Israel
Nationale Einheit oder Klassenkampf?
Die politische Situation Israels wird meistens im Lichte des Palästina-Konfliktes beschreiben, wobei die israelische Bevölkerung als homogen dargestellt und wahrgenommen wird. Das überdeckt die Grenzen, die innerhalb der israelischen Gesellschaft selbst verlaufen. Denn auch im „Heiligen Land“ findet sich eine Klassengesellschaft, die in sich tief gespalten ist.
Die soziale Situation innerhalb Israels ist nicht weniger explosiv als die Spannungen aufgrund des palästinensischen Widerstandes. Angesichts des immer lebendiger werdenden Klassenkampfes in Israel versucht die herrschende Klasse, diese Realität zu verzerren und propagiert umso mehr die Notwendigkeit der Einheit der israelischen Bevölkerung gegen den gemeinsamen äußeren Feind.
Dass die israelische Gesellschaft in sich vielfach gespalten ist, reicht bis zur Gründungszeit des Staates zurück. Zu Beginn bildeten die aschkenasischen JüdInnen, also EinwandererInnen aus Mittel- und Osteuropa, die Mehrheit der Bevölkerung. In den 50er Jahren kam eine große Zahl sephardischer EinwandererInnen, die aus arabischen Ländern vertrieben wurden, hinzu. Sephardische JüdInnen waren meist arm, wenig ausgebildet und bilden bis heute den größten Teil der ArbeiterInnenklasse, während die herrschende Klasse und die Mittelschicht von aschkenasischen JüdInnen dominiert ist. Die Elite nutzte die aus den arabischen Ländern kommenden JüdInnen als billigen Ersatz für palästinensische ArbeiterInnen in den landwirtschaftlichen Genossenschaften. Sie wurden in Slums untergebracht, wo viele von ihnen bis heute leben und aufgrund der nichteuropäischen Herkunft mit Misstrauen betrachtet und kulturell unerdrückt werden.
In der jüngeren Geschichte immigrierte etwa eine Million JüdInnen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel. Diese kamen zum größten Teil nicht aus religiösen Gründen, sondern weil sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihrer Lebensgrundlage beraubt worden waren. Es handelt sich hauptsächlich um hochqualifizierte Personen, ÄrtztInnen, IngeneurInnen. Obwohl die Universitäten und qualifizierten Stellen z.B. in Krankenhäusern heute überproportional mit EinwandererInnen aus den heutigen GUS-Staaten besetzt sind, erlitten dennoch viele, denen vorher Wohlstand und soziale Sicherheit versprochen worden war, letztendlich ein ähnliches Schicksal wie die sephardischen ZuwandererInnen der fünfziger Jahre. Tausende ehemalige SowjetbürgerInnen leben bis heute in Wohnwagensiedlungen und machen den größten Teil der arbeitslosen Bevölkerung aus. Noch schlechter jedoch erging es den äthiopischen ImmigrantInnen, die etwa zur gleichen Zeit – wenn auch in viel geringerer Zahl – nach Israel kamen. Die Kluft zwischen schwarzen und weißen JüdInnen ist groß. ZuwandererInnen aus Äthiopien sind besonders betroffen von Verarmung, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Drogenmissbrauch und sie stellen den höchsten Anteil an SchulabbrecherInnen.
Teil der ArbeiterInnenklasse Israels sind außerdem die etwa 140 000 nicht-jüdischen ArbeitsmigrantInnen, von denen etwa die Hälfte illegal im Land lebt und arbeitet. Mittlerweile leben ganze Wirtschaftszweige von diesen hauptsächlich aus der ehemaligen Sowjetunion, den Philippinen, Afrika und Lateinamerika stammenden EinwandererInnen. Sie dienen der israelischen Wirtschaft als billige Arbeitskräfte abseits der PalästinenserInnen und werden auf arbeitsrechtlicher und gesellschaftlicher Ebene massiv diskriminiert.
