Militärputsch in Chile 1973:

 

Hoffnungen auf "parlamentarischen Weg zum Sozialismus" zerstört (Funke 1/ Herbst 1993)

Am 11. September 1993 sind genau 20 Jahre seit dem Militärputsch in Chile vergangen, der zum Sturz des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende (Foto) führte. Dieser Putsch wurde von General Pinochet, dem Oberkommandierenden des Heeres, angeführt und hatte ein Blutbad von 50.000 Toten zur Folge. Politisch aktive Arbeiter, Gewerkschafter, Sozialisten und Kommunisten wurden beim Widerstand niedergeschossen bzw. standen auf der "Abschussliste" der Putschisten. Viele mussten im Ausland Asyl suchen.

Allende hatte am 4. September 1970, also drei Jahre zuvor, als Kandidat der "UNIDAD POPULAR" (= "Volkseinheit", ein Wahlbündnis aus fünf chilenischen Parteien: Arbeiterparteien sowie einige kleinere liberale/bürgerliche Gruppierungen) 36,3% der Stimmen bei der Präsidentschaftswahl und damit gegenüber seinen beiden Gegenkandidaten die relative Mehrheit erhalten. Sein Amtsantritt weckte große Erwartungen: Als er am 3. November 1970 seinen christdemokratischen Vorgänger Frei ablöste, herrschten in Chile große Armut und wirtschaftliches Chaos. Von10 Millionen Einwohnern waren 1,5 Millionen Kinder unterernährt, 500.000 Familien obdachlos, und die Arbeitslosigkeit betrug 8,8%. 80% des Nutzlandes befanden sich in der Hand von 4,2% der Grundeigentümer, die chilenischen Kapitalisten hielten an ihren Privilegien fest, und die Wirtschaft war von ausländischem Kapital abhängig. Die Gewinnung des wichtigsten chilenischen Exportartikels (des Kupfers) befand sich zu 80% in den Händen amerikanischer Konzerne. Der Schwerpunkt von Allendes Regierungsprogramm lag darin, die Bodenschätze, gewisse Monopolunternehmen und die Banken zu verstaatlichen und eine Agrarreform durchzuführen. Allendes Regierungsantritt löste in ganz Lateinamerika wie auch unter vielen europäischen Linken die Erwartung aus, dass es jetzt konkret möglich sei, "auf parlamentarischem Weg" zum Sozialismus zu kommen. Allende versuchte, innerhalb des Staatsapparates Veränderungen im Interesse der arbeitenden Bevölkerung zu bewirken, ließ aber den Staatsapparat insgesamt unangetastet. Allendes Maßnahmen gegen die Reichen und Privilegierten verärgerte diese und provozierte zwangsläufig ihren Widerstand. Aber Allende machte den Fehler, den Großgrundbesitzern und Großunternehmern nicht völlig ihre Macht zu nehmen. Somit blieb ihnen die Machtbasis erhalten, von der aus sie sich mit Terror und Boykott zu wehren begannen.

Den Kohlebergbau verstaatlichte die Regierung Allende ebenso wie Banken und Kupferminen. Die Nationalisierung der Kupferminen führte er sogar mit der Unterstützung der Christdemokraten durch; hier wurden keine Entschädigungen an die Aktionäre bezahlt, die zum größten Teil (80%) Amerikaner waren. Zusätzlich begann er eine Bodenreform: 2 Millionen Hektar Land wurden enteignet und gingen in staatliche Kontrolle über.

Rechter Terror von Anfang an...

Bevor Allende sein Amt antrat, wurde der Oberbefehlshaber der Armee, General Rene Schneider, ermordet, weil er nicht bereit war, durch einen Putsch zu verhindern, dass Allende zum Präsidenten ernannt wurde. Auch längerfristig war Allende wie überhaupt die ganze Regierung rechtsextremem Terror wie etwa von der faschistischen Organisation "Vaterland und Freiheit" ausgesetzt. Während seiner Amtszeit gab es mehr als 600 Terroranschläge auf Eisenbahnen, Brücken, Hochspannungsleitungen und Pipelines ebenso wie vor allem auch auf Allendes Anhänger. Der amerikanische Journalist Jack Anderson enthüllte im April 1972, dass die CIA zusammen mit dem mächtigen Konzern ITT (International Telephone and Telegraph Corporation) eine Million Dollar zur Finanzierung einer Pressekampagne beigesteuert hatten. Auch später waren ITT und CIA an dunklen Machenschaften beteiligt. Die USA sperrten der chilenischen Regierung laufende Kredite. Während im November 1970 noch 220 Dollar gezahlt wurden, war die Summe schnell auf 20 Millionen Dollar zusammengeschrumpft. Chile war damals für lateinamerikanische Begriffe ein relativ hochentwickeltes Land mit einer starken und traditionsreichen Arbeiterbewegung. Während die chilenische Kommunistische Partei die stärkste KP Lateinamerikas war (und ist - mit Ausnahme der kubanischen), hatte die ebenfalls starke Sozialistische Partei eine politische Position links von der KP. Diese Bewegung hatte in den zurückliegenden Jahrzehnten in Chile relativ große wirtschaftliche und demokratische Zugeständnisse erkämpft.

