Die Revolution der Nelken
Portugal 1974 – 76: Land- und Betriebsbesetzungen, Rätestrukturen und Massendemonstrationen. Startschuss für dies revolutionäre Szenario gab ein Offiziersputsch vor genau 30 Jahren am 25. April 1974 – die so genannte „Revolution der Nelken“.
Portugal
ist ein Land, in dem sich die kapitalistische Produktionsweise nur sehr
zögerlich und verspätet durchsetzen konnte. Tief bis ins 20. Jahrhundert hinein
galt es als rückständiges Agrarland, das den bereits voll industrialisierten
Staaten Europas um Meilen hinterherhinkte. Schuld daran war nicht zuletzt der
Kolonialismus, dem Portugal wegen hoher Erträge durch Gewürz-, Textil- und
Sklavenhandel lange Zeit mehr Bedeutung beimaß, als der Errichtung eines
Binnenmarktes. Marx schon hatte behauptet, dass sich alte
Gesellschaftsstrukturen so lange am Leben halten, sie also neuen
Produktionsweisen nicht Platz machen, bevor sie nicht alle Mittel und
Ressourcen zur Erhaltung ihrer Existenz ausschöpfen konnten. Auf Portugal
gemünzt: Erst als es Brasilien gelang sich loszulösen und in den verbleibenden
Kolonien in Afrika und Asien anti-imperialistische Befreiungsbewegungen die
Kolonialherrschaft ernsthaft zu bedrohen begannen, begann auch die heimische
Bourgeoisie den monarchistischen Feudalismus zu bedrohen.
1910
gelang es dem portugiesischen Bürgertum durch eine Militärerhebung,
angestachelt und unterstützt von der Arbeiterbewegung, die Macht an sich zu
reißen. Es versäumte jedoch, eine Agrarreform durchzuführen und in bestehende
Besitzverhältnisse einzugreifen; die Privilegien der Großgrundbesitzer blieben
unangetastet und dem Proletariat, das den Bürgerlichen in den Sattel der Macht
verholfen hatte, blieb politische Macht weiterhin vorenthalten. Auf einen Punkt
gebracht: Es war eine bürgerliche Revolution reinster Prägung. Als
gesellschaftshistorische Folge der Teilnahme am Ersten Weltkrieg und der sich
zuspitzenden Lage in den Kolonien konnte sich 16 Jahre später die Rechte
innerhalb des bonapartistischen Militärregimes durchsetzen. Wirtschaftspolitisch
fuhr sie Kurs in Richtung eines protektionistischen Systems unter
staatskapitalistischer Leitung basierend auf der Effektivierung der Ausbeutung
der Kolonien. Der repressive Staatsapparat lässt faschistische Gesichtszüge
erahnen (obwohl in Ermangelung einer sozialen Massenbasis von Faschismus nicht
wirklich gesprochen werden kann): Die Regierung setzte auf die Paralysierung
der Arbeiterbewegung durch Verbot aller demokratischer Parteien und Zeitungen,
und machte mit der blutigen Niederschlagung eines Volksaufstandes und der
Errichtung mehrerer Konzentrationslager deutlich, wie ernst ihr die Sache war.
Nach
Ende des Zweiten Weltkrieges begann sich Portugal sich vorsichtig den
imperialistischen Staaten und Staatenbündnissen anzunähern. NATO, UNO, IWF und
Weltbank stellten Portugal unter der Bedingung des Beitritts vielversprechende
Investitionen, die die inländische Wirtschaft auf Touren bringen sollten, in
Aussicht. Um den Preis der Aufgabe des Protektionismus und dem der totalen
Abhängigkeit von ausländischem Kapital verbuchte Portugal in den 1960er Jahren
nun endlich wieder hohe Wachstumsraten. Von politischer Stabilität kann
trotzdem nicht die Rede sein: Der Krieg in den Kolonien und die Abwerbung
portugiesischer Arbeitskräfte durch Deutschland verlangten der Bevölkerung 2,5
Millionen Menschen ab, was ein Drittel der inländischen Arbeitskraft ausmachte.
