Parlamentswahlen in Indien

India shining?!

 

Indien wählt: In 4 Phasen finden Ende April/Anfang Mai Lok Sabha (Parlaments-) Wahlen statt. Grund genug, einmal einen Blick auf den Subkontinent zu werfen...

 

Seit Indiens Unabhängigkeit von Großbritannien 1947 bis Ende der 1990er (mit 2 Unterbrechungen) war die Politik dominiert von der Congress Partei und der Nehru-Gandhi “Dynastie”. Ende der 1990er (aufgrund instabiler Mehrheitsverhältnisse bei den  Wahlen von 1996, 1998 und 1999) erlangte die Parteienallianz NDA (New Democratic Alliance) geführt von der BJP (Bharatiya Janata Party = indische Volkspartei) unter A.B. Vajpayee die absolute Mehrheit. Obwohl sowohl Congress als auch BJP mit (regionalen) Parteien Allianzen bilden müssen, werden die Lok Sabha Wahlen 2004 im Wesentlichen zwischen der BJP und dem Congress entschieden.

 

Bei beiden Parteien handelt es sich um bürgerliche Parteien, wobei die BJP die Interessen der Großbourgeoisie vertritt, während der Congress auch das Kleinbürgertum hinter sich hat. Historisch betrachtet hat der Congress die Basis für die jetzige BJP-Politik gelegt (Privatisierungen, Liberalisierung): Nach der Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien 1947 hatte die Großbourgeoisie die Vormachtstellung im Staatsapparat. Für den Aufbau von Infrastruktur und einer Rohstoff- und Schwerindustrie war nicht genug privates Kapital vorhanden, also sollte mittels des Staatsapparates die kapitalistische Entwicklung vorangetrieben werden: Unter Nehru wurden große Teile der Wirtschaft verstaatlicht, eine Planungskommission erstellt (bis heute) Fünfjahrespläne. Indien zählte zwar zu den ‘Blockfreien”, doch erhielt es über lange Zeit Wirtschaftshilfe von der Sowjetunion. Die Verstaatlichte sollte als Zugpferd für die Entwicklung des Kapitalismus dienen. Banken und das Versicherungswesen wurden ebenfalls verstaatlicht, während ArbeiterInnen und Bauernschaft brutaler Ausbeutung ausgesetzt wurden, um die Fünfjahrespläne zu erfüllen, die der Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisie dienten.

 

Der Markt expandierte jedoch nicht wie erhofft, was nicht weiter verwunderlich ist, denn es gab keine Kaufkraft unter den Massen der Landbevölkerung, die sich noch immer (und das größtenteils bis heute) unter dem Joch der Zamindaris (Landbesitzer) und talukdaris (Großgrundbesitzer) befanden. Den Ausweg aus der Krise sollten Kredite von IWF und Weltbank schaffen, deren Auflagen der Congress bereitwillig erfüllte. Über die Jahrzehnte konnte die Bourgeoisie Kapital akkumulieren und profitierte von staatlichen Subventionen. In den 1980ern war genug privates Kapital vorhanden und die Bourgeoisie war bereit für den nächsten Schritt: Die Übernahme der bisher verstaatlichten Industrie. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und weitere Weltbank- und IWF-Kredite beschleunigten diesen Prozess noch, der unter Rajiv Gandhi begann und den die BJP jetzt intensiv weiter verfolgt. Die Großbourgeoisie profitiert enorm von den Privatisierungen und der Liberalisierung, im Gegenzug geht die Schere zwischen „bis-zum-verhungern-arm“ und „super-reich“ immer weiter auseinander.

 

Ein paar Beispiele gefällig? Aber bitte sehr, hier 2 davon...

Bis zum Jahr 2000 war die Stromversorgung Indiens in den Händen staatlicher Monopole. Der Bedarf an Strom übersteigt bei weitem die produzierte Menge und Stromausfälle bzw. -abschaltungen gehören zum Alltag in Indien. Die “Lösung” des Problems: Madhya Pradesh nahm im Jahre 2000 Kredite von der Weltbank und der ADB (Asian Development Bank) auf und verabschiedete im Rahmen der Kreditbedingungen 2000 den Energy Reforms Act: der Strommarkt wurde liberalisiert. Den Rest kennen wir ja: Gebührenerhöhungen von bis zu 800% waren die Folge. Die Leute konnten ihre Stromrechnungen nicht mehr bezahlen und in Folge wurden kurzerhand ganze Dörfer von der Stromversorgung abgeschnitten.

