Portugiesische Revolution 1974
Hintergründe, Verlauf und Konsequenzen (Funke 3/Frühjahr 1994)
Vor 20 Jahren versetzte die Revolution in einem
kleinen Land am Rande Europas die Herrschenden in aller Welt in Angst und
Schrecken. Der portugiesische Soldatenaufstand vom 25. April 1974 war ein
Signal für Arbeiter, Angestellte und Bauern: Sie begannen damit, ihr Schicksal
in die eigene Hand zu nehmen. Wie kam es dazu? Und wie konnte diese Bewegung
wieder abgeblockt werden? Maria Clara Roque beschreibt die Hintergründe.
Anders als in England, Frankreich und Deutschland
hatte Portugal die industrielle Revolution im 18 und 19 Jahrhundert mehr oder
weniger "verschlafen" Der Adel und die Großgrundbesitzer stützten
sich sehr lange noch auf die Kolonien und die Landwirtschaft.
Portugal war zwar selbst über Jahrhunderte eine (Halb-)Kolonie des britischen Imperialismus, doch es hatte selbst (teilweise noch bis zur Revolution 1974) viele eigene Übersee-Kolonien. Eine besondere Rolle spielte und spielt die katholische Kirche im Land: Sie stand stets auf der Seite der Machthaber. Ende des letzten Jahrhunderts formierte sich in den beiden großen Städten Lisboa (Lissabon) und Porto eine gewerkschaftliche und sozialistische Bewegung. Aber diese Anfänge waren sehr zaghaft, und es wurde keine Massenbewegung daraus. 1916 beschloss Portugal, an der Seite Englands in den Krieg zu ziehen. Der Krieg löste Hunger und Unruhen aus. Die Nachricht von der russischen Revolution brachte Hoffnung für die wenigen Industriearbeiter. So wurde Anfang der 20er Jahre die portugiesische KP gegründet.
1926 übernahm eine Militärdiktatur die Macht. Salazar
wurde der starke Diktatur - er war ein guter Freund Hitlers, Mussolinis,
Francos und Hiroitos. Zu einer "Perfektion" wie unter den deutschen
Nazis hat es zwar in Portugal nie gereicht, aber es gab auch so genug an
Unterdrückung und Leid. Die Geheimpolizei PIDE wurde von der GESTAPO
ausgebildet.
Jeder Stadtteil, jedes Dorf, jeder Betrieb, jedes
Restaurant hatte Spitzel. Nirgends konnte man vor ihnen sicher sein. Auf den
Kapverdischen Inseln entstand ein Konzentrationslager nach deutschem Muster
Auch viele Juden, die in Portugal ihre letzte Hoffnung auf Rettung sahen,
wurden von der PIDE erwischt. Ende der 50er Jahre war das Maß voll. Es gab
immer mehr (verbotene) Proteste. Durch eine gewisse Industrialisierung vor
allem um Lisboa und Porto herum (Werften, Schwerindustrie, usw.), aber auch in
anderen Landesteilen wurden die Beschäftigten selbstbewusster und begannen,
gegen das Regime aufzubegehren. Das Gefühl, eingesperrt zu sein im Land, war
bei den meisten Portugiesen sehr stark.. Ab 1961 erstarkten die
Befreiungsbewegungen m den Überseekolonien. Sie wollten sich nach über 400
Jahren von Unterdrückung und Sklaverei befreien. Salazar wollte dies auf jeden
Fall verhindern. Schließlich hatten auch einige britische, amerikanische,
französische und andere Multi-Konzerne in Angola und Mosambik ihre Finger im
Erdöl- und Diamantengeschäft drin.
Die indischen Kolonien konnten nicht mehr gehalten
werden, die übrigen jedoch sollten mit militärischer Gewalt
"verteidigt" werden. Die Wehrpflicht und die damit verbundenen
Kampfeinsätze wurden für viele das Todesurteil. Verweigern war verboten. Viele
junge Männer nahmen eine abenteuerliche Flucht in Kauf, um nicht an diesem Wahnsinn
mitmachen zu müssen
Bei all dem darf nicht vergessen werden, dass
Portugal auch schon zu Zeiten der Diktatur NATO-Mitglied war, ebenso wie die
Türkei und das griechische Obristenregime (1967-74). Proteste und illegale
Streiks durfte es offiziell nicht geben, aber die 68er Träume schlugen sich
auch nach Portugal durch. In Porto weigerte sich die Stadtbevölkerung
kollektiv, die Fernseh-und Rundfunkgebühren zu zahlen.
1968 starb der Diktator Salazar. Sein Nachfolger
Caetano verstand, dass die Tage der Diktatur gezählt sein würden, und
versuchte, "liberaler" zu wirken.
Das Leben wurde für die Masse der Bevölkerung als
Folge des teueren Kolonialkrieges unerträglich. Der Krieg verschlang Über 40%
der Staatsausgaben. Die Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit des Krieges
radikalisierten die Soldaten. Selbst konservative Generäle wie Spinola sahen
ganz deutlich, dass der Krieg nicht zu gewinnen war: er brachte diese Ansicht
in einem Buch zum Ausdruck. So wurde ein Putsch geplant.
