Die Anziehungskraft Che Guevaras
und die Grenzen des "Guerilla"-Kampfes (Funke 17/Herbst 1997)
Was an einem Haufen Knochen dran sein soll, ist rational wohl kaum
begründbar. Das Aufsehen um die Entdeckung der Gebeine Che Guevaras zu seinem
30. Todestag bestätigt aber: Tote leben länger. Die Anziehungskraft des
argentinischen Revolutionärs auf Tausende, v. a. Jugendliche scheint
ungebrochen. Trotzdem: Man stirbt nur einmal. Es stellt sich also die Frage, ob
die Umstände von Che Guevaras Tod 1967 nur dem Zufall überlassen oder mit den
von ihm entwickelten politischen Theorien und Methoden verbunden waren.
Nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Europa begeisterte der
argentinisch-kubanische Revolutionär Ernesto ("Che") Guevara ganze
Generationen von Jugendlichen. Von allen nur erdenklichen bedruckbaren
Oberflächen prangt noch heute sein Konterfei. Ein seit Jahrzehnten
erfolgreiches Label, ganz ohne PR-Manager, das sich in Form des Umrisses seines
Kopfes darstellt und den heldenhaften Kampf im Sinne der Gerechtigkeit
repräsentieren soll. Gut verpackt ist halb gewonnen, so scheint's.
Wenn aber von Che Guevara mehr bleiben soll als nur feuchtschwüle
Projektionen von Heldentum, dann muss untersucht werden, welches
"Produkt" sich unter der Verpackung verbirgt. Dieses Auspacken ist
zwar nicht ganz so spannend wie zu Weihnachten, doch es geht immerhin um die
Frage, mit welcher Taktik die ausgebeuteten Massen der exkolonialen Länder die
Emanzipation durch eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft erreichen können.
Außer Zweifel steht dabei, dass Che Guevara ein aufrichtiger und
bedingungsloser Revolutionär war. Zitate wie "Es gibt kein Leben außer der
Revolution" oder "Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam" sind
nicht umsonst berühmt. Diese Kompromisslosigkeit und
"Unbestechlichkeit" (vor allem im Vergleich zu den Stalins,
Breschnews, Gorbatschows, Honeckers, Maos, aber auch den westeuropäischen
Arbeiterführern) sind mit ein Grund für seine anhaltende Popularität
Dasselbe gilt auch für die vielen meist jungen Lateinamerikanerinnen, die
seinem Beispiel folgten und als Guerilleros starben. Ihr Engagement war
allerdings außer in Kuba nur noch in Nicaragua von Erfolg gekrönt.
Die Erfolglosigkeit aller anderen Guerillabewegungen in ihrem Versuch, die
Gesellschaft grundlegend zu verändern, kann als direkte Folge des Versuchs, Che
Guevaras Taktik des Guerillakrieges anzuwenden, angesehen werden. In seiner
1960 verfassten Schrift "Der Guerillakrieg" konzentriert er diese
Taktik in drei "Lehrsätzen":
1. Die Kräfte des Volkes können einen Krieg gegen das Heer gewinnen.
2. Man braucht nicht immer zu warten, bis alle Bedingungen für eine
Revolution gegeben sind. Der Aufstandsherd (foco) kann sie selbst schaffen.
3. Im unterentwickelten Lateinamerika muss grundsätzlich das ländliche
Gebiet Schauplatz der bewaffneten Auseinandersetzung sein.
Lenin oder Guevara?