Israelische PalästinenserInnen
PalästinenserInnen mit israelischer Staatsbürgerschaft machen etwa 20% der Bevölkerung aus und sind besonders stark von systematischer Schlechterstellung betroffen. Aus dem Selbstverständnis Israels als "jüdischer Staat" resultiert bereits strukturell eine Benachteiligung und ein Ausschluss der nichtjüdischen Bevölkerung. Öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheits- und Sozialfürsorge und Bildung sind ihnen in weitaus geringerem Maße zugänglich, obwohl sie die gleichen Steuerabgaben zu leisten haben. Einige palästinensische Dörfer und Kleinstädte innerhalb des israelischen Staatsgebietes sind nicht einmal auf den Landkarten verzeichnet und damit auch vollständig von kommunalen Diensten ausgeschlossen. Kulturelle Diskriminierung äußert sich in der Unterdrückung der arabischen Sprache in den Medien, in der Ignoranz gegenüber einer arabischen oder palästinensischen Identität in den Schulen, wo ausdrücklich „jüdische“ Geschichte gelehrt wird. Die Freiheit palästinensischer Israelis wird durch institutionalisierten Rassismus beschnitten, ständig werden sie von der Polizei kontrolliert und schikaniert. Der israelische Staat bemüht sich seit Jahren, die palästinensische Bevölkerung aus den gemischten Städten zu vertreiben, in dem sie z.B. keine Baugenehmigungen an sie erteilt und bereits errichtete Häuser und Wohnungen nachträglich für illegal erklärt.
Säkularität und Religion
Auch in der Glaubensfrage spaltet sich die israelische Gesellschaft, die Spannung zwischen religiösen und säkularen JüdInnen steigt. Über 70% der Bevölkerung stufen sich zwischen "säkular" und "nicht orthodox" ein. Der größte Teil der Bevölkerung lehnt daher auch religiöse Einschränkungen im Bereich des öffentlichen Lebens und Privilegien wie die der orthodox religiösen Jeschiwot-Schulen ab. Selbst die Mehrheit der SiedlerInnen in der Westbank und Gaza lebt dort nicht aus militanter Überzeugung, um den vermeintlichen Anspruch auf diese Gebiete zu verteidigen, sondern einfach deswegen, weil Wohnraum in Städten wie Tel Aviv oder Jerusalem nicht erschwinglich ist.
Wirtschaftskrise...
Um als Staat angesichts der schwierigen Umstände und all der vorhandenen Widersprüche nicht zusammenzubrechen, braucht Israel den starken gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine Strategie dazu war in der Vergangenheit ein besonders starkes Eingreifen des Staates in das Leben der Israelis sowie eine geschützte Wirtschaft. Sowohl der Großteil der Industrie wie auch eine relativ weitgreifende Gesundheits- und Sozialversorgung und ein gutes Bildungssystem lagen bis Mitte der neunziger Jahre in der Hand der staatlichen Organisation Histadrut, die heute nur noch als Gewerkschaftsdachverband fungiert. Dadurch wurde das Gefühl einer gewissen sozialen Sicherheit erzeugt, und Klassenunterschiede kamen nicht so stark zum Ausdruck.
In den neunziger Jahren änderte sich die protektionistische Wirtschaftspolitik. Der gesamte staatliche Industriebesitz und dann auch das Gesundheits- und Bildungssystem wurden schrittweise privatisiert. Der neoliberale Umschwung führte zu einer massiven Verschlechterung der öffentlichen Versorgung, zu steigender Arbeitslosigkeit und zur Verarmung großer Teile der Bevölkerung. Selbst Phänomene wie Obdachlosigkeit, die früher undenkbar waren, nehmen zu.
Heute befindet sich die israelische Wirtschaft in einer tiefen Krise, die nicht urtsächlich, aber auch durch die explodierenden Kosten, die durch die Aufrechterhaltung der Besatzung der palästinensischen Gebiete entstehen, verursacht wird. Auf Israels ArbeiterInnen werden so nun massive Angriffe gestartet, die bereits zu einer breiten Verarmung geführt haben. Mehr als 50% der Bevölkerung verdienen lediglich den Mindestlohn, und die Arbeitslosigkeit liegt bei fast 20%.
