Leo Trotzki - Leben und Werk
Am 7. November 1879 wurde Leo Trotzki als Leo Davidowitsch Bronstein auf dem Gut Janowka in der Südukraine geboren. Er war das 5. Kind einer jüdischen Familie, die mit 200 ha Grundbesitz zur mittleren Bauernschaft gezählt werden konnte.
Sozialistische Untergrundarbeit in Odessa
Im Jahre 1888 siedelt Leo Davidowitsch nach Odessa am Schwarzen Meer über.
Dort besucht er die Realschule. 1896 nimmt er Kontakt mit einer sozialistischen
Gruppe auf, die sich zu den Narodniki ( "Volkstümlern") bekennt. Er „verschlingt"
sozialistische Literatur und schreibt politische, anfänglich auch polemische
Artikel gegen den Marxismus. Ein Jahr später jedoch liest er marxistische Schriften,
bekennt sich zum Marxismus und nimmt Kontakt mit Industriearbeitern auf.
Er wird Mitbegründer des "Südrussischen Arbeiterbundes". Auf einem selbstgebastelten
Apparat vervielfältigen die jungen Revolutionäre eine Flugblattserie unter dem
Titel „"Nasche Delo" ( "Unsere Stimme"). In "Mein Leben"
beschreibt er „wie heißhungrig die Arbeiter die geheimnisvollen Blättchen
mit den lila Buchstaben lasen, einander weitergaben und heiß darüber diskutierten".
Die Flugblätter heizen die Unruhe in den Betrieben weiter an. Anfang 1898 fliegt
der Arbeiterbund auf; der junge Bronstein wird am 28. Januar ins Gefängnis eingeliefert.
Es folgt ein zweijähriger Gefängnisaufenthalt, den er dazu nutzt, um sich in
wissenschaftlichem Denken zu schulen. Im Moskauer Gefängnis heiratet er die
Genossin Alexandra Lwowna Sokolowskaja. Im Gefängnis trifft er auf einen Wärter
namens Trotzki und beschließt, fortan diesen Namen zu tragen.
Erste Verbannung, Flucht und Exil
1900 wird Trotzki zusammen mit seiner
Frau und vielen anderen GenossInnen nach Ostsibirien verbannt. Unter den Verbannten
blüht eine rege politische Diskussion. Trotzki verfolgt aufmerksam die Entwicklung
der russischen Sozialdemokratie. Er arbeitet sowohl theoretisch als auch praktisch,
indem er sich als Schriftsteller betätigt. In zahlreichen Debatten verteidigt
er die Ideen des Marxismus gegen anarchistische und reformistische Strömungen.
Trotzki erfährt von der Arbeit Lenins, der im Londoner Exil die Parteizeitung
"Iskra" ( "Der Funke") herausgibt. Sie ist das Organ der 1898 gegründeten
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Die neugegründete Partei schärft
ihre theoretischen und politischen Waffen im Kampf gegen die Ideen des Terrorismus,
des Anarchismus, des Ökonomismus, der Volkstümler und des sogenannten "legalen
Marxismus". So legt Lenin in seiner 1902 erscheinenden Schrift "Was tun?"
sein Konzept für die Tätigkeit einer revolutionären Arbeiterpartei dar, die
sowohl in politischer als auch organisatorischer Hinsicht eine ernsthaft und
diszipliniert arbeitende Organisation darstellt.
Lenin erfährt in London von dem begabten jungen Genossen, der schon durch die
Qualität seiner Flugblätter bekannt geworden war. Er bittet ihn um einen Besuch
in der Londoner Redaktion. Trotzki, der inzwischen aus Sibirien geflohen ist
und in der russischen Stadt Samara Kontakt mit der dortigen Iskra-Gruppe aufgenommen
hat, macht sich auf den Weg nach London. Über Wien, wo er Sozialistenführer
wie Victor Adler aufsucht, und Zürich, wo er den russischen sozialistischen
Veteranen Axelrod besucht, gelangt er schließlich im Oktober 1902 nach London.
Lenin, damals schon ein einflussreicher Kopf der russischen Sozialdemokratie,
erkennt sehr schnell die außerordentliche Begabung des erst 23-jährigen Trotzki
und setzt ihn für die politische Arbeit ein - als Verfasser von Artikeln, als
Verteidiger des Marxismus in Veranstaltungen und als Vortragsreisenden in Belgien,
Frankreich und Deutschland.