Hinzu kommt die Wiederauferstehung der Revolte. Arbeiterklasse, aber auch
Studenten, Militär und selbst Teile der Kirche begannen nun, den Herrschenden immer
deutlicher ihre Zähne zu zeigen. Unter jenem Druck der Massen und angesichts
der aussichtslosen Lage im Kolonialkrieg gewährte Staatschef Caetano sowohl den
Kolonien als auch dem portugiesischen Volk mehr Freiheiten. Eine Lockerung der
Zensur sollte den Protesten den Wind aus den Segeln nehmen. Mit diesen
Maßnahmen konnte das Regime jedoch nichts weiter erreichen, als ihren Untergang
ein wenig hinauszuzögern. Zu explosiv waren die sozialen Konflikte, zu prekär
die ökonomische Lage. Der Kolonialkrieg verschlang 40 % des Staatseinkommens
und hatte das Land an den Rande des Bankrotts getrieben. Die Regierung verlor
ihre Basis; was blieb, waren Polizei und Geheimpolizei.
Die
Bourgeoisie hatte mittlerweile ihre Hoffnung in das Caetano-Regime aufgegeben
und orientierte sich nun in Richtung Militär, wo eine Handvoll Offiziere, die
„Bewegung der Hauptleute“ (MFA), daran war, eifrig Pläne für einen Putsch zu
schmieden. Am 25. April 1874 wurden aus Plänen Taten: Der Staatsstreich der
MFA, angeführt von Spinola (der unter Franco gegen die Republik in Spanien
gekämpft hatte), ist ein voller Erfolg. Die MFA proklamierte die „Junta zur
nationalen Errettung“, deren Programm auf alles andere orientiert war als auf
Arbeiterinteressen. In gegenwärtige Besitzstrukturen sollte nicht eingegriffen
werden, es wurde eine selektive Demokratisierung eingeführt, die Bevölkerung
jedoch als aktiver Machtfaktor ausgeschlossen. Das war das richtige Rezept,
sich sowohl bei der NATO als auch bei der inländischen Bourgeoisie Sympathie zu
verschaffen. Die Mission der neuen Junta lag auf der Hand: Der drohenden
Revolte gegen das Caetano-Regime zuvorzukommen. Nichts fürchtete man mehr als
die Massen aufgebrachter PortugiesInnen auf den Straßen der Industriezentren.
Die Rechnung sollte aber nicht aufgehen. Noch am Tag der Machtübernahme schlug
der Putsch in einen Volksaufstand um. Massendemonstrationen in den
Ballungszentren ließen die Junta und hinter ihr die Bourgeoisie vom Scheitel
bis zur Ferse erzittern. Die DemonstrantInnen jagten Mitglieder der verhassten
ehemaligen Geheimpolizei und richteten einige in wütender Selbstjustiz hin.
5.000 DemonstrantInnen versammelten sich vor dem Caxia-Gefängnis und forderten
die Freilassung aller Inhaftierten. Repräsentiert war die entstandene
Massenbewegung weniger von politischen Parteien als von Einheitskomitees unter
Teilnahme der Arbeiteravantgarde. Die Komitees etablierten sich in den
Stadtvierteln, organisierten die Absetzung der Repräsentanten der ehemaligen
Regierung, übernahmen deren Kompetenzen und veranstalteten Massenversammlungen,
um dem hohl geworden Wort „Mitbestimmung“ Leben einzuhauchen.
Weitgehend
unberührt von der Bewegung blieb der Norden des Landes, wo politische
Säuberungen nur sehr halbherzig und eingeschränkt durchgeführt wurden, es nicht
gelang eine relevante linke Massenbewegung ins Leben zu rufen, und es der
Kirche glückte, ihre Machtposition großteils zu behalten.
In
den Industriezentren geriet die Bewegung jedoch erst jetzt so richtig in Gang:
Streiks um Lohnerhöhungen, Formen von Arbeiterkontrolle in den Betrieben und
erste Ansätze von Rätestrukturen brachten die MFA in eine missliche Lage. Die
Bourgeoisie hatte ihr nämlich ihre Unterstützung zugesagt, sofern die Junta
Ruhe und Ordnung im Land bewahrt. Am 15. Mai wurde ein Verfassungsdekret
verabschiedet, welches einen vierzehnköpfigen Staatsrat als legislative Kraft
ernannte. Der Staatsrat setzte sich zusammen aus sieben Delegierten der
Militärjunta und sieben von Spinola persönlich ernannten Vertrauensleuten.
