Pariser Kommune vor 125 Jahren:

Sozialistische Demokratie ist keine Utopie (Funke11/Frühjahr 1996)

 

Seit dem Scheitern des östlichen Stalinismus und der Auflösung von Sowjetunion und Ostblock ist der Sozialismus angeblich für immer „out". Chruschtschows Schuh ist längst verfault: der Wettkampf um das bessere System scheint entschieden. Doch gerade heutzutage zeigt uns die prekäre wirtschaftliche Lage am Beispiel Arbeitslosigkeit, dass der Kapitalismus seine selbsterschaffenen Probleme nicht selbst in den Griff bekommt.

 

Es bleibt die begründete Hoffnung auf eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft, da die gesellschaftlichen Widersprüche heute immer größer werden. Bisher gab uns die Geschichte wenig Anlass zu Euphorie; der Verrat an der russischen Revolution von 1917, die Verkrustung der Regime in China und Kuba und ihre Zugeständnisse an den Kapitalismus stellen den Sozialismus in Frage. Doch dass es auch anders gehen kann, bewiesen vor 125 Jahren die Arbeiter von Paris: sie bildeten ihre erste eigene Regierung. Der Rückblick auf dieses Kapitel der Arbeiterbewegung lässt uns hoffen und ist gleichzeitig eine Lehre für die Zukunft. Die französische Revolution von 1789 ebnete den Weg für ein Emporschnellen des kapitalistischen Gesellschaftssystems: Zwischen 1830 und 1871 zeigte sich ein rasanter Fortschritt der industriellen Umwälzung, der bis Ende des 2. Kaiserreiches unter Napoleon III andau­erte. In den 30er und 40er Jahren brachen erste Aufstände in Lyon und Paris aus. Um nun diese revolutionäre Bewegung zu stoppen, die innenpolitischen Krisen zu überwinden und vor allem um eine „Umzingelung" durch ein geeintes Deutschland zu verhindern, kam es am 19. Juli 1870 zur Kriegserklärung Napoleons III an Deutschland. Der geschickt taktierende Preuße Bismarck hatte diesen zuvor mit seiner „Emser Depesche" zu diesem Vorgehen provoziert. Die französische Armee verlor Kampf um Kampf gegen Bismarcks Soldaten. So kam es am 02. September 1870 zur Kapitulation großer Teile der französischen Armee vor Sedan, Napoleon III wurde gefangengenommen. Zwei Tage später riefen die Arbeiter von Paris die Republik aus. Der Eroberungskrieg der deutschen Truppen ging dennoch weiter, deshalb reihten sich die Werktätigen in die Nationalgarde ein, der vorher ausschließlich Bürgerliche angehören durften. Infolge der patriotischen Stimmung im Lande war das Volk bereit, gegen den Feind zu kämpfen, um das "Vaterland zu verteidigen". So akzeptierte das Volk auch vorübergehend die „Regierung der nationalen Verteidigung".

Die Regierenden mit Thiers und Favre an der Spitze veranlassten die Volksbewaffnung, was sich als aus ihrer Sicht fataler Fehler erweisen sollte und gleichzeitig den ersten Sieg der Pariser Arbeiter darstellte. Trotz dieser Instrumente der Macht in den Händen des Volkes konnte die Belagerung von Paris durch deutsche Truppen (ab dem 19. September 1870) nicht verhindert werden. Doch die Regierung des „nationalen Verrats" wusste Abhilfe: Sie trat sofort in Geheimverhandlungen mit Bismarck ein und akzeptierte am 28. Januar 1871 dessen Forderung nach Waffenstillstand, Kriegsentschädigung und Gefangennahme der Pariser Armee. Nachdem der Monarchist Thiers nun die Wahl zur Nationalversammlung gewonnen hatte, zeigte er sein wahres Gesicht. Er machte es sich zur Aufgabe, „Frieden zu schließen und Paris zu zügeln", da er befürchten musste, dass die Arbeiter sich nicht auf den Pakt mit den Deutschen einlassen wollten. (Sollte das der Preis für die fünfmonatige Belagerung und die Hungersnot sein?)

