Vor 80 Jahren:
Oktoberrevolution in Russland (Funke17/Herbst 1997)
Vor 80 Jahren übernahm in Russland die Arbeiterklasse die Macht. Die
russische Oktoberrevolution und die Entwicklungen in der Sowjetunion nach 1917
gehören sicherlich zu den umstrittensten Punkten in der Linken - selbst nach
dem Zusammenbruch der alten stalinistischen Regimes in Osteuropa seit 1989.
Dieser Artikel soll weder eine rein akademische Abhandlung noch ein plumper
Lobgesang sein. Unser Ziel ist es, allen Arbeiterinnen und Jugendlichen, die
heute für den Sozialismus kämpfen wollen, ein Verständnis für revolutionäre
Prozesse und die Aufgabe von Revolutionärinnen zu vermitteln.
In der sozialistischen Arbeiterbewegung entwickelte sich schon seit Beginn
des Jahrhunderts ein Streit über den Charakter der revolutionären Bewegung.
Marx selbst hatte in seiner Schrift „Zur Kritik der Politischen Ökonomie"
betont, dass auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung die materiellen
Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen
Produktionsverhältnissen, den Eigentumsverhältnissen, geraten. Die
Produktionsverhältnisse werden nun zu Fesseln der Entwicklung der
Produktivkräfte, und es kommt zu einer Epoche sozialer Revolution. Diese These
schloss für Lehrbuch-Marxisten natürlich aus, dass das Proletariat in der
bevorstehenden Revolution die Machtfrage stellte, da Russland ein extrem
rückständiges Land war. 80 Prozent der Bevölkerung lebte auf dem Land, die noch
junge Arbeiterklasse umfasste nicht mehr als 10 Prozent. Der überwiegende Teil
der Russinnen waren vor der Revolution Analphabeten, die unter unvorstellbaren
Bedingungen leben mussten. 1913 machte das Durchschnittseinkommen der
erwerbstätigen Personen in Russland nur 80,9% der entsprechenden Zahl
Großbritanniens im Jahre 1688 (!) aus. 1917 entfiel auf Russland nur 3% der
weltweiten Industrieproduktion. Russland war durch seine ganze Geschichte
hindurch durch eine verspätete Entwicklung, ökonomische Rückständigkeit und ein
relativ tiefes Kulturniveau gekennzeichnet.
Daraus folgerten viele russische Sozialdemokraten, die Revolution müsse
sich auf ihre bürgerlich-demokratischen Aufgaben beschränken, d.h. die
Agrarfrage (Landreform) lösen, die durch den „zaristischen Völkerkerker"
unterdrückten Nationen befreien, demokratische Institutionen und Rechte
garantieren und eine moderne Industrie aufbauen. Der reformistische Teil der
russischen Sozialdemokratie (die Menschewiki) schloss daraus, dass die
Kapitalistenklasse (Bourgeoisie) die Revolution anführen müsse. Die
Arbeiterbewegung könne das liberale Bürgertum dabei nur unterstützen und
warten, bis sich in Russland nach einer langen Periode der kapitalistischen
Entwicklung die Bedingungen für eine sozialistische Gesellschaft herausbilden
würden. Demgegenüber erkannte der linke, marxistische Flügel der
Sozialdemokratie (die Bolschewiki), dass die russische Bourgeoisie derart
schwach und mit der feudalen Klasse und dem Zarismus verbunden war, dass sie
die Aufgaben der bürgerlichen Revolution nicht erfüllen konnte. Daraus
folgerten die Bolschewiki, die Arbeiterklasse müsse (im Bündnis mit den Bauern)
den Kampf gegen Monarchie und Gutsbesitzer anfuhren. Lenins Losung bis 1917
hieß „für die demokratische Diktatur des Proletariats und der
Bauernschaft", deren Aufgabe es aber nicht sein könne, die sozialistische
Gesellschaft zu errichten.
