Antwort an Luis Oviedo

Marxismus kontra Sektierertum

Von Alan Woods

 

"Die Hunde bellen und die Karawane zieht weiter" (Arabisches Sprichwort)

 

Eine fremde Methode

 

Meine Aufmerksamkeit wurde kürzlich auf einen Artikel gelenkt, unterschrieben von Luis Oviedo, mit dem Titel Die konterrevolutionäre Position von Socialist Appeal (in Prensa Obrera n° 826). Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, konnte ich nicht entscheiden, ob er entweder ein Produkt war von schlechtem Glauben oder schierer Ignoranz. Sicher ist, die verwendete Methode widerspricht jedem Grundprinzip des Marxismus und vor allem anderen des Trotzkismus, welchen Genosse Oviedo und die Partido Obrero (PO) zu verteidigen geloben.

 

Die argentinische PO verzeichnete in den letzten Jahren einigen Erfolg. In ihren Reihen stehen gute Kämpfer, die in ehrlicher Weise die Sache des Trotzkismus und der sozialistischen Revolution in Argentinien und Lateinamerika fördern wollen. Ihre Mitglieder haben zweifelsohne gute Arbeit geleistet in der Entwicklung der Bewegung der piqueteros. All dies verdient unseren aufrichtigen Respekt, und wir glauben, dass unsere vergangenen Debatten mit der PO stets geprägt waren von einem gewissenhaften und respektvollen Charakter.

 

Das ist keine unbedeutende Nebensächlichkeit. Die Unfähigkeit Kritik und Unterschiede demokratisch und solidarisch zu beantworten, wird eine Partei untergraben und ihre Entwicklung ab einem gewissen Punkt erdrosseln. Alle internen Differenzen und Kritiken werden erstickt und zum Schweigen gebracht. Das bedeutet, dass alles durch die harte Arbeit der Mitglieder Erreichte und Errungene früher oder später zunichte gemacht werden wird.

 

Es gibt für all dies keine diplomatischen Gründe. Wir sind keine Liberalen, sondern Bolschewiken, und wir erhalten die wahren Traditionen der Partei Lenins und Trotzkis, welche wir seit mehr als siebzig Jahren verteidigen gegen den Revisionismus, national und international. Es sollte hinzugefügt werden, dass der Revisionismus in allen Farben und Schattierungen auftritt und nicht nur eine rechte Färbung, sondern auch eine „linke“ besitzt.

 

Warum traten die großen Marxisten den Ideen ihrer Gegner stets gewissenhaft gegenüber? Es ging dabei nicht um sentimentale Gründe, sondern darum, dass das Ziel einer Auseinandersetzung die Anhebung des politischen Niveaus der Kader ist, und nicht darum, Punkte zu sammeln. die … Es gibt nichts Einfacheres als Sandburgen zu bauen, um sie hinterher wieder zu zerstören. Genau das ist es, was Luis Oviedo macht. Er entstellt unsere Ideen, welche er dann triumphierend „beantwortet“ (das heißt also, er beantwortet Dinge, die niemals gesagt wurden). Dann, wie ein kleiner Junge in neuen Schuhen, rennt er umher und posaunt es stolz zu jedermann: „Seht ihr, wie klug ich bin?“ Leider ist diese Methode ist fernab jeder Klugheit, und sie ist den Methoden und Traditionen des Bolschewismus absolut fremd.

 

In der Kontroverse haben wir stets versucht, die Argumente unserer Gegner mit Fairness zu behandeln. Niemals haben wir die Darlegungen unserer politischen Kontrahenten entstellt oder karikiert – aus einem guten Grunde. Wenn wir die Positionen unserer Gegner verzerren, macht es unsere Antwort absolut wertlos, und niemand könnte etwas aus ihr lernen. Genau deshalb haben Lenin und Trotzki (und auch Marx und Engels) die Auseinandersetzung mit ihren politischen Gegnern immer gewissenhaft geführt. Genau deshalb stützten sie ihre Ausführungen immer auf lange Zitate aus den Werken ihrer Gegner. So konnte sie niemand beschuldigen, Schindluder mit entstellten Argumenten getrieben zu haben. Letzteres war nicht die Methode der wahren Trotzkisten, sondern die der Stalinisten. Durch die Lektüre des Artikels des Genossen Oviedo kann niemand etwas erfahren über die Position von Socialist Appeal oder El Militante oder von wem auch immer. Also, was war der Grund ihn zu verfassen?

 

Mythologie anstelle des Arguments

 

Der Artikel von Luis Oviedo enthält so viele Fehler und Verdrehungen, dass es eines Buches bedürfte, sie zu korrigieren. Leider ist das Leben kurz und haben wir zuviel Arbeit zu verrichten, als dass wir uns diesen Luxus erlauben könnten. Ein altes russisches Sprichwort besagt, „Ein Dummkopf kann mehr Fragen stellen als zwanzig weise Männer beantworten können.“ Aber wir werden uns mit der Geduld bewappnen und tun, was wir können. Das Ergebnis ist eher lang und überladen. Es ist länger als sein Verfasser es beabsichtigte, doch nicht so lang wie eigentlich notwendig, um mit all den Verzerrungen und Verfälschungen des Artikels der PO aufzuräumen.

 

Unter anderem werden wir beschuldigt, „sklavischem Gefolge der bestehenden Führungen[1] und „ehrfurchtsvollem Respekt vor den bürokratischen Führungen“ anzuhängen. Dieser Tatbestand kann, glücklicherweise, sehr einfach aus der Welt geräumt werden. Wir wissen, dass Luis Oviedo ein emsiger Leser unserer internationalen Webseite, www.marxist.com, ist und dass er der englischen Sprache mächtig ist. Aus diesem Grunde unterbreiten wir ihm einen bescheidenen Vorschlag: Genosse Luis, bitte zeig uns auch nur eine Stelle unserer Webseite, wo wir auch nur die geringste Andeutung des „sklavischen Gefolges der bestehenden Führungen“ oder der Hege von „ehrfurchtsvollem Respekt vor den bürokratischen Führungen“, in Großbritannien, Bolivien oder irgendwo anders an den Tag legen. Wenn Luis dies gelingt, werden wir dankbar unsere Fehler korrigieren. Wenn er es aber nicht vermag, so laden wir ihn dazu ein, jedes seiner geschriebenen Worte öffentlich zurückzunehmen, oder er entlarvt sich selbst als Fälscher.

 

Worum es hier im Kern geht, ist die Diskussion über den Aufbau der revolutionären Tendenz mit Wurzeln in den Massen. Um die Partei aufzubauen, genügt es nicht die richtigen Ideen zu haben. Es ist viel mehr von Nöten, richtige Taktiken zu entwickeln, um die Massen davon zu überzeugen, dass unsere Ideen die richtigen sind. Bedauerlicherweise, hat die PO keine korrekte Position zu den objektiven Aufgaben der bolivianischen Revolution (geschweige denn der argentinischen Revolution). Sie hat einige fundamentale Fehler begangen und ist nicht bereit, diese einzugestehen. Dies ist der wahre Hintergrund der gegenwärtigen Auseinandersetzung, mit welcher wir uns beschäftigen werden am Beispiel der Forderung nach einer konstituierenden Versammlung.

 

Trotzdem findet das Problem hier noch nicht sein Ende. Es ist eine Frage sowohl der Form, als auch des Inhaltes. Selbst wenn die PO eine korrekte Position verföchte, wäre sie zur Bedeutungslosigkeit reduziert angesichts ihrer hoffnungslos sektiererischen Haltung zur Arbeiterbewegung. Luis Oviedo zeigt nicht den leisesten Anschein eines Verständnisses, wie es gilt sich der bolivianischen Arbeiterklasse und ihren Organisationen zu nähern. Es bleibt bei dem gewöhnlichen, rohen Ultimatismus, welcher das Merkmal ultralinker Gruppen in aller Welt ist. Mit Methoden wie dieser werden wir nicht sehr weit kommen.

 

Es muss hinzugefügt werden: Luis Oviedo ist kein gewöhnliches Basismitglied der PO, sondern einer ihrer Hauptführer und Theoretiker. Deshalb gehen wir davon aus, dass sein Artikel die Position der PO-Führung insgesamt widerspiegelt. Falls dies nicht der Fall sein sollte, dann laden wir Jorge Altamira und die restlichen Köpfe der PO dazu ein, sich zu distanzieren. Wenn sie dem nicht nachkommen, so gilt auch ihnen jedes Wort dieser Antwort.

 

Der Artikel von Luis Oviedo besticht durch die Fülle an Fehlern auf sehr kleinem Raum. Man findet in jedem Satz zumindest einen, manchmal sogar zwei. Wir beginnen mit dem, was eine recht häufige Anschuldigung gegen unsere Tendenz ist. Doch in einem Punkte sind wir dem Genossen Oviedo zu Dank verpflichtet. In wenigen Zeilen ist es ihm gelungen, uns mit einem brauchbaren Abklatsch aller (oder der meisten) Mythen zu versorgen, welche die PO und alle anderen pseudo-trotzkistischen ultralinken Gruppen seit vielen Jahren über unsere Tendenz verbreiten. Es ist weit bekannt, dass man durch die andauernde Wiederholung derselben Lüge manche Menschen dazu bringt, sie für bare Münze zu nehmen.

 

Um ganz vorne anzufangen, es schreibt der Genosse Oviedo: „Seine langfristige Auflösung in der Britischen Sozialdemokratie hat unauslöschliche Spuren hinterlassen an Socialist Appeal, der von Ted Grant und Alan Woods angeführten Tendenz: Nachlaufen ist das eingetragene Markenzeichen der Führung dieser Tendenz.“

 

„Auflösung“ impliziert, dass wir bereits vor geraumer Zeit aufgehört haben, als separate und identifizierbare Tendenz zu existieren. Aber wenn dies wirklich der Fall wäre, so fragt man sich, wieso Genosse Oviedo sich mit wüsten Angriffen gegen uns plagt. Diese Angriffe legen die Vermutung nahe, dass wir nicht nur als klar erkennbare Tendenz bestehen, sondern dass diese Tendenz der Führung der PO einige Schwierigkeiten bereitet. Die PO ist zu Angriffen gegen unsere Tendenz genötigt, weil sie sich über den Erfolg, den wir international verbuchen können, Sorgen macht. Sie fürchtet unseren wachsenden Einfluß in Lateinamerika und in der PO selbst. Und deswegen versucht sie einen Schutzwall zu ziehen zwischen uns und ihren Mitgliedern, indem sie Attacken gegen uns startet, die auf einer Masse von Verzerrungen aufgebaut sind.

 

Marxisten und die Massenorganisationen

 

Wenn ultralinke Gruppen uns in der Frage der Arbeit in den Massenorganisationen attackieren, so glauben sie, sie träfen unsere schwache Seite. Tatsächlich aber berühren sie eine unserer stärksten Seiten – die Seite, die stets eine wahre marxistische Tendenz von einer Sekte scheidet: unsere feste und beharrliche Orientierung auf die Massenorganisationen der Arbeiterklasse. Wenn wir diese Art Kritik hören, so können wir mit unseren Schultern zucken. Es gehört zum ABC, dass eine marxistische Tendenz danach zu streben hat, revolutionäre Arbeit in den Massenorganisationen des Proletariats zu verrichten. Das erklärten Lenin und Trotzki (ja auch schon Marx und Engels) vor geraumer Zeit. Ein sechsjähriges  Kind wäre in der Lage, das zu verstehen. Da aber die Führer der PO dies nicht vermögen, sehen wir uns gezwungen, Grundlegendes zu wiederholen.

 

Die ultralinken Gruppen lieben es, Lenins Schriften aus der Zeit von 1914 bis 1917 zu zitieren, als er wiederholt die Notwendigkeit einer eigenständigen revolutionären Partei betonte und die britischen Marxisten dazu aufrief, die Labour Party zu verlassen. Dies wurde im Voraus von Trotzki beantwortet, als er schrieb:

 

“Aber Lenin hatte einen Bruch mit den Reformisten als unvermeidliche Konsequenz des Kampfes mit ihnen im Sinn, und nicht als Akt der Erlösung unabhängig von Zeit und Ort. Er brauchte eine Spaltung mit den Sozialpatrioten nicht um seine eigene Seele zu retten, sondern um die Massen vom Sozialpatriotismus loszureißen." (Trotsky, Writings 1935-36, p.156, Übersetzung durch uns).

 

Die Notwendigkeit des Aufbaus einer eigenständigen revolutionären Partei gehört zum ABC für Marxisten. Doch neben dem ABC gibt es noch andere Buchstaben im Alphabet, und ein Kind, welches nach einigen Jahren immer noch nur die ersten drei wiederholte, würde nicht als sehr schlau betrachtet werden. In der gegenwärtigen Epoche sehen sich die Revolutionäre konfrontiert mit starken reformistischen Massenorganisationen – sowohl Parteien als auch Gewerkschaften – welche die Unterstützung vieler Millionen Arbeiter beziehen. Unsere Fähigkeit zu wachsen hängt entscheidend davon ab, ob es uns gelingt, die Basis dieser Organisationen für uns zu gewinnen, speziell in den Gewerkschaften, aber auch in den reformistischen Parteien.

 

Im Gründungsdokument der marxistischen Bewegung, dem Kommunistischen Manifest, erklären Marx und Engels, dass die Kommunisten keine separate Partei entgegen den anderen Arbeiterparteien stellen:

 

„Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennte Interessen.“

 

„Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.“

 

„Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, dass sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen; andererseits dadurch, dass sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten.“

 

„Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“

(MEAW, Band I, S.429f.)

 

Diese Bemerkungen sind für die Führer der PO ein Buch mit sieben Siegeln, gleichwohl sind sie Ausdruck dessen, was den wahren Marxismus von seiner sektiererischen Karikatur unterscheidet. Die ultralinken Gruppen vergessen stets, dass die Massenbasis der Kommunistischen Internationale nur auf dem Boden großer Ereignisse, in der Periode von 1917 bis 1923, gebildet werden konnte. In den meisten Fällen entstanden die Massenparteien der neuen Internationale aus den Spaltungen innerhalb der alten Parteien der Zweiten Internationale. Mehr noch, in manchen Fällen gewannen die Kommunisten die Mehrheit der alten Organisationen, so etwa in Frankreich, Deutschland, Bulgarien und der Tschechoslowakei.

