Ein Manifest für das 21. Jahrhundert
von Ted Grant und Alan Woods
Der eine oder andere wird sich vielleicht fragen, welchen Sinn es machen kann, ein Buch, das vor über 150 Jahren geschrieben wurde, noch einmal aufzulegen. Wie kann man eine neue Ausgabe des Kommunistischen Manifests rechtfertigen? Das Manifest ist zweifelsohne das Modernste, das man sich vorstellen kann. Und diese Aussage können wir auch ganz leicht beweisen. Nehmen wir nur irgendein bürgerliches Buch her, das ebenfalls vor eineinhalb Jahrhunderten über die selben Themen geschrieben wurde, so wird uns schon sehr schnell klar werden, daß solch eine Arbeit von rein historischem Interesse sein wird, ohne daß es von irgendeiner Relevanz für praktische politische Arbeit Ende des 20. Jahrhunderts sein würde. Das Manifest gibt uns aber eine tiefgreifende Analyse, die auf nur wenigen Seiten eine brilliante Erklärung der grundlegensten Phänomene der Gegenwart - und zwar weltweit - anzubieten hat.
Das Kommunistische Manifest ist heute relevanter als
zu seinem Erscheinungsdatum vor über 150 Jahren. Zur Zeit von Marx und Engels
war die Welt der großen multinationalen Konzerne lediglich Musik einer fernen
Zukunft. Trotzdem sahen sie, wie das „freie Unternehmertum“ und der Wettbewerb
zwangsläufig zur Konzentration des Kapitals und zur Monopolisierung der
Produktivkräfte führen würden. Hierin liegt eine der hervorragendsten und
unantastbarsten Prognosen, die Karl Marx je entworfen hat.
Während der 80er Jahre erlebte die Idee des „small
is beautiful“ eine wahre Hochkonjunktur. An dieser Stelle wollen wir nicht über
die relative Ästethik von groß und klein sprechen, es ist aber unbestreitbar,
daß der Prozeß der Kapitalkonzentration, der von Marx vorhergesehen wurde,
tatsächlich Realität geworden ist, noch immer Realität ist und mittlerweile im
Laufe der letzten 10 Jahre unvorstellbare Ausmaße angenommen hat.
In den USA, wo dieser Prozeß wahrscheinlich am
deutlichsten sichtbar ist, stellten 1994 die 500 größten Monopole ganze 92
Prozent des gesamten Nationaleinkommens. Weltweit machen die 1000 größten
Unternehmen ein Drittel der gesamten Profite. In den USA besitzen 0,5% der
reichsten Familien die Hälfte aller von Privaten gehaltenen Finanztitel. Das reichste
Prozent der US-Bevölkerung erhöhte
seinen Anteil am Volkseinkommen von 17,6 Prozent im Jahre 1978 auf erstaunliche
36,3 Prozent im Jahre 1989.
Der Prozeß der Zentralisierung und Konzentration des
Kapitals hat mittlerweile Ausmaße angenommen, von denen man bisher nicht einmal
zu träumen wagte. Die Zahl der Firmenübernahmen hat in allen Industrieländern
einen wahrhaft atemberaubenden Charakter angenommen. 1995 hat die Zahl dieser
Takeovers alle bisherigen Rekorde gebrochen. Die Mitsubishi Bank und die Bank
of Tokyo fusionierten zur weltweit größten Bank. Zwischen der Chase Manhattan
und der Chemical Bank entstand die größte Bankengruppe der USA mit 297 Mrd.
US-Dollar an gemeinsamen Reserven. Wir könnten hier Beispiele aus praktisch
allen Wirtschaftsbereichen bringen. Überall, auch in Europa, entstehen riesige
Konzerne, die den Markt beherrschen. In etlichen Fällen gehen diese
Firmenübernahmen und Fusionen Hand in Hand mit allen nur vorstellbaren
zweifelhaften Praktiken - Insidergeschäfte, Fälschung von Aktienpreisen und
Betrug.
Diese Kapitalkonzentration bedeutet aber nicht, daß
die Produktion wächst. Ganz im Gegenteil, in all diesen Fällen geht es nicht um
eine Steigerung der Investition in neue Fabriken und Maschinen, sondern um die
Schließung bestehender Anlagen und Verwaltungseinheiten und die Entlassung von
großen Teilen der Belegschaften mit dem Ziel, die Profitraten ohne
Produktionsausweitung zu erhöhen.
Die Geißel der
Arbeitslosigkeit
Im Gegensatz zu den Illusionen der Arbeiterführer
der Vergangenheit ist die Massenarbeitslosigkeit wieder Alltag und verbreitet
sich wie ein Krebsgeschwür der modernen Gesellschaft über den gesamten Erdball.
Den Vereinten Nationen zufolge liegt die Zahl der Arbeitslosen weltweit bei 120
Millionen. Wie alle offiziellen Arbeitslosenstatistiken unterschätzt auch diese
Zahl das wahre Ausmaß der realen Situation noch um etliches. Wenn man das
Phänomen der verschiedensten Arten an „marginalisierten Jobs“ in Betracht
zieht, kann man von 1 Milliarde Arbeitslosen und Unterbeschäftigten ausgehen.
Geht man nach den offiziellen Statistiken, haben wir
in Westeuropa 18 Millionen Arbeitslose, das sind 10,6 Prozent der
Erwerbsbevölkerung. In Spanien liegt die Arbeitslosenrate bei unvorstellbaren
20 Prozent. Selbst in Deutschland, dem „starken Mann in Europa“, hat die
Arbeitslosigkeit erstmals seit den Tagen der Machtübernahme durch Hitler die
4,5 Millionen-Grenze durchstoßen. Auch in Japan steigt die Arbeitslosigkeit zum
ersten Mal seit den 30ern. Das Image Japans als Vollbeschäftigungsparadies ist
längst Vergangenheit. Nach offiziellen Angaben liegt die japanische
Arbeitslosenrate bei nur 3 Prozent, was aber völlig an der Realität vorbeigeht.
Würden die selben Kriterien verwendet, wie sie für die anderen Industriestaaten
üblich sind, würde diese Rate bei 8-10 Prozent liegen.
Diese Arbeitslosigkeit ist alles andere als eine Art
der zyklischen Arbeitslosigkeit, an die sich die Arbeiter in der Vergangenheit
gewöhnt haben; und sie verschwindet auch nicht, wenn die Wirtschaft wieder
einen Aufschwung durchlebt. Der gegenwärtige Boom in den USA dauert nun schon
mehr als sechs Jahre, die weltweite Arbeitslosigkeit sinkt aber trotzdem kaum.