Als Zeichen, daß die verschiedenen Militäreinheiten
nach Lisboa einmarschieren sollten, wurde das verbotene Lied eines
Exil-Liedermachers (Jose Alfonso), "Grandola Vila Morena",
vereinbart.
Als der Rundfunksender in der Nacht zum 25.April 1974
eingenommen war, spielte man das vereinbarte Lied. Die Soldaten umzingelten und
besetzten die wichtigsten Gebäude der Hauptstadt. Am frühen Morgen hörte die
Bevölkerung durch das Radio die Nachricht, dass sie Ruhe bewahren und zu Hause
bleiben sollte - die Diktatur wäre gestürzt. Aber keiner, der so lange
schweigen musste, wollte jetzt noch zu Hause bleiben.
Die Menschenmassen kamen auf die Straße, wollten
endlich dabei sein und mitreden. Viele brachten den Soldaten rote Nelken. Der
Putsch verlief friedlich. Nur vor dem Hauptquartier der PIDE kam es zu einer
Schießerei, die zwei Menschenleben forderte. Die Geheimpolizisten wollten sich
nicht ergeben und mordeten bis zum bitteren Ende. Der Diktator Caetano
verschanzte sich auch dort.
Das Militär bzw. die MFA (=Movimento Forças Armadas —
Bewegung der Streitkräfte) bildete eine provisorische Regierung, war sich
aber nicht einig, wie die Politik nach der Revolution aussehen sollte. Die
Führung der MFA um den neuen Staatspräsidenten Spinola (jener konservative
General, der es auszusprechen gewagt hatte, dass der Krieg verloren war) wollte
auf keinen Fall eine sozialistische Revolution, sie wollte lediglich ein etwas
liberaleres System als das des Diktators, um eben eine Explosion von unten zu
verhindern.
Die einfachen Soldaten, die unteren Ränge des
Militärs und
die Menschen auf der Straße wollten aber mehr. Ihre Zeit war gekommen.
Spontan wurden Fabriken besetzt und Arbeiterkomitees als Verwaltungs- und
Kontrollorgane gewählt Mieterkomitees entstanden in jedem Stadtviertel, die
geknechteten Bauern verjagten die Großgrundbesitzer, besetzten das Land und
bildeten Kooperativen.
Die Gebäude der alten faschistischen
Zwangs-"Gewerkschaften" wurden besetzt. Überall erschien die
Forderung nach -umgerechnet - 700 DM Mindestlohn. Die Bäckereiarbeiter
forderten als erste die Verstaatlichung ihrer Industrie. Die Transportarbeiter
folgten ebenfalls dem Beispiel. Die Bankangestellten erzwangen durch
Besetzungen die Verstaatlichung der Banken, um die Kapitalflucht zu verhindern.
Die Wirtschaft war schließlich zu weit über 50% verstaatlicht. Wie oft hörte
man auf den Straßen, in den Betrieben, an den Schulen: "Jetzt bekommen wir
endlich den Sozialismus." Die Regierungen der USA und Europas erzitterten.
Man sprach in den USA offen davon, dass der Kapitalismus in Europa verloren sein
könnte. Diese friedliche Revolution könnte Schule machen. Die damaligen
Herrscher in der Sowjetunion hatten nicht minder Angst. Welch eine Gefahr, wenn
dies tatsächlich die Macht des Volkes bedeuten würde. Auch sie sahen ihre
bürokratischen Privilegien schwanken.
So tat sich eine "unheilige" Allianz
zusammen Alle Herrschenden der Erde wünschten ein Ende der Revolution. Dreimal
versuchte General Spinola 1974/75, eine Konterrevolution(durch erneuten
Militärputsch)durchzusetzen. Es misslang ihm dreimal. Denn die Bevölkerung war
alarmiert. Ohne auf die Signale ihrer Parteien zu warten, wurden Straßensperren
und Barrikaden erstellt, die von bewaffneten Arbeitern und Soldaten bewacht
wurden. Für
eine Konterrevolution im Lande war keine aktive Massenbasis vorhanden. Und ob
die N ATO/USA eine vollendete sozialistische Revolution in Portugal von außen
militärisch wirklich abgemurkst hätten, war mehr als fraglich: denn schließlich
mussten sich die Amis 1975 endgültig gedemütigt aus Vietnam zurückziehen, auch
deshalb, weil im eigenen Land eine kritische Stimmung herrschte.
Die Stimmung in Portugal war hervorragend. Fast alle
organisierten sich gewerkschaftlich und politisch oder trafen sich bei
verschiedenen Komitees. Frauen wurden selbstbewusst und aktiv und legten in
kurzer Zeit einen weiten Weg in Richtung Gleichberechtigung zurück. Nachbarn
taten sich zusammen und verschönerten ihr Stadtviertel mit mehr Grün. Überall
wurde eifrig darüber nachgedacht, wie alles demokratischer, wirklich von unten
nach oben, zu organisieren wäre. Doch leider fehlte die Erfahrung. 48 Jahre
Diktatur, das bedeutete Erziehung zum Unterdrücktsein, die blieben nicht ohne
Folgen. Man erwartete Hilfe von den Parteien und ihrer erfahreneren politischen
Führung.