 

Eine sektiererische Haltung zu den alten reformistischen Massenorganisationen war typisch, nicht für Lenin und Trotzki, sondern für die Ultralinken in Holland, Großbritannien und Italien, gegen die Lenin und Trotzki einen unbarmherzigen Kampf führten. Obwohl sie versuchten, Lenins Schriften aus dem ersten Weltkrieg gegen ihn zu verwenden, hatten sie nichts verstanden von Lenins dialektischer Methode. Lenins Werk „Der linke Radikalismus – Die Kinderkrankheit im Kommunismus wurde in den frühen Tagen der Kommunistischen Internationale verfasst, um mit den Argumenten der „Linken“ aufzuräumen, welche immer wieder, zu jeder Zeit, in den Schriften ultralinker Gruppen auftauchen. Lenin erklärte, dass es ein Verbrechen sei, die fortschrittlichsten Teile der Arbeiter von den Massen abzuspalten und dass solche Taktiken, weit entfernt davon die Gewerkschaftsbürokratie zu untergraben, sie im Gegenteil stärkten:

 

“Nicht in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten heißt die ungenügend entwickelten oder rückständigen Arbeitermassen dem Einfluß der reaktionären Führer, der Agenten der Bourgeoisie, der Arbeiteraristokraten oder der verbürgerlichten Arbeiter überlassen.

Will man der "Masse" helfen und sich die Sympathien, die Zuneigung, die Unterstützung der "Masse" erwerben, so darf man sich nicht fürchten vor Schwierigkeiten, darf man sich nicht fürchten vor den Schikanen, den Fußangeln, den Beleidigungen und Verfolgungen seitens der "Führer" (die als Opportunisten und Sozialchauvinisten in den meisten Fällen direkt oder indirekt mit der Bourgeoisie und der Polizei in Verbindung stehen) und muß unbedingt dort arbeiten, wo die Massen sind. Man muß jedes Opfer bringen und die größten Hindernisse überwinden können, um systematisch, hartnäckig, beharrlich, geduldig gerade in allen denjenigen - und seien es auch die reaktionärsten Einrichtungen- Vereinen und Verbänden Propaganda und Agitation zu treiben, in denen es proletarische oder halbproletarische Massen gibt.”

 

Luis Oviedo erleidet fast einen Schlaganfall, sobald die Konföderationen der Massengewerkschaften in Argentinien (CTA und CGT) erwähnt werden, mal ganz abgesehen von der Bolivianischen Arbeiter Union (COB). Schau sie Dir an, sie sind „bürokratisch“. Gleichwohl erklärte Lenin, wie die Bolschewiki sogar in den „Subatow“ Gewerkschaften (die von der zaristischen Polizei mit der Absicht eingerichtet wurden, die Arbeiter von revolutionären Ideen fernzuhalten) illegale Arbeit verrichteten. Ohne es zu wissen wiederholen die Führer der PO die Argumente, nicht von Lenin und Trotzki, sondern der „Linken Kommunisten“, welche Lenin in den ersten Jahren der Kommunistischen Internationale so erbarmungslos kritisierte. Auf dem Zweiten Kongress der Komintern führten Lenin und Trotzki einen Kampf gegen die „Kinderkrankheit“ des ultralinken Sektierertum. Das von Trotzki verfasste Manifest des Zweiten Weltkongresses der Komintern besagt:

 

“Die Kommunistische Internationale ist die internationale Partei des proletarischen Aufstandes und der proletarischen Diktatur. Sie hat keine anderen Ziele und Aufgaben, als die der ganzen arbeitenden Klasse. Die Anmaßungen der kleinen Sekten, von denen jede nach ihrem eigenen Muster die arbeitende Klasse zu retten versucht, liegen dem Geist der Kommunistischen Internationale fern. Sie gibt keine universalen Rezepte noch Beschwörungen, sie stützt sich auf die Welterfahrungen der Arbeiterklasse in Vergangenheit und Gegenwart, reinigt diese Erfahrung von ihren Fehlern und Abweichungen, verallgemeinert ihre Ergebnisse, anerkennt und übernimmt nur die Formeln, die als Formeln der Massenaktion erscheinen.

(.......)

Indem die Kommunistische Internationale einen unbarmherzigen Kampf gegen den Reformismus in den Gewerkschaften, gegen den parlamentarischen Kretinismus und das Strebertum in den Parlamenten führt, verurteilt die Kommunistische Internationale die sektiererischen Aufforderungen, die Reihen der vielen Millionen zu verlassen oder den parlamentarischen und Kommunalinstitutionen den Rücken zu kehren. Die Kommunisten trennen sich in keiner Weise von den Massen, die von den Reformisten und Patrioten betrogen und verraten werden. Aber sie führen mit den Reformisten einen unversöhnlichen Kampf auf dem Boden der Massenorganisationen und Institutionen, die von der bürgerlichen Gesellschaft geschaffen wurden, um durch diesen Kampf die bürgerliche Gesellschaft umso sicherer und schneller niederzuwerfen.”

(aus: Die Kommunistische Internationale, Band 1, Manifeste, Leitsätze und Resolutionen, 1. und 2. Weltkongreß 1919/1920,  S. 267/268)

Trotzkis Methode, genau wie die von Marx und Lenin, war eine Kombination von zweierlei Dingen: eine unversöhnliche Verteidigung von Ideen und Prinzipien und eine extrem flexible Annäherung an Taktiken und organisatorische Fragen. Man findet dies zusammengefasst im Offenen Brief für die Vierte Internationale, geschrieben im Frühling 1935:

 

“Jeder Versuch, einen identischen Weg für alle Länder vorzuschreiben, wäre fatal. Je nach nationalen Bedingungen, dem Grad der Zersetzung der alten Arbeiterklasse und letztlich dem Zustand ihrer eigenen Kräfte zum jeweiligen Zeitpunkt können die Marxisten (revolutionären Sozialisten, Internationalisten, Bolschewiki-Leninisten) mal als unabhängige Organisation, mal als Fraktion in einer der alten Parteien oder Gewerkschaften auftreten. Unabhängig von Zeit und Schauplatz dient diese Fraktionsarbeit nur als Etappe auf dem Weg zur Bildung neuer Parteien der Vierten Internationale - Parteien, die entweder durch die Neugruppierung der revolutionären Elemente der alten Organisationen oder mittels unabhängiger Organisationen entstehen können. Unabhängig von dem jeweiligen Schauplatz und der jeweiligen Methoden müssen sie im Namen der uneingeschränkten Grundsätze und klarer revolutionärer Parolen sprechen. Sie machen kein Versteckspiel mit der Arbeiterklasse und verbergen ihre Ziele nicht. Sie setzen nicht die Diplomatie an die Stelle eines von Grundsätzen motivierten Kampfes. Zu allen Zeiten und unter allen Umstanden sagen Marxisten offen was ist.”

(Trotsky, Writings, 1935-36, pp.25-26).

 

Man sollte meinen, diese Zeilen seien klar genug. Es gibt kein revolutionäres „Kochbuch“, das uns in allen Ländern zu allen Zeiten ein Rezept geben könnte, wie zu arbeiten. Was auf der Hand liegt, ist, dass die revolutionäre Partei stets als Embryo beginnt und dass es für die Revolutionäre, um ihre Isolation von den Massen zu überwinden, nicht nur erlaubt, sondern verpflichtend ist, flexible Taktiken zu entwickeln, um in die Massenorganisationen der Arbeiterklasse vorzudringen, vorausgesetzt, dass sie stets die Grundsätze fest vertreten.

 

Die Tendenz, zu welcher ich die Ehre habe zu gehören, hat durchweg über viele Jahrzehnte, eine feste Position zu prinzipiellen Fragen behalten, indem sie die Grundlehren des Marxismus verteidigt und für die sozialistische Revolution, national wie international, kämpft. Doch es gehört mehr dazu, als korrekte Ideen zu haben, es ist notwendig zu wissen, wie es gilt diese Ideen in einer Weise auszudrücken, die ein Echo in der Arbeiterklasse findet. Alle Sektierer kommen an diesem Punkt ins Straucheln. Um die Massen von den alten reformistischen Führern loszuschlagen, ist es notwendig, seriöse, systematische Arbeit in den Massenorganisationen zu verrichten, angefangen bei den Gewerkschaften. In seinem Artikel „Sektierertum, Zentrismus und die 4. Internationale“ charakterisiert Trotzki das Sektierertum wie folgt:

 

“Der Sektierer sieht das Leben der Gesellschaft als eine große Schule an, wobei er der Lehrer ist. Nach seiner Meinung sollte die Arbeiterklasse die weniger wichtigen Fächer beiseite legen und sich um ihn herum scharen. Dann wäre die Aufgabe gelöst.

Obwohl er mit jedem Satz auf den Marxismus schwört, ist der Sektierer die direkte Negation des dialektischen Materialismus, der ja von der Erfahrung ausgeht und sich immer wieder auf sie bezieht. Ein Sektierer versteht nicht die dialektische Aktion und Reaktion zwischen einem fertigen Programm und einem lebendigen - also unvollständigen und lückenhaften - Massenkampf. Sektierertum verhält sich der Dialektik gegenüber insofern feindselig (nicht in Worten, sondern in der Tat) als es die tatsächliche Entwicklung der Arbeiterklasse ignoriert.”
(Trotsky, Writings, 1935-36, p.153, Übersetzung durch uns).

 

Diese Zeilen verdeutlichen makellos die Quintessenz des Sektierertums. Dies spiegelt sich wider in jeder Zeile von Oviedos Artikel. Die Art und Weise, in welcher er an die COB herantritt, bezeugt die hochmütige sektiererische Haltung, die Arbeiter befremdet und die zur Isolation der revolutionären Strömung von den Massen führt. Das ist der Grund, warum ultralinke Gruppen ewig zur Unfruchtbarkeit verdammt sind. Dies gilt selbst in solchen Fällen, wie dem der PO, bei denen sie es bewerkstelligen konnten, eine relativ große Gruppe mit ein paar tausend Leuten aufzubauen. Natürlich, es handelt sich hier um eine bedeutsame Leistung. Aber das ist erst der Anfang. In einem Land wie Argentinien bleibt eine Partei von zwei bis drei tausend Mitgliedern noch immer sehr klein im Verhältnis zur Größe der Arbeiterklasse.

 

Die Frage stellt sich in noch größerer Deutlichkeit im Falle von Großbritannien, wo die gesamte organisierte Arbeiterschaft sich in den Gewerkschaften befindet und die wichtigsten Gewerkschaften der Labour Party angegliedert sind. Bereits im Jahre 1932 empfahl Trotzki seinen Genossen in Großbritannien, in die Labour Party einzutreten. Als die zentristische ILP in diesem Jahr die Labour Party verließ, hatte sie eine Anhängerschaft von zumindest 100 000 Arbeitern. Das ist wesentlich mehr als die PO gegenwärtig vorweisen kann. Welchen Rat gab der alte Mann ihnen? Trotzkis Ratschlag an die ILP umfasste drei Aspekte: a) erarbeitet eine wahrhaft marxistische Politik, b) kehrt Euch ab von den Stalinisten und wendet Euch den Gewerkschaften und der Labour Party zu und c) schließt Euch der Vierten Internationale an.

 

Obwohl die ILP eine bemerkenswerte Basis unter den fortgeschrittenen Arbeitern besaß, bestand Trotzki dennoch darauf, dass sie in die Labour Party eintreten sollten, welche immer noch das Vertrauen von Millionen von Arbeitern genoss. Indem er die Entschuldigungen der ILP Führer – es gäbe keine wirkliche Linke in der Labour Party, sie würden ausgeschlossen werden und so weiter – verwarf, stritt er für die Arbeit innerhalb der LP:

 

“Es gibt ehrliche zentristische Stimmungen der Massen und es gibt bewußt lügende zentristische Vorhaben der alten parlamentarischen Betrüger der Massen. Aber solche Vorhaben sind notwendig geworden, gerade wegen der Verschiebung der Parteibasis nach links. Im Wesentlichen steht die Sache auch mit der britischen Labour Party nicht anders, obwohl sie in Geschwindigkeit  und äußerer Form ziemlich anders ist.”

(Trotsky, Writings, 1933-34, p.265 ).

In seiner Auseinandersetzung mit den Führern der ILP kritisierte sie Trotzki dafür, dass sie, zum falschen Zeitpunkt und aufgrund des falschen Streitpunktes, mit der Labour Party gebrochen hatten. (Anstatt dass es um ein politisches Thema gegangen wäre, welches die Masse der Labour-Arbeiter hätte nachvollziehen können, spalteten sie sich aufgrund einer organisatorischen Frage ab – die Unabhängigkeit der Parlamentsfraktion der ILP):

 

“Die ILP hat mit der Labour Party hauptsächlich um der Unabhängigkeit ihrer Parlamentsfraktion willen gebrochen. Wir treten hier nicht in die Erörterung der Frage ein, ob der Bruch im damaligen Augenblick richtig war, und ob der ILP daraus der Gewinn erwuchs, den sie sich davon erhoffte. Wir glauben nicht. Aber Tatsache bleibt, daß für jede revolutionäre Organisation in England das Verhältnis zu den Massen, zur Klasse, beinahe zusammenfällt mit dem Verhältnis zur Labour Party, die sich auf die Trade-Unions stützt. Die Frage, ob gegenwärtig inner- oder außerhalb der Labour Party arbeiten, ist keine prinzipielle, sondern eine Frage der realen Möglichkeiten. Auf jeden Fall - ohne starke Fraktion in den Trade-Unions und somit auch in der Labour Party- ist die ILP heute zur Ohnmacht verurteilt.”

(Trotsky, Writings 1935-36, pp.141-143, Übersetzung durch uns.)

 

Um mit unserer Lernstunde für kleine Kinder fort zu fahren: In Großbritannien sind die Massenorganisationen der Arbeiterklasse die Labour Party und die Gewerkschaften. Wir werden beschuldigt, in diesen Organisationen für eine „längere“ Periode gearbeitet zu haben. In diesem Punkt der Anklage bekennen wir uns schuldig! In Großbritannien wäre jede Tendenz, die von sich behauptet, marxistisch zu sein, solch eine Form der Arbeit allerdings ablehnt, zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Wer dies bezweifelt, dem steht es frei, sich den Memoiren jener selbsternannten marxistischen Gruppen zu widmen, die für eine weitaus „längerfristige Periode“ in ihrem Wolkenkuckucksheim an „revolutionären Phantomparteien“ gebastelt haben und dabei nur in einer kompletten Farce endeten.

 

Trotzkis Methode offenbart sich absolut eindeutig in den oben zitierten Passagen. In Großbritannien, wo Millionen von Arbeitern in und um die Gewerkschaften und die Labour Party organisiert sind, verbleibt sogar eine Partei von 100 000 allenfalls eine etwas größere Sekte. Was würde er wohl sagen über die kleinen Grüppchen außerhalb der Labour Party? Die SLP ist schmachvoll kollabiert, obwohl sie von einem recht bekannten Gewerkschafter geführt wird, dem Führer der Bergarbeiter, Arthur Scargill. Die Socialist Alliance, geführt von der SWP, ist gespalten und in der Krise.

 

Trotz der kolossalen Unzufriedenheit mit Blair erkennen die Arbeiter in diesen Gruppen keine seriöse Alternative. Sie erhalten eine spärliche Anzahl von Stimmen und blitzen mit eintöniger Regelmäßigkeit ab. Auf der anderen Seite gibt es eine scharfe Linkswendung innerhalb der Gewerkschaften, von denen die überwiegende Mehrzahl der Labour Party angegliedert ist. Die marxistische Tendenz, in Großbritannien durch Socialist Appeal repräsentiert, hat an diesem Prozess großen Anteil. Und die Geschichte bezeugt, dass eine Linkswendung in den Gewerkschaften morgen ihren Widerhall in der Labour Party finden muss.

