Bilanz des Eisenbahnerstreiks am 4. November 2003
1) Es war schon sehr beeindruckend, was sich so am 4. November in Österreich abgespielt hat. Die EisenbahnerInnen organisierten einen lückenlosen 12-stündigen Streik, alle Züge standen still, die Streikpostenlinien wurden von niemanden überschritten – die Gewerkschaftsbewegung zeigte ihre ungebrochene Macht und die Mitgliedschaft ihre ausgezeichnete Disziplin und ihre wieder belebte Kampfbereitschaft. Und trotzdem bleibt der Eindruck bestehen und kriegt man das Gefühl nicht los mit diesem Streik nicht wirklich und vor allem nicht wirkungsvoll die Öffentlichkeit erreicht zu haben.
Natürlich dürfen wir uns nicht beirren lassen von den diffamierenden Berichten der bürgerlichen Journalistenscharen, die die Gewerkschaft und die EisenbahnerInnen nur verhöhnten und dem Streik jegliche Wirksamkeit absprachen. Der Streik war ein großer Schritt vorwärts und hundertmal mehr Wert als zig Artikel, Resolutionen und Reden. Doch ein Bild mit Symbolcharakter zeigte sich auf fast jeder Dienststelle. Nehmen wir zum Beispiel den Westbahnhof her: Der Bahnhof ist geisterhaft leer. Einige Touristen verlieren sich in der Weite der Halle. Ein Team des ORF filmt geistlos. Der Zugang zu den Geleisen ist geschlossen, davor stehen Streikposten – sie stehen dort mit verschränkten Armen. Schützen die Eisenbahn und die EisenbahnerInnen vor der Öffentlichkeit. Schützen aber auch die Öffentlichkeit vor den EisenbahnerInnen.
Der Streik – so sehr wir ihn unterstützen und siegreich sehen wollen – war ein Ebenbild davon: er war leider nur ein Streik mit verschränkten Armen! Es ist dabei zwar das Potential von Zehntausenden KollegInnen aufgezeigt worden aber gleichzeitig ist schreckhaft darauf geachtet worden, dass dieses Potential in den Remisen, Bahnhöfen und Werkstätten bleibt.
Man stelle sich diesen 12-stündigen Streik vor bei gleichzeitiger Freisetzung der Energien und Kreativität zehntausender EisenbahnerInnen. Der öffentliche Raum wäre im Handumdrehen erobert worden und eine Welle der Solidarisierung wäre ins Rollen gebracht worden. Der Streik wäre dadurch auch eher zu einem Anliegen der gesamten ArbeiterInnenbewegung geworden und die Lüge von den „Privilegienrittern auf Schienen“ würde sich schnell in Schall und Rauch auflösen.
Für das bürgerliche Lager mit seinen Lohnschreiberlingen in den diversen Printmedien ist all das, was ein Arbeiter, eine Arbeiterin mehr bekommt als zur Reproduktion seiner/ihrer Arbeitskraft notwendig erscheint ein Privileg. Diese Haltung ist derart radikal, dass sie nur so umgesetzt werden kann, indem jeweils nur ein Teil der Lohnabhängigen unter Feuer genommen wird, als Nutznießer von Privilegien enttarnt wird, wodurch gleichzeitig jede moralische Anständigkeit dieser Gruppe abgesprochen werden kann und sie damit auch kein Anrecht auf Solidarisierung, auf Unterstützung durch andere Sektoren der werktätige Bevölkerung hat. Ist diese Berufsgruppe erledigt, dann wird die nächste ins Visier genommen, und so weiter – es handelt sich hier um das moderne Teile und Herrsche!
Dieses Spiel der Herrschenden kann nicht durchkreuzt werden, indem wir uns verstecken und nicht auffallen wollen. Genau das Gegenteil ist notwendig. Wir müssen aus der Defensive heraus und Angriffsgeist entwickeln. Wir müssen den Reichen und Mächtigen offensiv entgegentreten und auf den öffentlichen Plätzen ihren Lügen entgegentreten. Wir müssen ebenfalls eine radikale Sichtweise entwickeln, wir müssen die Wurzeln des Übels, die Gemeinsamkeiten aller Lohnabhängigen und die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes gegen das bürgerliche Lager aufzeigen. Nur so können wir die Öffentlichkeit erobern.