Lenins Vorschlag, Trotzki zur sechsköpfigen Iskra-Redaktion hinzuzuwählen, scheitert
jedoch am Widerspruch Plechanows (Begründer des theoretischen Marxismus und
damals noch eine unbestrittene theoretische Autorität in der russischen Sozialdemokratie).
Parteitag 1903 führt zur (ungewollten) Spaltung
Trotzki bleibt bis 1903 in London und
nimmt als Delegierter am 2. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei
Russlands teil. Der Parteitag ist nach Brüssel einberufen worden. Die Delegierten
kommen von den verschiedenen Exil- und Untergrundgruppen in Russland. Der Verlauf
des Kongresses zeigt, daß die junge Partei noch viele Unstetigkeiten aufzuweisen
hat. Die Partei ist bis dahin noch föderalistisch organisiert gewesen und bietet
ein buntes Bild aus unterschiedlichen Ortsgruppen und isolierten lokalen Zirkeln,
Exilgruppen, dem jüdischen Arbeiterbund, den Ökonomisten, den Iskra-Genossen
und anderen.
Dieser Parteitag reißt, von niemandem vorhergesehen oder herbeigewünscht, tiefe
Gräben in der jungen Partei auf. Auch führt er zu einem Zerwürfnis zwischen
Lenin und Trotzki, das bis zur Revolution von 1917 dauern sollte.
Lenin verfolgt auf dem Kongress das Ziel, die unterschiedlichen Gruppen zu einer
straff organisierten Partei zusammenzuschweißen. Auch Trotzki stellt sich hierbei
auf die Seite Lenins. Lenin bekämpft die Ansichten der Ökonomisten und die Versuche
des jüdischen Arbeiterbundes, autonom und ohne Anleitung durch die Gesamtpartei
unter den Arbeitern zu wirken.
Der Konflikt entbrennt letztendlich jedoch in der Frage der Zusammensetzung
der Iskra-Redaktion. Lenins Antrag, die Redaktion auf drei Mitglieder zu begrenzen,
um die Arbeit zu straffen, stößt auf die Empörung Trotzkis und vieler anderer,
zumal er mit den davon Betroffenen freundschaftlich verbunden ist.
Dieser Konflikt entzweit Lenin und Trotzki. Trotzki schlägt sich zunächst auf
die Seite der „"Menschewiki" (von denen er sich aber 1904 wieder
trennt) und kritisiert in seiner Verbitterung scharf das Vorgehen Lenins. Lenin
aber, dem es völlig unbegreiflich ist, warum es in einer zweitrangigen Frage
zur Spaltung kommen konnte, sieht darin die Zerstörung eines hoffnungsvollen
Anfangs und ist (laut Memoiren seiner Frau) so schockiert, daß er wochenlang
nervlich am Ende und arbeitsunfähig ist.
Lenin war übrigens alles andere als ein blindwütiger Fraktionierer und Spalter.
Er tritt als Chefredakteur der Iskra zurück und bietet diesen Posten den Menschewiki
an. Später kommt es sogar zu einer vorübergehenden Wiedervereinigung der Partei.
1905 wehrt er sich mit Entschlossenheit gegen Vorwürfe, er plane „"in
der internationalen Sozialdemokratie eine besondere Richtung ins Leben zu rufen,
die mit der Richtung Bebels und Kautskys nicht identisch wäre".
Erst die Bewährungsprobe der Revolution selbst soll zeigen, daß Lenin und Trotzki
eigenständig und unabhängig voneinander fähig sind, zu den gleichen richtigen
politischen Schlußfolgerungen zu kommen und entsprechend zu handeln. Doch davor
liegen noch lange Jahre der Emigration, nur unterbrochen durch die russische
Revolution von 1905.
Revolution 1905
Im Januar 1905 löst der russisch-japanische
Krieg in Russland Massenunruhen, Streiks und eine Meuterei auf dem Panzerkreuzer
Potemkin aus. Der revolutionäre Funke erfasst schnell das ganze Land. Im Spätsommer
wird in St. Petersburg aus den Massenkämpfen heraus ein Arbeiterrat (Sowjet)
gegründet. Trotzki - erst 25 Jahre alt - gehört zwar keiner der beiden Fraktionen
der Partei an, ist aber als Herausgeber der Zeitungen "Russkaja Gazeta"
und „"Natschalo", als unabhängiger Journalist und glänzender Organisator
unter den Arbeitern angesehen. Der Arbeiterrat hat insgesamt eine Lebensdauer
von 50 Tagen. Er macht sich daran, einen Generalstreik vorzubereiten, Verteidigungskomitees
zu bilden und die Arbeiterklasse in den großen Städten zusammenzubringen. Schließlich
wird Trotzki zum Vorsitzenden des Arbeiterrates gewählt. Während er eine Sitzung
des Sowjets leitet, dringt die Polizei ein und verhaftet die Mitglieder des
Arbeiterrates.