Die permanente Revolution
Eigenständige, weitsichtige Ideen zu dieser Frage entwickelte schon
frühzeitig der russische Revolutionär Leo Trotzki, der bereits in der
Revolution von 1905 als Vorsitzender des Arbeiterrates in der Hauptstadt
Petrograd (heute wieder St. Petersburg) aktiv gewesen war. Er vertrat die
Meinung, dass die nächste Revolution in Russland, wenngleich sich ihr
bürgerliche-demokratische Aufgaben stellten, entscheidend von der
Arbeiterklasse geprägt sein müsse. Die Arbeiterklasse könne nicht haltmachen,
nachdem sie einmal die bürgerliche Revolution angeführt hat. Einmal in Bewegung
müsse sie mit dem Feudalismus auch unweigerlich den schwachen russischen
Kapitalismus stürzen. Da aber die Produktivkräfte in Russland - allein auf sich
gestellt - für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu unterentwickelt
waren, müsste die Revolution sehr schnell in einer Sackgasse enden, wenn sie
sich nicht auf die entwickelten kapitalistischen Länder ausweiten würde.
Trotzkis Verdienst war es hier, die von Marx 1848 entwickelte Konzeption der
permanenten Revolution (Marx sprach von "Revolution in Permanenz")
auf die aktuellen Verhältnisse Russlands anzuwenden.
Diese Theorie basiert auf dem sogenannten Gesetz der ungleichen und
kombinierten Entwicklung des Kapitalismus. Marxisten sehen den Kapitalismus als
weltweites System, d.h. Russland war zwar 1917 ein rückständiges Land, aber
gleichzeitig Teil der Weltwirtschaft. Lenin verwendete das Bild des weltweiten
Kapitalismus als eine Kette, die an ihrem schwächsten Glied brechen würde. Der
Erste Weltkrieg, der nichts anderes als ein Resultat der sich zuspitzenden
Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten war, sollte vor allem für
Russland verheerende Folgen haben. 2,5 Mio. Tote, eine zerrüttete Wirtschaft,
Hunger und Elend in Stadt und Land.
Gleichzeitig mit der allgemeinen ökonomischen Rückständigkeit hatte sich
aber in den russischen Großstädten eine hochmoderne Industrie herausgebildet.
Während die Landwirtschaft noch immer weitgehend auf dem Niveau des 17.
Jahrhunderts verblieben war, konnte es diese Industrie mit den
fortgeschrittensten Ländern aufnehmen. Dabei war der Anteil der Großbetriebe
(mit 1000 Arbeiterinnen oder mehr) höher als etwa in den USA. Das
Industriekapital war mit dem Bankkapital so eng verbunden wie sonst nirgendwo,
wobei aufgrund der Schwäche der nationalen russischen Bourgeoisie vor allem das
ausländische Finanzkapital großen Einfluss hatte. Dies erklärt wiederum, dass
die russische Bourgeoisie keine eigenständige politische Rolle spielen konnte
und völlig an das alte Herrschaftssystem gebunden war. Und die ausländischen
Kapitalisten hatten klarerweise auch kein Interesse an einer Entwicklung des
Parlamentarismus. Auch wenn die Aufgaben der Revolution anfangs und unmittelbar
bürgerliche sein mussten, so war die Bourgeoisie selbst konterrevolutionär -
also anders als etwa in der französischen Revolution ab 1789 alles andere als
fortschrittlich.
Die Führung in der Revolution musste so auf das Proletariat übergehen.
Dieses war sprunghaft entstanden und gewachsen, in riesigen Fabriken
konzentriert und durch den klar volksfeindlichen Charakter des Zarismus wie
auch der Bourgeoisie für revolutionäre Politik sehr empfänglich. Daraus ergaben
sich auch als besondere revolutionäre Organisationsform der Arbeiterklasse die
Arbeiterräte (Sowjets). Die Bauern stellten die klare Mehrheit in der
Bevölkerung dar und hatten überwiegend ebenfalls ein großes Interesse an einer
revolutionären Veränderung: Ohne für ein Bündnis zwischen dem Proletariat und
der (armen) Bauernschaft hätte die Arbeiterklasse 1917 nicht die Staatsmacht
erobern können.