 

Sektierertum und die Massenorganisationen

 

Welche Haltung sollten Marxisten gegenüber der COB und ihrer Führung einnehmen? Für die ultralinken Gruppen liegt die Antwort, wie immer, bar auf der Hand. Ihre Haltung gegenüber den Arbeiterorganisationen ist immer dieselbe: schrille Denunziationen des Verrates, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 52 Wochen pro Jahr, jedes Jahr. Seht ihr nicht, das Problem ist so einfach! Alles, dessen es bedarf ist Schreierei mit überschlagender Stimme, dass jeder andere ein Verräter ist, dass die Massen endlich aufhören sollten, geistesarm diesen Verrätern zu folgen und anstelle dessen der PO folgen müssen. Dann wäre schließlich alles in bester Ordnung!

 

Das Problem ist, dass, trotz jedweder schrillen Denunziationen und Aufschreie, die Massen den ultralinken Gruppen nicht folgen, sondern engstirnig loyal zu ihren traditionellen Massenorganisationen halten. Sie werden nicht überzeugt werden von Verleumdung und Beleidigung. Ganz im Gegenteil, solche Annäherungen werden allenfalls helfen sie zu vergraulen, sie weiter in die Arme der Führer zu drängen und die Trotzkisten zu diskreditieren, welche dann vor den Massen als sektiererische Spalter und Zerstörer erscheinen. Das ist das Bild, das die Stalinisten seit Jahrzehnten versucht haben von den Trotzkisten zu malen. Leider dienen die Aktionen der ultralinken Gruppen dazu, diese Karikatur zu bestätigen. Sie haben den Trotzkismus überall in den Augen der Arbeiter verunstaltet. Dies ist ein Verbrechen, das ihnen niemals vergeben werden kann.

 

Die pseudo-marxistischen Sektierer handeln nicht auf der Grundlage der realen Bewegung der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen. Sie arbeiten stattdessen mit idealen Kategorien, Abstraktionen, außerhalb von Zeit und Raum. Sie haben die feste und unerschütterliche Vorstellung, dass die Gewerkschaftsführer unfähig sind, den Klassenkampf zu führen. Allgemein gesprochen ist etwas dran, dass ein erfolgreich geführter Kampf eine durchwegs geradlinige revolutionäre Perspektive und Politik voraussetzt, was diese Führer nicht besitzen. Deshalb, auch im besten Fall, werden sie nur zu unbefriedigenden Kompromissen gelangen, selbst wo sie ehrlicherweise kämpfen wollen, was oftmals nicht der Fall ist.

 

Ja, all das ist wahr, und im Grunde gehört es zum Einmaleins des Marxismus. Doch selbst die  Gewerkschafter vom äußersten rechten Flügel können, unter dem Druck der Arbeiterklasse, anfangen zu führen und sogar weiter gehen als sie es beabsichtigten. Es ist notwendig, die Bewegung konkret zu analysieren, ihr durch jedes Stadium zu folgen und nicht Zuflucht zu nehmen zu abstrakten Verallgemeinerungen  über die Rolle des Reformismus und ähnliches. Wo auch immer Gewerkschaftsführer einen halben Schritt nach vorne tun, ist es nötig, den Druck vorwärts zu schreiten, zu erhöhen. Wie Marx und Engels es so treffend formuliert haben, müssen die Marxisten in der ersten Reihe derer stehen, die für die Besserstellung der Arbeiterklasse kämpfen, während sie zur gleichen Zeit den Arbeitern geduldig erklären, worin die Notwendigkeit einer totalen revolutionären Umwälzung liegt. Das ist die Aufgabe der Marxisten in den Gewerkschaften. Es ist eine Aufgabe, die die Verbindung von Festigkeit in prinzipiellen Fragen mit der nötigen Flexibilität in Taktiken verlangt. Ohne den einen oder den anderen Aspekt würden wir nirgendwohin gelangen.

 

Nachdem er diese grundsätzliche (und falsche) These bezüglich unserer vermeintlichen „Auflösung“ in die Massenorganisationen herausgestellt hat, fährt Luis Oviedo fort, seine Leser misszuinformieren: „In Bolivien – und es könnte gar nicht anders sein – sind sie die glühenden Verteidiger der Bürokratie der COB.“ Da Luis Oviedo entweder unsere Artikel nicht gelesen hat, oder auch sonst nicht die leiseste Absicht hat, seine Leser über die wahren Positionen unserer Tendenz zu informieren, könnten seine letzten Verdrehungen auch „gar nicht anders sein“.

 

Aber halt! „Da ist noch mehr“, flüstert Luis, mit der Miene des Geheimniskrämers, der drauf und dran ist, eine schreckliche Verschwörung aufzudecken. Was ist diese Verschwörung? Luis sagt es uns:

 

„In Bezug auf die neue Regierung schreibt Woods, dass 'es bei den Massen ein tief sitzendes Mißtrauen gibt, das sich in der Unversöhnlichkeit ihrer natürlichen Führer ausdrückt' . Was diese vermeintliche ,Unversöhnlichkeit’ des COB, der Bauernföderation von Quispe[2] oder des MAS von Evo Morales anbelangt, sei erwähnt, dass alles die Maßnahmen des Kampfes aufgehoben und den Burgfrieden mit der neuen Regierung geschlossen hat. Aber der entscheidende Aspekt ist der ehrerbietige Respekt den Woods für die Bürokratien der Bewegung hegt, welche er als ihre 'natürlichen Führer' bezeichnet. Das ist aber eine originelle Kategorie. Die Führer, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Geschichte an der Spitze einer Klasse finden, sind keine Konsequenz der Natur, sondern viel mehr des politischen Kampfes zwischen verschiedenen Tendenzen innerhalb dieser Klasse (was die Agenten der gegnerischen Klassen, wie die Bürokratie, mit einschließt). Indem er Quispe und Solares als die 'natürlichen Führer' der Bauern und Arbeiter bezeichnet, erklärt Woods im Voraus, dass er den Kampf für eine alternative revolutionäre Führung in den Massenorganisationen aufgibt.“

 

Zunächst, wenn Oviedo die Formulierung „natürliche Führer der Arbeiterklasse“ kritisiert, so zitiert er fälschlich, was wir geschrieben haben. Was unser Artikel eigentlich besagt, ist das Folgende:

 

Unter den Führern des COB gibt es eine zahlenmäßig große Schicht, die man die natürlichen Führer der Arbeiterklasse nennen könnte. Sie sind die lokalen Führer, die das Vertrauen der Arbeiter und Bauern durch ihre Ehrlichkeit, Courage und Kampfbereitschaft gewonnen haben. Sie werden eine entscheidende Rolle spielen in der Revolution. Sie stehen den Massen nahe und reflektieren somit ihren revolutionären Geist. Wenn sie in einer revolutionären Partei vereinigt wären, so wäre die Zukunft der Revolution garantiert.“

 

Ist das nicht eindeutig? Wir beziehen uns nicht auf die Führer des COB oder auf Quispe und Morales, sondern auf die Schichten der aktiven Arbeiter unterhalb der Führungsebene des COB.

 

Selbst wenn er über die Führung des COB schreibt, zeigt Oviedo, dass er nichts versteht. Er behauptet, wir befürworteten eine „bedingunglose Unterstützung der Führung des COB.“ Und für Luis Oviedo sind die Führer des COB dieselben wie Quispe und Evo Morales – sie bilden allesamt einen reaktionären Block. Das ist eine typisch sektiererische Haltung. Er unterschlägt alle konkreten Elemente der Gleichung und vermengt alles in einem Topf. So wird es wesentlich leichter für die PO sich selbst zu inszenieren, und nur sich selbst, als die Führung. Alles, was nötig ist, ist sich selbst als solche zu proklamieren. Dann werden die Arbeiter ihre existierenden Führer links liegen lassen und hereingeschneit kommen zur PO, und alles wird eitel Sonnenschein.

 

Die Methode ist die Einfachheit höchst persönlich: Wir bezichtigen lediglich die bestehenden Führungen des Verrats, rücken uns selbst vor als Alternative und rufen die Massen auf, uns zu folgen. Das ist die Lösung des Problems! Oder vielleicht doch nicht? Wenn alles Nötige zum Aufbau der revolutionären Partei allein ihre Verkündung wäre, so wäre jeder feiste Sektierer der Geschichte so groß wie Marx, Lenin und Trotzki zusammengenommen. Bedauerlicherweise ist es nicht so einfach.

 

Es bedarf keiner plumpen Verallgemeinerungen, sondern des Blickes auf die lebendige Bewegung der Arbeiterklasse und ihre Entwicklung. Im Allgemeinen ist die Rolle der reformistischen Sozialdemokraten und Gewerkschaftsführer natürlich keine andere als die Massen im Zaume zu halten. Aber es langt nicht, über die Arbeiterbewegung und ihre Führungen „im Allgemeinen“ zu sprechen. Es ist notwendig, die konkreten Bedingungen jedes einzelnen Falles zu berücksichtigen. Auf den Massenorganisationen, speziell den Gewerkschaften, lastet der Druck der Arbeiterklasse. In den Phasen, in denen die Massen zur Aktion schreiten, können sie in den Widerstand gedrängt werden und sogar weiter gehen, als es die Führer beabsichtigen.

 

Die Marxisten in Bolivien blieben völlig machtlos, wenn sie nicht in der Lage wären, ernsthafte Arbeit im COB zu verrichten und seine Mitgliedschaft für sich zu gewinnen. Dazu ist es notwendig, eine geduldige und freundliche Haltung einzunehmen, in der Weise, wie es Lenin 1917 tat, als er den Bolschewiken empfahl, die russischen Arbeiter, welche in ihrer überwältigenden Mehrheit noch den menschewistischen und sozialrevolutionären Führern in den Sowjets und Gewerkschaften folgten, „geduldsam aufzuklären“. Es ist unnützer als nutzlos, die Vorstellung zu hegen, man könne die Arbeiter mit Gezeter und Geschrei von den Seitenlinien über „Verrat“ für sich gewinnen. Dieses Verhalten ist um vieles wahnwitziger in einer Situation, in der Gewerkschaftsführer im Kampf verwickelt sind.

 

In diesem speziellen Fall, riefen die Führer des COB, trotz all ihrer Fehler und Defizite, einen Generalstreik aus. Solares war es, der sogar die Formierung von Arbeitermilizen forderte und in einem Interview nach seiner Wahl zum Führer sagte: „Die erste Aussage ist alle Arbeiter und das bolivianische Volk zur Vereinigung aufzurufen, sich zu organisieren und zu kämpfen, bis das neoliberale Modell und das ausbeutende kapitalistische System zerstört sind, und eine Arbeiter-Bauern-Regierung zu errichten, zusammen mit allen unterdrückten und ausgebeuteten Sektionen.“ (El Deber, 18. August 2003)  In einem Interview nach dem Oktoberaufstand verlautbarte Solares: „Wir hoffen, bald eine Arbeiter-Bauern-Regierung zu haben mit einem sozialistischen Programm.“ (La Razón, 3. November 2003)

 

Luis Oviedo wird sagen: Aber es sind doch nur Worte. Ja, natürlich, aber wie werden die Massen der Arbeiter und Bauern diese Worte sehen? Sie werden sagen: Ja, das ist es, was wir wollen! Und was wird Luis Oviedo den bolivianischen Arbeitern und Bauern entgegnen? „Trauet nicht den Führern des COB! Das sind Lügner! Sie haben nicht die Absicht eine Revolution zu führen. Sie werden Euch betrügen!“ Und wie werden die bolivianischen Arbeiter antworten? Sie werden sagen: Wovon redest Du? Unsere Führer riefen den Generalstreik aus. Sie stehen gegen das Regime der kapitalistischen Ausbeutung. Und ihr Typen seid nichts weiter als Spalter und Zerstörer.“

 

Nach den letzten Ereignissen wird die Autorität der COB Führer unter den Massen der einfachen Arbeiter und armen Bauern hoch sein. Das liegt auf der Hand. Unsere Aufgabe ist es, diese Arbeiter und Bauern zu erreichen. Wie ist das zu tun? Sicherlich nicht mit Hilfe von Beleidigungen und Verleumdungen der Führer, während diese auf den Druck der Massen reagieren und zur Tat schreiten. Was wir sagen müssen, ist: Sehr gut bis hierhin, doch müssen wir weiter gehen! Unsere Bewegung hat die enormen Kraftreserven der Arbeiterklasse gezeigt, sobald sie zur Veränderung der Gesellschaft Gewehr bei Fuße stand. Doch unser Werk ist hier noch nicht getan. Die Oligarchie hat noch immer die Macht in Händen. Wir brauchen einen weiteren Generalstreik und Aktionskomitees über das ganze Land verteilt. Den Führern des COB entgegnen wir, was wir brauchen, ist die Aktion, nicht Phrasendrescherei! Tuet, was ihr sagt!“ Das ist der einzige, korrekte Weg die Frage zu stellen. Und das ist genau der Weg, wie wir ihn in unserem Artikel beschrieben. Nur ein sektiererischer Ignorant, dem die Fähigkeit zu denken fehlt, könnte dagegen protestieren.

 

Klasse, Partei und Führung

 

„In Bolivien, “ fährt Oviedo fort, „sind sie die glühenden Verteidiger der Bürokratie des COB (Central Obrera Bolivia – Zentral Arbeiterkonföderation Boliviens).“

 

Es liegt nicht ein Körnchen Wahrheit in dieser Behauptung. Worauf ist sie begründet? Luis Oviedo grabscht nach ein paar isolierten Zitaten: „Ihre Bilanz der Ereignisse in Bolivien (Bolivia – The Key to the Andean Revolution, von Alan Woods und Jorge Martín) verspricht der Führung des COB uneingeschränkte Unterstützung.“ Was meint er damit?