2) Wer trägt nun die Verantwortung für diese unpassende Streiktaktik? Und was steckt hinter dieser Art und Weise Streiks wie ein militärisches Manöver zu inszenieren? Die Verantwortung hierfür muss unsere Gewerkschaftsführung uneingeschränkt übernehmen. Sie plant nahezu im Geheimen, wie in einem Verschwörungsszenario ihre Aktionen und zum Zeitpunkt X hat die Gewerkschaftsbasis die Schraubenschlüssel fallen zu lassen, und auf Kommando hat sie zum Zeitpunkt Y diese wieder zur Hand zu nehmen und den Streik zu beenden. Solch eine Streiktaktik tötet die Kreativität der Gewerkschaftsbasis, führt zur Passivität und demoralisiert. Diese Streiktaktik ist genau das Gegenteil von dem, was wir brauchen – aktive Streiks, getragen vom Willen der Gewerkschaftsbasis!
Warum beschreitet aber unsere Gewerkschaftsführung diesen falschen Weg? Sie ist nicht grundsätzlich gegen die Herstellung einer dubiosen Konkurrenzfähigkeit der Bahn. Sie befürwortet daher ebenfalls eine Reform und sie will daran beteiligt werden. Sie will Überleben, sie will ihre Funktion aufrechterhalten können. Sie ist deshalb nicht nur zu einem Kompromiss bereit (was ja ab und zu tatsächlich notwendig sein kann), sondern sie bereitet durch ihre Streiktaktik einen faulen Kompromiss vor. Einen Kompromiss abzulehnen, wenn er das Ergebnis eines ehrlich geführten Kampfes ist, würde keinem vernünftigen Gewerkschaftsmitglied einfallen. Doch wenn nicht einmal ein echter Massenstreik geführt, wenn die Kräfte nicht einmal halbwegs ernst gemessen worden sind und dann eventuell sogar eine Niederlage hingenommen wird (wie z.B. beim „Pensionssicherungsgesetz“), da wäre massiver Protest aus der Basis sehr wohl zu erwarten. Dieses Gefahrenpotential soll durch die gegenwärtig gewählte Streiktaktik von vorn herein ausgeschalten werden.
Weiters kann unsere Gewerkschaftsführung mit einer „schlanken Bahn“ sehr wohl leben, wenn sie nur einen gebührenden Platz darin zugesprochen bekommt. Was ist schon die Vernichtung von zig Tausenden Arbeitsplätzen – nicht das erste Mal würde eine Gewerkschaftsführung bei massiver Arbeitsplatzvernichtung mitwirken – wenn dafür nur die Organisation gerettet werden kann. Die Organisation wird so zum Selbstzweck. Sie ist kein Mittel der Gewerkschaftsmitglieder ihre Rechte zu verteidigen, sondern sie wird zum Selbstzweck der bezahlten Funktionäre, der Gewerkschaftsbürokratie. Diese Bürokratie hat in Zeiten des relativen Klassenfriedens fröhliche Urstände gefeiert, ist immer mächtiger geworden und hat die Mitgliedschaft gänzlich entrechtet. Jetzt, wo der Klassenkampf uns wieder von oben aufgezwungen worden ist, ist diese Gewerkschaftsbürokratie zu einem ernsten Hindernis geworden. Sie verfolgt ihren Eigenzweck, der zunehmend im Widerspruch zu den Interessen der Basis steht. Die Basis muss sich deshalb zusammenschließen, um diesen lähmenden und schädlichen Einfluss der Gewerkschaftsbürokratie zurückzudrängen!
3) Was ist also
jetzt zu tun – angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass der Kampf um die ÖBB in
die nächste, noch heißere Runde gehen wird? Die Gewerkschaftsmitglieder müssen
ihrer Führung kontrollieren und sie
müssen fordern, dass nur sie über die Streiktaktik zu entscheiden haben. Aktive
Streiks sind das Gebot der Stunde, weil die „Öffentlichkeit“ erobert und eine
breite Solidaritätsfront hergestellt werden muss. Dies sollten Forderungen an
die Gewerkschaftsführung sein, erhoben auf Betriebsversammlungen,
Personalvertreterkonferenzen und Vertrauensmännerausschüssen. Resolutionen
sollten an die Gewerkschaftszentrale gerichtet werden, und je größer deren
Anzahl ist, desto eher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Wille der
Mitgliedschaft von der Gewerkschaftsführung umgesetzt wird. Sollte die
Gewerkschaftsführung sich solch einer Massenstimmung versuchen zu entziehen,
wäre durch diese Bewegung innerhalb der Mitgliedschaft eine Voraussetzung dafür
geschaffen, notfalls auch gegen den Willen der Gewerkschaftsbürokratie den
Kampf zu einem hoffentlich erfolgreichen Ende führen zu können. Nur in dem wir
Bewegung in die Gewerkschaftsbewegung bringen können wir unsere
Erfolgsaussichten aufrechterhalten. Machen wir auf diese Art die
Gewerkschaftsführung stark, damit sie nicht schwach wird!
7.11.2003 Peter Haumer