"Seine (Trotzkis) Popularität im Petersburger Proletariat ist in jener
Zeit sehr groß und steigt noch mehr infolge seines ungewöhnlich wirkungsvollen
und heroischen Verhaltens vor Gericht. Ich muß sagen, dass die Jahre 1905-1906
Trotzki trotz seiner Jugend unter allen sozialdemokratischen Führern als am
besten vorbereitet gefunden haben..." schreibt später der Revolutionär Lunatscharski
in seinem Buch „"Silhouetten".
Trotzki selbst schreibt über seine erste revolutionäre Bewährungsprobe: „"Im
Leben Russlands war die Revolution von 1905 die Generalprobe für die Revolution
von 1917. Die gleiche Bedeutung hat sie auch in meinem Leben gehabt..."
Zweite Verbannung und Flucht
Das Jahr 1906 verbringt Trotzki, wie
viele Revolutionäre, im Gefängnis. Er befasst sich ausführlich mit den Lehren
der Ereignisse von 1905 und entwickelt daraus die Idee der "Permanenten
Revolution": „Ihren direkten und unmittelbaren Aufgaben nach ist die russische
Revolution eine „"bürgerliche"... Aber die Hauptantriebskraft dieser
Revolution bildet das Proletariat - und daher ist sie ihrer Methode nach eine
proletarische."
Er kommt zu einer durch Klarheit und Weitsicht glänzenden Perspektive, wie sie
von Lenin selbst erst Anfang 1917 voll erkannt wird.: „"In einem
wirtschaftlich rückständigen Land kann das Proletariat die Macht eher ergreifen,
als in Ländern mit fortgeschrittenem Kapitalismus... Die Russische Revolution
erzeugt Bedingungen, unter denen die Macht... in die Hände des Proletariats
übergehen kann, bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus die Gelegenheit
gehabt haben, ihre staatsmännische Weisheit zu zeigen."
Im Oktober 1906 werden die Mitglieder des Petrograder Sowjets vor Gericht gestellt.
Trotzki hält im Verlauf dieses Prozesses eine glänzende Verteidigungsrede und
erklärt über den bewaffneten Aufstand: „"Nicht die Fähigkeit der
Massen, andere zu töten, sondern ihre große Bereitwilligkeit - das, meine Herren
Richter, sichert von unserem Standpunkt aus in letzter Instanz den Sieg des
Volksaufstandes."
Die Angeklagten werden zu lebenslänglicher Verbannung nach Sibirien verurteilt,
Anfang 1907 beginnt der Abtransport. Im Februar und März flieht Trotzki auf
abenteuerliche Weise in mehreren Etappen aus Sibirien und kommt schließlich
im April in London an, wo er am 5. Parteitag der SDAPR teilnimmt und die Gelegenheit
hat, seine Ideen der Permanenten Revolution vorzutragen.
Trotzkis Forderung nach einer Wiedervereinigung von Bolschewiki und Menschewiki
ist nicht abwegig. Nach der Revolution von 1905 arbeiten sowohl Menschewiki
wie Bolschewiki auf dieses Ziel hin. 1906 findet in Stockholm ein "Wiedervereinigungsparteitag"
statt. Doch die Verschärfung der diktatorischen Unterdrückungsmaßnahmen in Russland
fördert neue Spaltungstendenzen: Im "menschewistischen" Lager machen sich
Strömungen breit, die unter dem Druck der Diktatur die gesamte straff disziplinierte
Partei auflösen und sich stattdessen nur noch auf legale parlamentarische und
gewerkschaftliche Arbeit beschränken wollen ( "Liquidatorentum"). So gehen
auch Lenin und Trotzki weiterhin getrennte Wege.
