85 Jahre Erste Republik

Und am Anfang war die Revolution

Vor 85 Jahren zerbrach als direkte Folge des Ersten Weltkriegs die Habsburger-Monarchie. Aus Russland kommend wehte ein Hauch von Revolution durch Österreich. Die Republik feiert also Geburtstag. Wir wollen sie an ihre Geburt erinnern und zeigen, dass das Fest noch viel größer ausfallen hätte können.

Die Geschichte kennt viele Beispiele, wo Krieg und Revolution zwei miteinander untrennbar verbundene Prozesse sind. Mit Andauern des Gemetzels auf den Schlachtfeldern und der sich verschlechternden Versorgungslage im eigenen Land lösen sich die Nebelschwaden des alles beherrschenden Chauvinismus, der zu Kriegsbeginn noch die Herzen der breiten Masse in Beschlag nimmt, in Luft auf. Die Menschen beginnen ihre wahre Lebenssituation zu realisieren und drängen auf Veränderung. Tod, Zerstörung und Verelendung lassen den Hass auf die herrschende Klasse und ihren verbrecherischen Staatsapparat wachsen. Unter den Bedingungen der Friedhofsruhe entstehen die Voraussetzungen für einen revolutionären Prozess. 

Nach fast drei Jahren Krieg wurde die österreichische Arbeiterschaft 1917 von solch einem Stimmungsumschwung erfasst. Immer wieder kam es als Antwort auf die soziale Not zu spontanen Hungerprotesten und Streikaktionen.

Die Sozialdemokratie, die keinerlei Einfluß auf diese Bewegung hatte, lief Gefahr die Kontrolle und Verbindung
zur Arbeiterklasse, ihrer eigentlichen sozialen Basis, weitgehend zu verlieren. 

Alle Macht den Sowjets

In der Zwischenzeit stürzten in Russland die Bolschewiki die kapitalistische Ordnung. Die russische Oktoberrevolution von 1917 wurde nun zum Hoffnungsträger für weite Teile der europäischen und auch der österreichischen Arbeiterschaft. Der von Lenin stammende Slogan "Alle Macht den Sowjets" und die Umsetzung des bolschewistischen Programms nach dem Motto „Brot, Land, Frieden“ eröffneten den ArbeiterInnen plötzlich eine Perspektive im Kampf gegen Krieg und Elend, einen Ausweg aus der kapitalistischen Sackgasse. In
Österreich wie in anderen Ländern auch, hob die siegreiche russische Revolution das Selbstvertrauen der
Arbeiterklasse, die nun immer nachdrücklicher ihre Forderungen vorbrachte. In dieser Situation hatte die
sozialdemokratische Partei alle Hände voll zu tun um die Massen mit Beschwichtigungsreden an der Stange zu halten. Die einzig glaubhafte Strategie bestand nun darin, die Vertreter der austromarxistischen Strömung (Otto Bauer & Co.) an die Spitze der Partei zu lassen.

Jännerstreik 1918

Selbst dieser Schritt reichte jedoch noch nicht aus, um ein Umsichgreifen bolschewistischer Ideen zu verhindern. Die relativ kleine Strömung der Linksradikalen, die schon länger mit den Bolschewiki in Kontakt standen und vor allem in der sozialdemokratischen Jugendbewegung verankert waren, machte sich zum Sprachrohr einer konsequent internationalistischen, antimilitaristischen Politik sowie des Rätegedankens in Österreich. Ihre Ideen fielen nun bei einer ganzen Schicht von kämpferischen Vertrauensmännern in den Industriebetrieben in und um Wr.Neustadt aber auch in Wien auf einen fruchtbaren Boden. Rund um die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk entwickelte sich ein politischer Massenstreik, dessen wichtigste Losung jene nach einer sofortigen Annahme des Friedensangebots durch das junge Sowjet-Russland war. Dieser Jännerstreik lässt den mehr als berechtigten Schluß zu, dass sich die Habsburger-Monarchie im Jänner 1918 am Beginn einer revolutionären Situation befand.