 

„Die COB Führung zeigte großen Mut und Entschlossenheit im Generalstreik. (…) Die Führer des COB haben eine sehr positive Rolle gespielt. Sie zeigten große persönliche Integrität und Tapferkeit in der Führung des Kampfes gegen Lozada.“

 

Und er schließt feierlich: „Bessere Verteidiger von Jaime Solares dürften selbst unter den Anhängern der COB Bürokratie schwerlich zu finden sein.“

 

Oviedo ist sich im Unbehagen darüber bewusst, dass er Lügen verbreitet und deshalb ist er gezwungen, schon im nächsten Satze sein bloßes Hinterteil zu bedecken: „Um sich abzusichern, fügt Alan Woods hinzu, dass ,jetzt mehr als Integrität und Tapferkeit erforderlich ist: Was gebraucht wird ist eine klare Perspektive zur Machtergreifung, sowie ein Programm und Taktiken, die dieser Perspektive gerecht werden’. Das heißt, eine ,Perspektive der Macht’ braucht es, nachdem man den Moment zum Kampf für die Macht hat verstreichen lassen, den Aufstand des 17. Oktober.“

 

Luis Oviedo erzählt den Mitgliedern der PO nur soviel über unsere Position wie er gut für ihre Gesundheit hält – im Grunde, nicht viel. Bequemlich vergisst er das Folgende zu zitieren:

 

„Die COB Führung zeigte großen Mut und Entschlossenheit im Generalstreik. Aber was gebraucht wird, ist ein klarer Plan, eine Strategie und Politik. Wessen es bedarf, ist eine Perspektive zur Machtergreifung. Daran scheint es zu mangeln, und genau dies kann die ganze Revolution auf Grund laufen lassen. Der Generalsekretär des COB, Solares, stattete dem neuen Präsidenten einen Besuch ab. Und augenscheinlich bezog er eine Haltung der bedingten Unterstützung, d.h. ihn zu unterstützen, solange er gegen Korruption kämpft, mehr Arbeitsplätze schafft und den Arbeitern gerechte Löhne gewährt, etc. Das ist ein schlimmer Fehler. Die bürgerliche Regierung Mesas wird genauso korrupt sein wie die Regierung Lozadas. Sie kann keine Arbeitsplätze und gerechte Löhne zur Verfügung stellen, weil ihre Hände durch den IWF und die Weltbank gefesselt sind. Sie ist die Regierung der Oligarchie und muss deren Interessen vertreten. Forderungen an solch eine Regierung herantragen, die Interessen der Arbeiter und Bauern zu verteidigen, ist etwas völlig Utopisches“

 

„Es wird behauptet, der neue Präsident zeige Interesse an den Punkten, die Solares hervorbrachte, und die Türen des Präsidentenpalastes stünden den COB Führern offen. Aber dies ist ein Fall von „Komm in mein Versteck, sagte die Spinne zur Fliege“. Heute noch zeigt der Präsident Interesse (wie könnte er auch nicht interessiert sein an den Menschen, die gerade seinen Vorgänger vom Throne stürzten?), aber morgen schon wird er seine Zähne zeigen. Die Idee, es sei alles eine Frage des „guten Willens“, ist falsch. Was entscheidet, ist nicht der gute oder schlechte Wille von Individuen, sondern das Interesse der Klassen. Und die Interessen der bolivianischen Arbeiter und Bauern sind nicht vereinbar mit denen der Oligarchie und des Imperialismus. Je früher dieses Faktum verstanden ist, desto besser. Die Gründe für Mesas „Vernunft“ sind nicht schwer zu finden. Die Bourgeoisie hat gerade eine ernsthafte Niederlage erlitten. Sie kann sich nicht der Gewalt bedienen und ist zu einem taktischen Rückzug gezwungen, um versöhnlich zu erscheinen, um Versprechungen zu machen, in der Hoffnung, die Massen zu befrieden, bis die Zeit reif ist für einen konterrevolutionären Gegenschlag.“ (Bolivia – The Key to the Andean Revolution)

 

Nun, mein Freund Luis, lass uns für einen Moment lang ernst sein. Klingen so die Worte der „glühenden Verteidiger der Bürokratie des COB“?

 

Unsere Tendenz hat beständig die Perspektive der Arbeitermacht für Bolivien vertreten. Das ist unsere Position und Oviedo ist widerstrebend gezwungen dies zuzugeben. In dem Artikel, welchen er so selektiv zitiert, äußern wir nicht nur die Perspektive der Macht, sondern zeigen konkret, wie diese erfüllt wird. Oviedo aber fährt fort mit seinen Fehlinterpretationen, indem er folgenden Satz, wie gehabt außerhalb des Zusammenhanges, zitiert: „Den Arbeitern (…) gelang es, den Präsidenten zu stürzen, aber dann ließen sie zu, dass ihnen die Macht durch die Finger glitt.“ Das verleitet Luis zu regelrechten Anfällen der Entrüstung:

 

„Aber diejenigen, die Mesa gestatteten, ins Amt zu gelangen, waren nicht die Arbeiter, sondern deren Führer, unter ihnen auch die Bürokratie des COB, die den Wechsel des Präsidenten mit einem Pakt mit der Kirche, den Parteien des Regimes, den Unternehmern und brasilianisch-argentinischen Diplomaten besiegelte. Um die Politik der Bürokratie des COB rein zu waschen, beschuldigt Socialist Appeal die Massen.“ (Unsere Hervorhebung) Hier betreten wir das Reich des puren Surrealismus. Stimmt es, dass wir die Arbeiter beschuldigen, es verpasst zu haben, die Macht zu ergreifen? Nein, es stimmt nicht, und Oviedo weiß es sehr gut. Dennoch, kehren wir zurück zur Position Lenins im Jahre 1917. Im Verlauf der Aprilkonferenz behandelt Lenin das Thema der Februar Revolution und wirft die Frage auf, warum die Arbeiter nicht die Macht ergriffen:

 

„Warum ist die Macht nicht ergriffen worden? Steklow sagt: aus dem und dem Grunde. Das ist Unsinn. Die Sache ist die, daß das Proletariat nicht klassenbewußt genug und nicht organisiert genug ist. Das muß man zugeben; die materielle Kraft ist beim Proletariat, die Bourgeoisie aber war klassenbewußt und vorbereitet. Das ist eine ungeheuerliche Tatsache, aber man muß sie offen und unumwunden zugeben und dem Volke erklären,  daß die Massen darum die Macht nicht ergriffen haben, weil sie unorganisiert und nicht genügend klassenbewußt sind ... Der Ruin von Millionen, der Tod von Millionen. Die fortgeschrittensten Länder gehen zugrunde, und eben deshalb sehen sie sich vor die Frage gestellt ... “ (Lenin Werke Band 36, S.425)

 

Bedeutete das, Lenin schob den Arbeitern die Schuld dafür in die Schuhe, die Macht nicht übernommen zu haben? Solch eine Schlussfolgerung wäre eine absurde Entstellung – wie die monströse Entstellung unseres Artikels verübt durch Luis Oviedo. Diese Zeilen Lenins passen ebenfalls zur jüngsten Bewegung in Bolivien. Jeder, der unseren Artikel liest, käme niemals auf die Idee, wir beschuldigten die Massen dafür, was passiert ist, genau wie es Lenin fern lag, das russische Proletariat wegen der Fehlgeburt der Doppelherrschaft zu beschuldigen. Aber, was sich uns hier zeigt, ist die furchtlose Ehrlichkeit, mit welcher Lenin allezeit der Arbeiterbewegung gegenüber trat. Er nannte die Dinge stets beim Namen.

 

Wir wären liebend gerne nachsichtig. Vielleicht geschehen diese Entstellungen nicht aus freien Stücken. Vielleicht braucht Luis eine neue Brille oder vielleicht ist er einfach nur unfähig zu verstehen, was er liest. In jedem Falle aber, laden wir jedes Mitglied der PO dazu ein, zu lesen, was wir geschrieben haben und seine oder ihre eigenen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. In der Zwischenzeit lasset uns ein der unzähligen Passagen unseres Artikels zitieren, die dies bezeugen und welche Luis wegen seiner Sehschwäche oder seines mangelhaften Verständnisses übersehen hat:

 

Die großartige bolivianische Arbeiterklasse hat sich selbst an die Spitze der Nation gestellt, als Führer und Sprecher der Bauernschaft, der indigenen Bevölkerung und aller anderen ausgebeuteten und unterdrückten Schichten der Bevölkerung. Das ist ein äußerst bedeutender Tatbestand, nämlich einer, der für den Ausgang der bolivianischen Revolution entscheidend ist!“ (Hervorhebung im Original)

 

Der gesamte Inhalt und Ton des Artikels ist erfüllt von Vertrauen in die Arbeiter und seine Hauptaussage ist, dass die Arbeiter Boliviens die Macht ergreifen können und müssen, und dass eine revolutionäre Partei mit einer revolutionären Führung unabdingbar ist. Wir betonen, dass solch eine Führung fehlt und, wenn dieser Moment zeitweilig eine Niederlage markierte, dies vollständig auf das Problem der Führung zurückgeht. Die Arbeiterklasse kann nicht sofort revolutionäre Schlussfolgerungen ziehen. Die Massen lernen einzig durch die Erfahrung und sie müssen eine Reihe von schmerzhaften Erlebnissen ertragen, ehe sie sich schließlich der revolutionären Tendenz zuwenden. So war es der Fall 1917, und so wird es auch in Bolivien sein. Es ist recht natürlich, dass die bolivianischen Arbeiter und Bauern ihren traditionellen Organisationen und Führungen trauen. Sie testen diese Organisationen und Führer viele Male in Aktion, bevor sie nach Alternativen suchen. Und wenn sie dies tun, werden sie zuerst versuchen, die Organisationen zu verändern.

 

Zur gegenwärtigen Zeit folgen die Arbeiter Boliviens den Führern des COB und die Bauern Leuten wie Quispe. Der Bauernführer Felipe Quispe sprach der Regierung ein Ultimatum von 90 Tagen aus, auf die Forderungen der Bauern einzugehen, ansonsten würde er „den Aufstand zur Machtergreifung“ (bolpress.com, 18. Oktober) ausrufen. In einem Interview entgegnete er weiter, dass ihr „äußerstes Ziel für die Mehrheit der Bevölkerung, Indianer und Ureinwohner darin liegt, die Macht zu ergreifen und zusammen mit der Arbeiterklasse zu regieren“ (La Razon, 3. November). Er forderte ebenfalls Neuwahlen. Wird Quispe bei dieser Position bleiben? Wir wissen es nicht. Aber wir wissen, dass diese Forderungen richtig sind und dass sie den Druck der armen Bauern widerspiegeln. Welche Haltung sollten wir dazu einnehmen? Die Bauern darüber aufklären, dass Quispe ein Verräter ist, dass es keinen Unterschied gibt zwischen ihm und Mesa? Das ist es, was die PO sich erdreistet zu sagen. Darin liegt kaum ein Weg zu den armen Bauern, die Illusionen in Quispe hegen.

 

Natürlich kann gesagt werden, dass es keinen Unterschied gibt zwischen einem reformistischen Politiker und der Bourgeoisie, in einem gewissen Sinne ist dies richtig. In derselben Art und Weise kann man sagen, dass es keinen fundamentalen Unterschied zwischen linkem und rechtem Reformismus gibt. Im Großen und Ganzen gehört der Verrat zu allen Formen des Reformismus. Aber solche Abstraktionen verhelfen uns nicht, die konkrete Situation der Arbeiterbewegung zu verstehen, geschweige denn in diese einzugreifen. Sie sind abstrakte Aussagen, es mangelt ihnen am Konkreten. Aber, wie Hegel es sagte und Lenin dies oft wiederholte: die Wahrheit ist immer konkret.

 

Die Reformisten – selbst die aufrichtigsten und die Linksreformisten – tendieren in letzter Konsequenz stets zum Verrat, weil sie den Kapitalismus als gegeben hinnehmen und im Endeffekt ihre Angst vor den Massen größer ist als ihr Hass auf die herrschende Klasse. Das ist allgemein gesprochen richtig. Aber es schließt in keiner Weise die Möglichkeit aus, dass zu einem gewissen Moment die Reformisten durch die Massen dazu gedrängt werden können, einen radikalen oder sogar halb-revolutionären Standpunkt einzunehmen.

 

Nehmen wir den Fall Largo Cabelleros in Spanien. Er war sozialistischer Gewerkschaftsführer und gehörte in den 20er Jahren der Regierung des bonapartistischen Diktators Primo de Rivera an. Später, unter dem Druck der Arbeiterklasse, rückte Largo Caballero sehr weit nach links und sprach sogar über die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats, was ihm den Namen des spanischen Lenins einbrachte. Im Oktober 1934 ging er soweit, einen revolutionären Generalstreik auszurufen, der die Bildung der Asturischen Kommune auslöste. Natürlich war Caballero kein echter Marxist, sondern ein Zentrist, der zwischen linkem Reformismus und Marxismus schwankte. Aber der Zentrismus ist ein unausweichliches Stadium, das aus einer Massenbewegung hervorgeht, wenn die Arbeiter sich vom Reformismus abkehren und beginnen, revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen. In welcher Weise der revolutionäre Flügel zu diesem Phänomen steht, ist eine Frage von entscheidender Bedeutung, wie es auch Trotzki viele Male erklärte.

 

Noch deutlicher ist der Fall der spanischen Jungsozialisten, die, nach der Erfahrung der Kommune, sich revolutionären Positionen näherten. Sie befürworteten den Bruch mit der Sozialdemokratie und dem Stalinismus und zeigten sich der neuen (Vierten) Internationale zugeneigt. Aber Andres Nin und die so genannten spanischen Trotzkisten bezogen eine sektiererische Haltung in Bezug auf die Jungsozialisten, und die Gelegenheit wurde verspielt. Als Resultat übernahmen die Stalinisten die Jungsozialisten und erhielten eine Massenbasis. Dies führte direkt zur Niederschlagung der spanischen Revolution. Trotzki brach alle Beziehungen zu Nin ab, dessen Handlungen er als Verrat titulierte. Was würde er wohl zur PO sagen, die dieselben sektiererischen und ultralinken Argumente eines Nin wiederholt?

 

Ähnliche Entwicklungen sind in der gegenwärtigen Epoche absolut möglich. Die Krise des Kapitalismus ist eine Krise des Reformismus. Reformismus ohne Reformen ist sinnlos. Wir werden das Aufkommen linksreformistischer oder sogar zentristischer Massenbewegungen sehen. Welche Haltung sollten wir zu solchen Bewegungen beziehen? Die Haltung der PO kann im Voraus vorhergesagt werden. Aber welchen Rat gab Trotzki seinen Anhängern zu diesem Thema in den 30ern? Trotzki, der sowohl die Massenorganisationen als auch die Psychologie der Arbeiter gut verstand, empfahl den Trotzkisten eine geduldige, positive und freundliche Haltung einzunehmen, wie wir dies aus seinem Brief an Cannon (März 1936) „Zur Arbeit in  der SP“ ersehen, wo er folgendes sagt:

 

”Was die Kritik an der zentristischen Führung anbelangt, so kommt es unbedingt auf folgendes an: diese Kritik sollte sich nicht auf Nebensächlichkeiten konzentrieren, die nur die sozialistische Anhängerschaft irritieren können, sondern sollte sich auf gut ausgewählte und wichtige Fragen konzentrieren. Es besteht nämlich die Gefahr, daß unsere Genossen in Versammlungen die zentristischen Oberflächlichkeiten und Platitüden mit spöttischem und verächtlichem Unterton kommentieren. Dies kann gleich zu Beginn eine für uns nachteilige Atmosphäre schaffen. Das einfache Mitglied hat nämlich nicht die gründliche politische Schulung und kann deshalb nicht immer das Niveau unserer Kritik begreifen und nachvollziehen. Daher kann Ironie, selbst wenn sie gerechtfertigt ist, bei der Basis Verdacht wecken und Verärgerung auslösen. Die zentristischen Führer können dann solche Gefühle gegen uns mobilisieren. Daher kommt es unbedingt auf die größte Geduld, Gelassenheit und einen ruhigen, freundlichen Ton an.” (Trotsky, Writings, 1935-36, p268).