Trotzki hält sich in den Jahren bis zum Kriegsausbruch 1914 in Europa auf, hauptsächlich
in Österreich und später in den Balkanländern. Er nimmt aktiv am Leben der örtlichen
Arbeiterbewegung teil, gibt russische Emigrantenzeitungen heraus, schreibt Artikel
für die sozialdemokratische Presse verschiedener Länder und nimmt an internationalen
sozialistischen Kongressen (wie etwa in Stuttgart 1907) teil.
1912 kommt es in Russland erneut zu größeren Klassenkämpfen, nachdem die Arbeiterklasse
lange Jahre schwarzer Reaktion unter dem Diktator Stolypin durchlitten hat.
Für Trotzki ist dieser rasche Aufschwung der Arbeiterbewegung ein neuer Anlass,
um die Vereinigung der verschiedenen sozialdemokratischen Strömungen voranzutreiben.
Er hofft, die neuen Entwicklungen in Russland werden auch die Menschewiki wieder
in Richtung revolutionäre Politik treiben. Schon 1911 hatte Rosa Luxemburg gefordert,
"eine aus Russland beschickte Konferenz zustandezubringen, denn die Leute
in Russland...sind die einzige Macht, die die ausländischen Kampfhähne zur Raison
bringen wird."
Augustblock 1912
Trotzki ruft im August 1912 Vertreter
der verschiedenen Strömungen zu einer Konferenz nach Wien zusammen. Lenin und
die Bolschewiki sind nicht vertreten. Am ersten Tag nach der Konferenz fängt
der „"Augustblock" wieder an auseinanderzubröckeln. Später erkennt
Trotzki seinen Irrtum: Die Unmöglichkeit, die beiden Strömungen zu versöhnen,
die sich fünf Jahre später in der Revolution als offen feindlich gegenüberstehen
sollten.
Noch im selben Jahr wird der Bruch zwischen Bolschewiki und Menschewiki besiegelt.
Nach den harten Jahren der Diktatur hat sich gezeigt, wer zur Arbeiterklasse
steht und wer nur ein Schönwetter-Freund und kluger Exilratgeber ist. Für Lenin
und die Bolschewiki ist die Zeit ist gekommen, um endgültig mit den menschewistischen
Liquidatoren zu brechen und eine Partei auf der Grundlage der wirklichen Arbeiterkämpfe
aufzubauen.
Das Jahr 1912 verschärft wieder das persönliche Klima zwischen Lenin und Trotzki.
Aus jener Zeit lassen sich Dutzende von Zitaten anführen, in denen sowohl Lenin
wie auch Trotzki kein Blatt vor den Mund nehmen, wenn es darum geht, entsprechende
Tendenzen des anderen zu kritisieren. (Jahrzehntelang dienten solche Zitate
den offiziellen Geschichtsschreibern in Sowjetunion und DDR dazu, Trotzki als
"Anti-Leninisten" zu verunglimpfen!.)
Aber was letztendlich vor der Geschichte zählt, sind nicht isolierte Zitate,
die unter speziellen Umständen und in der vergifteten Emigrantenatmosphäre entstanden
sind. Die eigentliche Bewährungsprobe für Revolutionäre ist schließlich die
Revolution selbst. Außerdem hilft ein Blick auf die „"alten Bolschewiki",
um festzustellen wie hilflos sie, die immer treu und redlich alles, was Lenin
sagte, nachredeten, waren, wenn es darum ging, in Lenins Abwesenheit Entscheidungen
zu treffen.
Weltkrieg und Revolution
Die Entwicklung des 1914 ausbrechenden
Weltkriegs bringt Lenin und Trotzki in politischer Hinsicht wieder einander
näher. Beide kommen zu der Schlussfolgerung, dass die Unterstützung der jeweiligen
nationalen Kriegspolitik durch die sozialdemokratischen Parteien einem Zusammenbruch
der Sozialistischen Internationale gleichkommt. Beide erkennen die Notwendigkeit,
alle echten revolutionären Internationalisten zusammenzubringen. So nehmen im
September 1915 beide an einer internationalen sozialistischen Konferenz im Schweizer
Bergdorf Zimmerwald teil. Trotzki verfaßt das Zimmerwalder Manifest: „"Proletarier!
Seit Ausbruch des Krieges habt ihr eure Tatkraft, euren Mut, eure Ausdauer in
den Dienst der herrschenden Klassen gestellt. Nun gilt es, für die eigene Sache,
für die heiligen Ziele des Sozialismus, für die Erlösung der unterdrückten Völker
wie der geknechteten Klassen einzutreten durch den unversöhnlichen proletarischen
Klassenkampf."