Jeden Tag berichten die Zeitungen von neuen Fabriksschließungen und
Entlassungen („downsizing“, wie das heute so schön genannt wird), was oft auch
eine Begleiterscheinung der oben skizzierten Firmenübernahmen ist. Es handelt
sich hier auch nicht um die von Marx als „industrielle Reservearmee“
bezeichnete Form der Arbeitslosigkeit, die aus kapitalistischer Sicht durchaus
eine positive Rolle spielt. Nein, hier haben wir es mit einem völlig neuen
Phänomen zu tun - einer permanenten, strukturellen, organischen
Arbeitslosigkeit, die selbst in Zeiten eines Wirtschaftsaufschwungs nicht
abnimmt.
Außerdem betrifft diese Arbeitslosigkeit auch Teile
der Gesellschaft, die davon in der Vergangenheit nie betroffen waren: Lehrer,
Ärzte, Krankenschwestern, Bankangestellte, Wissenschafter und selbst Manager.
Eine Stimmung der völligen Unsicherheit hat sich praktisch in der gesamten
Gesellschaft breitgemacht. In jedem Land setzt die Bourgeoisie auf die selbe
Politik: „Wir müssen die öffentlichen Ausgaben kürzen!“ Das war das Motto der
Konservativen, gehört mittlerweile aber genauso zum Standardrepertoire der
Sozialdemokratie. Das ist kein Zufall. Jede Regierung in der kapitalistischen
Welt, egal ob „links“ oder „rechts“, betreibt in der Praxis diese Politik.
Nicht etwa, weil einzelne Politiker so "böse" oder so
"dumm" wären (auch wenn es daran absolut nicht mangelt!), sondern weil
dies nichts anderes als ein deutlicher Ausdruck für die Sackgasse ist, in
welcher sich das kapitalistische System befindet.
In der Periode des langen Wirtschaftsaufschwungs
zwischen 1948 und 1973 konnte die Bourgeoisie - zumindest teilweise und für
eine bestimmte Zeit - die beiden Grundwidersprüche des Kapitalismus überwinden,
die beide wie kolossale Bremsen auf den gesellschaftlichen Fortschritt wirken:
das Privateigentum an Produktionsmitteln und der Nationalstaat. Die durch den
Kapitalismus ermöglichte enorme Weiterentwicklung der Produktionsmittel hat
diese engen Grenzen längst schon durchstoßen. Das ist die wirkliche Erklärung
für die derzeitige Krise. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte die Bourgeoisie
durch die Anwendung keynesianistischer Politik einerseits und eine gewaltige
Intensivierung der internationalen Arbeitsteilung (und darin einhergehend einer
bisher ungekannten Expansion des Welthandels) andererseits, dieses Problem zu
lösen. Nun haben diese beiden Prozesse ihrerseits jedoch wiederum ihre Grenzen
erreicht. Keynesianistische Politik, wie sie heute noch immer von den
Linksreformisten gefordert wird, führte zu einer regelrechten Explosion der
Inflation und untragbaren öffentlichen Haushaltsdefiziten - und zwar in allen
Ländern. Marx erklärte bereits im Kapital,
wie der Kapitalismus durch den Einsatz des Kredits seine Grenzen überschreiten
kann. Diese Politik kann aber nicht unendlich fortgesetzt werden. Deshalb sind
sie nun gezwungen, diesen Prozeß umzukehren und die öffentlichen Ausgaben radikal
zu kürzen. In anderen Worten, sie kehren zurück zu einer Situation, die wir
bereits in den 20ern und 30ern hatten. Das ist ein perfektes Rezept für neue
Klassenkämpfe!
Indem sie aber die Staatsausgaben kürzen, verringern
sie gleichzeitig auch die Nachfrage und beschneiden so den gesamten Markt - und
zwar gerade zu einer Zeit, wo bürgerliche Ökonomen zugeben, daß wir weltweit
ein ernsthaftes Problem namens Überproduktion („Überkapazitäten“) haben. Auf
diese Art und Weise wird die Basis für eine tiefe Wirtschaftskrise in der
kommenden Periode gelegt. Das ist Folge der Tatsache, daß das kapitalistische
System in der Vergangenheit seine Grenzen zu überschreiten versuchte. Und wie
Marx erklärte, kann die Bourgeoisie ihre Krisen nur lösen, indem „sie allseitigere
und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen,
vermindert.“
Sozialismus und
Internationalismus
In den letzten Jahren haben die Ökonomen sehr viel
über „Globalisierung“ geschrieben, in der sie die Kraft sahen, die den Zyklus
aus Boom und Slump für allemal beseitigen könnte. Diese Träume wurden durch den
Börsencrash im Oktober 1997 und die Krise der sogenannten Tigerstaaten schwer
erschüttert. Während ich diese Zeilen schreibe, wird gerade die Nachricht vom
Zusammenbruch der wichtigen japanischen Finanzgesellschaft Yamaichi Securities
Co. bekanntgegeben. Das hat tiefgreifende Auswirkungen auf den Rest der Welt,
da ein Zusammenbruch des Finanzsystems in Japan auch die USA in eine Rezession
stürzen könnte. Die Krise in Asien trifft Japan besonders schwer, da nicht
weniger als 44 Prozent seiner Exporte in diese Region gehen. Durch den
Börsencrash wurde die längst unter der Oberfläche schwelende Schwäche des
japanischen Bankensystems deutlich sichtbar. Dies ist von umso größerer Bedeutung,
wo doch Japan der weltweit größte Kreditgeber ist. Man schätzt, daß die fünf
größten Banken Japans eigentlich zahlungsunfähig sind. Der wichtigsten
japanischen Wirtschaftszeitung Nihon Keizai Shimbun zufolge machen die „faulen
Kredite“ japanischer Banken bereits unvorstellbare 1,5 Billionen Yen aus.
Selbst hochrangige Mitarbeiter der japanischen Nationalbank haben bereits
zugegeben, daß die Gefahr eines finanziellen Zusammenbruchs durchaus besteht.
Falls solch eine Krise zu einem massiven Abzug japanischen Kapitals aus den USA
führt, hätte das katastrophale Auswirkungen.
All das zeigt die Kehrseite der „Globalisierung“. In
dem Ausmaß, in dem sich das kapitalistische System zu einer Weltwirtschaft
weiterentwickelt, werden auch die Bedingungen für eine verheerende
Weltwirtschaftskrise gelegt. Eine Krise in einem wichtigen Teil der
Weltwirtschaft (in diesem Fall in Asien) weitet sich rasch auf andere Teile
aus. Anstatt den Boom-Slump-Zyklus aufzuheben, gibt ihm die Globalisierung
einen noch viel universelleren Charakter.