 

   Aus diesem Brief läßt sich ebenso herauslesen, daß Trotzki unzufrieden damit war, wie die französischen Trotzkisten in der SP arbeiteten:

 

“Nebenbei gesagt wurde auch in Frankreich zu viel Energie darauf verwandt, die Führer rein mit Phrasen zu entlarven, und zu wenig Zeit für eine gründliche Basisarbeit insbesondere an der Jugend.”

 

All diese Kritik kann auch an die PO und andere ultralinke Gruppen gerichtet werden. Sie haben nicht ein Sterbenswörtchen von dem verstanden, was Trotzki und Lenin schrieben. Luis Oviedo mag unseren Artikel nicht. Warum aber? Weil dieser Artikel die Führer des COB konstruktiv kritisiert – in einer Art, die einen Widerhall unter den Mitgliedern der Gewerkschaft finden könnte. Er bezichtigt sie nicht des Verrats oder klärt die Mitglieder darüber auf, dass ihre Führer dasselbe seien wie die Bourgeoisie! Er sagt den Führern: Sehr gut, bis hierin, aber jetzt müsst ihr die Macht ergreifen! Das heißt also, er übernimmt die Methode Lenins und der Bolschewiki im Jahre 1917, dieselbe Methode, die Trotzki seinen französischen Unterstützern nahelegte.

 

,Eine originelle Bezeichnung’?

 

Im Abschnitt Das Problem der Führung schrieben wir folgendes:

 

„Die bolivianische Revolution scheint einen rein spontanen Charakter zu haben. Aber das ist so nicht ganz richtig. Erstens fiel sie nicht wie ein Donnerschlag aus blauem Himmel, sondern wurzelte in der vorangegangenen Periode. Zweitens wurde sie durch die natürlichen Führer der Arbeiterklasse geführt, die klassenbewussten Kämpfer des COB. Drittens purzelten diese Kämpfer nicht aus den Wolken, sondern wurden geschult auf der Grundlage der Ideen, die seit Jahrzehnten in der bolivianischen Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung kursierten – der Ideen des Trotzkismus.“

 

„In Russland vor 1917 waren Zehntausende von kämpferischen Arbeitern durch die Schule der bolschewistischen Propaganda gegangen. In Bolivien sind die Ideen und das Programm des Trotzkismus den aktiven Arbeitern sogar noch länger geläufig. Die Thesen von Pulacayo aus dem Jahre 1946, beschlossen von der Förderation der Bergarbeiter, sind nichts anderes als Trotzkis Übergansprogramm übertragen auf die konkreten Bedingungen Boliviens. Sie betonen im Wesentlichen die Notwendigkeit der Machtergreifung durch die Arbeiter im Bündnis mit den Bauern, um dann zum Sozialismus fortzuschreiten. Sie müssen die Grundlage sein, auf welcher die Bewegung jetzt ihr natürliches Ziel erreichen kann: das Ziel der Arbeiterregierung.“ (Bolivia – The Key to the Andean Revolution)

 

Luis Oviedo macht sich lustig über unsere Formulierung „die natürlichen Führer der Arbeiterklasse“ („Es ist eine originelle Bezeichnung“). Aber sein Humor ist absolut fehl am Platz. Dies zeigt, dass er nicht die geringste Ahnung davon hat, wie sich die Arbeiterklasse oder die dialektische Beziehung zwischen Klasse, Partei und Führung entwickelt. Trotzki erläuterte dies viele Male, ganz besonders in seiner Geschichte der Russischen Revolution. Natürlich habe die ultralinken Gruppen dies niemals verstanden, so wie sie auch sonst niemals irgendetwas anderes verstanden haben.

 

Wer führte die Februarrevolution in Russland? War es die bolschewistische Partei? Nein. Die bolschewistische Partei hatte nur ungefähr 8 000 Mitglieder in einem Land mit 150 Millionen Einwohnern. Die Bewegung in den Fabriken und Kasernen wurde eben von den natürlichen Führern der Arbeiterklasse geführt, von denen unser Freund Luis so verächtlich spricht. Solche Führer gab es stets unter den Arbeitern und sie kommen in jedem Streik zum Vorschein. Sie sind die Schicht der kämpferischen, klassenbewussten Proletarier, die unter ihren Kollegen bekannt und ihnen vertraut sind. Manche sind in Parteien organisiert, die meisten sind es jedoch nicht, sondern organisieren sich erst während des Kampfes. Diese Schichten zu gewinnen ist die Schlüsselaufgabe der revolutionären Partei. Aber dies kann niemals durch eine hochmütige und arrogante Haltung erreicht werden, die den Arbeitern ein Ultimatum aufzwängt, und die, bedauerlicherweise, die übliche Methode der Führung der PO ist.

 

In Russland war eine kleine Gruppe dieser aktiven Arbeiter im Februar Mitglied der bolschewistischen Partei, eine wesentliche größere Anzahl aber war während des vorangegangenen Jahrzehnts in Kontakt mit den Ideen und der Propaganda der Bolschewiki. Nichtsdestotrotz unterstützte die große Mehrzahl der Arbeiter und Soldaten zu Beginn der Revolution nicht die Bolschewiki, sondern die Menschewiki und Sozialrevolutionäre. Ein ähnlicher Prozess zeigt sich in jeder Revolution. Die Massen versuchen zunächst der Linie des geringsten Widerstandes zu folgen. Sie hängen den weit bekannten Führern und den Parteien mit dem großen Apparat hintan. Dies ist eine Gesetzmäßigkeit, die wir Mal zu Mal immer wieder bestätigt sehen.

 

Lenin wusste genau, dass die bolschewistische Partei eine kleine Minderheit war und dass die Aufgabe darin lag, die Massen der Arbeiter und Soldaten, die den reformistischen Führern anhingen, zu gewinnen. Er verstand die Notwendigkeit der Geduld und der flexiblen Taktiken. Sein Rat an die Bolschewiki war „geduldig erklären!“ Das ist es, was die Führer der PO durch und durch unfähig sind zu begreifen, und das ist es, was sie zu guter Letzt zur Bedeutungslosigkeit verdammen wird.

 

Was Lenins Ausspruch bedeutete

 

Es ist seltsam, dass die Führer der PO, die doch Weißgott genug über die russische Revolution gelesen haben, um sich etwas über die verfassungsgebende Nationalversammlung zu behalten, absolut alles über eine weitere sehr bekannte Forderung der Bolschewiki vergessen haben: Alle Macht den Räten! Sie haben nicht den Hauch einer Idee über den wahren Übergangscharakter dieser Forderung. Und sie haben sogar noch weniger die von Lenin und Trotzki gebrauchte Methode bei der Aufstellung und Anwendung dieser Forderung verstanden.

 

Dies war die zentrale Forderung der Bolschewiki im Jahre 1917. Jeder weiß das. Aber wie Hegel betonte, wird nicht alles, was bekannt ist, auch verstanden. Und die Führer der PO haben die wahre Bedeutung von Lenins Taktiken 1917 nicht begriffen. Er formulierte die Forderung Alle Macht den Sowjets zu einer Zeit, als die Führung in den Räten aus reformistischen Parteien bestand – den Menschewiki und Sozialrevolutionären. Er entgegnete den reformistischen Führern: Warum ergreift Ihr nicht die Macht? Er wiederholte dies tausende Male, mündlich und schriftlich. Er meinte sogar, dass wenn die menschewistischen und sozialrevolutionären Führer einwilligten, die Macht zu ergreifen – was sie nach den Februartagen hätten friedlich vollziehen können –die Bolschewiki sicherstellen würden, dass der Kampf um die Macht auf eine friedliche Debatte in den Sowjets reduziert würde.

 

Wir können uns genau vorstellen, wie Luis Oviedo gegen solchen Revisionismus gewettert hätte, hätte er zur damaligen Zeit gelebt. Wie kann Lenin es bloß wagen, an die reformistischen Führer solche Forderungen zu richten? Wie kann er es wagen zu sagen, die Macht solle den Verrätern in die Hände fallen! Lenin hatte offensichtlich kein Vertrauen in die revolutionäre Partei oder das Proletariat! Er hat sich vom Kampf um eine neue Führung abgewandt und steht in „sklavischem Gefolge der bestehenden Führungen“. Tatsächlich gab es einige ultralinke Bolschewiki (die Ultralinken, wie die Armen, sind immer mit uns!), die sich solcher Argumente bedienten. Lenin zuckte bloß die Achseln, und unsere Reaktion ist die gleiche. Wir haben sie verstanden und benutzen sie, die Methode von Lenin und Trotzki, und sind nicht wirklich beeindruckt von der Kindlichkeit der Ultralinken, die sich selbst als große Genies sehen, wobei sie nicht einmal das ABC des Marxismus begriffen haben.

 

„Entgegen dem, was Alan Woods behauptet,“ fährt Oviedo fort, „hatte die Führung des COB (ebenso wie Quispe und Evo Morales) ein extrem klare Position bezüglich der Machtfrage: Sie beschränkte sich auf die ,konstitutionelle Lösung’, das heißt der Ersetzung Sánchez de Lozadas durch Mesa, mit anderen Worten, sie war offen feindlich zur Machtergreifung durch die Ausgebeuteten. Das heißt also, sie betrieb eine Politik, die sehr weit entfernt lag von der ,positiven Rolle’, die Woods ihr zuschrieb. Natürlich, um diese konterrevolutionäre Rolle zu spielen, musste die COB Führung an der Spitze des Generalstreiks stehen.“ (Unsere Hervorhebung.)

 

Genosse Oviedo hat eine sehr eigenartige Auffassung vom revolutionären Prozess in Bolivien. Was sind die Fakten? Innerhalb der jüngsten Ereignisse in Bolivien spielte der COB eine entscheidende Rolle. Nicht einmal Genosse Oviedo traut sich, dies in Frage zu stellen. Mehr noch, die Führer des COB, innerhalb der Grenzen ihrer Fähigkeiten und Perspektiven, platzierten sich an die Spitze der Bewegung. Dass sie nicht fähig waren, die Bewegung zur Machtergreifung zu treiben und dass deswegen eine goldene Gelegenheit verfehlt wurde, ist selbsterklärend und zeigt uns allenfalls, was wir ohnehin schon wussten – dass die Führung des COB keine revolutionären Marxisten sind und deshalb, in der Stunde der Wahrheit, nicht wussten, was zu tun war.

 

Ja, die Führung der Bewegung war vollständig unfähig und eine goldene Gelegenheit wurde verpasst. Ja, wir müssen eine wahrhaft revolutionäre Tendenz in Bolivien aufbauen. Aber die erste Bedingung für diese Aufbauarbeit ist, die Realität zu verstehen, genau wie Lenin die Realität des Kräfteverhältnisses in Russland im April 1917 verstand. Die Realität ist, dass die revolutionäre Tendenz in Bolivien schwach ist, aufgrund der falschen Politik von Lora und der POR. Es ist nötig mit kleinen Ansätzen zu beginnen und den Arbeitern Boliviens, angefangen mit der aktiven Schicht des COB, zu zeigen, dass wir seriöse Menschen und keine sektiererischen Spinner sind.

 

Ob Genosse Oviedo will oder nicht (und er will es offensichtlich nicht), die überwältigende Mehrheit der bolivianischen Arbeiter unterstützt den COB – und seine gegenwärtige Führung. Die Tatsache, dass die Führer des COB den unbefristeten Generalstreik ausriefen und sogar über die Notwendigkeit einer Arbeiter- und Bauernregierung mit sozialistischem Programm sprachen, wird ihre Autorität in den Augen der Arbeiter von Bolivien enorm gestärkt haben. Diese Tatsache zu bestreiten wäre äußerst kindisch.

 

Um sich den bolivianischen Arbeitern zu nähern, ist es daher notwendig, nicht nur eine korrekte Politik zu betreiben, sondern dies in einer Art und Weise zu tun, die unter den Arbeitern ein Echo findet anstatt sich von ihnen zu entfremden. Wir entgegnen den Genossen des COB: „Was ihr bis hierher getan habt, ist sehr gut. Aber die Arbeit ist noch nicht getan. Es ist nötig den Kampf zu Ende zu führen. Es ist nötig die Macht zu ergreifen und die Oligarchie zu stürzen.“

 

Aber all dies erscheint unserem Freund Luis als irrelevant. Er interpretiert die Ereignisse in Bolivien anders. Warum setzten sich die Gewerkschaftsführer an die Spitze des revolutionären Generalstreiks, der Goni stürzte? Sie taten dies, so sagt er, einzig um die Arbeiter wirksamer zu betrügen. Hier zeigt sich die sektiererische Mentalität der Führer der PO in all ihrer Blüte. Diese Leute sind unfähig zu verstehen, in welcher Form sich die Arbeiterbewegung in Argentinien, Bolivien oder sonst wo entwickelt.

 

Alle Macht dem COB?

 

Unsere Artikel zu Bolivien, die nicht den Hauch von „sklavischem Gefolge der bestehenden Führungen“ enthalten, wurden nicht geschrieben zum Wohle von Luis Oviedo, sondern für die bolivianischen Arbeiter, und insbesondere die aktive Schicht im COB. Anders als Luis Oviedo nämlich denkt, ist es erforderlich, sie von der Notwendigkeit weiter gehender Kämpfe zu überzeugen, um ihre Forderungen zu erfüllen. Der Zweck unseres Artikels (welcher in Bolivien weit verbreitet gelesen wurde) lag darin, zwei Dinge zu erklären: 1) die Notwendigkeit des Sturzes des Kapitalismus und 2) die Notwendigkeit einer revolutionären Partei. Die programmatische Hauptforderung bestand in der Erweiterung und Entwicklung der Arbeiterkomitees – den embryonischen Sowjets – und darin, durch sie die Macht zu ergreifen. Das ist es, was wir schrieben, und jedem steht es frei dies zu überprüfen. Also wie kommt Genosse Oviedo zu der Schlussfolgerung, wir würden „Alle Macht dem COB“ zusprechen? Dies ist eine Erfindung seinerseits, die in keiner Beziehung zur Wahrheit steht.

 

„Was soll das!“ protestiert Luis. „Alan Woods empfiehlt die Perspektive der Macht für die Bürokraten des COB! Und mehr noch, dies zu einer Zeit, in der der Moment zur Machtergreifung, der 17. Oktober, bereits verstrichen ist! Wer hat jemals von einem Marxisten gehört, der so etwas täte?“ Tatsächlich, würde der COB die Macht ergreifen, so wäre dies eine sehr gute Sache von unserem Standpunkt aus. Die Forderung „Alle Macht dem COB“ ist sicherlich millionenfach der so hartnäckig von der PO aufgestellten bürgerlich-reformistischen Forderung nach einer konstituierenden Nationalversammlung vorzuziehen. Doch leider müssen wir dem Genossen Luis mitteilen, dass wir eine solche Forderung gar nicht aufgestellt haben, welche, wie der gesamte Rest seines Artikels, eine Ausgeburt seiner überaktiven Phantasie ist.