Dabei wird augenscheinlich, wie sehr diese Doktrin im Gegensatz zu den
Aussagen von Marx bis Lenin steht: Schon Marx bekräftigte im Kommunistischen
Manifest, dass die Befreiung der Arbeiterinnenklasse nur das Werk der
Arbeiterklasse sein könne. Grundlage für eine Revolution war für Marx immer
eine Massenbewegung der Arbeiterschaft und ihre bewusste Organisation. Schon
die I. Internationale war geprägt von der Auseinandersetzung der Marxisten mit
den Anarchisten, die glaubten, die Organisierung der Massen durch den
bewaffneten Kampf einer kleinen Gruppe ersetzen zu können. Revolutionen sind
aber keine Ereignisse, die von großen Männern "gemacht" werden. Diese
Überschätzung der Möglichkeiten einzelner "Retter der Menschheit" und
das fehlende Vertrauen in die Arbeiterklasse, in ihre Bewusstseinsbildung und
in ihre Stärke, sind die wichtigsten Merkmale der Guerillatheorie. Wer (wie Che
Guevara) behauptet, die Bedingungen für eine Revolution selbst schaffen zu
können, entledigt sich der mühsamen Aufgabe, die Gesellschaft und ihre sozialen
Verhältnisse zu analysieren. Die fehlende Analyse der Klassenverhältnisse
spiegelt sich auch in Che Guevaras Orientierung auf die Bauernschaft und in
deren Überschätzung wider.
Lenin hob in der Analyse Russlands die Frage der Rolle der Bauern- bzw. der
Arbeiterschaft in unterentwickelten Ländern hervor. Während er den bewaffneten
Bauernkampf nicht grundsätzlich ablehnte, betonte er jedoch, dass die
Arbeiterklasse, auch wenn sie zahlenmäßig in der Minderheit sei, die
entscheidende Rolle spielen müsse. Da die Grundlage der Gesellschaft im
Privateigentum an Produktionsmitteln liegt, kann nur die Arbeiterklasse eine
Alternative in Form von vergesellschafteten Produktionsweisen entwickeln. Die
Bauernschaft hingegen strebt in ihrem Kampf nicht mehr und nicht weniger als
die Verteilung des Landes an, d.h. arme Bauern möchten in der Regel selbst
Landbesitzer werden. Darüber hinaus ist selbst in einem Agrarland die Stadt das
ökonomische und politische Zentrum der herrschenden Klasse. Diese Tatsache
unterschätzend, bestand Che Guevara darauf, "den Kampf vom Land her in die
Stadt zu bringen".
Warum siegte die kubanische Revolution?
Es wurde oft angeführt, dass das Guerillakonzept eine Verallgemeinerung der
erfolgreichen Erfahrung der kubanischen Guerilla zwischen 1956 und 1959
darstellt. Tatsache ist aber, dass es mehr als übertrieben ist, aus der
kubanischen Erfahrung den Schluss zu ziehen, eine kleine Gruppe von Männern und
Frauen könnte die Bedingungen für eine Revolution selbst schaffen. Das von den
heldenhaften Guerilleros um die Gebrüder Castro und Guevara bekämpfte Regime
des kubanischen Diktators Batista war innerlich schon so morsch, dass es nicht nur
jegliche Unterstützung der Bevölkerung, sondern auch die der herrschenden
Klasse und der USA verloren hatte. Batistas Armee war so demoralisiert und
kampfunwillig, dass die Zahl der Toten auf beiden Seiten erklecklich gering
blieb. Auch der Mythos einer Bauernarmee und -bewegung, den Che auch nach der
Revolution stetig schürte, entbehrt jeder Grundlage. Der Großteil von Che
Guevaras und Fidel Castros Mitkämpfern waren Intellektuelle und städtische
Kleinbürger. Die kubanische Revolution wurde weder von der Guerilleros noch von
der Bauern besiegelt, sondern von der städtische Arbeiterschaft, die dem Aufruf
zum Generalstreik folgte und damit Batista vertrieb. Der Sieg in Kuba war also