Jeder, der das Manifest liest, kann sehen, daß Marx
und Engels diese Situation schon vor 150 Jahren vorhersahen. Sie erklärten
schon damals, daß sich der Kapitalismus als weltweites System entwicklen müsse.
Die gegenwärtigen Entwicklungen bestätigen diese Analyse völlig. Gegenwärtig
kann niemand die absolute Herrschaft des Weltmarktes leugnen. Dies ist das
entscheidenste Phänomen der Epoche, in der wir leben. Es ist die Epoche
globaler Ökonomie, globaler Politik, globaler Kultur, globaler Diplomatie und
nicht zu vergessen, der Weltkriege. Im Laufe des 20. Jahrhunderts mußten wir
bereits zwei Weltkriege als Folge der kapitalistischen Krise erleben. Der
Zweite Weltkrieg kostete circa 55 Millionen Menschen das Leben und führte
beinahe zur totalen Zerstörung jeglicher menschlicher Zivilisation.
Der Sozialismus wird international sein oder er wird
gar nicht sein. Aber der sozialistische Internationalismus ist nicht das
Produkt irgendeiner Gefühlsduselei, er ist nicht einfach nur eine „nette Idee“.
Er ist direktes Resultat der wissenschaftlichen Analyse von Marx und Engels,
die erklärten, daß die Schaffung des Nationalstaats - eine der historisch
betrachtet progressivsten Leistungen der Bourgeoisie - unvermeidlich zu einem
System des Welthandels führen würde. Die unglaubliche Entwicklung der
Produktionsmittel im Kapitalismus kann nicht in den engen Grenzen des
Nationalstaats aufrechterhalten werden. Deshalb sind alle kapitalistischen
Länder, mögen sie auch noch so groß sein, gezwungen, auf dem Weltmarkt
mitzumachen.
Der Widerspruch zwischen dem enormen Potential der
Produktivkräfte und der alles erstickenden Zwangsjacke des Nationalstaats wurde
1914 und 1939 auf dramatische Art und Weise offensichtlich. Diese blutigen
Erschütterungen sind Beweis genug, daß das kapitalistische System seine
fortschrittliche Rolle längst schon verloren hat. Es gibt aber nicht so etwas
wie eine "Endkrise" des Kapitalismus, in dem Sinne, daß es zu einem
automatischen Zusammenbruch des Systems kommen würde. Um die Veränderung der
Gesellschaft zu Ende zu führen, ist es nicht ausreichend, daß das alte System
in der Krise steckt. So schwer die Krise auch sein mag, es gibt mächtige
Interessen, die den Status quo mit allen Mitteln verteidigen werden, weil es um
ihr Einkommen, ihre Privilegien und ihr Prestige geht. Aus genau diesen Gründen
schrieben Marx und Engels das Manifest nicht als abstraktes Dokument, sondern
als klaren Aufruf zur Aktion, nicht als Lehrbuch, sondern als ein Programm zum
Aufbau einer revolutionären Partei.
Der Kapitalismus kann nur gestürzt werden, wenn sich
die Arbeiterklasse als Klasse zur Verteidigung ihrer Interessen organisiert.
Über Jahrzehnte haben die ArbeiterInnen aller Länder, vor allem in den
entwickelten kapitalistischen Staaten, starke Organisationen aufgebaut -
Arbeiterparteien und Gewerkschaften. Diese Organisationen existieren aber in
keinem Vakuum. Sie sind permanent dem Druck der herrschenden Klasse ausgesetzt,
was sich vor allem in ihren Führungsspitzen deutlich widerspiegelt.
Der Bankrott des Nationalismus im allgemeinen und
dieser schrecklichen Verwirrung namens „Sozialismus in einem Land“ im
speziellen zeigte sich im Zusammenbruch des Stalinismus und schon zuvor in der
Teilnahme der chinesischen und der russischen Bürokratie am Weltmarkt. All die
Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, die ihre formale Unabhängigkeit
erkämpfen konnten, sind nun wieder durch die Mechanismen des Welthandels an
ihre alten Herren gekettet.
Jede halbwegs intelligente Person muß erkennen, daß die
freie Entwicklung der Produktivkräfte eine Vereinigung aller nationalen
Volkswirtschaften durch einen gemeinsamen Plan erfordert. Nur so wäre ein
harmonischer Einsatz aller Ressourcen dieses Planeten im Interesse aller
möglich. Das ist so offensichtlich, daß selbst bürgerliche Wissenschaftler und
Experten zu diesem Schluß kommen, die zwar nichts mit dem Sozialismus auf dem
Hut haben, aber über die katastrophalen und erniedrigenden Bedingungen, unter
denen zwei Drittel der Menschheit leben müssen, und die Gefahren einer totalen
Zerstörung unserer Umwelt völlig erschüttert sind.
Leider fallen ihre gutgemeinten Empfehlungen auf
taube Ohren, da sie in klarem Widerspruch zu den Interessen der großen, den
Weltmarkt beherrschenden multinationalen Konzerne stehen. Und deren
Kalkulationen basieren sicher nicht auf der Bedürfnisbefriedigung der
Menschheit oder der Sicherung der Zukunft dieses Planeten, sondern
ausschließlich auf der Gier und der Suche nach noch mehr Profit.
Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts spitzen
sich die nationalen Widersprüche, das ganze Gerede von Globalisierung hin oder
her, immer mehr zu. Vor 10 Jahren exportierten die USA lediglich 6 Prozent
ihres BIP. Heute liegt die Rate bei 13 Prozent, und Washington plant einen
weiteren Anstieg auf bis zu 20 Prozent im Jahre 2000. Das ist eine klare
Kriegserklärung an den Rest der Welt, allen voran Japan - kein militärischer,
sondern ein Handelskrieg kündigt sich da an. In der Vergangenheit hätten die
bereits bestehenden Spannungen zwischen den USA und Japan wahrscheinlich schon
längst zu einem Krieg geführt. Durch die Existenz riesiger Atomwaffenbestände
ist jedoch ein Krieg zwischen den großen kapitalistischen Mächten
ausgeschlossen. Die gegenwärtige Krise kann daher nicht wie 1914 oder 1939 gelöst
werden. Da ein militärischer Konflikt unter diesen Bedingungen nicht möglich
ist, werden die internen Widersprüche innerhalb eines jeden kapitalistischen
Landes immer stärker werden. Die herrschende Klasse hat keine andere Option,
als das gesamte Gewicht der Krise auf die Schultern der Arbeiterklasse zu
legen.