Schon ab 1912 wurde Petrograd durch revolutionäre Streiks erschüttert. Der
Erste Weltkrieg (ab 1914) unterbrach zwar anfangs diesen Prozess, doch schon ab
1915 erholte sich die Arbeiterinnenbewegung wieder, und es kam zu einer Welle
politischer und ökonomischer Streiks. Als aber am 23.Februar 1917 (nach dem
neuen Kalender dem 8. März 1917), dem internationalen Frauentag, die
unvermeidliche Revolution ausbrach, überraschte dies doch fast alle -
einschließlich der erklärten Revolutionäre. Kurz zuvor zum Beispiel hatte Lenin
in seinem Schweizer Exil vor den Jusos eine Rede über die Revolution von 1905
gehalten, worin er nebenbei meinte, dass er selbst die nächste Revolution nicht
mehr erleben würde. Die Massendemos und Streiks in Petrograd sind der zündende
Funke für die Ausbreitung der Bewegung auf alle wichtigen Industriezentren. Am
l. März muss Zar Nikolaus II abdanken. Die effektive Macht liegt nun in den
Händen der Sowjets, die in diesen Tagen spontan gebildet wurden und in denen
zunächst die Menschewiki die Mehrheit halten.
Die Menschewiki fordern jedoch die alte Staatsduma (das Parlament) auf,
zusammenzutreten und eine Provisorische Regierung zu bestimmen. Diese Regierung
sollte von Vertretern der liberalen Bourgeoisie geführt werden. Während in den
Fabriken, in den Arbeitervierteln, aber in zunehmendem Ausmaße auch in der
Armee und der Marine die Sowjets die effektive Kontrolle übernahmen, ließ die
bürgerliche Regierung den alten Staatsapparat unangetastet. Die Bourgeoisie
besaß zwar noch nicht die Kraft, um die Revolution zu unterdrücken, aber sie
versuchte sie, zu ermatten, wie Trotzki schrieb.
Ergebnis der Februarrevolution war eine sogenannte Doppelherrschaft
zwischen Sowjets und Regierung. Was waren nun diese Sowjets eigentlich? Es
handelte sich dabei um Räte, bestehend aus Delegierten, die direkt in den
Betrieben gewählt wurden, jederzeit abwählbar waren, weiterhin ihrer Arbeit
nachgingen, den Arbeitsplatz nur für die Sitzungen verließen und nicht mehr
verdienten als ihre Arbeitskolleg(inn)en. Die Sowjets sind sicherlich die
Vertretungsform, die am genauesten den Willen der Massen widerspiegelt und auch
am schnellsten eine veränderte Stimmung bei der Arbeiterklasse wiedergibt. Ganz
wichtig war eben, dass sich auch an der Front und in den Garnisonsstädten
Soldatenräte bildeten. Die Soldaten, die zum Großteil aus armen Bauernfamilien
kamen, forderten immer stärker Frieden. Sobald sie in Kontakt mit den
Arbeitersowjets kamen, sprangen die revolutionären Ideen auf sie über.
Die Arbeiterinnen, Bauern und Soldaten forderten nun von der Regierung die
Umsetzung ihrer Forderungen - 8-Stunden-Tag, Brot, Friede, Land. Je stärker sie
diese Losungen erhoben, desto klarer wurde ihnen, dass die Regierung nicht im
Interesse der breiten Massen lag.
Erst jetzt gelang es Lenin, nach Russland zurückzukehren. Erst unter seinem
Einfluss begannen die Bolschewiki in der Revolution mit eigener Stimme zu
sprechen. Lenin konnte es nicht fassen, dass die im Inland verbliebenen
führenden Bolschewiki, allen voran Stalin und Kamenew, bis jetzt der
Provisorischen Regierung ihre „kritische Unterstützung" gaben. Auf dem
Parteitag im April versuchte er, die Partei auf einen neuen Kurs zu bringen.