Hauptaufgabe der neuen provisorischen Regierung sollte erstens die Vorbereitung
allgemeiner Wahlen sein, zweitens die möglichst rasche Eindämmung der
Massenbewegung. Von den innenpolitischen Unruhen nahm nun auch der
Imperialismus Notiz, der nicht lange zögerte, noch zu retten, was zu retten
war: Kapitalflucht und Investitionsstop und ein damit einhergehender
drastischer Inflationsanstieg kündigten im Sommer 1974 schon die nächste fatale
Wirtschaftskrise an. Die hohe Inflation hatte bereits die Lohnerhöhungen von
April wettgemacht, die Fabrikbesitzer versuchten mittels Sabotageakten die
Arbeiterkontrolle über die Betriebe zu schwächen, was allerdings nur noch zu
weiterer Radikalisierung der Massen führte. Indes unternahm Spinola, der in der
provisorischen Regierung immer mehr an Kompetenzen einbüßen musste, am 28.
September mithilfe eines Marsches seiner Basis (größtenteils Kleinbürger, deren
Betriebe unter Arbeiterkontrolle geraten waren) gen Lissabon den Versuch, seine
Vormachtstellung zurückzuerobern. Der reaktionäre Putschversuch konnte durch
die organisierte Arbeiterbewegung mittels gewaltiger Gegendemonstrationen und
Barrikaden vereitelt werden. Die Niederlage Spinolas bedeutete gleichzeitig
sein Ende als Ministerpräsident Portugals.
Unter
seinem Nachfolger, General Gomes da Costa, erfolgte ein starker Linksruck
innerhalb der Regierung, deren neues Konzept ein Bündnis zwischen Volk und MFA
vorsah. Die Regierung sollte sich auf die organisierte Arbeiterbewegung
stützen, die man mit erweiterten Rechten ausstattete; Endziel sei eine
Umgestaltung der Gesellschaft. Die Arbeiterklasse – voller Selbstvertrauen nach
dem niedergeschlagenen Putschversuch – trieb den revolutionären Prozess weiter
voran. Nach zahlreichen Betrieben wurde nun auch Landgut besetzt, so genannte
„Komitees der Wachsamkeit“ installiert, Wahlen auf Personalvollversammlungen
ernannten Delegierte für überbetriebliche Kommissionen und all das unter
ständig wachsender Beteiligung des Proletariats. Die Bourgeoisie reagierte mit
Unterstützung oppositioneller bürgerlicher Parteien und dem Aufbau einer
„Portugiesischen Befreiungsarmee“, die EG mit dem Hinauszögern versprochener
Kredite. Am 11. März 1975 unternahm Spinola einen weiteren jämmerlichen
Putschversuch, der mühelos von der Arbeiterbewegung gestoppt werden konnte.
Noch am selben Tag wurden Junta und Staatsrat (Kompromisse mit der
Spinola-Tendenz) aufgelöst und ersetzt durch den „Obersten Revolutionsrat“, der
Legislative und Exekutive in sich vereinte. Die MFA, die den Revolutionsrat
personell dominierte, wurde per Verfassung als Garant der Revolution
deklariert. Das neue Dekret führte zu einer rasanten Verstaatlichungswelle: Die
MFA sah sich angesichts der Eigendynamik, die die Arbeiterbewegung zu
entwickeln begann, gezwungen, besetzte Betriebe (darunter die namhaftesten
Banken und Versicherungen) zu vergesellschaften, um der Bildung eines robusten
Räteapparats einen Riegel vorzuschieben. Trotz all der revolutionären Rhetorik
lag nämlich ein von ArbeiterInnen regiertes Portugal den Interessen der MFA
fern. So war man dazu verleitet, aus Arbeiterkontrolle so schnell wie möglich
staatliche Kontrolle zu machen, um ja zu verhindern, dass die Bewegung die
Grenzen des kapitalistischen Systems überschreitet und man sie nicht mehr in
Schach halten kann.
Den
ersten herben Rückschlag für die MFA stellten die Wahlen zur
verfassungsgebenden Versammlung Ende April 1975 dar, die die reformistische SP
mit einer Mehrheit von 38 % ausstattete. Die Bevölkerung hatte zu diesem
Zeitpunkt den konterrevolutionären Verrat der SP, die stets gegen den
Verstaatlichungskurs des Revolutionsrates opponiert hatte, noch nicht erkannt.