Mit unvorstellbarer Voraussicht nahmen die Autoren
des Manifests die Bedingungen vorweg, unter denen heute die Arbeiterklasse
aller Länder leben muß. Marx und Engels schrieben damals: „Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschinen und
die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für
die Arbeiter verloren. Er wird ein bloßes Zubehör der Maschine, von dem nur der
einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wird. Die
Kosten, die der Arbeiter verursacht, beschränken sich daher fast nur auf die
Lebensmittel, die er zu seinem Unterhalt und zur Fortpflanzung seine Race
bedarf. Der Preis einer Ware, also auch der Arbeit, ist aber gleich ihren
Produktionskosten. In demselben Maße, in dem die Widerwärtigkeit der Arbeit
wächst, nimmt daher der Lohn ab. Noch mehr, in demselben Maße nimmt auch die
Masse der Arbeit zu, sei es durch Vermehrung der Arbeitsstunden, sei es durch
Vermehrung der in einer gegebenen Zeit geforderten Arbeit, beschleunigten Lauf
der Maschine usw.“ (S.22/23, Dietz Verlag Berlin 1969)
Heute nehmen die USA die gleiche Stellung ein, die
Großbritannien zur Zeit von Karl Marx innehatte - die des am meisten
entwickelten kapitalistischen Landes. Das heißt, daß die allgemeinen Tendenzen
des Kapitalismus in diesem Land am deutlichsten zu Tage treten. In den letzten
20 Jahren sind die Reallöhne der US-Arbeiter um ganze 20 Prozent gesunken, und
das gleichzeitig mit einer 10%igen Verlängerung des Arbeitstages. Der
gegenwärtige Boom ging also voll auf Kosten der Arbeiterklasse. Ein
durchschnittlicher amerikanischer Arbeiter arbeitet jährlich alleine 168
Überstunden - was fast einem ganzen Monat an zusätzlicher Arbeit entspricht.
Das trifft vor allem auf die Automobilindustrie zu, wo ein 9-Stunden-Tag und
eine 6-Tage-Woche zur Norm gehören. Einer Berechnung der US-Gewerkschaften
zufolge könnten allein in dieser Branche durch eine Verkürzung der Arbeitszeit
auf 40 Stunden pro Woche ganze 59.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Ein Artikel aus dem Time-Magazin (24/10/94) führt dazu weiter aus: „Arbeiter beklagen
sich, daß für sie die wirtschaftliche Expansion nur mehr Erschöpfung bedeutet.
In der gesamten amerikanischen Industrie setzen die Unternehmen auf
Überstunden, um das Maximum an Arbeit aus den Arbeitern der USA
herauszupressen: die durchschnittliche Arbeitswoche erreicht nun den Rekordwert
von 42 Stunden, einschließlich 4,6 Überstunden.“
Dieser Artikel zitiert auch den Fall von Joseph
Kelterborn, einem Arbeiter bei Fibre Optics, der in Folge von Personalabbau
durchschnittlich 4 Überstunden pro Tag machen muß und dann auch noch jedes
dritte Wochenende arbeitet: "Wenn ich nach Hause komme", beklagt er
sich, "habe ich gerade einmal Zeit, mich zu duschen, zu essen und ein
wenig zu schlafen; bald darauf muß ich wieder aufstehen, und alles beginnt
wieder von vorne."
Der schreckliche Druck durch die Überstundenarbeit,
die fallenden Löhne, den gesteigerten Produktionsrhythmus usw. hat ernste
Auswirkungen auf die Lebensqualität der Arbeiterfamilien. In den USA ist wie
auch in anderen Ländern die Geburtenrate von 2,5 Kinder pro Familie Anfang der
60er Jahre auf 1,8 Kinder Ende der 80er Jahre gesunken. Die Zahl der
Scheidungen hat sich von den 70ern bis heute verdoppelt. 60 Prozent aller Ehen
werden heute geschieden. Selbst die Lebenserwartung, die bis 1980 immer
gestiegen ist, stagniert nun.
Eine ähnliche Situation haben wir in Großbritannien,
wo unter Thatcher 2,5 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie zerstört wurden
und trotzdem das gleiche Produktionsniveau gehalten wurde. Das wurde nicht
durch den Einsatz neuer Maschinen, sondern rein durch die verstärkte Ausbeutung
der britischen Arbeiter erreicht. Der Verlust einer sicheren Beschäftigung fürs
ganze Leben hat eine regelrechte Epidemie an streßbedingten Krankheiten
ausgelöst.
1994 gingen in Großbritannien 175 Millionen
Arbeitstage durch Krankheit verloren - fast 8 Arbeitstage pro Arbeiter. Die
Zahl der Rezeptverschreibungen ist in einem Jahr um 11,7 Millionen angestiegen
(1995). „Streß, Verkehrsstaus und Umweltverschmutzung töten Berufsfahrer in
Großbritannien“, so The Record, die
Zeitung der Transportarbeitergewerkschaft TGWU. Eine Studie dieser Gewerkschaft
zeigt, daß 30 Prozent aller Fahrer zugaben, am Steuer schon einmal kurz
eingenickt zu sein und fast 45 Prozent davon hatten dadurch schon Unfälle.
Ähnliche Beispiele könnten für jedes kapitalistische Land angeführt werden.
Die Marxsche
Methode
Die erstaunliche Genauigkeit, mit der Marx und
Engels im Manifest Vorhersagen machten, sind aber kein Zufall, sondern Ergebnis
der wissenschaftlichen Methode des Marxismus - des dialektischen Materialismus
und seiner Anwendung auf die menschliche Geschichte, bekannte als historischer
Materialismus. Die Grundlage der marxistischen Theorie wurde bereits in den
Frühschriften, wie der Heiligen Familie
und Die Deutsche Ideologie gelegt.
Wir müssen uns im klaren sein, daß Sozialismus oder
Kommunismus nicht etwas ist, das mit Marx und Engels begann. Schon vor den
beiden gab es große Denker, die die Idee einer klassenlosen Gesellschaft auf
der Grundlage des Gemeineigentums vertraten: Robert Owen, Fourier, Saint-Simon
und andere. Im 16. Jahrhundert schrieb Thomas Morus sein bekanntes Buch Utopia, das eine kommunistische
Gesellschaft beschreibt. Schon zuvor organisierten sich die ersten Christen
etwa in Gemeinschaften, in denen Privateigentum rigoros abgelehnt wurde.