Die Vorgangsweise bei den jüngsten Privatisierungen von verstaatlichten Industrienunternehmen rief heftige Kritik hervor: Die staatlichen Aktienanteile an der ONGC (Oil and Natural Gas Corporation) wurden im Februar 2004 für 300 Rs weniger verkauft als sie noch 3 Wochen davor wert waren.

 

Die Agrarfrage

 

Indien zählt zu den so genannten “Schwellenländern”. Cirka die Hälfte des BIP wird im Dienstleistungsbereich (IT-Branche und Call Centers) erwirtschaftet, die andere Hälfte zu etwa gleichen Teilen in der Industrie und in der Landwirtschaft. Jedoch leben ca. 2/3 der Bevölkerung von der Arbeit im Agrarsektor und mehr als 70% wohnen in ländlichen Gebieten. Daraus ergibt sich, dass der Agrarfrage eine zentrale Bedeutung zukommt:

Die Unabhängigkeitsbewegung war u.a. deswegen erfolgreich, weil es eine Massenbewegung war. Die Führung der Bewegung unter Mahatma Gandhi war aber klar bürgerlich. 1947 erlangte Indien zwar die nationale Unabhängigkeit aber Kastenwesen, Großgrundbesitz, Armut und Ausbeutung blieben. Seitens der Congress–Partei, die fürchtete, die Bewegung könne aus ihrer Kontrolle geraten, bestand kein Interesse, die Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu erfüllen. So kam es (bis auf die Bundesstaaten mit einer starken Arbeiterbewegung West Bengal, Kerala und Tripura) zu keinen Landreformen. Kapitalistische Produktionsverhältnisse bestimmen heute den Agrarsektor: Charakteristisch ist die Proletarisierung der LandarbeiterInnen, die oft als Taglöhner aufgrund der Wetterverhältnisse nur durchschnittlich 180 Tage im Jahr Arbeit haben und für die es keine gesetzlichen Mindestlöhne oder sonstige soziale Absicherungen gibt.

Aus den Zamindaris wurden kapitalistische Ausbeuter, die halbfeudalen Besitzverhältnisse blieben aber. Die viel zitierte “Grüne Revolution” unter Indira Gandhi (hohe staatliche Förderungen für den Agrarsektor in den 1970ern) steigerte die Produktivität in der Landwirtschaft, es profitierten jedoch ebenfalls nur die Großgrundbesitzer davon. Jene Kleinbauern, die ihr eigenes Land bewirtschaften, machen heute auf ihre Weise Schlagzeilen in den regionalen Tageszeitungen: aufgrund der hohen Selbstmordrate! Viele sind verschuldet und können Kredite nicht zurückzahlen, weil sie mit den Preisen “nicht mithalten“ können.

Damals wie heute umgehen die bürgerlichen Parteien dieses Problem, dessen Lösung innerhalb des Kapitalismus unmöglich ist. Seit die BJP Ende der 1990er, WTO-Vereinbarungen folgend, begann, Subventionen im Agrarsektor zu streichen, hat sich die Krise in diesem Bereich noch verschärft. Laut offiziellen Daten leben 285 Millionen Inder im ländlichen Bereich unter der Armutsgrenze.

 

India shining?

In einer breit angelegten Werbekampagne, die seit Monaten sämtliche Zeitungen und Magazine füllt, rühmt sich die BJP damit, Indien durch ihre Politik “shining” gemacht zu haben. Wie schaut diese Politik der BJP aber wirklich aus?

Viele Schlüsselpositionen in der Partei werden von Kadern der RSS bekleidet. Die RSS (Rashriya Swayamsevak Sangh = “nationale Freiwilligenorganisation”) wurde 1925 gegründet, mit dem Ziel, aus Indien eine “Hindu–Nation” zu machen und in verschiedenen Sphären der Gesellschaft Einfluss zu nehmen. Sie ist auch der think tank der BJP. Unter dem Schlagwort “Hindutva” (Hindutum) werden religiöse Minderheiten, insbesondere die Moslems (ca. 12% der indischen Gesamtbevölkerung), diskriminiert und unterdrückt. 1992 hatten radikale Hindus in Ayodha eine Moschee zerstört. Seitdem nützt die BJP jede Gelegenheit um die Errichtung eines Rama–Tempels an der selben Stelle zu fordern. Die Diskriminierung von Moslems wird von den Sicherheitsorganen und der Regierung gedulde,t und während weltweit das Schreckgespenst islamischer Fundamentalismus um sich greift, macht sich in Indien unbemerkt vom Rest der Welt fanatischer Hinduismus mancherorts breit: Im März diesen Jahres wurde in Madhya Pradeh das Haus der Familie einer Studentin von Mitgliedern der rechten Hindupartei VHP (Vishwa Hindu Parishad = internationale Hinduföderation) gestürmt. Die Männer forderten eine Bestrafung des Mädchens wegen Beleidigung der Götter Ram, Sita und Laxman. Nachdem die Familie sich gegen die Bestrafung der Tochter gewehrt hatte, wurden die Männer gegen die Familienangehörigen gewalttätig. Das Mädchen hatte an einem Theaterstück über Göttergeschichten mitgewirkt. Dieser Fall ist kein Einzelfall, und die staatlichen Sicherheitsorgane verhalten sich in solchen Fällen passiv.