Ungeachtet des Wahlergebnisses setzte der Revolutionsrat seinen
Verstaatlichungs- und Sozialisierungskurs fort, woraufhin die SP im Sommer aus
der Regierung austrat. Dadurch verlor diese einen beachtlichen Teil ihrer
Basis, und damit auch den breiten Rückhalt der Bevölkerung, was in
terroristischen Anschlägen gegen Büros von Gewerkschaften und diversen
Linksparteien ausartete. Zudem verlor die MFA durch Uneinigkeiten innerhalb der
Organisation auch noch eine klare Stoßrichtung: Während eine (KP-nahe) Tendenz
eine anti-monopolistische Strategie vertrat, sah eine andere im
Sozialisierungsprozess das Fundament für eine Umgestaltung der Gesellschaft.
Regierungschef Goncalves, der ersterer Strömung angehörte, versuchte mittels
anti-monopolistischer Politik die Klein- und Mittelbourgeoisie für ein
Volkfrontbündnis zu gewinnen. Jene war aber durch die Legalisierung von
Betriebs- und Landbesetzungen abgeschreckt und lehnte Kooperation kategorisch
ab. Die MFA war also nicht mehr zu erhalten und zerbrach an ihrer Uneinigkeit
und an der üblen wirtschaftlichen Lage des Landes, in die es der
Investitionsstop des Imperialismus gefahren hatte.
So
trat am 6. September 1975 eine neue Regierung an, die nicht viel Zeit
vergeudete, um auf harten Konfrontationskurs gegen die Arbeiterbewegung und die
von ihr errichteten Doppelmachtstrukturen zu gehen. Neben politischer
Entmachtung der Basiskommissionen und Einwohnerräten sowie linker Militäreinheiten
unternahm sie außerdem schmerzhafte ökonomische Angriffe. Mit einem Lohnstopp
und der Aufhebung des Preisstops für Grundnahrungsmittel sollte die
Unterstützung des Imperialismus wiedererlangt werden, der sich nun wieder
gefahrlos in Portugal mit Krediten und Investitionen einnisten konnte. Ein
erfolgreicher Streik der Bauarbeiter und eine gescheiterte Revolte von einigen
Fallschirmjägerkontingenten sollten das letzte Aufbegehren gegen die neue
Regierung vor den allgemeinen Parlamentswahlen am 25. April 1976 – dem zweiten
Jahrestag der „Revolution der Nelken“ – sein. Die neu verabschiedete Verfassung
beinhaltete größtenteils Errungenschaften der Arbeiterbewegung der beiden
vergangenen Jahre – die Herrschaft des Kapitals wurde jedoch von der breiten Masse
nun nicht mehr in Frage gestellt.
Die
portugiesische Revolution (sie kann trotz fehlender Vollendung getrost
„Revolution“ genannt werden) zeigt sehr deutlich, dass es für eine
revolutionäre Bewegung keineswegs einer Verelendung der Massen und eines sie
gnadenlos unterdrückenden, faschistoiden Diktators bedarf. Ein gesunder Marxist
reibt sich nicht erwartungsvoll die Hände, wenn die Arbeiterklasse ihrer Rechte
und Löhne beschnitten wird, in Hoffnung auf eine automatisch hervortretende
Erhebung der Massen. Erst als mit der „Revolution der Nelken“ im April 1974,
selektiv demokratische Rechte eingeführt, die Zensur gelockert und die Löhne
erhöht wurden, begann die Bewegung in Gang zu kommen, und je mehr sich die
Linke in den darauffolgenden zwei Jahren in der Regierung durchsetzte, desto
mehr wurde die sozialistische Revolution, getragen von der Masse der
LohnarbeiterInnen, Realität. Trotzdem scheiterte die Erhebung, die Revolution
wurde nicht vollendet; nicht zuletzt in Ermangelung einer in der Bewegung fest
verankerten revolutionären Partei, die die einzig richtige Antwort auf die
Frage einer Revolution in einem rückständigen Agrarland liefern hätte können:
die permanente internationale Revolution.
weitere
Artikel und Analysen zu dem Thema unter: www.marxist.com