Marx und Engels charakterisierten all diese
Strömungen als Utopischen Sozialismus,
dem sie den Wissenschaftlichen
Sozialismus gegenüberstellten. Worin liegt
nun der Unterschied? Für die utopischen Sozialisten war der Sozialismus
ganz einfach eine „gute Idee“, etwas, das aus moralischer Sichtweise
anzustreben sei. Die Menschen müßten davon nur noch überzeugt werden. Hätten
sie recht, dann wäre es auch schon vor 2000 Jahren möglich gewesen, solch eine
neue, klassenlose Gesellschaft aufzubauen. Das hätte der Menschheit
zweifelsohne sehr viele Probleme erspart!
Marx und Engels erklärten, daß der Sozialismus eine materielle Basis hat, die vom
Entwicklungsniveau der Produktivkräfte abhängt - Industrie, Landwirtschaft,
Wissenschaft und Technik. Der historische Materialismus besagt, daß die
historische Entwicklung in letzter
Konsequenz durch die Entwicklung dieser Bereiche bestimmt wird. Der
Marxismus wird kritisiert, daß er - angeblich - „alles auf die Ökonomie reduziert“. Die Autoren des Manifests
beantworteten diesen absurden Vorwurf ganz klar, wie folgender Auszug aus einem
Brief von Engels an Joseph Bloch
deutlich macht:
„...Nach
materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende
Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens.
Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht,
das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz
in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die
Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus - politische Formen des
Klassenkampfs und seine Resultate - Verfassungen, nach gewonnener Schlacht
durch die siegende Klasse festgestellt usw. - Rechtsformen und nun gar die
Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische,
juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren
Weiterentwicklung zu Dogmensystemen üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf
der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren
Form.“ (MEW, Band 37, S. 463)
Selbstverständlich spielen Religion, Politik, Moral,
Philosophie usw. eine wichtige Rolle im historischen Prozeß. Nichtsdestotrotz
ist der Erfolg eines gegebenen sozioökonomischen Systems abhängig von seiner
Fähigkeit, die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Männer und Frauen brauchen
zuerst einmal Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf, dann erst kommen
religiöse, politische oder philosophische Ideen. Von Anfang an mußten die
Menschen kämpfen, um diese Bedürfnisse decken zu können, und das gilt auch
heute noch für die übergroße Mehrheit der Menschheit.
Ab einem gewissen Zeitpunkt entsteht die
Arbeitsteilung, die Hand in Hand geht mit der Teilung der Gesellschaft in
Klassen. Das stellt einen großen Fortschritt vorwärts dar und erlaubt die
Anhäufung eines Mehrprodukts, das von einer Klasse angeeignet wird. Diese
Klasse ist nun von der Notwendigkeit, zu arbeiten, befreit. Sie wird zur
herrschenden Klasse, die von der Arbeit anderer lebt: In der Antike waren diese
„anderen“ die Sklaven; später im Feudalismus die Leibeigenen; und schließlich
im Kapitalismus die Proletarier.
Trotz all des Horrors, der Ungerechtigkeiten und
Leiden, die man mit der Klassengesellschaft in Verbindung bringen kann und muß,
spielte diese aus marxistischer Sicht, sprich aus wissenschaftlicher und nicht
aus moralistischer Sicht, eine progressive Rolle, indem sie die Gesellschaft
weiter brachte. Die wichtigsten wissenschaftlichen, künstlerischen und
philosophischen Errungenschaften im antiken Griechenland und Rom basierten auf
der Arbeit von SklavInnen, die von den Römern „instrumentum vocale“ (also „Werkzeug mit Stimme“) genannt wurden -
wobei diese Bezeichnung aus der Sichtweise der Kapitalisten auch auf viele
moderne ArbeiterInnen anzuwenden wäre). Der von der Arbeit der ausgebeuteten
Klassen produzierte Überschuß reichte aus, um eine Minderheit von Ausbeutern zu
emanzipieren, nicht aber um die Befreiung der Mehrheit zu ermöglichen, deren
Sklavenarbeit eine Grundbedingung für den Aufstieg der Zivilisation darstellte,
was nur durch die Entwicklung der Produktionsmittel möglich wurde.
Marx und Engels entdeckten eines der wichtigsten
Gesetze gesellschaftlicher Entwicklung, das allein imstande ist, die
Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu erklären. Es erklärt, daß eine
Gesellschaft nur solange überleben kann, solange sie die Produktivkräfte
weiterentwickelt bzw. daß keine Gesellschaftsform verschwindet, bevor sie nicht
das in ihr vorhandene Entwicklungspotential ausgeschöpft hat. In diesem Sinne
könnte man ein sozioökonomisches System mit einem lebenden Organismus
vergleichen. Es ist nichts statisches und für alle Zeiten fixes, wie uns die
Verteidiger des Kapitalismus glauben machen wollen. Wie jedes andere
gesellschaftliche System wurde der Kapitalismus geboren, er entwickelte sich,
erlangte seine volle Reife, stieß in der Folge an seine Grenzen und befindet
sich nun in einem tödlichen Niedergang.
Sobald wir uns auf einen wissenschaftlichen
Standpunkt stellen, wird es erstmals möglich, die Geschichte nicht nur als
sinnlose und unlogische Kette von Ereignissen zu verstehen, die ausschließlich
durch den Zufall oder die Aktivitäten „großer Persönlichkeiten“ (auch wenn der
subjektive Faktor in der Geschichte natürlich unter bestimmten Umständen eine
ganz entscheidende Rolle spielt) bestimmt wird. Wir können in der Geschichte
plötzlich einen Prozeß erkennen, der durch Gesetze regiert wird, ähnlich jedem
anderen Bereich in der Natur.
Wie auch Charles Darwin erklärte, daß die Spezien
nicht unveränderlich sind und daß sie eine Vergangenheit, eine Gegenwart und
eine Zukunft haben, indem sie sich verändern und entwickeln, so erklärten Marx
und Engels, daß ein gegebenes gesellschaftliches System nicht auf ewige Zeiten
gleichbleibt. Genau darin liegt aber die größte Illusion einer jeden Epoche.
Jedes gesellschaftliche System glaubt, daß es die einzig mögliche Form für die
Existenz von Menschen darstellt, daß seine Institutionen, seine Religion, seine
Moral das letzte gesprochene Wort seien. Das ist genau das, was uns die
Bourgeoisie mit all ihren Propagandisten heute zu beweisen versucht, daß die
„freie Marktwirtschaft“ das einzig mögliche System sei.