Allendes Wahlsieg war für viele Arbeiter das Signal, um endlich die sozialistischen Ziele zu verwirklichen und dementsprechend zu handeln. Bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 1971 erhielt die Unidad Popular 50,8% der Stimmen. Ein Zeichen dafür, dass Allendes Politik die Zustimmung der Arbeiter in Stadt und Land fand, weil sie viele Verbesserungen für sie gebracht hatte.

So erhielten sie Land auf Grund der Bodenreform, die Löhne wurden um 35% erhöht, die Preise für Miete und wichtige Bedarfsmittel wurden eingefroren, jedes Kind erhielt pro Tag einen halben Liter Milch, und als Ergebnis dieser Bemühungen ging die Kindersterblichkeit um 20% zurück.

Die Politik der UP ließ aber 70% der Wirtschaft und die Massenmedien ebenso wie die Transportmittel und den Handel in privaten Händen. So verschlimmerte sich die wirtschaftliche Lage in Chile. Die Unternehmer investierten aus Angst vor der Enteignung kaum noch und führten ihr Geld ins Ausland aus.

Die Privatinvestitionen gingen schon 1971 um 16% zurück, und die Bautätigkeit nahm von Juni 1971 bis Mai 1972 um ein Drittel ab. Auch der Mittelstand fühlte sich in seinen Privilegien bedroht und war für die Propaganda der bürgerlichen Medien wie auch der Rechtsextremen anfällig. Die Folge waren von den Rechten angezettelte Demonstrationen und Streiks. Zunächst streikten Fuhrunternehmer und Taxifahrer, denen sich Ärzte und andere Berufszweige anschlössen. Es gibt Dokumente, die belegen, dass die Streiks der Unternehmer von der CIA mit einem Schaden von 200 Millionen Dollar gesteuert wurden. Die Lage verschärfte sich immer mehr. Im November 1972 boykottierten die USA und 14 Gläubigerstaaten (der sogenannte Club von Paris) den Kupferverkauf.

Ebenso nahmen Krawalle und Terrorakte der rechtsextremen Partei "Vaterland und Freiheit" zu. Um die Spitzen des Militärs auf seine Seite zu ziehen, nahm Allende zwei Generäle und einen Admiral ins Kabinett auf . Bei den Parlamentswahlen im März 1973 erhielt die Unidad Popular 42% der Stimmen, also 6% mehr als 1970. Obwohl durch Boykottmaßnahmen die Lebenshaltungskosten im Jahre 1972 um 63% angestiegen waren, war das Nationalprodukt gestiegen, die Industrieproduktion um 12,5% gestiegen und die Arbeitslosenquote von 8,8 auf 3,7% gefallen. Als am 27. März 1973 die Regierung neu gebildet wurde, waren keine Militärs mehr im Kabinett vertreten. Am gleichen Tag streikte die größte chilenische Kupfermine "El Teniente". Der Streik dauerte 75 Tage. Es war ein Streik der Ingenieure und Vorarbeiter, der von einer rechts stehenden Gewerkschaft und der rechten politischen Opposition angeführt und von der CIA unterstützt wurde.

Wie "verfassungstreu" und "demokratisch" ist die Armee wirklich?

Am 29. Juni 1973 fand ein Putschversuch von zwei Panzerregimentern statt, der von regierungstreuen Truppen niedergeschlagen wurde. Das chilenische Heer war bis dahin für seine Loyalität zur jeweiligen Regierung bekannt. Dies verleitete die Führer der Sozialisten und Kommunisten zu der verhängnisvollen Auffassung, dass auch jetzt die Generäle grundsätzlich loyal zur Regierung Allende stehen würden.

