Von
Hainfeld ins Parlament
Zum Jahreswechsel 1888/9 war es dann endlich so weit. Am
Parteitag in Hainfeld wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) unter
der Führung von Victor Adler vereint. Der Aufstieg zur Massenpartei war somit gelegt.
Doch schon in den Anfangsjahren entwickelten sich Tendenzen in der
österreichischen Arbeiterbewegung, die geradewegs zur Kapitulation der
Sozialdemokratie bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges führten.
Eine zentrale Rolle bei diesem Einigungsprozess, der im
Hainfelder Parteitag gipfelte, nahm Victor Adler ein. 1886 begann er, nach
Diskussionen mit Friedrich Engels, mit der Herausgabe der Zeitung
"Gleichheit", er setzte es sich zum Ziel, die Gemäßigten und die
Radikalen auf Basis des Marxismus zu vereinigen, die eine Vermittlerposition
zwischen den Gemäßigten und den Radikalen einzunehmen versuchte. Adler sah die
Notwendigkeit einer starken politischen Arbeiterpartei auf der Grundlage eines
marxistischen Programms. Sein ganzes Tun und Handeln war auf die Vereinigung
der beiden Flügel in der Arbeiterbewegung gerichtet.
Hainfeld
Der Parteitag von Hainfeld führte zu einem Kompromiss
zwischen Reformisten und Revolutionären sowie auch zwischen den verschiedenen
nationalen Flügeln. Keinen namhaften Platz sollten die Frauen in der Bewegung
finden. Obwohl es bereits weibliche Agitatorinnen in der Partei gab, waren sie
in Hainfeld nicht präsent.
Im Gründungsprogramm der österreichischen Sozialdemokratie,
der Hainfelder Prinzipienerklärung, heißt es: "Der Einzelbesitz an
Produktionsmittel ist die Ursache der steigenden Massenarmut und der wachsenden
Verelendung immer breiterer Volksschichten." Der bürgerliche Staat wurde
als Klassenstaat definiert. Wenn sich die Arbeiterklasse befreien wolle, müsse
sie direkt die Besitzverhältnisse antasten. Der Klassenkampf beginnt als Kampf
für kleine Reformen und entwickelt sich zum Kampf um das Eigentum an Maschinen,
um die politische Macht. Wenn man von der Fähigkeit der Arbeiterschaft zur
Veränderung der Gesellschaft ausgeht, sind Reform und Revolution kein
Widerspruch, sondern eng miteinander verbunden.
Die Hainfelder Prinzipienerklärung erteilte dem
individuellen Terror eine Absage und forderte den Kampf für Arbeiterschutz und
Arbeitszeitverkürzung, was den Gemäßigten entgegen kam. Sie wies aber auch auf
den begrenzten Nutzen der Reformen hin, und wollte den Übergang der
Arbeitsmittel in den gemeinschaftlichen Besitz der Gesamtheit des arbeitenden
Volkes, worüber sich die Radikalen freuten. Die Aufgabe der Sozialdemokratie lag
darin, „das Proletariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewusstsein
seiner Lage und seiner Aufgaben zu erfüllen, es geistig und physisch kampffähig
zu machen und zu erhalten". Dieses Programm war marxistisch inspiriert,
spiegelt jedoch in einigen Stellen wider, dass es sich um einen politischen
Kompromiss handelte.
Der Weg zur Massenpartei
Dass die nun geeinte Partei so schnell zu einer echten
Massenpartei aufsteigen konnte, lag nicht zuletzt am Wirtschaftsaufschwung, der
in den 1890ern einsetzte. Die Industrieproduktion stieg bis 1904 um 70%. Durch
die große Nachfrage nach Arbeitskräften stieg das Selbstbewusstsein der
Arbeiterklasse. Schon kurz nach Hainfeld begann man mit der Kampagne für den
8-Stunden-Tag, deren Höhepunkt die Arbeitsniederlegungen und die große
Demonstration vom I.Mai 1890 in Wien war. 1893 wurde dann der 1. Allgemeine
Gewerkschaftskongress einberufen. Gleichzeitig erzielte das alpenländische
Kapital durch die Hochkonjunktur und die imperialistische Ausbeutung der slawischen
Kronländer die nötigen Extraprofite um Zuggeständnisse machen zu können. Die
1893 gegründete Reichsgewerkschaftskommission erkämpfte Lohnerhöhungen von 24%
zwischen 1900 und 1910.1905 gab es nur 94 Kollektivverträge. Im Gegensatz zu
822 Kollektivverträgen im Jahre 1912.
Die noch junge Gewerkschaftsbewegung litt jedoch von Anfang
an unter dem stärker werdenden Nationalismus. Auch gelang es nur schwerlich,
die spontanen Arbeitskämpfe zu kontrollieren. Der spätere Sozialminister
Hanusch schrieb dazu im Jahre 1907: „Es ist uns nicht gelungen, die
Textilarbeiter schon heute mit dem Bewusstsein zu erfüllen, dass der Streik das
letzte und nicht das erste Mittel ist." Durch das enorme Wachstum von
Gewerkschaft und Partei (1900 540.000 bzw. 150.000 Mitglieder) wuchs eine
Schicht von Funktionären heran, die in Parlament und Betrieb die Reformen durch
Verhandlungen zustande brachten. Gerade unter ihnen entstanden Illusionen, die
Verbesserung des Bestehenden durch Verhandlungen und ohne die elementare
Bewegung der Lohnabhängigen erreichen zu können. Arbeiterparteien entstehen als
Werkzeug der Lohnabhängigen im Klassenkampf. Im Wirtschaftsaufschwung wo sich
der Klassenkampf beruhigt und viele Arbeiterinnen sich aus der Tagespolitik
zurückziehen, kann die Führung der Arbeiterpartei sich der Kontrolle entziehen.