nicht wegen, sondern trotz der Guerilla möglich. Die Organisationsform, die
sich eine Bewegung gibt - in diesem Fall die Guerilla - ist immer auch eine
Vorwegnahme der politischen Organisation der neuen Gesellschaft. Es ist deshalb
nur allzu logisch, dass Che Guevara, dessen Konzept völlig auf demokratische
Strukturen verzichtete und den heldenhaften Einzelkämpfer ins Zentrum stellte,
später, im revolutionären Kuba, das Wort "Sozialismus" mit vielem,
aber nicht mit Demokratie und Arbeiterselbstverwaltung verband, obwohl diese
Grundvoraussetzung für eine sozialistische Gesellschaft sind: "Die
Initiative geht im allgemeinen von Fidel oder den größten Führern der
Revolution aus ...." Entscheidungen werden getroffen, indem Fidel in einen
"Dialog mit den Massen" tritt. Statt Demokratie im Betrieb gibt Che
Guevara alle Kompetenzen dem Fabriksdirektor, und zwar "in allen Phasen
der Planung, der Organisierung und Kontrolle...." Obwohl Che Guevara ab
einem gewissen Zeitpunkt erkannte, dass die Sowjetunion nur die Karikatur eines
Sozialismus repräsentierte, verließ er, anstatt die Kritik mit einer
tiefergehenden Analyse zu verbinden, nach Meinungsverschiedenheiten mit Fidel
Castro Kuba. Er versuchte daraufhin, sein Konzept des Guerilla-Krieges wie
einen Plan X zu wiederholen, zuletzt in Bolivien. Ohne die Situation in diesem
Land genauer zu analysieren, begab er sich dort in die Berge und begann den
Kampf. Entsprechend seiner Theorie versuchten er und seine Mitkämpferinnen, dem
Land eine revolutionäre Veränderung abzutrotzen, ohne darauf zu warten,
"bis alle Revolutionsbedingungen gegeben sind." Jeder, der eine
Kindheit selber durchlebt hat - und das hat grob geschätzt die absolute
Mehrheit der Menschheit - ,weiß jedoch: Wer nur trotzt, kriegt gar nichts. Auch
wenn es eigentlich etwas zu holen gäbe. Kein Zufall also, dass es just zu dem Zeitpunkt,
als Che Guevara in den Bergen war, in Bolivien äußerst viel zu
"holen" gegeben hätte: Die größte Protest- und Streikbewegung der
Arbeiterklasse, seit Jahren überzog das Land - Che Guevara nahm nicht einmal
Notiz davon. Nach einigen Monaten Kampf wurde Che Guevara gefasst und 8.
Oktober 1967 erschossen.
30 Jahre nach seinem Tod gibt es nur einen Schluss: Entscheidende
Voraussetzung für revolutionären Kampf sind nicht in erster Linie genaue
Gelände- und Waffenkenntnisse, sondern die genaue Analyse des "sozialen
Geländes" der Gesellschaft und ihrer Klassengegensätze sowie die
Orientierung auf die wichtigste "Waffe" in diesem Gegensatz, nämlich
die kollektive Organisierung der Arbeiterklasse. Che Guevara ähnelt den
mittelalterlichen Ärzten, die - ohne Kenntnis von wissenschaftlichen
Diagnosemethoden - bei schweren Krankheiten Aderlässe durchführten. Die
Medizingeschichte weiß, dass - obwohl die Ärzte aufrichtig um das Wohl des
Patienten kämpften - diese Methoden selten und wenn, dann nur zufällig von
Erfolg gekrönt waren. Che Guevaras Guerillataktik brachte Tausende von
Revolutionären zum Aderlass, ohne den gewünschten Erfolg herbeizuführen.
Tragisch und unentschuldbar ist dabei nur, dass genauso wie den heutigen Ärzten
Che Guevara und seinen Nachfolgern die Instrumente einer genauen
"Diagnose" zur Verfügung gestanden hätten; Instrumente, die in den
Werken von Marx bis Lenin und Trotzki und in den Traditionen der organisierten
Arbeiterinnenklasse ihre Grundlage haben.
David Mayer, Sozialistische Jugend Wien/Alsergrund