Allende versuchte, rechtsgerichtete Generäle durch Gehaltserhöhungen und maßvolle Äußerungen zu beschwichtigen. Drei Wochen vor dem Putsch wurde General Pinochet von Allende persönlich zum Oberkommandierenden des Heeres ernannt! Sicherlich sympathisierten die Soldaten der unteren Ränge mehrheitlich mit der Linken. Doch der Staatsapparat insgesamt mit seinen Führungskadern, den sich die chilenischen Kapitalisten über Jahrzehnte ausgebaut und vervollkommnet hatten, blieb ein bürgerlicher, pro-kapitalistischer Staatsapparat. Für den leichtfertigen Glauben, man könne die Machtverhältnisse im Land grundlegend verändern und gleichzeitig den Staatsapparat intakt lassen, musste schließlich nicht nur Allende mit dem Leben bezahlen.

Die Arbeiter bekundeten immer wieder in der sich zuspitzenden Lage durch Massenkundgebungen ihre Hoffnung auf die Regierung Allende. Aber sie spürten gleichzeitig, dass die Sabotage der Unternehmer und ein möglicher Putsch alle Errungenschaften wieder zerstören würden. So kam es zu massenhaften Betriebsbesetzungen und zur Bildung betriebsübergreifender Vertretungsorgane, um die Produktion gegen den Boykott der Unternehmer aufrechtzuerhalten und die Machtpositionen der Arbeiter auszubauen. Nicht nur in ultralinken Gruppen, sondern auch bei den Jungsozialisten in der SP wurde über Notwendigkeit der Arbeiterbewaffnung zur Verteidigung gegen drohende reaktionäre Übergriffe gesprochen.

Trotzdem sprach sich der "Marxist" Allende, der eigentlich am rechten Flügel der SP angesiedelt war, vehement gegen Fabrikbesetzungen der Arbeiter aus, da er an seiner "Gesetzestreue" festhalten wollte. Allende bekannte sich noch zu Staat und Gesetz zu einem Zeitpunkt, da es den führenden Kreisen in Wirtschaft, Militär und USA schon längst klar war, dass zur Aufrechterhaltung des chilenischen Kapitalismus ein blutiger Putsch unvermeidlich sein würde. Anfang August 1973 nahm Allende wieder Militärs in die Regierung auf, um durch diese Geste der Beschwichtigung der Gefahr eines Militärputsches entgegenzuwirken. General Prat, der Oberbefehlshaber der Armee, legte sein Amt nieder, da Druck auf ihn von Seiten der Opposition ausgeübt wurde, er solle endlich putschen. Zum Nachfolger ernannte Allende Augusto Pinochet........

Wieder bekundeten mehr als 800.000 Arbeiter ihre Entschlossenheit, als sie am 4. September 1973 in Santiago anlässlich des 3. Jahrestages der Wahl Allendes zum Präsidenten demonstrierten. Aber eine Woche später, am 11. September, hatte Pinochet sich mit den Chefs der Marine, Luftwaffe und Polizei verbunden. Es fand ein Militärputsch statt, bei dem Allende ermordet, das Parlament aufgelöst, die Regierungsmitglieder der "Unidad Popular" und zahlreiche Linke und Gewerkschafter verhaftet und alle Zeitungen verboten wurden.

Die chilenischen Christdemokraten, aus deren Reihen der gegenwärtige Präsident Aylwin hervorgegangen ist, unterstfitzten damals übrigens den Putsch und wurden erst etwas kritischer, als Pinochet auch sie verbieten ließ.

Auch deutsche und europäische bürgerliche Politiker wie etwa der damalige CDU-Generalsekretär Bruno Heck oder CSU-Chef Strauß bekundeten Verständnis für den Putsch und die Putschisten.

"Nicht einem einzigen Staat in Lateinamerika bleibt also die Erfahrung des militärischen Eingriffs in die Staatsführung erspart. In diesem Fall freilich mag er ... Schlimmeres verhüten", schrieb die Frankfurter Allgemeine am l2.9.1973. Und der berühmt-berüchtigte ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal meinte eine Woche später in seinem Magazin: "Chile findet nach letzten Meldungen zu normalen Verhältnissen und innerem Frieden zurück."

Mit dem Putsch vor 20 Jahren war der Versuch Allendes gescheitert, der sich auf die Hoffnung gründete, über das Parlament dauerhafte Verbesserungen für die arbeitenden Menschen und eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse herbeizuführen und den alten bürgerlichen Staatsapparat gleichzeitig beizubehalten. Die Kapitalisten selbst taten das, was jede privilegierte und herrschende Klasse tut, die ihre Macht und ihren Besitz bedroht sieht: Sie schlugen zurück» In jedem kapitalistischen Land sind die Chefs der Wirtschaft mit den Spitzen im Staatsapparat (Armee, Polizei, Justiz) durch tausend Bande und Beziehungen eng verbunden. Ein Staat ist in letzter Konsequenz ein Zwangsapparat (Armee, Polizei, Justizvollzug...) zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung, d.h. vor allem der bestehenden Eigentums- und Machtverhältnisse.