Viele Funktionäre lebten nicht mehr für sondern von der Arbeiterschaft.
Rückenwind bekam diese reformistische Strömung in der Arbeiterbewegung, die
also im Vergleich zur Masse der Arbeiterinnen durchaus auch soziale Privilegien
hatte, durch die Erringung des allgemeinen Wahlrechts (für Männer).
Illusion ins Parlament
Neben dem Kampf für einen kürzeren Arbeitstag stand im
Mittelpunkt der Arbeit der Sozialdemokratie die Forderung nach einem
demokratischeren Wahlrecht. Victor Adler dazu 1893: „Zwei Drittel des Volkes
sind im Parlament ohne Vertretung. Der Groll, die Unzufriedenheit, ja die
Verzweiflung wächst. Sie wird befördert durch eine Klassengesetzgebung m
einseitigen Interesse der Besitzenden. Sie wird verbittert dadurch, dass sie
nicht jenen Ausdruck finden kann, den die heutige Auffassung vom
„Rechtsstaat" jedem Staatsbürger als heiliges, unantastbares und
unveräußerliches Recht zugesteht: die Teilnahme an Gesetzgebung und Verwaltung
durch die Wahl von Volksvertretern."
Die Idee des Parlamentarismus wurde um die Jahrhundertwende
einzig und allein von der Sozialdemokratie aufrechterhalten. Im bürgerlichen
Lager setzten sich nun der Klerikalismus, der Nationalismus und der
Antisemitismus durch. Die ohnedies schwachen) liberalen Traditionen verloren
völlig an Einfluss.
Obwohl die SDAP 1897, nach der Einführung einer 5.
Wählerkurie die ersten (und zwar tschechischen) Abgeordneten in den Reichsrat
entsandte, zeigte diese parlamentarische Orientierung keinerlei Früchte. Die geforderten
Reformen, wie die nach einem 8-Stun-den-Tag, Abschaffung der Nachtarbeit,
gleicher Lohn für Frauen, Erweiterung der Fabriksinspektion, Einführung einer
Alters- und Invaliditätsversicherung, wurden im Parlament nicht einmal
behandelt.
Die reformistischen Illusionen wurden aber auch durch die
Entwicklung des sogenannten „Gemeindesozialismus" in Wien massiv
gefördert. Unter dem christlich-sozialen Bürgermeister Lueger wurde eine
Politik gestartet, die vorsah, Wiens Versorgung mit lebenswichtigen Bedürfnissen
unabhängig von den Interessen einiger Monopole zu befreien. Gaswerk,
Elektrizität und öffentlicher Verkehr gingen nun in die Hände der Gemeinde
über. Lueger und die Christlich-Sozialen entsprachen somit der Stimmung im
Kleinbürgertum, das immer stärker unter dem Druck des Großkapitals stand.
Gepaart wurde diese Sozial- und Wirtschaftspolitik mit einem aggressiven
Antisemitismus, den Adler als „Sozialismus der dummen Kerls" bezeichnete.
Durch die von oben eingeleiteten Reformen glaubten viele Sozialdemokratinnen
nun aber, der Staat sei gar nicht mehr so sehr das Herrschaftsinstrument des
Kapitals, sondern durchaus auch ein Instrument zur Verbesserung der sozialen
Lage der Arbeiterklasse. Diese Einstellung zur Staatsfrage sollte in der
Zwischenkriegszeit maßgeblich die Politik der SDAP
beeinflussen.
Als 1905 die erste russische Revolution ausbrach, kam es
auch in Österreich zu einer neuen Protestwelle mit dem Ziel der Erringung des
allgemeinen, gleichen Wahlrechts. Die Sozialdemokratie stellte sich allerdings
erst nach heftigen Debatten im Parteivorstand an die Spitze der revolutionären
Massenbewegung. Nach Massendemos und der Androhung eines Generalstreiks, was
zum Bürgerkrieg geführt hätte, musste die Regierung dem Druck der
Arbeiterbewegung klein begeben. Das Frauenwahlrecht ließ man im
Forderungskatalog aber unter den Tisch fallen.
Die SDAP wurde bei den ersten Wahlen nach der
Wahlrechtsreform 1907 mit 23 Prozent zur zweitstärksten Partei. Die
Sozialdemokraten meinten, im Parlament den Habsburgerstaat reformieren zu
können. Doch durch die Streitereien, der in Stände und Nationen geteilten
Kapitalisten war das Parlament die meiste Zeit nicht einmal arbeitsfähig. Nicht
einmal so grundsätzliche Probleme wie der Hunger konnten gelöst werden. 1908/9
brachen in Wien dann auch Hungerkrawalle aus. Die Sozialdemokratie war um die
Jahrhundertwende eine Massenpartei geworden. Bewaffnet mit einem marxistischen
Programm entstand eine politische Kraft, gegen die der Habsburgerstaat nicht
mehr regieren konnte. In der Arbeiterbewegung keimten jedoch schon die
Widersprüche, die dafür verantwortlich sein sollten, dass die Sozialdemokratie
im entscheidenden Moment keine revolutionäre Rolle spielen sollte.