...und Massenbewegung
Schon in den letzten Jahren gab es Massenbewegungen der israelischen ArbeiterInnen gegen Lohnkürzungen und Entlassungen, vor allem im öffentlichen Bereich. Nun hat sich die Situation enorm zugespitzt. Seit dem 29. September streikten in Israel über 60.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr setzen sie sich gegen heftige Einschnitte der rechtskonservativen Regierung in den Staatsausgaben und der Sozialversicherung zur Wehr. 600 Entlassungen hatte die Gewerkschaft bereits im Mai zugestimmt – nun sollen weitere 2.000 Stellen gestrichen werden, das gesamte Kürzungsprogramm umfasst rund 2 Milliarden Euro. Insbesondere in den Häfen wurde der Streikaufruf massiv befolgt – über 40 Schiffe lagen bereits nach zwei Tagen wartend in den Anlagen. Zusätzlich planen nun auch die Studierenden einen Streik, nach dem sich die Regierung weigert die Studiengebühren wie versprochen zu verringern. Nach wochenlangem Drohen hat der Histadrut weitreichende Streikmaßnahmen angekündigt. Anfang November streikten der öffentliche Dienst, Banken, Postämter, Züge und der Flughafen in Tel Aviv vier Stunden lang. Ein Generalstreik war per Gericht verboten worden. Ein Generalstreikszenario versetzt die herrschende Klasse verständlicherweise in Angst und Schrecken, die angekündigt hatte, „alle notwendigen Mittel“ einzusetzen, um einen Massenstreik zu brechen.
Klassenkampf statt nationaler Einheit
Der entscheidende Trumpf, den der israelische Staat in Händen, hält ist die Angst der Bevölkerung vor der äußeren Bedrohung. Der palästinensische Terrorismus spielt der herrschenden Klasse in die Hände, die damit die Notwendigkeit eines enormen Repressionsapparates begründen kann. Sharon versucht, den Ärger gegen das korrupte Regime zu kanalisieren und in eine nationalistische Richtung zu lenken, was sich in besonders brutalen Angriffen auf die PalästinenserInnen, aber auch in den jüngsten Militärschlägen gegen Syrien ausdrückt.
Diese Strategie scheint jedoch immer mehr an Wirksamkeit zu verlieren, da neben den ökonomischen Kämpfen auch die Bewegung innerhalb Israels gegen die Repression in den besetzten Gebieten wächst. Das jüngste Beispiel nach den „Refuseniks“, die den Militärdienst in der Westbank und dem Gazastreifen verweigern, sind nun 27 protestierende Piloten. Sie hatten in einer öffentlichen Deklaration bekannt gegeben, sich nicht weiter an gezielten Tötungen palästinensischer militärischer und politischer FührerInnen zu beteiligen, bei denen in der Realität dann palästinensische ZivilistInnen ermordet werden.
Diese Weigerung der Piloten spiegelt nicht nur die breite Unzufriedenheit innerhalb der Armee, sondern auch in der israelischen Gesellschaft als ganzes wider. Die öffentliche Debatte über die Unrechtmäßigkeit der Besatzung ist ein Ergebnis der allgemeinen ökonomischen und sozialen Krise. Immer mehr Israelis erkennen, wo ihr hart verdientes Geld investiert wird, nämlich in den Militärapparat und in den Ausbau und Schutz der Siedlungen. Der blutige Krieg kostet nicht nur unzählige palästinensische und israelische Leben, sondern hat auch einen hohen sozialen und ökonomischen Preis. Die Klassenkämpfe, die sich nun auf einem neuen Höhepunkt befinden, bieten einen konkreten Ansatzpunkt dafür, dass die israelischen ArbeiterInnen sehen, dass ihre wahren BündnispartnerInnen nicht ihre israelischen Bosse sind, sondern ihre palästinensischen KollegInnen.
Marina Kosara