 

Lasst uns exakt zitieren, was wir im Artikel schrieben:

 

„Die Revolution hat enorme Reserven unter der Bevölkerung, sowohl in den Städten wie auf den Dörfern. Das bolivianische Proletariat hat eine überwältigende revolutionäre Tradition, und hat mit seinem Handeln bewiesen, dass es sie nicht vergessen hat. Mehr noch, die Kader der Bewegung haben sich einige der bedeutendsten Ideen des Marxismus und Leninismus – das heißt also des Trotzkismus – angeeignet, wie dies in den Thesen von Pulacayo zum Ausdruck kommt. Die Idee einer Arbeiterregierung ist ihnen nicht fremd. Auf diese Grundlage müssen wir bauen! Die zentrale Frage muss klar und ohne Zweideutigkeit gestellt werden: Um zu beginnen, die Probleme der Gesellschaft zu lösen, muss die Macht der Arbeiterklasse übertragen werden, dem COB, den Stadtteilräten und anderen Organen der Arbeitermacht.“ (Unsere Hervorhebung)

 

So, da haben wir es. Die Behauptung, wir würden auf eine Übergabe der Macht in die Hände der COB Bürokratie drängen, ist einfach eine mutwillige Erfindung von Luis Oviedo. Die Frage der Macht ist eine konkrete Frage und sie muss auch in solch konkreter Form gestellt werden. Wir gehen dabei von den wirklich existierenden Organisationen der Arbeiter und Bauern aus – nicht von Abstraktionen. Die Organisationen, die in Bolivien wirklich existieren, die den Kampf führten und zu denen Millionen von Arbeitern aufblicken, das sind die oben genannten.

 

Der PO schmeckt das nicht. Sie will etwas anderes. Was will sie? Dass die Arbeiter Boliviens ihre Organisationen über Bord werfen und die Führung durch die PO akzeptieren? Das wäre sehr nett, unglücklicherweise aber gibt es kein Anzeichen, dass sie dies täten. Also sind wir leider dazu angeraten, der Methode Lenins und Trotzkis zu folgen und Übergangsforderungen, die die wahre Situation in Bolivien berücksichtigen, aufzustellen.

 

Dies war stets die Methode der großen Marxisten der Vergangenheit, angefangen mit Marx und Engels. Nur durch die Verbindung von Festigkeit der Prinzipien und großer Flexibilität der Taktik gewannen Marx und Engels stückchenweise die Mehrheit der Internationalen Arbeiterassoziation für sich. In einem Brief an Engels legte Marx dar, dass er extreme Rücksicht zu nehmen hatte, besonders in Auseinandersetzung mit den Vorurteilen der Britischen Gewerkschafter. In wunderbar treffender Weise sagte Marx „mild im Ton, hart in der Sache“. Das fasst das Vorgehen zusammen, wie Marxisten in reformistischen Arbeiterorganisationen zu arbeiten haben. Wie verschieden zum Geschrei und Gestänker der ultralinken Gruppen, die ihre Argumente dann für überzeugend halten, wenn sie bei voller Lautstärke hervorgebracht werden.

 

Lula, Chavez, die Piqueteros und andere Angelegenheiten…

 

Mit der Art Hartnäckigkeit, die wir einem Schimpansen zuschreiben, der nach Flöhen sucht, versucht Luis mit aller Gewalt, Fehler in unserem Artikel zu finden. Mit einem finalen Schrei des Triumphes lenkt er unsere Aufmerksamkeit zu der Tatsache, dass „in ihrer langen Analyse der bolivianischen Ereignisse, Alan Woods es verpasst auch nur ein Wörtchen über die Rolle, die Lula spielte, zu verlieren.

 

Sehr richtig. Genauso wenig erwähnen wir die Rolle die George Bush, Tony Blair, Chavez, Nelson Mandela oder der Papst spielte. Das mag bedauerlich sein, aber "alles zu seiner Zeit.“ Wir befassten uns mit Lula zuvor und wir werden uns mit Lula wieder beschäftigen. Und wenn wir dies tun, so werden wir die selbe Kritik an Lulas reformistischer Politik vorbringen, an seiner Kapitulation vor der Bourgeoisie und dem IWF, was wir bereits viele Male zuvor taten, als Teil unserer generellen Tendenz zum „sklavischem Gefolge der bestehenden Führungen“ und „ehrfurchtsvollem Respekt vor den bürokratischen Führungen“.

 

Aber Luis Oviedo schießt den Hahn ab, indem er schreibt: „abgesehen von der Hege von ehrfurchtsvollem Respekt vor den bürokratischen Spitzen: Sie sind pro-Chavez in Venezuela, die Weggefährten Lulas in Brasilien, sie stehen hinter der CTA (und gegen die Piqueteros) in Argentinien.“

 

Das Argument, wir seien „pro-Chavez“ und „Weggefährten Lulas“ in gänzlich falsch. Wir treten ein für die venezolanische Revolution, aber wir haben wiederholt die Begrenztheit von Chavez’ Politik betont. Wir treten ein für die sozialistische Revolution in Brasilien und auch in Venezuela. Jeder, der sich die Mühe macht unsere Webseite zu verfolgen, kann sehen, wo wir stehen. Luis Oviedo liest sie in der Tat, aber augenscheinlich hat er nicht ein einziges Wort dessen, was er gelesen hat, verstanden.

 

Der Fall ist sogar noch eindeutiger am Beispiel der Piqueteros. In jedem Artikel, den wir seit dem Beginn der argentinischen Revolution geschrieben haben, drückten wir unsere uneingeschränkte Unterstützung der Piqueterobewegung aus. Deshalb bringt Oviedo nicht ein einziges Zitat hervor, das seine absurde Beschuldigung untermauern könnte, welche er, wie den Rest auch, einfach nur erfunden hat. Es ist allerdings wahr, dass, wir die Taktik der PO in Bezug auf die Piqueteros kritisiert haben. Diese zwei Dinge sind auseinander zu halten, es sei denn, Luis Oviedo betrachtet die Bewegung der Piqueteros als das Privateigentum der PO.

 

Jede sektiererische Gruppe strebt danach, die Illusion ihrer eigenen Massenbewegung zu erschaffen. Dies sehen wir am Beispiel der Piqueterobewegung. Obwohl die PO gute Arbeit am Aufbau der Bewegung verrichtete, spielt sie eine negative Rolle, indem sie sich weigert, die Piqueteros in einer gemeinsamen Organisation zu vereinigen. Objektiv liegt die Vereinigung im Interesse der Piqueteros; Spaltung schädigt ihre Interessen und dient allenfalls den Absichten der herrschenden Klasse. Der einzige Grund, warum sie zersplittert bleiben, liegt darin, dass die verschiedenen politischen Gruppen (nicht allein die PO) darauf bestehen, die Kontrolle über „ihre“ Piqueteros zu behalten. Dieses Verhalten ist wirklich bedauerlich. Wir erwähnten dies bereits und wir wiederholen es. Wenn dies ausgelegt wird, als seinen wir „gegen die Piqueteros“, so können wir nur mit den Achseln zucken. Was wirklich gegen die Piqueteros steht, ist die Art von Taktik, die das Interesse der Klasse dem Prestige dieser oder jener Clique unterordnet.

 

Natürlich kann die PO kann nicht allein für die zerfahrene Situation getadelt werden. Die anderen verhalten sich genau so, nämlich bürokratisch, und nicht so wie eine echte revolutionäre Tendenz handeln würde. Als Ergebnis befindet sich die Bewegung momentan in einer Sackgasse. Zum Teil resultiert dies aus der Müdigkeit der Massen, die keinen Ausweg erkennen. Aber es ist auch ein Produkt der falschen Politik und Taktik der Führung, die unfähig ist, eine seriöse Perspektive aufzustellen, und stattdessen falsche Perspektiven und Forderungen verfolgt. Dieselben falschen Taktiken, Forderungen und Methoden versuchen sie nun in andere Staaten Lateinamerikas zu exportieren.

 

Was die PO wirklich ablehnt

 

Was die PO wirklich ablehnt, ist die in unserem Artikel geäußerte Kritik an der Forderung nach einer konstituierenden Nationalversammlung. Doch Luis Oviedo erwähnt dies nicht einmal. Warum dies? Könnte es sein, dass es Mitglieder in den Reihen der PO gibt, die allmählich anfangen zu verstehen, dass die Forderung falsch ist, dass sie keinerlei Bedeutung hat heute in Argentinien, geschweige denn in Bolivien? Könnte es sein, dass die Mitglieder der PO In Defence of Marxism lesen und erkennen, dass die Kritik, die wir an dieser falschen und gefährlichen Forderung übten, richtig ist? Und könnte es außerdem sein, dass die Führer der PO, die anscheinend zur ehrlichen politischen Diskussion unfähig sind und durch eine Kampagne der Lügen und Verleumdungen einen Wall zwischen ihren Mitgliedern und uns aufzutürmen versuchen?

 

Da der Genosse Luis vergessen hat zu zitieren, was wir bezüglich dieses Themas schrieben, wollen wir es ihm ins Gedächtnis rufen, indem er wir es vollständig reproduzieren:

 

„Die alte Staatsgewalt, untergraben, erschüttert und beschädigt, bleibt noch immer intakt. Die Revolution kann nur triumphieren, indem sie sie zerschlägt und durch eine neue, proletarische Gewalt ersetzt. Dem Sturze Lozadas wird in nicht allzu ferner Zeit der Sturz Mesas folgen. Schon wird die Bourgeoisie nach einem alternativen Kandidaten suchen, der nicht aus der Rechten, sondern der Linken zu stammen hat. In ihrem Umgang mit den Massen bleiben der herrschenden Klasse nur zwei Waffen: Gewalt oder Betrug. Aber Gewalt hat sich schon als unzureichend erwiesen im Umgang mit einer Bewegung solchen Ausmaßes. Der Einsatz der Armee, weit davon entfernt das Volk einzuschüchtern, hatte einen gegenteiligen Effekt – er provozierte die Massen mit noch größerer Entschlossenheit und Energie voranzuschreiten.“

 

„Die Bühne ist daher frei für den Betrug. Aber um das Volk zu betrügen, es von den Straßen, aus den besetzten Bergwerken und Fabriken zu holen und die Initiative in den Händen der Berufspolitiker zu belassen, ist es nötig, ihnen etwas anzubieten, dem sie Glauben schenken können. Die alten, diskreditierten bürgerlichen Politiker sind für diesen Zweck nutzlos. Man braucht neue Gesichter, und ein neues Drehbuch. Um sich zu versichern, dass die Massen ihre Finger von der wahren Macht lassen, muss ihnen der Schein einer Macht angeboten werden – ein Schatten statt des Körpers.“

 

„Ihrer Schwäche bewusst, wird die Bourgeoisie es versuchen, sich auf die Führer der Arbeiterklasse zu stützen, um die Kontrolle über die Situation wieder zu erlangen und die Arbeiterklasse zu befrieden. Mesa – sicherlich nicht einer der dümmsten bürgerlichen Führer, hielt Ansprachen vor Versammlungen der Bauern zusammen mit den Führern der Bauerngewerkschaften und dem COB. Diese Tatsache ist, im Grunde genommen, eine stillschweigende Anerkennung des wahren Kräfteverhältnisses der Klassen. Die Arbeiter sollten die Schlussfolgerung ziehen und die Macht in ihre eigenen Hände nehmen. Gegenwärtig ist es möglich, dass die Übertragung der Macht friedlich von statten gehen könnte, oder zumindest mit einem Minimum an Gewalt. Aber Zaudereien werden der Reaktion Zeit geben, sich zu reorganisieren, und so ein künftiges Blutvergießen unausweichlich zu machen.“

 

„In diesem Zusammenhange spielte die Forderung nach einer konstituierenden Nationalversammlung, hervorgebracht durch einige Gruppen auf der Linken, eine negative und konterrevolutionäre Rolle. Die Bourgeoisie – in ihrer Person eines ,liberalen’ und ,demokratischen’ Flügels – wird versuchen, das Volk durch eine leere Diskussion über konstitutionelle Nettigkeiten zu betrügen, während die wahren Themen, Arbeit, Land und Brot, auf unabsehbare Zeit verschoben werden.“

 

„Anstelle sich auf die zentrale Frage der Macht zu konzentrieren, wird die Aufmerksamkeit der Arbeiter und Bauern durch Rechtsgewäsch und Betrügereien abgelenkt. Die Energien der Revolution werden fruchtlos vergeudet werden. Kein Wunder, dass die bürgerlichen Parteien enthusiastisch diese Forderung begrüßten! Die ganze Sache ist ein gigantischer Schwindel. Schlimmer noch, es ist gefährlich. Hinter der Fassade der ,Konstituierenden Versammlung’ werden sich die Kräfte der Reaktion formieren. Hinter den Vorhängen werden die amerikanischen Imperialisten mit ihren gewöhnlichen Intrigen fortfahren.“

 

„Es ist notwendig, die Massen zu erziehen, in sich selbst, in ihrer Macht und Selbstorganisation zu glauben. Es muss offen gelegt werden, dass unter dem Kapitalismus das Parlament eine leere Schale, ohne wahre Macht, ist. Die einzig wahre Macht, die existiert, ist, auf der einen Seite die Macht der Banken, Großgrundbesitzer und Kapitalisten – die alte reaktionäre Macht, die gestürzt werden muss – und auf einer anderen Seite, die Macht der werktätigen Massen.“

 

„Der Kampf um die Macht wird in letzter Instanz außerhalb des Parlaments ausgetragen. Die Antagonismen innerhalb der bolivianischen Gesellschaft sind zu tief, die Widersprüche zu scharf, um durch parlamentarische Arithmetik gelöst werden zu können. Wenn wir die Initiative verlieren, wenn unsere Stärke nachlässt, wenn wir demobilisieren, werden sich die Kräfte der Reaktion hinter der Fassade des „parlamentarischen Demokratie“ zusammentrommeln und auf den geeigneten Moment warten, die Arbeiter und Bauern zu zerquetschen.“

 

„Das Schlimmste, was man in einer Revolution antun kann, ist Zeit zu verschwenden. Die Geschichte hindurch wurden Revolutionen durch endlose Debatten und Reden, durch die Verfolgung von Phantomen und Schatten anstelle des Kerns der Macht, zerstört. Marx betonte dies bereits 1848-49 und Lenin wiederholte es oft in seinen Warnungen 1917.“

 

„Wir werden hier nicht die Argumente wiederholen, mit denen wir bereits die Forderung nach einer konstituierenden Nationalversammlung in Bezug auf Argentinien widerlegt haben. Es genügt zu sagen, dass diese Forderung an den Haaren herbei, aus der Geschichte des russischen Bolschewismus, gezogen wurde ohne das geringste Verständnis ihres wahren Inhalts. Die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung ist keine sozialistische, sondern eine bürgerlich-demokratische, die dienlich ist im Falle des Kampfes gegen ein autokratisches oder diktatorisches Regime (wie der russische Zarismus). Aber Bolivien (wie Argentinien) hat ein bürgerlich-parlamentarisches Regime, mit dem die Massen schon genügend Erfahrungen sammeln konnten. Die Forderung hat daher keine Relevanz für die gegenwärtige Situation in Bolivien.“

 

Diejenigen, die eine konstituierende Versammlung in der gegenwärtigen Situation in Bolivien befürworten, haben den Standpunkt des Proletariats verlassen und sind dem vulgären kleinbürgerlichen Demokratismus und parlamentarischen Kretinismus verfallen.