Reform und Revolution
Heutzutage ist die Idee einer „evolutionären“
Entwicklung allgemein anerkannt. Die Ideen Darwins, so revolutionär sie zu
seiner Zeit auch waren, werden heute als Binsenweisheit akzeptiert. Evolution
wird gleichgesetzt mit einem langsamen und allmählichen Prozeß, der ohne
Unterbrechungen und gewaltsame
Umwälzungen vor sich geht. In der Politik wird dieses Argument oft als
Rechtfertigung für den Reformismus angewandt. Leider basiert dies auf einem
nicht unwesentlichen Mißverständnis, was gar so überraschend ist, weil Darwin
es selbst nicht verstand. Erst im letzten Jahrzehnt, etwa mit den neuen
Entdeckungen in der Paläontologie durch Stephen J. Gould, der die Theorie der
unterbrochenen Gleichgewichte erarbeitete, konnte aufgezeigt werden, daß die
Evolution kein geradliniger Prozeß ist. Es gibt lange Perioden, in denen keine
großen Veränderungen zu beobachten sind, aber ab einem gewissen Moment wird die
Evolution durch eine Explosion, eine richtiggehende biologische Revolution,
unterbrochen, die sich durch ein massenhaftes Aussterben einiger Spezies und
dem rasanten Aufstieg anderer auszeichnet.
Die Analogie zwischen der Gesellschaft und der Natur
hat natürlich ihre Grenzen. Selbst die oberflächlichste Beobachtung der
Geschichte zeigt uns aber, daß eine gradualistische Interpretation jeglicher
Grundlage entbehrt. Die Gesellschaft kennt, wie auch die Natur, lange Perioden
langsamer und gradueller Veränderung, aber auch hier wird die Linie durch
explosive Entwicklungen - Kriege und Revolutionen - unterbrochen, in denen der
Veränderungsprozeß enorm beschleunigt wird. In der Tat sind es diese
Ereignisse, die als "Lokomotiven" der geschichtlichen Entwicklung
angesehen werden können.
Einer der am häufigsten zitierten Sätze im Manifest
lautet wie folgt: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die
Geschichte von Klassenkämpfen.“ (S. 10) Was verstehen wir unter Klassenkampf?
Nicht mehr und nicht weniger als den Kampf um die Verteilung des von der
Arbeiterklasse produzierten Mehrwerts. Und dieser Kampf bleibt unvermeidlich,
solange die Produktivkräfte nicht ein ausreichendes Entwicklungsniveau erreicht
haben, um die Abschaffung der Armut und der Güterknappheit nicht nur für eine
privilegierte Minderheit, sondern für die gesamte Menschheit möglich zu machen.
Sozialismus ist daher nicht nur eine „nette Idee“, die in jeder x-beliebigen
Situation realisiert werden kann, wenn die Menschen das auch wirklich wollen.
Der Sozialismus hat eine materielle Basis, die sich auf den Stand der
Entwicklung der Industrie, der Landwirtschaft, der Wissenschaft und der
Technologie stützt.
Schon in der Deutschen
Ideologie aus den Jahren 1845/46 erklärten Marx und Engels, daß „...eine große Steigerung der
Produktivkraft, einen hohen Grad ihrer Entwicklung voraussetzt - und
andrerseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte (womit zugleich schon die
in weltgeschichtlichem, statt der in lokalem Dasein der Menschen vorhandne empirische
Existenz gegeben ist) auch deswegen eine absolut notwendige praktische
Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der
Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte
Scheiße sich herstellen müßte,... (MEW, Band 3, S.
34/35)
Unter „die
ganze alte Scheiße“ verstehen Marx
und Engels Ungleichheit, Ausbeutung,
Unterdrückung, Korruption, Bürokratie, den Staat und all das andere Böse in der
Welt der Klassengesellschaft.
Heute, nach dem Ende des Stalinismus in Rußland,
unternehmen die Feinde des Sozialismus alles, um zu zeigen, daß die Ideen des
Marxismus nicht in die Praxis umgesetzt werden können. Dabei übersehen sie sehr
gerne das kleine Detail, daß Rußland vor 1917 ein extrem rückständiges Land, vergleichbar
mit Indien, war. Lenin und die Bolschewiki, die natürlich mit den
Marx-Schriften allesamt sehr vertraut waren, waren sich sehr wohl bewußt, daß
es in Rußland noch keine materiellen Bedingungen für den Aufbau einer
sozialistischen Gesellschaft gab. Lenin und Trotzki hatten daher auch nie die
Vorstellung einer nationalen Revolution oder von einem „Sozialismus in einem
Land“, schon gar nicht in einem rückständigen Land wie Rußland.
Die Bolschewiki eroberten 1917 die Macht mit der
Perspektive der Weltrevolution. Die Oktoberrevolution löste in ganz Europa
einen revolutionären Prozeß aus, beginnend mit Deutschland, wo die Revolution
nur durch den feigen Verrat der sozialdemokratischen Führer, die den
Kapitalismus retteten, in einer Niederlage endete. Die Welt bezahlte für dieses
Verbrechen mit den ökonomischen und sozialen Krisen der 20er und 30er Jahre,
dem Triumph Hitlers in Deutschland, dem Bürgerkrieg in Spanien und letztlich
dem Horror des Zweiten Weltkrieges einen schrecklichen Preis.
Wir haben hier nicht den Platz, um den gesamten
Prozeß nach 1945 genau zu analysieren. Nur so viel: Der Kapitalismus schaffte
es eine Zeit lang, eine Situation relativer Stabilität aufrechtzuerhalten,
zumindest in den entwickelten kapitalistischen Ländern Westeuropas, Japan und
den USA. Selbst in dieser Periode aber verschwanden die grundlegenden
Widersprüche nicht. Zwei Drittel der Menschheit lebte in Hunger und Elend, war
konfrontiert mit Kriegen, Bürgerkriegen, Revolutionen und Konterrevolutionen.
In den industrialisierten Ländern zumindest gab es aber Vollbeschäftigung,
Sozialstaat und ein allgemeines Steigen des Lebensstandards.