Der säkulare Charakter Indiens ist also rein oberflächlich.

 

Innere Sicherheit

 

Religiöse bzw. ethnische Minderheiten, politische Gegner der BJP und die, die durch ihre Stellung im Kastensystem ohnehin schon zu den Unterdrückten gehören, bekommen die repressive Innenpolitik der BJP am meisten zu spüren: Seitdem der POTA (Prevention Of Terrorism Act) im Zuge des 11. Septembers 2001 beschlossen wurde, sind es hauptsächlich Moslems und Kommunisten, die aufgrund des POTA angeklagt und hinter Gitter gebracht wurden. Jüngst erregte ein Fall großes Aufsehen, wo in Gujarat ein 16jähriges Mitglied einer kommunistischen Jugendorganisation aufgrund des POTA zu einer Haftstrafe verurteilt worden war.

 

Das Kastenwesen

 

Seit 1950 ist das Kastenwesen offiziell abgeschafft und die Unberührbarkeit verboten. Dennoch ist das Kastensystem bis heute die Struktur der indischen Gesellschaft. Für die Dalits (das sind die ehemaligen Unberührbaren, etwa 17% der Gesamtbevölkerung), die so genannten “scheduled castes” und die untersten Kasten, die so genannten OBCs (other backward castes), wurden von der indischen Regierung in öffentlichen Einrichtungen wie Colleges, Beamtenposten, aber auch im Parlament usw. Quotenplätze geschaffen (etwa 15%). Bis heute können diese Quotenplätze von den Zugehörigen der genannten Kasten nicht ausgefüllt werden, daher bleiben oft Plätze leer. Derzeit denkt die BJP laut darüber nach, die Quotenregelung wieder zu streichen – verbunden mit einer Hetzkampagne gegen die untersten Kasten und natürlich ohne zu Fragen, warum es nach fast 50 Jahren für diese Menschen noch immer nicht möglich ist, diese Plätze in Anspruch zu nehmen.

 

Indien und Pakistan

 

1947 schlossen die beiden bürgerlichen Parteien des indischen Subkontinents – der Congress und die Muslim League mit dem britischen Imperialismus einen fatalen Kompromiss: In der Folge wurde das Land geteilt, und Indien und Pakistan wurden geschaffen. Die von der Bourgeoisie vorgenommen Teilung “entlang religiöser Linien” löste ein Blutbad und Massenfluchtbewegungen auf beiden Seiten aus. Seitdem sind die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan gespannt, ein deutliches Zeichen dafür ist der Dauerkonflikt um Jammu und Kashmir. Laut Artikel 370 der indischen Verfassung hat Kaschmir einen speziellen Status und Autonomie. Von der BJP wurde dieser Status jedoch wiederholt in Frage gestellt. 1999 und 2001 kam es zu kriegsnahen Auseinandersetzungen zwischen Indien und Pakistan und 2003 trat der Konflikt in eine neue Phase als beide Länder atomwaffenfähige Kurzstreckenraketen testeten. Der Dauerkrisenherd Kashmir wird von den Regierungen beider Länder benutzt, um von innenpolitischen Fehltritten abzulenken und Nationalismus in der Bevölkerung zu schüren. Jüngst bemühte sich Vajpayee im Rahmen des Wahlkampfes zwar um eine Verbesserung der Beziehungen zu Islamabad, eine dauerhaften Lösung des Konflikts ist jedoch unter den gegebenen sozialen und politischen Verhältnissen undenkbar.