Während der Belagerung stieg die Arbeitslosigkeit rapide an; es folgte ein Rückgang der Produktion und des Konsums. Daraufhin hatten sich mehrere revolutionäre Gruppen gebildet, die die Schaffung einer Kommune forderten. Thiers versuchte nun, die Forderungen durch erneutes Verhängen des Belagerungszustandes, Pressezensur und Einbehaltung der Löhne der Nationalgardisten zu ersticken. Das neugewählte Leitungsorgan, das Zentralkomitee der Nationalgarde ergriff Gegenmaßnahmen: Es wurde der Befehl erteilt, die Kanonen aus den Stadtbezirken zurückzuziehen, in die die Deutschen einziehen sollten. Die Nationalgarde wurde immer mehr zu einem demokratisch-legitimen Organ der revolutionären Bewegung, mit der sich viele Pariser identifizieren konnten.

 

Widerstand gegen Entwaffnung

 

Aber die Konterrevolution schlief nicht, sondern eröffnete den Bürgerkrieg unter dem Vorwand, „staatseigene" Waffen zurückzuholen. Am 18. März fand der berüchtigte Versuch statt, die Nationalgarde zu entwaffnen. Das Ergebnis war für die Regierung Thiers äußerst kläglich. Nur 300 der insgesamt 300.000 Nationalgardisten trennten sich von ihren Waffen. Die Pariser Bevölkerung hatte massiven Widerstand geleistet: den Frauen kam dabei eine enorme Bedeutung zu (hielt man sie doch früher für unfähig, ihre eigenen Interessen zu vertreten). Sie griffen den Pferden mutig zwischen die Zügel und machten den Soldaten deutlich, dass sie nur Lakaien im Dienste der Bourgeoisie und gegen ihre eigenen Mitbürger waren. Daraufhin wechselten viele Soldaten die Seite. Die Generale Clement Thomas und Lecomte wurde von ihren eigenen Leuten niedergeschossen, als sie diese zur Hilfe gegen das aufmüpfige Volk riefen.

Nachdem nun die Monarchisten mitsamt ihren Priestern und Polizisten ungehindert nach Versailles geflüchtet waren, proklamierte die Nationalgarde: „Die Proletarier von Paris, inmitten der Niederlagen und des Verrats der herrschenden Klassen, haben begriffen, dass die Stunde geschlagen hat, wo sie die Lage retten müssen, dadurch, dass sie die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten in ihre eigenen Hände nehmen. Sie haben begriffen, dass es ihre höchste Pflicht und ihr absolutes Recht ist, sich zu Herren ihrer eigenen Geschichte zu machen und die Regierungsgewalt zu ergreifen."

 

Kommune: Massendemokratie

 

Der erste Schritt der Nationalgarde, die provisorisch mit allen Vollmachten ausgestattet wurde, war der Autruf an das Volk zur Wahl der Kommune am 26. März. Schon vor diesem Tag wurden wichtige Maßnahmen wie die Stundung der Mietschulden, die Zahlung der ausstehenden Löhne der Nationalgardisten und die finanzielle Unterstützung armer Familien durchgesetzt. Die Ratshäuser der verschiedenen Pariser Bezirke wurden besetzt; Theater und Museen wiedergeöffnet. Die Kommune fand große Unterstützung im Volk und speziell in den revolutionären Bewegungen, die für die Kommune-Wahl Kandidatenlisten aufstellten.

Am 28. März 1871 übernahmen zum erstenmal Arbeiter die „Regierungsgeschäfte"; sie waren durch allgemeines Stimmrecht aus den verschiedenen Bezirken gewählt: „Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zur gleichen Zeit." (Marx).

 

Sofortmaßnahmen der Kommune

 