Die alte Lehrformel der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der
Bauern" war für ihn mittlerweile veraltet. Wer sie weiterhin vertrat, der
ist, so Lenin, „hinter dem Leben zurückgeblieben, der ist damit faktisch zum
Kleinbürgertum übergegangen, der ist gegen den proletarischen
Klassenkampf." Die Revolution hatte das Revolutionsschema vieler
Bolschewiki durcheinander gebracht. Es zeigt, dass das menschliche Denken
(nicht zuletzt jenes von Revolutionären) sehr konservativ ist. Lenin erkannte,
dass die Revolution voranschreiten, dass die Arbeiterklasse die Macht in die
eigenen Hände nehmen müsse, um selbst die demokratischen Aufgaben der Revolution
vollenden zu können. Lenin unterstützte nun mit seiner Politik voll die (oben
beschriebenen) Thesen Trotzkis zur "Permanenten Revolution". Im
Mittelpunkt der Propaganda der Bolschewiki, die nun klar in Opposition zur
Provisorischen Regierung unter dem Sozialrevolutionär Kerenski trat, standen
nun zwei Losungen: Erstens - der Ausschluss der bürgerlichen Minister aus der
Regierung. Ziel war es so, die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die
vorgaben, die Interessen der Massen zu vertreten, zu zwingen, die alleinige
Regierungsverantwortung zu übernehmen, um so den wahren Charakter ihrer Politik
besser entlarven zu können. Zweitens stellten sie die Losung „Alle Macht den
Sowjets!" auf. Die Bolschewiki hatten zwar zu diesem Zeitpunkt noch keine
Mehrheit in den Sowjets, aber sie wollten den Massen auf diese Weise zeigen,
dass sie für die Auflösung der Doppelherrschaft und die Machtübernahme durch
die Arbeiterklasse waren. Trotzki fasste diese Politik in drei revolutionären
Geboten der Arbeiterklasse zusammen: „der Bourgeoisie mißtrauen; die Führer
kontrollieren; nur auf die eigene Kraft bauen." Lenin skizzierte in den
„April-Thesen"
und vor allem in seiner Schrift "Staat und Revolution" in groben
Linien das System einer Arbeiterdemokratie. Die Gesellschaft sollte durch das
System der Sowjets verwaltet werden. Es sollte freie Wahlen und das Recht auf
jederzeitige Abwählbarkeit aller Delegierten und Funktionäre in den Sowjets
geben. Kein Funktionär sollte mehr als einen Facharbeiterlohn verdienen. Statt
eines stehenden Heeres und einer privilegierten Bürokratie sollte es im
Arbeiterstaat ein bewaffnetes Volk, d.h. eine Arbeitermiliz, geben, und alle
Beamten sollten gewählt werden. Ebenso ein Rotationsprinzip in der Verwaltung,
um eine verkrustete bürokratische Elite auszuschließen - "wenn jeder ein
Bürokrat ist, ist keiner ein Bürokrat".
Die Regierung löste in den ersten Monaten nach dem Februaraufstand keines
der großen Probleme. Die Arbeiter wurden dadurch immer radikaler. Das Anwachsen
des Klassenkampfes steigerte zwangsläufig den Einfluss der Bolschewiki, die bis
zum Herbst in den Arbeitersowjets die Mehrheit erlangten. Teile des
Proletariats wären schon im April bereit gewesen, die Macht zu übernehmen. Die
Bolschewiki warnten jedoch, dass Petrograd noch zu sehr isoliert sei und dass
man warten müsse, bis auch in der Provinz und vor allem in der Armee die Massen
sich endgültig von der reformistischen Politik der Menschewiki und
Sozialrevolutionäre losgelöst hatten. Lenin und Trotzki waren immer gegen einen
Putsch, auch wenn dieser Vorwurf sehr gerne von bürgerlichen Historikern ins
Spiel gebracht wird.
Für die Bourgeoisie war es klar, dass diese Doppelherrschaft ein Ende haben
musste. Der Ruf nach einer „eisernen Macht" wurde immer lauter. Die Idee
eines über den Klassen stehenden "Schicksalslenkers" wurde auf Seite
des Kapitals immer beliebter. Kerenskis Regierung sollte diese Rolle spielen.
