analyse führt somit zu dem Schluss, dass von zwei Seiten ein neuer so­zialer Konflikt sich vorbereitet, der mit fast mechani­scher Unvermeidlichkeit ausbrechen muss. Die Natur dieses Konflikts ist im Großen und Ganzen nicht schwer schon jetzt zu bestimmen. In allen revolutionä­ren Perioden der Geschichte kann man zwei aufeinander folgende, eng miteinan­der verknüpfte Etappen feststellen: die er­ste ist eine «elementare» Massenbewe­gung, die den Gegner überrumpelt und ihm ernste Zugeständnisse oder wenig­stens Versprechungen abringt: danach bereitet die herrschende Klasse, die die Grundfesten ihrer Herrschaft be­droht fühlt, die Revanche vor. Die halb siegrei­chen Massen werden ungeduldig. Die traditionellen «linken» Führer, die ebenso wie die Gegner von der Bewegung über­rumpelt wurden, hoffen die Lage mit Hilfe versöhnlicher Beredsamkeit zu retten und büßen letzten Endes an Einfluss ein. Die Massen treten in den neuen Kampf fast ohne Führung, ohne klares Programm und ohne Begriff von den be­vorstehenden Schwierigkeiten. Der Konflikt, der unab­wendbar aus dem ersten halben Sieg der Massen entsteht, endete nicht selten mit deren Niederlage oder halben Niederlage. In der Geschichte der Revolutionen sind von dieser Regel kaum Ausnahmen zu finden. Ein Unterschied jedoch besteht darin — und der ist nicht klein — dass in den einen Fällen die Niederlage den Cha­rakter einer völligen Vernichtung an­nahm — so war es z. B. in den Ju­nitagen 1848 in Frankreich, mit denen die Revo­lution zu Ende war — in den anderen stellte die Teilniederlage nur eine Etappe zum Sieg dar — das war beispielsweise die Rolle der Niederlage der Petersburger Arbeiter und Soldaten im Juli 1917. Ge­rade die Juliniederlage beschleunigte den Auf­schwung der Bolschewiki, die nicht nur richtig, ohne Illusionen und unver­blümt die Lage einzuschätzen wussten, sondern sich auch in den schwersten Ta­gen der Misserfolge, Opfer und Verfol­gungen von der Masse nicht isolierten.

Ja, die konservative Presse analysiert die Lage nüchtern. Das Finanzkapital und seine politischen und militärischen Hilfs­organe bereiten in kalter Berechnung die Revanche vor. An der Spitze der Volks­front herrscht nichts als Uneinigkeit und Zerwürfnis. Die linken Zeitungen fließen von Moralpredigten über. Die Führer er­säufen in Phrasen. Die Minister bemühen sich, der Börse ihre staatsmännische Reife zu beweisen. All das zusammen bedeutet, dass das Proletariat in den nächsten Konflikt nicht nur ohne die Füh­rung ihrer traditionellen Orga­nisationen treten wird, wie im Juni, sondern auch gegen sie. Indes, eine neue allgemein anerkannte Führung ist noch nicht da. Un­ter diesen Umständen ist schwerlich mit einem unmittelbaren Sieg zu rechnen. Der Versuch vorauszu­blicken führt eher zu der Alternative: die Junitage 1848 oder die Julitage 1917. Anders gesagt: entwe­der eine Vernichtung auf lange Jahre hin­aus, mit dem unvermeidlichen Triumph der faschistischen Reaktion, oder aber lediglich eine bittere strategische Lehre, in deren Ergebnis die Arbeiterklasse un­gleich rei­fer dastehen, ihre Führung er­neuern und die Bedingungen des künfti­gen Sieges vorbereiten wird.

Das französische Proletariat ist kein Neu­ling. Auf seinem Buckel hat es die in der Geschichte gewaltigste Serie historischer Schlachten. Gewiss müssen die neuen Generationen jeweils aus eigener Erfah­rung lernen, doch nicht von An­beginn und nicht in vollem Umfang, sondern sozusa­gen in abgekürztem Kursus. Die große Tradition lebt im Blut und macht die Wahl des Weges leichter. Be­reits im Juni fan­den die namenlosen Führer der erwach­ten Klasse mit prachtvol­lem revolutionä­ren Takt die Methoden und Formen des Kampfes. Die molekulare Arbeit des Mas­senbewusstseins hört heutzutage nicht eine Stunde auf. All das lässt damit rech­nen, dass die neue Führerschicht nicht nur in den Tagen des unvermeidlichen und wahrscheinlich baldigen neuen Kon­flikts der Masse treu blei­ben, sondern es auch verstehen wird, die ungenügend vorbereitete Armee unverrichtet aus der Schlacht zurückzuziehen.

Es ist nicht wahr, dass die Revolutionäre in Frankreich an der Beschleuni­gung des Konfliktes oder an seiner «künstlichen» Provozierung interessiert seien: das kön­nen nur die stumpfsinnigsten Polizeige­hirne meinen. Die marxistischen Revolu­tionäre sehen ihre Pflicht darin, der Wirk­lichkeit offen ins Angesicht zu sehen und jedes Ding bei seinem Namen zu nennen. Rechtzeitig aus der objekti­ven Lage die Perspektive der zweiten Etappe ziehen, heißt den vorgeschrittenen Arbeitern hel­fen, nicht überrumpelt zu werden, und soviel Klarheit wie möglich ins Bewusst­sein der kämpfenden Massen zu tragen. Darin eben besteht heute die wahre Auf­gabe einer ernsten politischen Leitung.