Vor diesem Hintergrund konnte der Reformismus der
Arbeiterführer (sowohl linker wie auch rechter) eine starke Vorherrschaft
aufbauen. Der Kapitalismus schien seine Probleme gelöst zu haben, die
Massenarbeitslosigkeit war besiegt, Klassenkampf und natürlich der Marxismus
waren nun völlig veraltet. Aus heutiger Sicht klingen diese Ideen nicht einmal
mehr lustig! Allein in den OECD-Staaten haben wir über 30 Millionen
Arbeitslose, überall erleben wir einen wilden Angriff auf den Lebensstandard
der Arbeiterklasse, die Widersprüche zwischen den Klassen spitzen sich immer
mehr zu. In ganz Europa - von Frankreich
über Deutschland, von Spanien über Italien und Belgien - gibt es Streiks über
Streiks. In den USA konnten die Arbeiter bei UPS nach einem großartigen Streik
einen wichtigen Sieg erkämpfen. Das war ein erster Warnschuß dafür, daß die
US-ArbeiterInnen nicht mehr bereit sind, niedrige Löhne und schlechte
Arbeitsbedingungen hinzunehmen, nur damit einige wenige fette Profite
scheffeln.
In Großbritannien hat die Wahl der Labour Party nach
18 Jahren konservativer Regierung ebenfalls einen grundlegenden Wandel in der
Gesellschaft angezeigt.
„Das gesellschaftliche Sein bestimmt das
Bewußtsein.“ In diesem Ausspruch liegt eine weitere Basis für den historischen
Materialismus. Früher oder später werden gesellschaftliche Bedingungen zu einem
veränderten Bewußtsein bei den Menschen führen. Die Beziehung zwischen den
Prozessen, die in der Gesellschaft ablaufen, und der Art und Weise, wie sich
dies dann in den Köpfen von Millionen Männern und Frauen widerspiegelt, ist
alles andere als automatisch. Ansonsten würden wir schon längst im Sozialismus
leben! In „normalen“ Perioden ist der Mensch ein „Gewohnheitstier“. Er zieht es
vor, an Ideen, Moralvorstellungen, Institutionen, Parteien und
Führungspersönlichkeiten zu glauben, an die er sich im Laufe der Zeit gewöhnt
hat.
Engels sagte einst, daß es in der Geschichte
Perioden gibt, in denen 20 Jahre wie ein einziger Tag vergehen, es aber auch
Perioden gibt, in denen die Geschichte von 20 Jahren in 24 Stunden
zusammengefaßt werden könnten. Für eine lange Zeit scheint sich nichts zu
verändern. Nichtsdestotrotz häuft sich unter der scheinbar ruhigen Oberfläche
ein gewaltiges Ausmaß an Unzufriedenheit, Empörung, Frustration und Wut an. Ab
einem gewissen Punkt wird das soziale Explosionen auslösen. In Zeiten der Krise
beginnen die Menschen, sich ihre eigenen Gedanken zu machen, um als freie
Männer und Frauen handeln zu können, und zwar als Akteure und nicht als passive
Opfer. Sie suchen organisierte Ausdrucksmittel, werden aktiv in ihren
Gewerkschaften und Massenparteien, um die Gesellschaft zu verändern.
Im Manifest gibt es eine wichtige Stelle, die aber
nur von den wenigsten auch wirklich verstanden wurde, die folgendermaßen
lautet: „In welchem Verhältnis stehen die
Kommunisten zu den Proletariern überhaupt? Die Kommunisten sind keine besondere
Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. Sie haben keine von den
Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine
besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.
Die Kommunisten
unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie
einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die
gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten
Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andererseits dadurch, daß sie
in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat
und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten.
Die Kommunisten
sind also praktisch der entscheidenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien
aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die
Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der
proletarischen Bewegung voraus.“ (S. 36)
Diese Zeilen sind deshalb so wichtig, weil sie sehr
gut die Methode von Marx und Engels
aufzeigen, welche immer von der realen Bewegung der Arbeiterklasse ausgeht -
und zwar so wie sie wirklich ist und nicht so wie wir sie gerne haben würden.
Diese Methode ist Lichtjahre entfernt vom sterilen Sektierertum all dieser
„revolutionären“ Sekten, die am Rande der Arbeiterbewegung ein Schattendasein
fristen.
Für MarxistInnen ist die Partei in erster Linie
Programm, Ideen, Methoden und Traditionen und erst dann eine Organisation,
welche diese Ideen in die Arbeiterklasse hineinträgt. Im Laufe ihrer Geschichte
hat die Arbeiterklasse Massenorganisationen zur Verteidigung ihrer Interessen
und zur Veränderung der Gesellschaft geschaffen. Beginnend mit den
Gewerkschaften, den Basisorganisationen der Klasse, verstehen die Arbeiter ab
einem gewissen Zeitpunkt, daß der Kampf für ökonomische Teilforderungen für
sich allein nicht ausreicht.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann man an
dieser Schlußfolgerung einfach nicht herumkommen. Ohne den tagtäglichen Kampf
für Reformen im Kapitalismus wäre eine sozialistische Revolution unmöglich.
Durch die Erfahrung in Streiks und Demonstrationen lernt die Arbeiterklasse,
und sie wird sich ihrer eigenen Macht bewußt. Aber selbst der am
geschlossensten geführte und erfolgreichste Streik kann die grundlegenden
Probleme nicht lösen, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist. Außerdem:
auf jeden erfolgreichen Streik kommen in der Regel viel mehr Niederlagen.
Selbst wenn der Kampf mit einem Sieg endet, werden die Lohnzuwächse durch eine
steigende Inflation wieder aufgefressen. Was die Kapitalisten mit der linken
Hand hergeben, nehmen sie uns wieder mit der rechten weg.
In der Periode kapitalistischen Niedergangs gibt es
statt Reformen lediglich Konterreformen und den Abbau von Errungenschaften der
Vergangenheit, wie wir zum Beispiel an der Labour-Regierung unter Tony Blair
sehen können. Das hat auch eine eigene Logik. Wenn man das kapitalistische
System akzeptiert, muß man auch die Gesetze des Kapitalismus akzeptieren.
Arbeitslosigkeit, Privatisierungen, Kürzungen bei den Sozialausgaben sind alles
Ausdruck der allgemeinen Krise des Kapitalismus. Das ist eine politische Frage,
die nicht nur durch Arbeitskämpfe allein gelöst werden kann - so wichtig diese
auch sind. Es ist notwendig, über die Grenzen der gewerkschaftlichen Aktivität
hinauszugehen und auf die Ebene des politischen Kampfes zu treten.
Die Gewerkschaften und Arbeiterparteien wurden von
der Arbeiterklasse durch Generationen hindurch in Kämpfen und durch gewaltige
Opfer aufgebaut. Die ganze Geschichte zeigt, daß die Arbeiter ihre
Organisationen nicht so einfach verlassen, ohne sie nicht in der Praxis wieder
und wieder getestet zu haben.Vor nahezu 100 Jahren haben die Gewerkschaften die
Labour Party zur Vertretung der Arbeiterklasse im Parlament gegründet. Die
Labour Party wurde also als politischer Ausdruck der Gewerkschaften gebildet.