Die beiden Arbeiterparteien, PS (Sozialistische
Partei, 1973 im Exil bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bad Münstereifel
gegründet) und PC (Kommunistische Partei, die streng stalinistisch ausgerichtet
war) waren nicht auf den Ausbruch der Revolution vorbereitet. Weder die PS noch
die PC entwickelte während der Bewegung ein Programm oder eine Perspektive für
den Aufbau einer wirklichen Arbeiterdemokratie. Mario Soares (heutiger
Staatspräsident und damaliger Mitbegründer und Vorsitzender der PS) hielt
wortradikale Reden und klopfte Sprüche wie: "Wer kein Marxist ist, soll
gehen. Dort ist die Tür."
Bei verschiedenen Wahlen in den ersten Jahren nach
der Revolution bekamen Parteien, die sich zum Sozialismus" bekannten, mehr
als einmal insgesamt zwei Drittel der Stimmen. Die PS erhielt 40% der Stimmen
bei der Parlamentswahl 1976, aber ihre Politik war alles andere als sozialistisch.
Soares machte
bald klar, dass er die Wirtschaft nicht im Interesse des "kleines
Mannes", sondern im Interesse der Unternehmer sanieren wollte. Obwohl die
Verfassung 1976 geändert wurde, und der Sozialismus zum Staatsziel erklärt
wurde, blieben diese Worte ohne Bedeutung für die Alltags-Politik. Portugals
Finanzsituation (die hohe Verschuldung als Erbe der Diktatur) ließ obendrein
das Land zum Bittsteller werden Die Bedingungen für Kredite des IWF (Intern.
Währungsfonds) waren
wie immer
·
Reprivatisierung von Betrieben und Land
·
Entschädigung an enteignete Großgrundbesitzer/ Unternehmer
·
Kürzungen der Sozialleistungen und Infrastrukturmaßnahmen
·
mehr Geld für Rüstung
·
höhere Steuern
·
Lohnbegrenzung.
Und es wurden natürlich die entsprechenden Gesetze
zur Erfüllung der IWF-Forderungen verabschiedet. Aber Gesetze verabschieden ist
eine Sache, sie durchsetzen eine andere. Diese Erfahrung musste auch Soares
machen. Es gelang ihm zwar oft mit Polizeieinsätzen, einige Errungenschaften
abzubauen, aber es konnten nicht alle Bedingungen des IWF erfüllt werden. Der
Widerstand war noch zu groß. Zu frisch war die Erinnerung an die Diktatur. Die
Opposition innerhalb der PS gegen die Politik von Soares wurde immer stärker.
Mehrmals traten bekannte linke Oppositionelle aus Protest aus der Partei aus
oder wurden ausgeschlossen. Durch eine Satzungsänderung wurde der Einfluss der
Basis auf die Führung stark beschnitten
Nun gab es kein zurück mehr. Langsam aber sicher
wurden die Errungenschaften der Revolution abgebaut. Der revolutionäre Schwung
nahm ab. Man kann nicht jahrelang unter Strom stehen. Die Enttäuschung in den
Arbeiterparteien war und ist groß. Denn die PC beschränkte sich meistens auf die
Ablehnung dieser oder jener Maßnahme Aber ein positives Programm für eine
sozialistische Demokratie hatte und hat sie nicht anzubieten. 1974 gab sie sich
in Worten sogar viel gemäßigter als die PS; so wurden damals sogar spontane
Streiks von der PC als "CIA gesteuert" kritisiert.
Obwohl Portugal mittlerweile Mitglied der EG/EU
geworden ist, und viele Gelder fließen, kommen diese meist nicht den Menschen
zugute, die sie brauchen. Gewiss, es wäre zu peinlich,. nichts aus den
EG-Geldern zu machen. Deswegen baute man Straßen, verbesserte etwas die
Infrastruktur, aber das meiste bleibt Makulatur.
Immer noch verdient man in Portugal sehr wenig Wenn
man Glück hat, ca. 800 DM. Doch die Wohnungen in den Stadien da wo es Arbeit
gibt - kosten viel. Kein Wunder, dass die sogenannten Bairros da Lata
(Wellblech-Viertel) Zuwächse verzeichnen. Verschiedene Krankheiten, die
ausgerottet zu sein schienen, tauchen wieder auf: TBC und sogar Cholera wegen
der Hygieneverhältnisse in den Elendsvierteln. Im Gesundheitswesen kann sich
derjenige glücklich schätzten, der Geld hat. Wenn man krank ist, kann man Pech
haben und einen Termin beim Arzt erst ein paar Wochen später erhalten
Die portugiesische Revolution von 1974/75 hat
gezeigt, dass die arbeitenden Menschen aus Ihrer Lebenserfahrung heraus immer
wieder dazu fähig sein können, solidarisch für eine sozialistische Gesellschaft
zu kämpfen. 20 Jahre danach sollten wir die Ereignisse von damals noch genauer
betrachten und versuchen, daraus zu lernen. Denn wer es versäumt, die Lehren
der Geschichte zu verstehen, Ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.