1915/16 lebt Trotzki in Paris und gibt dort eine russische Migrantenzeitung
heraus. Wegen „"Gefährdung der öffentlichen Sicherheit" wird er aus
Frankreich ausgewiesen und über Spanien nach New York abgeschoben, wo er Anfang
1917 ankommt.
Er nimmt sofort wieder seine politische und journalistische Arbeit auf. Doch
der Aufenthalt in den USA ist von kurzer Dauer. Wenig später erfährt die Welt
vom Ausbruch der russischen Februarrevolution und dem Sturz der Zarenherrschaft.
Noch im März 1917 bricht die Familie, an Bord eines norwegischen Schiffes, nach
Russland auf.
Die Arbeiterklasse hat zwar die Februarrevolution durchgeführt und faktisch
die Macht in ihren Händen, aber die Führer der Arbeiterparteien fördern über
die Arbeiterräte die Bildung einer provisorischen Regierung des liberalen Bürgertums,
der sie ihre Unterstützung zusagen. Andererseits jedoch verbleibt die entscheidende
Kontrolle über die Betriebe, die Arbeiterviertel und eine wachsende Zahl von
Armee und Marineeinheiten in den Händen der Arbeiterräte (Sowjets). Doch die
neue provisorische Regierung erweist sich sehr schnell als völlig unfähig, auch
nur ein grundlegendes Problem anzupacken (wie z.B.: den Frieden, die Aufteilung
des Landes an die Bauern, die Abschaffung der Lebensmittelknappheit...).
Lenin und Trotzki kommen 1917 (durch einen Ozean voneinander getrennt und ohne
Kontakt zueinander) zu ein und derselben Schlußfolgerung: Die Februarrevolution
müsse zwangsläufig und unmittelbar zu einer zweiten russischen Revolution führen,
nämlich zur Machteroberung durch die Arbeiterklasse.
Als Lenin Anfang April 1917 in Petrograd ankommt, muss er entsetzt feststellen,
dass die bolschewistische Zeitung "Prawda" zur „"kritischen
Unterstützung" der provisorischen Regierung und zur Vaterlandsverteidigung aufruft.
Lenin erreicht es durch harten und zähen Kampf, die Partei wieder auf die Linie
der gnadenlosen Kritik an der provisorischen Regierung zu bringen.
Einen Monat später, am 17. Mai, kommt Trotzki in Petrograd an. Zunächst arbeitet
er mit der um ihn gescharten Organisation ("Zwischengruppe") zusammen,
in der mehrere Arbeiter und später bekannt gewordene Revolutionäre, wie Joffe,
Uritzki und Lunatscharski, Mitglied sind. Lenin und Trotzki erkennen, dass Bolschewiki
und „"Zwischengruppe" weitgehend auf derselben politischen Grundlage
stehen; und Lenin spricht sich für eine Vereinigung der beiden Gruppen aus:
"Unter diesen Umständen wäre unserer Meinung nach eine Zersplitterung der
Kräfte, welcher Art auch immer, durch nichts zu rechtfertigen."
Im Sommer vereinigen sich die Bolschewiki mit der „"Zwischengruppe".
Auf dem Parteitag im August 1917, der eine Weichenstellung für die Orientierung
auf Machteroberung bringt, wird Trotzki in das Zentralkomitee gewählt.
Oktoberaufstand
Trotzki, dessen Popularität unter den
Petrograder Arbeitern schon wegen seiner Rolle in der Revolution 1905 ungebrochen
ist, wird am 6.Oktober zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjets gewählt. Inzwischen
hat sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Bolschewiki gewandelt, weil nur
sie es verstehen, in klaren und einfachen Parolen die Bedürfnisse der Arbeiter
aufzugreifen. Das Zentralkomitee beschließt die Durchführung des Aufstandes.
Trotzki leitet, als Vorsitzender des revolutionären Militärausschusses, die
Machteroberung in Petrograd. Der Aufstand greift schnell auf die anderen Industriezentren
des Landes über.
Am ersten Jahrestag des Oktoberaufstandes kommt Stalin zu der Feststellung:
"Die gesamte Arbeit der praktischen Vorbereitung des Aufstandes verlief
unter der direkten Leitung des Petrograder Vorsitzenden der Sowjets, Trotzki.