Aber die Revolution hatte ihre Aufgaben noch nicht erfüllt, und sie war auch noch
nicht erschöpft. Kerenskis Politik der Fortführung des .Krieges, des Schutzes
des Großgrundbesitzes und des Kampfes gegen soziale Reformen ließ bei immer
mehr Arbeitern und Soldaten die Erkenntnis siegen, dass es einer zweiten
Revolution bedurfte. Da die „demokratische" Regierung nicht imstande war,
für die nötige „innere Stabilität" zu sorgen, suchte die Bourgeoisie einen
neuen Kandidaten für diese Aufgabe - den General Kornilow. „Entweder Kornilow
oder Lenin. Ein Mittelding gibt es nicht", so die vorherrschende Meinung
bei den Privilegierten. Und im August 1917 sah die Konterrevolution die Zeit
gekommen, die Revolution blutig zu unterdrücken.
Nach der Niederlage der Juli-Massendemonstration wurde die Reaktion immer
frecher. Der Terror gegen die Arbeiterbewegung, speziell die Bolschewiki, wurde
immer stärker. Lenin brachte sich sogar wochenlang in Finnland in Sicherheit,
weil er um sein Leben fürchten musste. Aber die "Peitsche der
Konterrevolution" löste wieder den Widerstand der Arbeiter aus. Der Kornilow-Putsch
zeigte den Massen, dass nur die Bolschewiki diese Gefahr richtig einschätzten
und auch bereit waren, konsequent dagegen anzukämpfen. Die offizielle
Propaganda setzt nun Massenaktionen. Abwehr gegen Ausbeutung usw. immer mehr
mit Bolschewismus gleich. Dadurch aber identifizieren sich die Streikenden, die
Matrosen, die unzufriedenen Soldatenfrauen auch immer mehr mit den Losungen der
Bolschewiki. Der Masseneinfluss der Bolschewiki wächst nun nach der
Niederschlagung des Putschs gewaltig an. Und das, obwohl die Partei nur einen
sehr schwachen Apparat besitzt. Aber, wie Trotzki, schreibt, „die glühende
revolutionäre Atmosphäre ist ein vorzüglicher Ideenleiter". Der Erfolg der
Bolschewiki lag darin, dass ihre Forderungen immer stärker den eigenständigen
Erfahrungen der Massen entsprachen.
Der Kampf gegen den Kornilow-Putsch zeigt auch deutlich, was Lenin und
Trotzki unter Einheitsfrontpolitik verstanden. Es galt die Errungenschaften der
Revolution gegen Kopilot zu verteidigen. Ohne die geringsten Zugeständnisse an die
Kerenski-Regierung, ohne Aufgabe des eigenen revolutionären Programms waren sie
bereit, ihre Handlungen dem einen Feind (Kerenski) anzupassen, um so dem im
Augenblick noch gefährlicheren Feind (Kopilot) einen Schlag zu verpassen. Der
Kampf gegen die Konterrevolution sollte außerdem die Arbeiterbewegung für ein
Vorwärtsschreiten der Revolution vorbereiten (z.B. Bewaffnung der
Arbeiterinnen).
Seit Juli befand sich Lenin in der Illegalität. Dort beschäftigt er sich
vor allem mit der Frage des Staates aus marxistischer Sicht. Die
Arbeiterklasse, so Lenin, müsste die Macht erobern, den alten Staatsapparat
zerschlagen und durch die Sowjets ersetzen. Die Sowjets sollten aus Organen des
Aufstandes zu Organen einer neuen Staatsform werden. Die Eroberung der
Staatsmacht setzte aber zuerst die Gewinnung der Mehrheit in den Sowjets für
den Bolschewismus voraus. Im Oktober 1917 war es dann so weit. Der
Arbeitersowjet folgte den Bolschewiki. Die Garnison in Petrograd war auf Seite
der Arbeiter. Dazu kam, dass die Arbeiter bewaffnet waren (die Roten Garden).