Die neu gewählten Vertreter des Volkes kamen aus ganz unterschiedlichen sozialistischen Strömungen; es gab Neujakobiner, Blanquisten, rechte und linke Proudhonisten. Das hinderte sie (vorerst) nicht, sich auf die notwendigen politischen Schritte zu einigen. Sie trieben die Auflösung des stehenden .Heeres und der monarchistischen Polizei voran, indem sie die vollständige Volksbewaffnung einführten und Arbeitermilizen aufstellten. Die Werkzeuge der vormaligen Regierung (z.B. das Berufsbeamtentum) wurden ihrer Privilegien entmachtet und nach gewöhnlichem Arbeiterlohn bezahlt. Diesen führte die Kommune auch als Entgelt für die Mitglieder der Kommune selbst ein. Außerdem wurde eine vollständige Wählbarkeit und jederzeitige Abwählbarkeit der Kommunemitglieder, Beamten und Lehrer durchgesetzt. Vor allem aber ging die Kommune daran, „das geistliche Unterdrückungswerkzeug, die Pfaffenmacht zu brechen, sie dekretierte die Auflösung und Enteignung aller Kirchen, soweit sie besitzende Körperschaften waren." (Marx). Durch die Trennung von Staat und Kirche ermöglichte sie allen Kindern eine weltliche Schulbildung, nachdem die Schulen für alle Kinder geöffnet wurden. Zu ihren ökonomischen Reformen zählten vor allem die Kontrolle der Arbeitstarife und die Übergabe der Werkstätten und Fabriken an Arbeitergenossenschaften. Es wurde ein Verbot der Nachtarbeit von Bäckern verhängt. Geldstrafen wurden für unzulässig erklärt, Pfandhäuser abgeschafft. Darüber hinaus zog die Kommune auch die Kleinbürger auf ihre Seite, die durch die Monarchisten an den Rand des Ruins getrieben wurden: Zahlungspflichten wurden abgesetzt. Auch die Kleinbauern profitierten von der Politik der Kommune: die Zentralisation durch Grundbesitz wurde aufgebrochen, Zuschlagssteuern wurden abgesetzt. In Hinblick auf diese Maßnahmen kam Marx zu dem Ergebnis, dass die Kommune „die erste Revolution (war), in der die Arbeiterklasse offen anerkannt wurde als die einzige Klasse, die noch einer gesellschaftlichen Initiative fähig war."

Lenin schrieb dazu, dass die Kommune eine Staatsmacht neuen Typs, d.h. die revolutionäre Diktatur des Proletariats erschuf. Marx war so fasziniert von den Vorgängen in Paris, dass er ständig über die IAA (1. Internationale) mit den Kommunarden in Kontakt trat. Mit dem Kampf der Kommunarden solidarisierten sich Tausende von Menschen in den verschiedensten europäischen Ländern. Sie zeigten bei Demonstrationen und Kundgebungen ihre Unterstützung für die Kommunarden. Doch ein wesentlicher Faktor wurde bei all den positiven Errungenschaften unterschlagen: Die Konterrevolution schlief nicht.

 

Die Konterrevolution schlägt zurück

 

Durch ihre unbehinderte Flucht nach Versailles konnte sie ihre Schützen erneut vor den Toren Paris sammeln. Trotz mehrerer Aufstände monarchistischer Demonstranten in Paris griff die Kommune die Konterrevolutionäre nicht an, sondern verjagte sie erneut. Den Zeitpunkt der Schwäche der Versailler nutzte die Kommune nicht, um die Bourgeoisie vollkommen zu schlagen. Es kam zu einem "Deal" zwischen den "Kriegsgegnern" Thiers & Bismarck. Thiers bot den Deutschen Elsass-Lothringen an, wobei Bismarck im Gegenzug bereit war, die französischen Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft freizulassen. Obwohl es mehrere Kontakte zu Vertretern der franz. Arbeiterorganisationen in anderen Städten gegeben hatte, entstand keine landesweite Miteinbeziehung der Arbeiter und Kleinbauern in die Pariser Revolution: Paris blieb isoliert. Ein weiterer schwerwiegender Fehler war das Versäumnis, den Dreh- und Angelpunkt des Kapitals, nämlich die Bank, unter Kontrolle der Kommune zu bringen. Thiers eroberte Paris Stück um Stück zurück. Die Pariser Arbeiter kämpften heldenhaft, doch ohne jegliche Chance: am 29. Mai fiel das letzte Fort von Paris. Der Kampf für die Freiheit endete in einem Meer aus Blut: 40.000 Tote, 30.000 Gefangene und 40.000 Deportierte war die traurige Bilanz. Dennoch: Der Kampf hat sich gelohnt. Es wurde aller Welt bewiesen, dass es auch anders geht. Die Geschichte der Kommune ist lehrreich. Der Verschwörung des internationalen Kapitals muss der gemeinsame Kampf der Arbeiterbewegung entgegengesetzt werden. Das Postenjagen von Politikern und höheren Beamten kann nicht geduldet werden.

Conny Beierlein, Jusos Rheinhessen