Man kann mit Bestimmtheit behaupten, dass die Partei den schnellen Übergang
der Garnison auf die Seite der Sowjets und die richtige Organisierung der Arbeit
des revolutionären Kriegskomitees vor allem und hauptsächlich dem Genossen Trotzki
verdankte."
In den Monaten und Jahren nach dem Oktoberaufstand wird die junge Sowjetrepublik
vor schwere Bewährungsproben gestellt: Im Bürgerkrieg versucht die alte herrschende
Klasse, die Macht zurückzuerobern. 21 imperialistische Armeen dringen von allen
Seiten vor, um die Revolution zu zerschlagen, die Wirtschaft ist zerrüttet,
Hungersnöte kosten unzählige Menschenleben. Gerade in diesen schweren Zeiten
ist Leo Trotzki an den Brennpunkten im Einsatz. Zunächst als Außenminister der
neuen Regierung unter Lenin, dann bis 1925 als Kriegskommissar. Hier baut er
sozusagen aus dem Nichts die Rote Armee auf. Den Großteil der Jahre bis 1920
verbringt er in einem Sonderzug, mit welchem er von Frontabschnitt zu Frontabschnitt
eilt und die Aktionen der Armee leitet.
Es lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass ohne seinen unermüdlichen Einsatz
die technisch schlecht ausgerüstete, dafür politisch hochmotivierte Rote Armee
kaum den Sieg über den inneren und äußeren Feind erreicht hätte.
Kommunistische Internationale
Ab 1920 konzentriert sich Trotzki dann
auf Fragen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und erwirbt sich dabei besondere
Verdienste durch die Aufrichtung des trostlos darniederliegenden Eisenbahnwesens.
Lenin und Trotzki richten auch in dieser Zeit - neben der Verteidigung der revolutionären
Errungenschaften - ihr Hauptaugenmerk darauf, die internationale Revolution
voranzutreiben. Und in der Tat kommt es nach Kriegsende in einer Reihe von Ländern
zu revolutionären Situationen, die der in Russland 1917 ähneln. Aber diese erste
Welle geht vorüber, ohne dass es in irgendeinem Land gelingt, nach russischem
Vorbild den Kapitalismus zu stürzen. Überall werfen sozialdemokratische Führer
ihre ganze Autorität in die Waagschale, um die Massen zu „"mäßigen",
und die echten Marxisten und Revolutionäre sind meistens in der Minderheit und
vor allem zu unerfahren, um sich ähnlich wie Lenin, Trotzki und die Bolschewiki
1917 die Situation zunutze zu machen.
1919 wird in Moskau die Kommunistische „"Dritte" Internationale gegründet,
die innerhalb weniger Jahre zu einem machtvollen Zusammenschluss zahlreicher
kommunistischer Massenparteien wird und deren Führung und Massenbasis sich fast
durchweg aus den Reihen der Sozialdemokratie heraus bildet. Trotzki findet neben
seinen praktischen Aufgaben noch Zeit, um die Manifeste und Resolutionen der
Komintern zu verfassen. Doch die Hoffnung auf eine Revolution in einem fortgeschrittenen
Industrieland erfüllt sich nicht. 1923 muß Trotzki mit ansehen, wie eine erneute
revolutionäre Situation in Deutschland vorübergeht, ohne dass die KPD daraus
rechtzeitig praktische Konsequenzen zieht.
Rückschlag in Rußland und Anfänge des Stalinismus
Die Isolation der russischen Revolution
und die wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit des Landes sowie die
Erschöpfung der Arbeiterklasse und ihre Ausblutung durch Krieg und Bürgerkrieg
schaffen Bedingungen, unter denen die Bürokratie des riesigen Staates Auftrieb
bekommt und sich immer weiter verselbständigt. Karrieristen und dringend benötigte
Fachleute, die 1917 entweder gegen die Revolution gewesen waren oder sich sonstwohin
verkrochen hatten, strömen in die Partei und gewinnen immer mehr Einfluss. Lenin
greift diese Tendenzen in den letzten Jahren seines Lebens offen und ehrlich
auf. Er kommt zu der Schlussfolgerung, daß nicht die Kommunisten den riesigen
Staatsapparat lenken, sondern der Apparat sich allmählich der Kommunisten bemächtigt.
