Hermann Albrecht ist Mitglied im bolivarischen Zirkel der Universität von Caracas, Gewerkschafter und Redakteur unserer Schwesterzeitungen El Topo Obrero/El Militante. Der in Venezuela geborene Sohn eines linken deutschen Immigranten hat in den letzten Wochen im Rahmen einer Vortragsreise mehrere europäische Länder besucht und ist dabei in fünf österreichischen Städten bei öffentlichen Veranstaltungen aufgetreten. Wir werden seinen Vortrag demnächst dokumentieren. Eine Kurzfassung dieses von unseren deutschen GenossInnen geführte Interview erschien am 5.2.04 in der Tageszeitung "junge Welt".

Der Staat ist in Venezuela noch der alte, die Wirtschaft ist überwiegend in privaten Händen. Woran macht sich da die revolutionäre Situation in Venezuela fest?
Wir haben eine Regierung, die gegen den erklärten Willen der herrschenden Klasse und der US-Regierung an die Macht gekommen ist und unter dem Druck von unten gegen den ausdrücklichen Widerstand von oben viele fortschrittliche Reformen umgesetzt hat, die derzeit weltweit fast einzigartig sind. Maßnahmen wie die Alfabetisierungskampagne, kostenlose Gesundheitsversorgung in Armenvierteln oder der Verzicht auf die Privatisierung der Erdölindustrie sind große Errungenschaften, die auch auf andere Länder Lateinamerikas ausstrahlen. Mehrere Versuche, diese Regierung zu stürzen, sind an der spontanen Massenbewegung gescheitert, weil die Mehrheit des Volkes weiß, was sie zu verlieren hat. Dies hat das Selbstbewußtsein vieler bisher unterdrückter und geknechteter Menschen gestärkt. Betriebsbesetzungen, Ansätze zu Arbeiterkontrolle und die Gründung der neuen klassenkämpferischen Gewerkschaft UNT sind Anzeichen eines neuen Aufbruchs der Arbeiterbewegung. Das aktuelle Kräfteverhältnis ist für die Revolution günstig. Aber der endgültige Sieg der Revolution ist noch nicht gesichert.
Aber wird die bürgerliche Rechte nach dem gescheiterten Versuch eines Abwahlreferendums gegen Präsident Chavez überhaupt noch einmal zu einem ernsthaften Schlag ausholen können?
Der Pinochet-Putsch in Chile 1973 und die rechten Umsturzversuche in Venezuela im Jahre 2002 sollten uns als Warnung dienen. Eine Konterrevolution in Venezuela wäre nicht kalt und "demokratisch", sondern es würde ein Blutbad und Rache an den revolutionären Kräften geben. Die Mehrheit der Beamten im Staatsapparat besteht nach wie vor aus Anhängern früherer bürgerlicher Regierungen. Auch wenn manche von ihnen - etwa führende Militärs - derzeit Hugo Chávez die Treue schwören, ist auf sie kein Verlaß. Im Putschversuch vom April 2002 zeigten schon manche ihre wahres Gesicht. Beim nächsten Mal werden sich weitere "Verräter" offenbaren.
Darum: wachsam bleiben.
Ist sich die Regierung dieser Gefahren bewußt und was unternimmt sie dagegen?