Die Massenorganisationen existieren aber in keinem Vakuum. Sie stehen unter dem
ständigen Druck der herrschenden Klasse, die über machtvolle Mittel verfügt
(Presse, TV, Kirche usw.), um die Vertreter der Arbeiterbewegung zu
beeinflussen und zu korrumpieren. Offene Bestechungsskandale, wo Kapitalisten
den Arbeiterparteien Millionen zustecken, sind dabei nur die Spitze eines
Eisberges. Und Kapitalisten spenden solche Summen nicht, wenn sie sich dadurch
nicht eine gewisse Gegenleistung erwarten können! Aber selbst ohne diese offene
Korruption lastet ein gewaltiger Druck von Seiten des Großkapitals auf den
Arbeiterführern. Die rechten Reformisten haben kein Problem damit, diesem
Einfluß nachzugeben, da sie selbst das kapitalistische System mit ganzem Herzen
unterstützen. Es ist wirklich eine Ironie der Geschichte, daß sie gerade in dem
Moment Loblieder auf den „Markt“ singen, da dieser beginnt, in eine tiefe Krise
zu schlittern. Die rechten Arbeiterführer versuchen, sich auf einen
Kapitalismus zu stützen, der in Wirklichkeit gar nicht mehr existiert. Sie
repräsentieren die Vergangenheit und nicht die Zukunft. Auch wenn sie sich als
große Realisten darstellen, in Wirklichkeit sind sie Utopisten der schlimmsten
Sorte. Auf der Grundlage der kommenden Periode wird ihr Einfluß in den
Arbeiterparteien schwer erschüttert werden.
Die Positionen der Linksreformisten ist aber nicht
viel besser. Auch wenn sie die Politik der Konterreformen völlig zurecht
ablehnen, können sie in der Praxis keine wirkliche Alternative anbieten. Sie
akzeptieren ebenfalls das kapitalistische System, sie möchten nur, daß es etwas
freundlicher funktioniert. Das ist aber, als möchte man aus einem Tiger einen
Vegetarier machen. Wenn weltweit alle Regierungen die selbe Sozialabbaupolitik
betreiben, ist das ein ganz klarer Ausdruck der tiefen Krise, in der sich der
Kapitalismus befindet. Jeder Versuch, zur keynesianistischen Politik des
Deficit-spending zurückzukehren, würde sofort eine Explosion der Inflation
auslösen. Und für die Arbeiterklasse ist die Wahl zwischen Inflation und
Deflation nichts anderes als eine Wahl zwischen Tod durch Erhängen oder Tod
durch Erschießen. Wir haben natürlich an keinem der beiden ein besonderes
Interesse, wie man sich denken kann. Die einzige Lösung ist die sozialistische
Umgestaltung der Gesellschaft!
Als Marx und Engels das Manifest schrieben, waren
sie mit 29 bzw. 27 Jahren zwei junge Männer. Sie schrieben dieses Werk in einer
Periode dunkelster Reaktion. Die Arbeiterklasse war wie gelähmt. Das Manifest
wurde in Brüssel verfaßt, wohin Marx und Engels als politische Flüchtlinge ins
Exil getrieben wurden. Als das Kommunistische Manifest aber im Februar 1848 das
Tageslicht erblickte, brach auch schon auf den Straßen von Paris die Revolution
aus, die sich in den folgenden Monaten wie ein Lauffeuer über ganz Europa
ausbreitete.
Falls uns die Geschichte irgendetwas lehren kann,
dann ist das folgendes: und zwar, daß nichts und niemand den unbewußten Willen
der Arbeiterklasse, die Gesellschaft zu verändern, brechen kann. Es stimmt, daß
es viele tragische Niederlagen gab, wie jene der Revolution von 1848, jene der
Pariser Kommune und zuletzt die endgültige Liquidierung der noch verbliebenen
Errungenschaften der Oktoberrevolution in Rußland. Und doch haben sich die
Arbeiter von den Auswirkungen all dieser Rückschläge immer wieder erholt und
wieder gekämpft. Und zwar aus einem einzigen Grund: Sie haben keine andere
Wahl. Zurückblickend kann man sagen, daß jede Niederlage nur eine weitere
Episode im langen Kampf der Arbeiterklasse für ihre wirkliche Befreiung ist.
Die Geschichte lehrt uns aber auch etwas anderes. Um
gewinnen zu können, ist Kampfeswille allein noch nicht genug. Der Kampf muß
bewußt geführt werden und braucht ein wissenschaftliches Programm und eine
klare Perspektive. Ohne diese Voraussetzungen kann es keinen Sieg geben. Diese
Dinge fallen aber nicht vom Himmel. Es ist nicht möglich, ein Programm, Taktik
und Strategie zu improvisieren, wenn die Massen erst einmal damit begonnen
haben, die bestehende Ordnung herauszufordern. Diese Dinge müssen rechtzeitig
vorbereitet werden.
Trotz aller Anstrengungen von seiten seiner Gegner
behält der Marxismus auch heute noch seine volle Gültigkeit, sowohl als
Analysemethode der Gesellschaft der Gegenwart wie auch als Programm für den
Kampf um eine andere Gesellschaft. Das eine oder andere Detail mag sich
geändert haben, aber die grundlegenden Ideen des Kommunistischen Manifests sind
heute noch genauso aktuell wie vor 150 Jahren. Ja, in einigen Punkten stimmen
sie heute mehr denn je. Die Revolution von 1848 erschütterte ganz Europa, hatte
aber auf den anderen Kontinenten nur ein geringes Echo. Die große Welle an
Revolutionen, ausgehend von der Oktoberrevolution im Jahre 1917, hat nicht nur
Europa, sondern auch China, Indien, Persien und die Türkei ergriffen. Heute, wo
der Weltkapitalismus den gesamten Globus zu einem einzigen Ganzen gemacht hat,
gibt es die Voraussetzungen für noch viel dramatischere Entwicklungen. Die
Integration hat solche Ausmaße angenommen, daß wir mit einigem Vertrauen
vorhersagen können, daß der Sieg der Arbeiterklasse in irgendeinem bedeutenden
Land sofort zum Sturz des Kapitalismus in einem Land nach dem anderen führen
wird. Das würde die Basis legen für den Aufbau der Vereinigten Sozialistischen
Staaten von Europa und einer Sozialistischen Föderation der ganzen Welt.