 

„Parlamentarischer Kretinismus ist eine tödliche Krankheit der Revolution – abzielend auf den Parlamentarismus und Verfassungen – und das ist genau das, wozu die Unterstützer der konstituierenden Versammlung die bolivianischen Arbeiter drängen wollen. Das ist keine ernsthafte revolutionäre Politik, sondern ein leichtfertiger Versuch, die zentrale Frage zu umgehen, welche nicht darin liegt, für eine bürgerliche Demokratie zu kämpfen, sondern für eine Regierung der Arbeiter!”

 

„Die erste Bedingung ist: Absolute Unabhängigkeit der Arbeiterorganisationen von der Bourgeoisie: keine Pakte, Allianzen, Koalitionen oder irgendwelche anderen Verbindungen mit dem so genannten progressiven Flügel der bolivianischen Bourgeoisie.“

 

„Die Elemente der Arbeiterregierung existieren bereits in Bolivien: in Form der Gewerkschaften, der juntas vecinales, cabildos und anderer Organe des Kampfes. Es ist notwendig, diese weiter zu entwickeln, zu erweitern und sie zu verbinden. Nur so kann eine alternative Macht geschaffen werden und die Nation führen.“ (Bolivia – The Key to the Andean Revolution)

 

Schließlich, damit keine Verwirrung in Bezug auf unsere Position zu Bolivien offen bleiben kann, wiederholen wir unsere Forderungen, mit welchen wir den Artikel abrundeten:

 

Lang lebe die bolivianische Revolution! Kein Vertrauen in die Bourgeoisie und ihre Parteien! Für eine Arbeiter- und Bauernregierung! Für ein sozialistisches Bolivien in einer Föderation Vereinigter Sozialistischer Staaten Lateinamerikas! Unsere Position bezüglich der objektiven Aufgaben der bolivianischen Revolution ist somit eindeutig und lässt keinerlei Zweifel zu. Wie steht es mit der Position, die die PO vertritt?

 

Noch einmal zur Forderung nach der konstituierenden Versammlung

 

Ein Tintenfisch, auf der Flucht vor einem Feind, stößt eine große Menge Tinte aus, in der Hoffnung, sein Verfolger würde verwirrt und seine Orientierung verlieren. Aber es bedarf mehr als ein wenig Tinte um uns vom Weg abzubringen, so dass wir nun zurückkehren zum zentralen Thema, den Gründen, warum die Forderung nach einer konstituierenden Nationalversammlung (KN) unter den gegebenen Umständen konterrevolutionär ist. Luis Oviedo hat unverhohlen den viel gerühmten Ausspruch Winston Churchills übernommen: Angriff ist die beste Verteidigung. Die Führer der PO fühlten sich auf den Schlips getreten durch unseren Gebrauch des Wortes „konterrevolutionär“ im Zusammenhang mit der Forderung nach einer KN für Bolivien und versuchten es zurück in unser Gesicht zu schleudern – leider ohne viel Erfolg.

 

Unsere Position zu Bolivien unterscheidet sich nicht sehr von unserer Position zu Argentinien: Wir treten ein für die sozialistische Revolution und die Übertragung der Macht an die Arbeiterklasse mittels der Aktionskomitees (Sowjets). Diese Komitees existieren in embryonischer Form. Es ist notwendig, sie aufzubauen, sie zu vereinigen, sie zu stärken und zu erweitern, sie zu verbinden auf lokaler, regionaler und nationaler Basis, bis zu dem Punkt, an dem sie ein alternative Macht zum kapitalistischen Regime bilden können. Es gibt darüber keinen Zweifel, weil wir es bereits so häufig wiederholten.

 

Unsere Position liegt auf der Hand, trotz aller Versuche von Luis Oviedo und der Führung der PO sie zu verfälschen und sie ihren Mitgliedern in verzerrter Form darzustellen. Aber was ist die Position der PO? Befürwortet sie die Erkämpfung der Macht durch die Arbeiterklasse? In der Theorie durchaus, aber in der Praxis ist diese Situation eine andere. Das Problem besteht in der Forderung, welche die PO erfunden hat und der Bewegung in Argentinien aufzwang und welche sie nun auch der bolivianischen Arbeiterklasse aufzudrücken versucht. Dies ist die falsche und gefährliche Forderung nach einer konstituierenden Nationalversammlung.

 

Diese Forderung entsprang nicht urwüchsig der Bewegung, sondern wurde künstlich in sie hineingetragen durch Gruppen, angefangen mit der PO, die die Lehren der russischen Revolution und die Positionen der bolschewistischen Partei in den Jahren 1917-1918 völlig missverstanden haben. Jetzt, aus Gründen des Prestiges, finden sie sich unfähig von dieser desolaten Forderung abzulassen und versuchen sie als das Allheilmittel, anwendbar in jeder Situation, zu verkaufen. Das ist ein absolutes Desaster für die revolutionäre Bewegung, speziell in Lateinamerika. Wir wiederholen, unter den gegebenen Umständen in Lateinamerika ist die Forderung nach einer konstituierenden Nationalversammlung falsch, irreführend und hat objektiv einen komplett konterrevolutionären Kern.

 

Die Position der PO zu Bolivien ist, gelinde gesagt, verwirrt, und der Ursprung aller Verwirrung ist die Forderung nach der konstituierenden Versammlung. Auf der einen Seite fordert die PO „eine Arbeiter- und Bauernregierung für Bolivien“. Auf der anderen Seite bringen sie starrköpfig die KN ins Spiel, was überhaupt nichts zu tun hat mit den wahren Problemen, denen sich die Arbeiterbewegung Boliviens gegenüber sieht. Trinchera, das ist die Zeitung der Oposición Trotskyista, dem PO Ableger in Bolivien. In Trinchera (La Paz, Oktober 2003, Fuera Goni, el gringo asesino) lesen wir folgendes: „Wir können nicht im bloßen Konstitutionalismus verbleiben und einen „chavistischen“ Ausweg suchen. Konfrontiert mit dem Rückzug Gonis müssen wir, die Arbeiter, unsere eigene Perspektive haben, eine Freie und Souveräne Konstituierende Versammlung. Aufgerichtet nicht von irgendeinem Parlament, sondern auf dessen Asche. Mit der Auflösung der repressiven Armee.“

 

Ebenso schreibt der Kopf der PO, Jorge Altamira, in Prensa Obrera (PO 821, 16. Oktober 2003): „Sollte es eine souveräne konstituierende Versammlung geben, so ist es notwendig, dass die Massen die Regierung besiegen und dass ihre Organisationen die Macht ergreifen.“ Hier türmt sich eine Konfusion über die andere. Wenn die Massen stark genug sind die Regierung zu stürzen und ihre Organisationen in der Lage sind die Macht in eigene Hände zu nehmen, warum sollten sie dann diese Macht dazu benutzen, eine konstituierende Versammlung einzuberufen, welche ein bürgerliches Parlament ist?

 

La Trinchera sagt, dass die KN nicht „von irgendeinem Parlament, sondern auf dessen Asche“ einberufen werden soll, aber eine konstituierende Versammlung ist selbst wieder ein Parlament – ein demokratisches Parlament basierend auf freien Wahlen – nicht mehr und nicht weniger. Unter bestimmten Bedingungen wäre diese bürgerlich-demokratische Forderung angemessen und revolutionär. Aber nicht in einer Situation, in der die Arbeiterklasse sich in einer Position befindet, die Macht zu ergreifen und die sozialistische Revolution zu initiieren – die einzige Revolution, die in Bolivien möglich ist – oder in Argentinien. In solch einer Situation bedeutet die Forderung nach einer KN einen Schritt zurück – nicht vorwärts. Sie impliziert, dass vor uns ein weiteres Stadium liegt: ein demokratisches Stadium. Das heißt also, sie impliziert eine neue Version der alten stalinistisch-menschewistischen Zwei-Etappen-Theorie, welche zu einer Niederlage nach der anderen geführt hat.

 

Aber vielleicht ist das alles Haarspalterei? Vielleicht meinen die Genossen der PO mit der KN eine nationale Versammlung der Arbeiterräte (Sowjets)? Dem entgegnen wir: Es ist einer marxistischen Tendenz unwürdig, verworrene und zweideutige Forderungen zu stellen. Aber mitten in einer Revolution ist dies ein Verbrechen. Wenn der Genosse Altamira meint, von einem nationalen Kongress der Arbeiter- und Bauernräte zu sprechen, warum sagt er dies nicht gerade heraus? Warum verwechselt er zweierlei Dinge, die nicht nur sich unterscheiden, sondern fundamental einander entgegen gesetzt und unvereinbar sind? Die direkte Herrschaft der Arbeiterklasse durch die Sowjets ist unendlich demokratischer als irgendein Parlament.

 

Bürgerlicher Parlamentarismus – selbst in seiner demokratischsten Form – ist unvereinbar mit der Herrschaft der Arbeiterräte (Herrschaft der Arbeiter). Die Lehren der deutschen Revolution von 1918 sind in dieser Hinsicht eindeutig. Aber rufen wir uns ins Gedächtnis, dass es nicht Lenin oder Luxemburg waren, sondern der Revisionist Hilferding, der versuchte, die konstituierende Nationalversammlung mit den Räten zu vermischen, als es bereits klar war, dass entweder die eine oder die andere Sache triumphieren würde. Zu guter Letzt, dank den Sozialdemokraten, liquidierte der bürgerliche Parlamentarismus die Arbeiterräte – und damit auch die Revolution.

 

Als wir schrieben, dass diese Forderung im Zusammenhang mit der bolivianischen Revolution konterrevolutionär sei, was meinten wir damit? Nur eines: In einer Situation, in der die Bourgeoisie mit der Gefahr, alles zu verlieren, konfrontiert ist und in der sie unfähig ist, zu einem sofortigen reaktionären Putsch Zuflucht zu nehmen (wie dies in Bolivien der Fall ist), wird sie versuchen die Revolution mit anderen Mittel zu zerschlagen. Sie wird darauf aus sein, eine demokratische Konterrevolution einzuleiten. Deshalb ist es für Marxisten in Bolivien unzulässig, verworrene und zweideutige Positionen, die die Idee der sozialistischen Revolution verschleiern, anzunehmen. Solche Zweideutigkeiten können die Revolution zerstören.

 

Die Forderung nach einer KN ist keine sozialistische, sondern eine bürgerlich-demokratische. Sie wäre angebracht für ein halbfeudales Regime, in dem die bürgerliche Demokratie fehlte, wie das zaristische Russland oder China in den 30er Jahren. Sie wäre sogar angemessen gewesen für Argentinien in der Periode des Kampfes gegen die Junta. Aber in einem Land, in welchen die Institutionen der bürgerlichen Demokratie schon existieren, und dies seit einer gewissen Zeit, existierten, macht sie überhaupt keinen Sinn. Sie verbreitet die Illusion, dass die Massen eine Lösung ihrer Probleme im Kapitalismus finden können, dass es eine weitere (eine demokratische) Etappe gibt, bevor die Arbeiterklasse die Macht in ihre Hände nehmen kann, dass wir nicht das System, sondern nur das legale, parlamentarische Regime verändern müssen.

 

Im Endeffekt sagt die PO den Völkern Argentiniens und Boliviens: Das gegenwärtige parlamentarische System ist korrupt, wir brauchen stattdessen ein anderes parlamentarisches System. Dann wäre alles gelöst. Aber dies ist nicht der Fall. Es stimmt zwar, dass die parlamentarischen Regime in Argentinien und Bolivien (und in den USA und Großbritannien ebenfalls) korrupt sind und nicht die Interessen des Volkes repräsentieren. Aber dennoch ist es unnütz von einem anderen Typus eines bürgerlich-demokratischen Regimes zu sprechen, das völlig anders wäre. Das ist ein Herangehen an die Demokratie von einem idealistischen Standpunkt aus, nicht vom Marxismus. Solange die Bourgeoisie die Produktionsmittel besitzt und kontrolliert, verbleibt das parlamentarische System, sogar in den demokratischsten kapitalistischen Staaten, verzerrt, korrupt und unter der Kontrolle der Großbanken und Monopole. Das ist es, was wir den Arbeitern zu erklären haben, angefangen mit ihren fortschrittlichen Teilen.

 

Bedeutet das, dass Marxisten gleichgültig gegenüber demokratischen Forderungen sind? In keiner Weise! Wir werden immer für die fortschrittlichsten demokratischen Forderungen kämpfen, insoweit sie den geringsten revolutionären oder progressiven Inhalt besitzen. Der Kampf um die Demokratie – das heißt für die bürgerliche Demokratie, ist progressiv, solange er gegen ein autokratisches oder diktatorisches Regime gerichtet ist. Es liegt im Interesse der Arbeiterklasse, die Demokratie zu entwickeln und zu erweitern, um so das weitest mögliche Aktionsfeld für den Klassenkampf freizulegen. Deshalb befürworteten wir in Spanien 1976 eine revolutionäre konstituierende Nationalversammlung als Alternative zur Diktatur Francos und der reaktionären Monarchie Juan Carlos.

 

Selbst in demokratisch-kapitalistischen Ländern wie Großbritannien behalten bestimmte demokratische Forderungen ihre Gültigkeit, wie z.B. die Abschaffung der Monarchie und des Oberhauses (House of Lords) und der Kampf gegen eine reaktionäre antigewerkschaftliche Gesetzgebung, die dem Streikrecht schwere Hindernisse in den Weg stellt. Die britischen Marxisten haben es stets verstanden, größten Nutzen aus allen demokratischen Möglichkeiten zu ziehen, einschließlich des Parlaments, insoweit dies möglich ist. Aber niemals hegten wir irgendwelche Illusionen und verstanden, dass letztendlich die herrschende Klasse niemals die Macht ohne Kampf aufgeben wird und dass die Machtfrage außerhalb des Parlamentes entschieden werden wird.