Mit der Illusion, dass die fahrenden Kräfte des Militärs eine (wenn auch zaghafte) sozialistische Politik dulden würden, gab Allende der Reaktion wertvolle Zeit, um sich von ihrem ersten Schock zu erholen und zu organisieren. Ebenso blieben andere Bereiche des Staates (Justiz, Polizei, Schulwesen und Hochschulen) weitgehend unangetastet. Wie sich hinterher herausstellte, waren nur 20 Prozent aller Soldaten aktiv am Putsch beteiligt. Die restlichen 80 Prozent waren entweder neutral oder auf Seiten der Arbeiter - aber unorganisiert. Doch der verzweifelte Versuch Allendes, durch Anbiederung an die Generäle sich ihr Wohlverhalten zu erkaufen, bedeutete, dass er ein Bündnis mit den Unteroffizieren und einfachen Soldaten ablehnte. Aber was nützt es, bürgerliche Generäle mit Geld kaufen zu wollen? Der Verzicht auf einen rechtzeitigen Aufbau einer organisierten Gegenmacht in den unteren Rängen der Armee in Verbindung mit den Massenorganen der Arbeiter wirkte sich tödlich aus. Als noch am 4. September 1973 die Arbeiter bei der Massenkundgebung in Santiago von ihren Führern Waffen zur gemeinsamen Verteidigung forderten, wurden sie beschwichtigt. Somit verstrich die letzte Chance für die Arbeiter, selbst wieder die Initiative zu ergreifen, dem Putsch zuvorzukommen und die Revolution weiterzutreiben. Doch der bewaffnete Widerstand gegen den Putsch selbst war zwar heldenhaft, aber kaum koordiniert und organisiert. Pinochets Leute richteten auch in den Reihen der Armee ein Blutbad an, um den Widerstand linker Truppenteile zu unterbinden.

Chile heute - was hat sich geändert?

Im März 1990 trat General Pinochet nach fast 17jähriger Herrschaft das Amt des Staatspräsidenten an den Christdemokraten Patricio Aylwin ab. Damit sollte ein "kontrollierter Übergang von der Diktatur zur Demokratie" stattfinden. Bereits im Oktober 1988 hatte sich Pinochet einem Volksvotum gestellt - und verloren. Eine von Aylwin eingerichtete Kommission zur Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur hat keine juristischen Vollmachten. Bis zum heutigen Tag ist es nicht zu einer sauberen Aufarbeitung der Morde, der Folterungen und vielen Fälle von Verschollenen gekommen - von einer Bestrafung der Verantwortlichen ganz zu schweigen.

Die vorherrschende Stellung des Militärs ist nach wie vor unangefochten. Pinochet ist weiterhin die über allem schwebende graue Eminenz; seine Amtszeit als Oberbefehlshaber des Militärs läuft noch bis 1997, die Haushaltsmittel für das Militär bleiben ungekürzt.

Das in den letzten Jahren hohe chilenische Wirtschaftswachstum brachte gesteigerten Reichtum für die Reichen- auf Kosten der Armen. Doch der Rohstoffexport und die rohstoffnahe Produktion (Obst, Wein, Holz, Zellulose) können kein dauerhaftes Wachstum sichern; die Zellulose-Produktion zerstört rücksichtslos wertvolle Wälder hinterlässt große Umweltschäden. Wie die UNO-Wirtschaftskommission CEPAL berichtete, ist in Chile der Anteil der Armen von 17% (1970) auf 35% (1990) gestiegen, und der Anteil der Notleidenden hat sich gleichzeitig von 6 auf 12% verdoppelt. Das statistische Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 2.800 Dollar im Jahr. Nach den Vorstellungen neoliberaler Wirtschaftspolitiker hat sich der Staat so weit aus der Wirtschaft zurückgezogen, dass sich die Armen inzwischen keine Schulbildung und keine medizinische Versorgung mehr leisten können. Wichtige soziale Bereiche wurden vom Staat privatisiert, das Bildungswesen wurde auf die Gemeinden übertragen. Jede Diktatur löscht das Gedächtnis der bewusstesten Teile der Arbeiterbewegung aus und wirft das allgemeine Bewusstsein der Arbeiter zurück. Die heutige SP- und KP-Führung vertritt eine weitaus rechtere Politik als Anfang der 70er Jahre. Ergebnis: Anbiederung an die Christdemokraten und deren Präsidenten und Zustandekommen einer Regierungskoalition, in der Christdemokraten und Sozialisten die größten Parteien sind.

Annette Biebel, Juso Darmstadt-Dieburg