Umso mehr war es den Bürgerlichen in Indien ein Dorn im Auge, dass Pakistan von den USA im März der MNNA Status verliehen wurde. Die bürgerlichen Regierungen beider Länder buhlen um die Gunst der USA. Vajpayee lässt indische Truppen gemeinsam mit der US-Army und erstmals auch mit NATO-Truppen gemeinsame Militärübungen abhalten. Im März dieses Jahres besuchte Colin Powell Indien und Pakistan. Während er von Musharaf und der indischen Regierung (die ihren Stolz hinunterschluckte) freundlich empfangen wurde, gingen die Menschen in beiden Ländern auf die Straße, um gegen den Besuch des “internationalen Terroristen” Powell zu demonstrieren.

 

Ausweg aus der Krise des indischen Subkontinents?

 

Indiens Gesellschaft ist geladen mit sozialem Sprengstoff und es kommt immer wieder zu Detonationen. Bauern in Madhya Pradesh gingen im März auf die Straße um gegen die Strompolitik zu demonstrieren, die Adivasi (Ureinwohner, die in den Wäldern leben) fordern Recht auf Land (z.B. die Narmada Bachao Bewegung), in Karnataka streikten im Februar Regierungsbeamte um das Recht auf Streik zu erkämpfen, um nur ein paar von vielen Beispielen sozialer Protestbewegungen der jüngsten Vergangenheit zu nennen. Ebenfalls in Karnataka brachten ArbeiterInnen, Fischer und LandarbeiterInnen gemeinsam ein “Manifesto By The People” heraus, um Politikern die in Wahlkampfzeiten in so genannten Yatras durch das Land ziehen, die Bedürfnisse der Menschen klarzumachen.

 

Innerhalb des kapitalistischen Systems können die Ausbeutung und die enorme Ungleichheit in Indien nicht besiegt werden. ArbeiterInnen, Bauern und LandarbeiterInnen müssen in einem gemeinsamen Bündnis gegen die Bourgeoisie kämpfen. Bei diesem Bündnis muss die Arbeiterklasse die führende Rolle einnehmen.

 

Indien blickt auf eine kommunistische Bewegung zurück, die vor allem in den 20ern und 30ern des 20. Jahrhunderts stark war. Heute spielt die CPI – M, die 1967 gegründete, selbsternannte marxistische kommunistische Partei Indiens, eine Abspaltung der CPI, in manchen Bundesstaaten eine wichtige Rolle. Obwohl in diesen Staaten zwar Verbesserungen erkämpft werden konnten, z.B. im Bildungswesen (Keralas Analphabetenrate = 0), Gesundheitswesen usw., kann die CPI – M den Unterdrückten Indiens keine wirkliche Perspektive bieten: In West Bengal gestaltete die CPI – M in den letzten Jahren ein “investitionsfreundliches Klima” und die Situation der ArbeiterInnen verschlechterte sich dramatisch. Die CPI – M spricht zwar vom Kampf für den Sozialismus, doch handelt es sich dabei um Sonntagsreden, die nichts mit der Tagespolitik zu tun haben. Sozialismus das ist etwas für die ferne Zukunft. Im Moment meint die CPI – M, man müsse aufgrund „des Grades des Bewusstseins der Arbeiterklasse” in Indien jetzt erst einmal für eine demokratische Revolution eintreten und eine “Volksdemokratie” aufbauen.

Klar ist, dass in Indien die Erfüllung der Aufgaben der bürgerlichen, demokratischen Revolution längst überfällig sind (Landreform und Säkularismus). Wie Trotzki aber schon 1928 gezeigt hatte, kann die Revolution nicht in Etappen verlaufen: Wenn das Proletariat Indiens es aus eigener Kraft, im Bündnis mit Bauern und LandarbeiterInnen, schafft, Land für die Bauern und demokratische Strukturen zu erkämpfen, wird eine solche revolutionäre Bewegungen nicht auf diesem Stand (das, was der CPI –M als Volksdemokratie, als eigenständige Etappe vorschwebt) stehen bleiben. In so einer Situation würde es nur zwei Möglichkeiten geben: Eine bürgerliche Konterrevolution  oder der Beginn eines permanenten revolutionären Prozess, der zum Sozialismus führt.  Indem die CPI – M die 2. Möglichkeit anscheinend völlig vom Tisch gewischt hat, hat sie den Unterdrückten wenig zu bieten.

Unsere Aufgabe ist es auch auf dem indischen Subkontinent eine revolutionäre Alternative zu Ausbeutung, Unterdrückung und Reaktion aufzubauen.

 

Unsere Korrespondentin aus Indien