 

Aber Bolivien ist nicht Großbritannien. Die Widersprüche in Bolivien haben den Siedepunkt erreicht, an dem die Machtfrage auf der Tagesordnung steht. Die Arbeiter und armen Bauern haben ihren Willen zur Veränderung der Gesellschaft gezeigt. Die Revolution erhielt einen Anstoß und einen Elan wie er an die heldenhafte Bewegung der spanischen Arbeiter in der Periode von 1930-1937 erinnert. Es gibt keinen Zweifel darüber, dass die Macht in ihren Händen lag, sie dies aber nicht realisierten. Deshalb wurde eine überaus günstige Gelegenheit versäumt.

 

Was ist der Grund für diesen Rückschlag? Es gab keinen objektiven Grund, warum die Arbeiter Boliviens nicht die Macht hätten ergreifen können. Lasst uns weiter gehen: Es gab keinen objektiven Grund, warum der COB selbst nicht die Macht hätte ergreifen können – obwohl solch eine Entwicklung nicht zur Freude der PO gewesen wäre. Der Grund war kein objektiver, sondern ein subjektiver – das Fehlen einer revolutionären Partei und einer revolutionären Führung. Diese Tatsache wurde selbst von einem der Führer des COB zugegeben.

 

Die zentrale Aufgabe besteht deshalb darin, die besten Elemente des COB und der Jugend in einer revolutionären Partei oder Tendenz mit klaren Ideen zu vereinigen – einer Tendenz, die die Frage der Arbeiterregierung konsequent ins Zentrums rückt, die die Arbeiter davon überzeugt, dass ihre Stärke ausreicht, die Macht zu erobern, und sie von diesem Ziel nicht ablassen dürfen. Die proletarische Avantgarde muss gestählt und entschlossen sein und darf es nicht zulassen, dass sie sich von den „schlauen“ Argumenten kleinbürgerlicher Elemente vom rechten Wege abbringen lässt, die versuchen ihre Aufmerksamkeit von der Machtfrage auf allerart komplizierte Anwaltsschemata und –kniffe abzulenken.

 

Die herrschende Klasse Boliviens versuchte zunächst die Revolution mit Gewalt niederzuschlagen, das aber hatte nur die Wirkung, die Arbeiter zu verärgern und sie zu noch größerer Kampfbereitschaft zu drängen. Als sie merkte, dass ihr die Macht aus den Händen entglitt, entschied sich die herrschende Klasse für einen Kurswechsel. Sie konnte nicht zur Gewalt Zuflucht nehmen, stattdessen wählte sie Betrügereien. Denselben Prozess zeigt jede Revolution der Geschichte. Und wehe der revolutionären Partei, die sich durch solche Betrügereien im entscheidenden Moment für dumm verkaufen lässt!

 

1848 überschütteten Marx und Engels die so genannten „revolutionären Demokraten“ mit Schimpf und Schande, die ihre Zeit damit verbrachten Verfassungen und Gesetze zu debattieren und auf die Weise die Revolution schädigten und zerstörten. Es genügt Marx zur Frankfurter Nationalversammlung zu zitieren, um dies zu belegen.

 

Die Forderung nach einer KN spielte eine progressive Rolle in Russland in der Phase bis 1917, zusammen mit anderen Übergangsforderungen wie z.B. Frieden, Brot und Land, das Recht auf Selbstbestimmung und, vor allem anderen, alle Macht den Sowjets. Aber indem sie diese Forderung als eine absolute, für jedes Land und jede Situation anwendbare behandelte, kehrte die PO Führung sie in ihr Gegenteil um, im Grunde in kompletten Schwachsinn. Die Forderung nach einer KN steht nicht außerhalb von Zeit und Raum. Tatsächlich wurde sie sogar in Russland, wo sie doch erst angemessen war, nach dem November 1917 kontraproduktiv und konterrevolutionär, weswegen die Bolschewiki sie mit Gewalt abzusetzen hatten. Jetzt, Jahrzehnte später, hat die PO diese Forderung aus dem Kehrichthaufen der Geschichte gegraben, sie schön abgeklopft und paradiert sie nun stolz, wie ein kleiner Junge mit neuen Schuhen. Nicht nur für Argentinien - sie machte sie zu ihrer Hauptforderung und zum Allheilmittel für ganz Lateinamerika.

 

Es ist schon recht erstaunlich, dass die Führer der PO sich selbst in solcher Unordnung verrannt haben, als es offensichtlich war, dass die Forderung nach einer KN eine bürgerlich-demokratische Forderung ist, welche mehr als unpassend ist für ein Land, in dem bereits ein Regime des bürgerlichen Parlamentarismus existiert. Sie haben diese Forderung an den Haaren herbeigezogen, und sie versuchen sie jetzt einer Situation aufzustülpen, in der sie nicht die geringste Bedeutung besitzt. Deshalb ist sie nicht mehr als eine Ablenkung von den echten Aufgaben der Revolution. In diesem Sinne spielt sie eine negative, eine konterrevolutionäre Rolle.

 

Die Konterrevolution kann in mehr als einer Weise auftreten. Sie bedeutet nicht unbedingt die Einrichtung einer Militärdiktatur. Die Geschichte kennt viele Beispiele, bei denen die Konterrevolution in einer demokratischen Form ausgeführt wurde. Das ist es, worauf die Bourgeoisie und der US-Imperialismus zurzeit für Bolivien abzielen. In diesen Kalkulationen dient die Idee einer KN als eine Ablenkung, die den Reaktionären in die Hände spielt und die Aufmerksamkeit der Massen von den wahren Aufgaben der Revolution abwendet. Sie ist das geeignete Mittel, um die Konterrevolution im demokratischen Mantel ins Spiel zu bringen, so wie es in Deutschland nach der Revolution von 1918 in der Weimarer Republik geschah.

 

Hier stellen wir der PO eine sehr direkte Frage: Wenn die Forderung nach einer KN so revolutionär ist, warum wurde sie von dann bürgerlichen Politikern in Bolivien aufgegriffen? Das ist eine Tatsache. Mehr noch, sie wurde aufgegriffen vom Repräsentanten des IWF im Lande. Warum? Die Antwort liegt auf der Hand: weil sie harmlos ist und keine Bedrohung für die bestehenden Ordnung oder den Imperialismus darstellt. Konfrontiert mit der revolutionären Bewegung der Arbeiter und Bauern, versuchte die Bourgeoisie in der Gewalt eine Lösung zu finden und scheiterte. Die Massen fegten die Staatsgewalten hinweg und griffen nach der Macht. Indem sie diese Forderung akzeptiert, kann die Bourgeoisie Zeit gewinnen, so die Bewegung der Massen abkühlen und ihr die Luft ausgehen lassen, während sie ihre Kräfte in der Art gesetzgeberischer und konstitutioneller Diskussionen vergeudet, die Marx im Jahre 1848 so erbittert kritisierte. Es ist wirklich unglaublich, dass die PO dies nicht verstanden hat.

 

Schlussfolgerung

 

Es ist mehr als einfach, Ideen zu beschmutzen und in ein paar Zeilen zu verfälschen, aber es ist weniger leicht, ernste Antworten auf ernste Fragen zu geben. Wir haben die Anschuldigungen Luis Oviedos ausführlich beantwortet, denn wir wollen die Dinge vor den Mitgliedern der PO und der gesamten Linken Lateinamerikas gerade rücken. Eine falsche Methode und Politik wird einen früher oder später einholen. All die Errungenschaften der PO werden sich schnell im Sande verlaufen, wenn die Führung nicht bereit ist zu akzeptieren, dass sie Fehler begangen hat. Solch ein Verhalten ist das Rezept für interne Krisen und Spaltungen in der Zukunft.

 

Die übergeordnete Überlegung seitens der PO ist nicht die politische Klärung, sondern Erwägungen des Prestiges und das Verlangen, um jeden Preis den Eindruck der Unfehlbarkeit der Führung zu erhalten. Dies ist mehr als schlecht und kann all die gute Arbeit, die die PO Mitglieder in der jüngsten Periode verrichtet haben, wieder zunichte machen, wenn es keine Kurskorrektur gibt. Die Führer der PO scheinen chronisch unfähig dazu zu sein, ihre Fehler einzugestehen. Stattdessen versuchen sie ihre Spuren durch Angriffe auf Dritte zu verwischen. Dies wäre vielleicht nicht so schlimm, wenn sie sich in ihren Streitschriften ehrlicher Methoden bedienten, aber leider ist dies nicht der Fall.

 

Die Methode, die Luis Oviedo in der Antwort auf unseren Artikel benutzt, ist den demokratischen und ehrlichen Methoden des Marxismus und Bolschewismus fremd. Sie besteht darin, eine ganze Reihe isolierter Zitate gezielt aus ihrem Zusammenhang zu reißen, um in die Irre zu führen und zu verfälschen. Mit solchen Methoden ist es unmöglich die Mitglieder der PO zu schulen. Sie werden viel eher systematisch in einem sektiererischen Sinne fehlgeleitet. Fehler in der Theorie werden sich unweigerlich in der Praxis widerspiegeln. Dies können wir bereits in Argentinien beobachten. Die Linke Argentiniens (nicht nur die PO) wurde in den Präsidentschaftswahlen hochkant geschlagen, weil sie es versäumte, sich in einer gemeinsamen Kampagne zu vereinigen. Die Arbeiterklasse hatte keinen gemeinsamen linken Kandidaten, den sie wählen konnte. Sie empfand daher die Linke als unseriös und handelte dementsprechend. Sie sagte sich selbst: Diese Leute reden über die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution, aber sie sind nicht einmal dazu in der Lage, einen gemeinsamen Kandidaten oder Programm aufzustellen, um die bürgerlichen Parteien in einer Wahl zu bekämpfen. Und diese Kritik ist gerechtfertigt.

 

Die Haltung der Marxisten zum Parlament hängt von objektiven Bedingungen ab. In einer Phase, in der die Massen ihren Blick auf das Parlament richten, ist es nötig am Wahlkampf als einem Feld des Klassenkampfes teilzunehmen. Der Boykott von Wahlen in solch einer Situation ist kindisch und ultralinks. Das würde bedeuten, in letzter Instanz uns selbst zu boykottieren. Die Schwankungen der PO in der Frage der Beteiligung an den Wahlen in Argentinien waren einer der Gründe – zuzüglich zu ihren falschen Taktiken und Perspektiven für die Bewegung – für ihre Verluste in der jüngsten Phase. Für falsche Politik muss man büßen.

 

Die Unfähigkeit, Kritik und Unterschiede in demokratischer Weise zu beantworten, werden die Partei untergraben und sie davon abhalten, sich über eine gewisse Schwelle hinaus zu entwickeln. Alle internen Unterschiede und Kritik werden erdrosselt und zum Schweigen gebracht. Das bedeutet, dass all die gute Arbeit der Mitglieder früher oder später zunichte gemacht werden wird. Eine ernsthafte revolutionäre Partei wird stets dazu bereit sein, ihre Fehler ehrlich einzugestehen und sie zu korrigieren. Eine Partei, die niemals geneigt ist, ihre Fehler einzugestehen, wird von Niederlage zu Niederlage schreiten. Das ist keine Nebensächlichkeit!

 

Die Aufgabe des Aufbaus einer ernsthaften revolutionären Partei in Argentinien steckt noch in den Kinderschuhen. Die Mehrheit der argentinischen Arbeiter, insofern sie überhaupt organisiert sind, steht noch unter dem Einfluss der reformistischen oder peronistischen Elemente der CTA oder des CGT. Indem sie ihre eigene Stärke überschätzt, verliert die PO den Einblick in die Größe der Aufgaben, die vor ihr liegen. So verblendet sie ihre Mitglieder und wird bei einer falschen Politik enden. Die Wahlniederlage hat bereits Demoralisierung und Verwirrung unter viele linke Aktivisten gesät. Eine offene und demokratische Debatte ist notwendig, die Fehler zu korrigieren und zu verhindern, dass sie wieder geschehen. Die Führung sollte eine solche Debatte nicht fürchten, sondern sie willkommen heißen. Eine Führung, die die Debatte scheut, ist eine bankrotte Führung und wird auch in tausend Jahren keine revolutionäre Massenpartei aufbauen.

 

Die Internationale ist die Weltpartei der Arbeiterklasse. Für die Marxisten bedeutet die Partei in erster Linie Programm, Methoden, Ideen und Traditionen. Die Partei (genau wie die Internationale) muss auf starken Fundamenten gebaut sein. Sie muss sich auf eine klare und unzweideutige Akzeptanz der Ideen, Methoden und Traditionen von Marx, Engels, Lenin und Trotzki gründen. Ansonsten wird sie auf Sand gebaut sein. Jene, wie die PO, die glauben, sie hätten eine Abkürzung zum Erfolg gefunden, indem sie Prinzipien, Ideen und Theorien ignorieren, werden schnell herausfinden, dass sie im Schlamassel stecken. Ihr Unvermögen, Fehler zu korrigieren oder auf Kritik zu hören, wird die unausweichliche Krise nur beschleunigen. Je mehr die Organisation wächst, um so größer wird die Krise sein, wenn sie einschlägt.

 

Trotz ihrer früheren Erfolge steht die PO vor großen Problemen. Ihre Perspektiven für die argentinische Revolution wurden nicht bestätigt. Sie erhielt einen großen Rückschlag als Belohnung in den Wahlen für ihre Politik des Schwankens und ihre sektiererischen Taktiken, die die Linke spalteten. All dies hat zu einer wachsenden Unzufriedenheit und Kritik innerhalb der PO selbst geführt. Es ist nicht schwierig zu sehen, dass eine Schicht der Organisation auf die Unzulänglichkeiten und Fehler der Parteiführung in einer ganzen Reihe von Fragen aufmerksam wird – einschließlich ihrer Fehler bezüglich der Forderung nach einer konstituierenden Versammlung – und das Material unserer Tendenz liest, welches täglich veröffentlicht wird auf marxist.com und der Webseite von El Militante. Das erklärt die verzweifelten Versuche des Genossen Oviedo unsere Tendenz zu attackieren.

 

Je bekannter unsere Tendenz wird, werden alle Versuche, uns zu verleumden und unsere Ideen zu verfälschen, sich gegen ihre Urheber wenden. Die wahren Kader des Marxismus in Lateinamerika werden ihren Weg zu den eigentlichen Erben des Wirkens von Leo Trotzki und der Vierten Internationale finden.

 

Wir laden alle Mitglieder der PO dazu ein, und alle anderen, die für die Ideen von Lenin und Trotzki kämpfen wollen, in einen solidarischen Dialog mit uns zu treten. Verlaßt Euch nicht auf die Fehlinterpretationen Eurer Führer! Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt, wendet Euch an uns und findet sie selbst heraus!

 

London, 17. Dezember 2003.

 



[1] Die Zitate des Textes von Oviedo sind Übersetzungen der englischsprachigen Originalzitate.

[2] Anmerkung: Quispe ist ein Bauernführer und Morales ein reformistischer Politiker an der Spitze der MAS, welche eine Partei der Bauern und Arbeiter ist und grob gesprochen den Platz einer reformistischen Arbeiterpartei einnimmt.