Unter diesen Bedingungen beginnt der Aufstieg Josef Stalins vom Mitglied des
bolschewistischen Zentralkomitees und zunächst relativ unwichtigen „"Generalsekretär"
zum Diktator eines Polizeistaats, der zynisch und rücksichtslos Machtpolitik
betreibt und seine Gegner ausrotten läßt.
Stalin gehört zwar zur Gruppe der Altbolschewisten und Anhänger Lenins, ist
aber weder vor noch während der Revolution durch eigenständige theoretische
Beiträge hervorgetreten. Stalins Fähigkeiten liegen vielmehr im Bereich des
Apparats. So nutzt er seine Position aus, um eine Gruppe von Anhängern um sich
zu scharen. Trotzki wird immer weiter isoliert. Nach Lenins Tod im Januar 1924
kehrt sich Stalin offiziell von der Politik Lenins ab und verkündet den Aufbau
des „"Sozialismus in einem Lande".
Damit beginnt die Entartung der Kommunistischen Internationale, was zwei Jahrzehnte
später zu ihrer Auflösung führt. Trotzki erweist sich als das Haupthindernis
für die Festigung der bürokratischen Herrschaft. So läßt Stalin ihn aus seinen
wichtigsten öffentlichen Ämtern entfernen, und seine „"roten Professoren"
beginnen, den Namen Trotzki allmählich aus den Geschichtsbüchern der Revolution
zu streichen. Alte Meinungsverschiedenheiten mit Lenin aus der Zeit vor 1917
werden wieder hervorgekramt und sinnentstellend zitiert, als ob es eine Todsünde
sei, dem Meister Lenin widersprochen zu haben. Doch dabei bleibt es nicht. Zehntausende
alter Bolschewiki und Anhänger der 1927 von Trotzki gegründeten Linken Opposition
werden aus der Partei entfernt, nach Sibirien verbannt und schließlich hingerichtet.
Trotzki wird 1928 nach Alma Ata an der mongolischen Grenze verbannt und 1929
gewaltsam in die Türkei ausgewiesen.
Niederlagen und Rückschläge
Die 30er Jahre stehen im Zeichen verheerender
Niederlagen und Erschütterungen für die internationale Arbeiterbewegung. Der
Faschismus ist auf dem Vormarsch. In der Sowjetunion wird eine ganze Generation
von Revolutionären ausgerottet.
Trotzki ist in diesen schwarzen Jahren gezwungen, aus der Ferne den Entwicklungen
zuzusehen und versucht, Anhänger um sich zu organisieren. 1932 spricht er in
Kopenhagen vor einer Versammlung sozialdemokratischer Studenten. Von 1933 bis
1937 wird er als Staatenloser in Frankreich und Norwegen hin- und hergeschoben,
gehetzt und gejagt. Ab 1937 verbringt er die letzten Lebensjahre in Mexiko.
Trotz schwerster Bedingungen, Krankheit und Not verfasst er gerade in jenen
Jahren zahlreiche Bücher und Schriften, so über Deutschland und Spanien, die
"Verratene Revolution"....
Nachdem sich Komintern und KPD 1933 weigern, aus der verheerenden Niederlage
der deutschen Arbeiterklasse die Schlussfolgerungen zu ziehen, kommt er zu der
Einsicht, dass diese Internationale nicht mehr auf den Boden Leninscher Politik
zurückzubringen ist und nur noch eine neue Internationale fähig sein könnte,
die Arbeiterklasse der Welt an die Macht zu führen. Trotzki arbeitet auf den
Neuaufbau einer solchen Internationale hin, die sich schließlich 1938 als die
"4. Internationale" gründet. Er muss aber erkennen, dass viele seiner Anhänger
dem unmenschlichen Druck faschistischen und stalinistischen Terrors kaum standhalten
können.
Nachdem schon einzelne Familienmitglieder von den Stalinisten in den Tod getrieben
worden waren, kann sich ein stalinistischer Agent in das Haus Trotzkis einschleusen.
Am 20. August 1940 verübt er einen Mordanschlag auf Trotzki. Dieser erliegt
am folgenden Tag seinen Verletzungen.
Bis zu seinem letzten Tag hat er seinen revolutionären Optimismus behalten.
In seinem Testament schreibt er wenige Monate vor seiner Ermordung: „"Mein
Glaube an eine kommunistische Zukunft ist heute noch stärker, als in meiner
Jugend.... Das Leben ist schön. Die kommende möge es reinigen von allem Bösen,
von Unterdrückung und Gewalt und es voll genießen."