Wollte man die Arbeiterschaft davon abhalten, mit der eigenen herrschenden Klasse „russisch zu reden“, wollte man den Einfluss der linksradikalen Vertrauensmänner unterbinden, musste sich die Sozialdemokratie selbst an die Spitze dieser Bewegung stellen. Um dies zu erreichen, nahm die Partei nun den Rätegedanken auf und ergriff die Initiative zur Bildung und Ausweitung von Arbeiterräten. Mit ihrer organisatorischen Stärke gelang es ihr auch die Mehrheit in den Räten zu erobern. So war es der Parteiführung schlußendlich möglich, in die Arbeiterräte hineinzugehen, und die Streiks unter den wütenden Protesten vieler Arbeiter für beendet zu erklären, obwohl die Regierung keinerlei konkrete Zugeständnisse machte. Unter sozialdemokratischer Führung wurden die Arbeiterräte in Österreich von nun an - im Gegensatz zu denen in Russland – von einem Motor der Revolution zu einem Instrument ihrer Eindämmung.
Die Arbeiterschaft wurde im Jänner 1918 von ihrer eigenen Partei schamlos verraten und zur Niederlage
gezwungen. Allerdings machten der Jännerstreik und die darauf folgenden Streiks, Meutereien und Soldatenunruhen deutlich, dass der Niedergang der Habsburger-Monarchie ein unumkehrbarer Prozess war. Österreich stand am Beginn grundlegender gesellschaftlicher Umwälzungen, die am 12. November 1918 in die Gründung der Ersten Republik mündeten.

Republik, das ist nicht viel...

Der Anfang vom Ende der Ära Habsburg wurde durch den Zusammenbruch der k.u.k. Monarchie Ende Oktober 1918 markiert. Das damit entstandene Machtvakuum entfesselte regelrecht die vom Militarismus niedergehaltene Arbeiterschaft. Den Anfang machten die „Arbeiter in Uniform“ mit täglichen Soldatendemos. Die österreichische Revolution war ein Produkt des Ersten Weltkriegs und ging dementsprechend zuerst weniger von den Fabriken als von den Kasernen aus, „wo bis dahin der stumme Gehorsam gewaltet hatte und nun die elementare, instinktive, anarchische, revolutionäre Bewegung einsetzte“ (Otto Bauer). Ähnlich den im Jänner 1918 entstandenen und danach institutionalisierten Arbeiterräten bildeten sich nun Soldatenräte, denen sich auch etliche Offiziere anschlossen.

Die Provisorische Regierung, eine Allparteienübergangsregierung bestehend aus Christlichsozialen, Deutschnationalen und Sozialdemokraten, versuchte durch die Aufstellung der sogenannten Volkswehr eine neue Ordnungsmacht aufzubauen. Unter den Bedingungen rasant steigender Arbeitslosigkeit und sozialen Elends strömten vor allem Arbeiter in diese Volkswehr, die unter der Führung der Sozialdemokratie stand, eine „mit roten Fahnen unter den Klängen der Arbeitermarseillaise marschierende Truppe“. Die Volkswehr fühlte sich als die Trägerin der Revolution, als die Vorhut des Proletariats. Die reale Macht war den herrschenden Klassen somit völlig entglitten und befand sich nun in den Händen der sozialdemokratischen Parteiführung. Der österreichische Kapitalismus lag hilflos auf seinem Sterbebett. Es lag an der Sozialdemokratie das System trotzdem am Leben zu halten.

...Sozialismus heißt das Ziel

Diese Revolution in den Kasernen wirkte wie ein Katalysator für die revolutionäre Bewegung in den Fabriken. Während des Krieges hatten die Unternehmer mit der eisernen Faust die Wirtschaft am laufen gehalten. Militärische Betriebsleiter führten die Betriebe und Militärwachen sorgten in den Werkshallen für Recht und Ordnung. Mit der Armee kollabierte auch die Autorität der Unternehmer. Die Rätebewegung breitete sich nun rasant in den Industriegebieten aus. Die Arbeiterräte entwickelten sich zu echten Strukturen der Doppelmacht, die in vielen Fällen den bürgerlichen Staat als Ordnungsmacht ersetzte.