Die Wirtschaft ist überwiegend in privaten Händen, und damit hat die Konterrevolution eine starke Machtbasis im Lande. Der Präsident beteuert jedoch, er wolle im Rahmen eines "nationalen Kapitalismus" operieren und "Investoren nicht abschrecken". Aber für die Unternehmerschaft ist Hugo Chávez schon längst der Todfeind, gegen den aus ihrer Sicht jedes Mittel recht ist. Immerhin wurde ein Gesetz verabschiedet, das grundlose Entlassungen verbietet und den Kündigungsschutz stark ausweitet. Gegen Kapitalflucht wurden stärkere Kontrollen eingeführt. Das reicht aber nicht. Auf die Sabotage der Wirtschaft durch die Unternehmer und Betriebsschließungen sowie ausstehende Lohnzahlungen haben viele Belegschaften mit Betriebsbesetzungen reagiert. Doch in einigen Fällen haben Behörden interveniert, um diese Besetzungen zu stoppen. Wo es Belegschaften wünschen, sollten diese Betriebe schleunigst verstaatlicht werden. Das Argument, es gäbe in Venezuela kein Gesetz für die Enteignung von Produktionsmitteln, greift zu kurz. Wenn ein Enteignungsgesetz noch nicht existiert, dann muß es sofort her! Neben den Krisenbetrieben müssen auch die Banken verstaatlicht und unter Arbeiterkontrolle gestellt werden. Die Auslandsschulden sollten nicht mehr zurückgezahlt werden, damit die Ressourcen des Landes voll und ganz zur Befriedigung der sozialen Bedürfnisse und der Industrialisierung der Wirtschaft eingesetzt werden können. Die bisher "autonome", d.h. bürgerlich kontrollierte Zentralbank muß der staatlichen Kontrolle unterstellt werden.
Und wie sollen sich die Anhänger der Regierung auf einen neuerlichen Putschversuch vorbereiten und die Revolution vertiefen?
Wo die Regierung zögert, müssen die Menschen selbst Volksversammlungen zur Verteidigung und Vertiefung der Revolution bilden. Auf dem Gründungskongreß der kämpferischen Gewerkschaft UNT wurde permanente Mobilisierung gegen einen neuerlichen Putschversuch gefordert und die Arbeiterklasse dazu ermutigt, die Revolution weiter zu führen.
Wie soll das konkret aussehen?
Komitees zur Verteidigung der Revolution sollten in Betrieben, Schulen und Hochschulen, Kasernen, Stadtvierteln und Ortschaften organisiert werden und konkret beraten, wie ein neuerlicher Putschversuch praktisch zurückgeschlagen werden kann. Kämpferische Gewerkschaften, bolivarische Zirkel zur Unterstützung der Regierung, Kooperativen und andere Gruppen im Lager der Revolution sollten sich auf allen Ebenen vernetzen und demokratisch gewählte Gremien bilden.
Sie sollten notfalls die Selbstverteidigung und die Organisierung des öffentlichen Lebens in die Hand nehmen. Vor allem müssen sich alle auf Seiten der Revolution stehenden Soldaten organisiert auf einen neuerlichen Putsch am "Tag X" vorbereiten, an dem viele ihrer Vorgesetzten sich offen zu Konterrevolution bekennen könnten.
Es muss Schluss sein mit der Straflosigkeit für die Urheber und Akteure der Umsturzversuche von 2002. Alle daran Beteiligten, die die Tötung unserer Kollegen und die Sabotage der Wirtschaft zu Lasten der Ärmeren betrieben und jetzt wieder für die Abwahl des Präsidenten agitieren, dürfen nicht ungestraft davon kommen, sondern müssen der gerechten Strafe zugeführt werden.
Du hast in Europa um Solidarität mit dem revolutionären Venezuela geworben. Was erwarten Sie von der europäischen Linken konkret?
Sie sollte die Revolution gründlich studieren und den Prozeß im eigenen Land vorantreiben. Wichtig ist die Aufklärung der Öffentlichkeit über die tatsächlichen Verhältnisse in Venezuela und die Verstrickung der US-Geheimdienste in die konterrevolutionären Machenschaften, um öffentlichen Druck auf die westlichen Regierungen auszuüben. Wichtig ist ein direkter Austausch zwischen linken Jugendlichen und Gewerkschaftern in beiden Ländern, dabei vor allem auch praktische finanzielle Solidarität mit den Belegschaften besetzter Betriebe in Venezuela. Dafür habe ich mich auch bei Betriebsbesuchen und Gesprächen mit deutschen Gewerkschaftern stark gemacht. |