Im ganzen Land gab es nun Bauernrevolten. Lenin und Trotzki riefen nun am
Vorabend des Allrussischen Sowjetkongresses zum Aufstand auf. Die militärische
Leitung des Aufstandes hatte Trotzki inne. Petrograd fiel ohne großen
Widerstand in die Hände der Sowjets. Der Aufstand in der Hauptstadt war der
zündende Funke, der die Revolution in allen anderen Industriezentren auslöste.
„Die bürgerliche Regierung, verteidigt allein nur von Sozialisten der gemäßigten
Strömungen, die im Volke keine Stütze fanden... konnte sich nicht halten. Ihr
ganzer Kern war verwittert, es blieb nur die äußere Schale." So der
Liberale Miljukow, der richtig erkannte, dass sie wie der Zarismus „keinen
einzigen Verteidiger" fand. Dies zeigt die Reife der revolutionären
Situation jener Tage.
Alle Voraussetzungen für eine Revolution waren vorhanden. Die herrschende
Klasse konnte unmöglich so weiterregieren wie bisher, und die Massen waren
nicht mehr bereit, ihre Unterdrückung und Ausbeutung hinzunehmen. Die sozialen
Zwischenschichten waren durch die revolutionäre Initiative des Proletariats
zumindest nicht mehr gegen die Revolution. Und die Arbeiterklasse hatte eine
bewusste Führung, eine revolutionäre Partei - die Bolschewiki.
Zum ersten Mal in der Geschichte war die Arbeiterklasse an der Macht. Lenin
begann seine Rede vor dem Sowjetkongress mit den Worten: „Wir beginnen jetzt
mit dem Aufbau der sozialistischen Ordnung." Der erste Schritt der neuen
Sowjetmacht ist das Friedensdekret, wobei „allen kriegführenden Völkern und
deren Regierungen" vorgeschlagen wird, „unverzüglich in Verhandlungen über
einen gerechten und demokratischen Frieden einzutreten". In einem weiteren
Dekret wird „das gutsherrliche Eigentumsrecht an Grund und Boden mit sofortiger
Wirkung ohne jede Entschädigung aufgehoben". Die Lokalsowjets erhielten
nun den Auftrag, das Land an die Bauern zu verteilen. Die Betriebe werden unter
Arbeiterkontrolle gestellt. Binnen weniger Tage machten die Sowjets mehr als
die Provisorische Regierung in acht Monaten. Die Sowjetregierung (anfangs aus
Bolschewik} und linken Sozialrevolutionären gebildet), allen voran Lenin und
Trotzki, wusste aber, dass die Revolution in Russland nur der erster Schritt
sein konnte. So schrieb Lenin: „Deshalb ist die in Russland ausgebrochene
Revolution nur der Anfang zur sozialistischen Weltrevolution."
Und Trotzkis Worte auf dem Sowjetkongress machen die Perspektiven der
Oktoberrevolution deutlich: „Werden die aufständischen Völker Europas den
Imperialismus nicht erwürgen, dann werden wir erwürgt werden - das ist
unbestreitbar. Entweder wird die russische Revolution einen Kampfwirbel im
Westen hervorrufen, oder die Kapitalisten aller Länder werden unsere Revolution
erdrosseln."
Es sollte hinlänglich bekannt sein, dass die Niederlage der Revolution im
Westen (speziell in Deutschland, Österreich, Ungarn, Italien), die Isolation
Russlands, die verheerenden Folgen des Bürgerkriegs die Basis legten für eine
Bürokratisierung des Sowjetsystems und eine politische Entmachtung der
Arbeiterklasse. Dem Vorwurf, die Oktoberrevolution sei aber nur ein
bolschewistisches „Abenteuer" gewesen, das nichts als stalinistischen
Terror und bürokratische Misswirtschaft über Russland brachte, hält John Reed
zurecht entgegen: „Ein Abenteuer war es, und eines der herrlichsten, das die
Menschheit aufzuweisen hat. Die arbeitenden Massen haben die Geschichte in die
Hand genommen und alles ihren gewaltigen und doch so leichtverständlichen
Wünschen untergeordnet."
Gernot Trausmuth SJ Niederösterreich