Mit dem Aufbegehren der einfachen Soldaten wuchs auch das Selbstbewusstsein der ArbeiterInnen. Diese Entwicklung trieb die Bürgerlichen in die Hände der Sozialdemokratie, der einzigen Kraft welcher sie zutrauten, die Arbeiterklasse unter Kontrolle zu halten. Dies erklärt auch, warum die bürgerlichen Parteien von einem Tag auf den anderen von ihrem Plan einer konstitutionellen Monarchie abrückten und der Ausrufung der Republik zustimmten. Dazu kam, dass das bürgerliche Lager tief in sich gespalten war. Während das städtische Bürgertum eine offen konterrevolutionäre Einstellung an den Tag legte, wurde die Bauernschaft zu einem wichtigen Unterstützer für den politischen Wandel. Diese demokratische Revolution war aber nicht viel mehr als der erste Akt der sozialen Revolution. Mit den demokratischen Errungenschaften jener Tage konnte sich die Arbeiterklasse nicht zufriedengeben. Zu drückend waren die sozialen Probleme. Und so wurden die Streiks und die Massendemo in Wien am 12. November 1918 auch zu einem Symbol dafür, dass die Arbeiterklasse „über die errungene politische Freiheit und Gleichheit hinausdrängte“.

Selbst Otto Bauer schrieb später, dass keine bürgerliche Regierung die proletarische Revolution stoppen hätte können: „Sie wäre wehrlos dem Misstrauen und dem Hass der Proletariermassen gegenübergestanden. Sie wäre binnen acht Tagen durch Straßenaufruhr gestürzt, von ihren eigenen Soldaten verhaftet worden. (...) Nur Sozialdemokraten konnten ... die Arbeitermassen von der Versuchung zu revolutionären Abenteuern abhalten.“ Ohne die Sozialdemokratie hätte also keine bürgerliche Regierung diese revolutionären Erschütterungen überstehen können. Und die austromarxistisch geführte Sozialdemokratie spielte ihre Rolle gut. Anstatt die Revolution weiterzutreiben und zu vertiefen, bremste sie die Massen und verhinderte sie den Sturz der kapitalistischen Ordnung. 

Was wäre wenn?

Die Austromarxisten rechtfertigten ihre Haltung mit den scheinbar objektiven Grenzen, vor denen die österreichische Revolution 1918 stand. Hätte die Arbeiterklasse die Macht wie in Russland erobert, dann – so Otto Bauer – hätten die Bürgerlichen die Bauernschaft gegen den in Wien und den wenigen anderen Industriegebieten isolierten Arbeiterstaat mobilisiert. Und außerdem wäre ein Sowjet-Österreich der militärischen Überlegenheit des Imperialismus wehrlos ausgesetzt gewesen. Nur durch das Hineinführen der Revolution in die Bahnen der bürgerlichen Demokratie konnte die österreichische Arbeiterklasse vor Bürgerkrieg und imperialistischer Aggression beschützt werden.

Dabei zeigt Bauer in seiner Schrift „Eine Revolution in Österreich“ selbst, dass die herrschenden Klassen völlig paralysiert waren und offensichtlich keine Kraft hatte, das Rad der Zeit anzuhalten, geschweige denn zurück zu drehen. Und was die internationale Bedrohung anbelangt, kann man nur darauf verweisen, dass halb Europa vom bolschewistischen Revolutionsvirus erfasst worden war. Selbst in den Siegermächten des Ersten Weltkriegs, in Frankreich und Großbritannien, ließ sich die Arbeiterklasse für keine konterrevolutionären Manöver einspannen und leistete mit Streiks und antimilitaristischen Protesten einen wesentlichen Beitrag zum Scheitern der imperialistischen Invasion in Sowjetrussland.

Die Rechnung für diese verdienstvolle Arbeit zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung bekam die Sozialdemokratie im Februar 1934 präsentiert. Von der zögerlichen Politik der Austromarxisten bestärkt, ging das Bürgertum daran, das was sie den „revolutionären Schutt“ nannte wegzuräumen, d.h. das gewaltige soziale Reformprojekt, das die Arbeiterklasse als Nebenprodukt ihres revolutionären Kampfes nach 1918 erhielt, zu entsorgen. Was 1918 fehlte, war eine revolutionäre Organisation mit der nötigen Massenverankerung, welche dem instinktiven Drängen der Arbeiterklasse eine bewusste Stoßrichtung hätte geben und die Machtfrage hätte stellen können.